Die dreizehn Gezeichneten - Judith und Christian Vogt - E-Book
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Die dreizehn Gezeichneten E-Book

Judith und Christian Vogt

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Beschreibung

Sygna, die Stadt des Handwerks. Die Stadt der magischen Zeichen. Seit die Armee von Kaiser Yulian die Stadt erobert hat, ist den Einheimischen die Ausübung ihrer jahrhundertealten Magie jedoch verboten. Eine Widerstandsgruppe will dies nicht hinnehmen.

Auch Dawyd, Mitglied der Fechtgilde, wird für die Ziele der Rebellen eingespannt. Denn die kaiserliche Geheimpolizei strebt danach, die mächtigen Wort-Zeichen unter ihre Kontrolle zu bringen. Mit ihnen wären die Besatzer in der Lage, Gefühle und Gedanken zu manipulieren, und das muss um jeden Preis verhindert werden ...

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Seitenzahl: 849

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Inhalt

Cover

Über die Autoren

Titel

Impressum

Widmung

Karte

Die 13 Zünfte und Gilden mit Sitz im Rat

Die 13 Urzeichen

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Dank

Über die Autoren

Judith C. Vogt wurde 1981 geboren und wuchs im Heinrich-Böll-Ort Langenbroich auf. Sie ist gelernte Buchhändlerin. Christian Vogt, geboren 1979, stammt aus Kommern, studierte in Aachen und ist Physiker. Gemeinsam haben sie zahlreiche Romane veröffentlicht, darunter auch den Steampunk-Roman Die zerbrochene Puppe, für den sie 2013 den Deutschen Phantastik Preis in der Kategorie »Bester deutschsprachiger Roman« erhielten. 2014 gewannen sie nochmals den Deutschen Phantastik Preis, diesmal für die beste Anthologie. Das Ehepaar wohnt mit seinen Kindern in Aachen.

JUDITH & CHRISTIANVOGT

DIE 13GEZEICHNETEN

ROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch Castle Gate Agency,Literarische Agentur Harald Kiesel, 69198 Schriesheim(www.castlegate-agency.com)

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Julia Abrahams, KölnKartenillustration: Hannah Möllmann, KölnTitelillustration: © Raymond MinnaarUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4974-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Die 13 Zünfte undGilden mit Sitz im Rat

Alchimisten und Sterndeuter

Braumeister, Bäcker und Müller

Dichter, Sänger, Schriftsteller und Buchdrucker

Glasbläser

Goldfechter

Harnischmacher

Heiler und Hebammen

Klingenschmiede

Schmuckschmiede

Schreiner und Zimmerleute

Steinmetze

Töpfer

Weber

Die 13 Urzeichen

Eisernes Zeichen

Blutzeichen (verloren)

Hölzernes Zeichen

Alchimistisches Zeichen

Gewobenes Zeichen

Goldenes Zeichen

Nährendes Zeichen

Wortzeichen

Verborgenes Zeichen

Irdenes Zeichen

Rauschzeichen

Steinernes Zeichen

Gläsernes Zeichen

Widmung

Wir widmen dieses Buch Mia und Tobi,die es gleichermaßen verstehen,sich und andere zu begeistern.Die Tanzszene jedoch –die widmen wir Thomas Michalski.

Kapitel I

Kurz vor Mitternacht befand sich Dawyd gerade auf dem Rückweg von einem Ehrenhändel, der ihn beinahe sein Leben gekostet hatte.

Er pfiff ein Liedchen gegen die Dunkelheit, die wenigen Laternen warfen von den Giebeln der Häuser obskure Schatten hinunter in die Straßen. Die Sperrstunde würde in wenigen Minuten anbrechen. Er wusste, dass es nicht das Klügste war, die Blauröcke um diese Uhrzeit auf sich aufmerksam zu machen, doch nach dem glimpflich geendeten Duell hatte der Alkohol seine Stimmung gehoben. Wenn er dem Tod von der Schippe springen konnte, dann auch den Blauröcken und erst recht seiner Vermieterin.

Das verknöcherte Weibsbild hatte ihm am Vorabend noch gedroht, die Tür zu verschließen und ihn nicht wieder auf sein Zimmer zu lassen. Er glaubte jedoch nicht, dass sie es ernst meinte – und vertraute wie immer auf sein Glück. Und falls sie ihn nicht mehr hineinließe: Das silberne Amulett mit den Bildern seiner Eltern stellte das einzig Wertvolle dar, das sie sich unter den Nagel reißen konnte.

Der Stich zwischen die Rippen, der seine Lunge punktiert und das Duell beendet hatte, brannte noch ein wenig. Dawyd bewegte prüfend die Schulter vor und zurück und dachte über seinen beinahe fatalen Fehler nach. Er hatte nicht nachgesetzt, hatte nach seinem Stich durchs Wams des anderen das Duell für beendet gehalten. Hatte die Arme bereits ausgebreitet und den Blick zum Richter gewandt, obwohl er genau gewusst hatte, dass der andere noch nicht am Boden gelegen hatte. Und seine Reflexe waren doch nicht so verlässlich gewesen, wie er es sich einzubilden pflegte. Er musste vor dem nächsten Duell wirklich häufiger zu den Übungen erscheinen! Das dunkelrote Bier, das im Invaliden, der Schankstube am Sandplatz, gezapft wurde, hatte den Blutgeschmack aus seinem Mund vertrieben – nicht jedoch die Gedanken aus seinem Kopf.

Er würde Geld auftreiben müssen, um das Heilzeichen zu bezahlen. Der Heiler kannte ihn gut genug, um ihn anschreiben zu lassen, doch es konnte nicht ewig so weitergehen. Dunkle Zeiten drohten selbst für jemanden wie Dawyd. Die Leibrente der Schwertfechter war von der Besatzungsmacht gestrichen worden, und seither übernahm die Gilde nur einen Bruchteil davon aus eigenen Mitteln. Der Zulauf im Invaliden und im Sandhaus der beiden Fechtgilden war mittlerweile überschaubar. Der eine oder andere, so hieß es, hatte sich bereits Arbeit gesucht. Soll ich etwa in die Manufakturen gehen?, dachte er mit einem Schaudern, und sein gepfiffenes Lied verstummte. Nein, vorher soll mich der Krumme Mann holen!

Er hatte sich der Fechtkunst verschrieben, und für sein tägliches Brot hatte er genau drei Aufgaben zu erledigen: Er behauptete mit seinen Kameraden von der Goldenen Gilde den Platz im Gildenrat, indem sie tagtäglich bewiesen, dass sie besser waren als ihre Konkurrenten, die Stählernen Fechter. Er focht Gerichtskämpfe, Schicksalsduelle, aus, bei denen sich zwei Kläger vor Gericht darauf einigten, jeweils einen Fechter zu stellen. Der Ausgang des Duells entschied den Ausgang der Gerichtsstreitigkeit – und der Stich durch Dawyds Lunge hatte den Gerichtsfall zu Ungunsten seines Klienten entschieden. Und seine dritte Aufgabe: Er diente der Stadt im Ernstfall als Klinge.

Die Besatzer würden nicht ewig bleiben. Irgendwann würden die aquinzischen Soldaten zu fernen Fronten und neuen Kriegen abmarschieren und den Gilden wieder die Administration der Stadt übertragen, und dann würde alles zum Alten zurückkehren. Und er zu seinen drei Aufgaben.

Dawyd blickte zerknirscht zum Hultaturm hinauf, der dem Marktplatz vorstand. Wie ein verstümmelter Finger ragte das Holzbauwerk auf, das die Gilde und das Schatzhaus der Zimmerleute und Schreiner beheimatet hatte. Ohne das gepfiffene Lied stockten nun auch Dawyds Schritte.

Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie er den Hultaturm hatte brennen sehen. Die Flammen waren so hoch geschlagen, dass sie auf die Brücke über die Schlang übergegriffen hatten, auf Wohnhäuser, die auch jetzt noch nur leidlich wiederhergestellt waren. An den Hultaturm jedoch durfte niemand Hand anlegen. Er strahlte als Mahnmal, als gigantisches Stück Holzkohle immer noch den Schrecken der Eroberung aus.

Irgendwann sind sie wieder fort. Und dann wird der Turm wieder aufgebaut. Und die Fechter bekommen wieder ihre Leibrente.

Die Leibrente. Er lachte trocken, ein seltsames Sakrileg von einem Geräusch in der verordneten Stille der Nacht. Für Fechter, die nicht gefochten hatten! Deren Schwerter in den Scheiden, den Truhen und den Rüstkammern im Sandhaus geblieben waren, weil die Gilden den Besatzern einfach die Tore geöffnet hatten! Die Reue für jenen schwarzen Tag im vergangenen Jahr, jenen dunkelsten Tag in Sygnas unzweifelhaft düsterer Geschichte, schmeckte metallen wie das Blut in seiner Kehle, das vom Stich in die Lunge aufgestiegen war.

Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück: Noch konnte es sich die Gilde leisten, zeichenkundige Heiler zu bezahlen, die dafür sorgten, dass auf unter normalen Umständen tödliche Stiche nicht der Tod folgte. Die Gilde zahlte ihnen einen Stundenlohn für ihre Anwesenheit bei den Kämpfen – die Kosten für das Heilzeichen jedoch musste der Verletzte selbst löhnen. Ein Stich in die Rippen war nicht billig – ein Stich ins Herz oder ins Auge konnte eventuell jedoch sein Leben kosten. Er musste besser werden! Ab morgen würde er die Waffenübungen nicht mehr schwänzen und nur abends zu den Duellen aufkreuzen, das versprach er sich selbst! Aber erst einmal musste er ein paar Stunden Schlaf bekommen, sonst war er ohnehin zu nichts zu gebrauchen.

Was ist, wenn die Vettel mich wirklich nicht reinlässt? Dawyd wusste, wie sein Lächeln auf Frauen wirkte, und er hatte es viele Male zu seinen Gunsten ausgenutzt. Den jüngeren ließ es das Herz schneller schlagen, bei den älteren führte es dazu, dass sie ihn mit Nachsicht behandelten. Nur an seiner Vermieterin schien es einfach abzuprallen.

In eben diesen Gedanken hinein fühlte Dawyd ein zartes Ziehen an seinem Gürtel.

Verflucht! Wie war der Dieb auf diesem menschenleeren Platz so nah an ihn herangekommen, ohne dass er es gemerkt hatte? Nun ja, so hatte er zumindest direkt Gelegenheit, seine Reflexe zu testen. Mit der Linken packte er blitzschnell die Hand des Diebs und zog gleichzeitig mit der Rechten das Messer, das er waagrecht im Gürtel am Rücken trug. Die schmalen Finger wollten sich seinem Griff entwinden, doch er packte fester zu und zog ein sich windendes Kind unter dem regennassen Öltuch hervor, das den Marktstand vor der Witterung schützte.

Die Stadt war vollkommen leise, und auch das Gör schrie nicht auf, sondern knirschte nur laut mit den Zähnen, als er ihm das Handgelenk so verdrehte, dass es aus seiner ohnehin gebückten Haltung auf die Knie sackte. Das Kopfsteinpflaster glänzte schwarz, und ein heftiger Windstoß in den angrenzenden engen Dreiermarktgassen rüttelte an der Laterne. Das Licht darin flackerte auf. Dawyd blickte in ein Gesicht, das mit zusammengepressten Lippen zu ihm aufsah. Die übliche Mischung aus Schmutz und großen flehenden Augen machte jede Alters- oder Geschlechtsbestimmung unmöglich.

Dennoch war es zu groß, um noch zu der Rotte der jüngeren Rotzgören zu gehören, die vor allen Dingen bettelten oder tagsüber auf dem Markt einfach in die Stände griffen und dann schnell davonliefen. Seit die Stadt unter Besatzung stand, gab es noch mehr von der Sorte. Dieses hier war jedoch schon geschickter und abgebrühter – abgebrüht genug, um sieben Minuten vor Mitternacht einem der wenigen bewaffneten Männer aufzulauern, die die Stadt Sygna noch aufzubieten hatte. Vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt, schätzte er.

»Gnade, Herr«, brachte es schließlich hervor, dabei zeigte es schmerzverzerrt seine schiefen Zähne, von denen ein vorstehender Schneidezahn abgebrochen war.

Die langen Haare waren in verfilzten Zöpfen aus dem Gesicht gehalten – vermutlich, um nicht zu stören, während die Finger sich ihren Weg in Taschen und Beutel suchten oder mit Dietrichen Wege in Häuser und Keller öffneten.

»Ich tu’s nicht wieder«, beteuerte sie – er war zu dem Schluss gekommen, dass es sich vermutlich um ein Mädchen handelte – und verzog das Gesicht zu einem unechten Grinsen.

»Na, das sicher nicht. Weil ich dich der Wache übergebe«, knurrte Dawyd. Er mochte es nicht – aber die Aquintianer waren nun einmal die Obrigkeit in der Stadt. Das Kind war ein Dieb. Und er war der Bestohlene.

»Nein«, presste sie hervor, während er sie auf die Füße zerrte. Er hielt ihr Handgelenk nach wie vor so verdreht, dass sie vor Schmerz zischte. »Das kannst du nicht tun! Das sind die Feinde!«

»Die Blauröcke sorgen hier jetzt für Ordnung – und jemand, der mich beklauen will, ist doch wohl eher mein Feind als jemand, der denjenigen wegsperrt, der mich beklaut.«

»Ich habe dich nicht beklaut! Ich … Es ist doch gar nichts drin in deinem verdammten Beutel!«

So weit war sie also schon gewesen – seine Reflexe benötigten eindeutig mehr Schulung!

Er schleifte sie in die regendunkle Dreiermarktgasse, in der bereits die Gerüche des beinahe stehenden Gewässers der aufgestauten Schlang hingen. Von hier waren bereits die regelmäßigeren Lichter der Steinmetz-Allee zu erkennen, er sah sie im Wind schaukeln. Auf der Allee patrouillierten immer ein paar Soldaten, da würde er das Balg loswerden.

»Lieferst du mich wirklich den Blauröcken aus?«, zischte das Mädchen mit nüchterner Eindringlichkeit. »Wirklich?«

Er reagierte nicht. Presste die Lippen zusammen. Zerrte das Gör durch die enge Gasse, und seine eigenen Schritte schienen die Sekunden seiner Entscheidung herabzuzählen.

Lieferte er sie wirklich den Blauröcken aus?

Diebe laufen zu lassen war nun wirklich nicht der Ehre eines Mannes zuträglich, der die Stadt eigentlich beschützen sollte. Aber ein Kind den Besatzungstruppen auszuliefern war es auch nicht.

»Ich kann … ich kann etwas tauschen! Gegen meine Freiheit!«, beteuerte das Mädchen in seine Gedanken hinein. »Bitte!«

»Was denn? Bietest du mir gleich etwa an, mir eine unvergessliche Freude zu bereiten mit deinem Maul voller schiefer Zähne? Nein, danke. Ich glaube nicht, dass du etwas hast, was ich haben wollen würde. Du siehst aus, als würdest du dein eigenes Gewicht noch einmal in Flöhen herumschleppen.«

Dennoch hielt er kurz inne, presste sie mit einer Hand an ihrem Kragen gegen eine Fachwerkwand. Sie spuckte ihm wütend auf das zerrissene Hemd. Es war blutdurchtränkt, und durch den unverkennbaren Schnitt schimmerte der mit einem Zeichen versehene Verband des Heilers. Dass sie ihn angespuckt hatte, bekräftigte seinen Entschluss – das hier war Abschaum, und Abschaum kannte er zur Genüge. Er knurrte wütend und stieß das Mädchen gnadenlos in das Licht der Steinmetz-Allee. Die Kolosse der dreizehn Altmeister säumten sie und überragten die dunkel drohenden Hausfassaden im Schatten dahinter.

Drei Blauröcke mit ihren unverkennbaren hohen Mützen standen um einen vierten Kameraden herum, der dem Altmeister des Wortzeichens auf die kolossalen Zehen pinkelte.

»Heda!«, rief Dawyd. »Ich habe hier einen Dieb gefangen!«

»Du Schwein!«, zischte das Mädchen und wehrte sich heftiger, versuchte ihn zu beißen, doch er verdrehte ihr Handgelenk so sehr, dass es knackte, und sie verharrte zurückgebeugt in denkbar unbequemer Pose, vor Schmerz und Schreck erstarrt.

Die drei Blauröcke fuhren herum. Hastig beendete der vierte sein Tun. Der im Rang am höchsten stehende Soldat, mit goldenen Fransen an den Schulterklappen, trat einen Schritt vor und sagte: »Sehr gut, Bürger.«

Er musterte Dawyd kurz, sein Blick verharrte länger auf der Scheide des Anderthalbhänders und noch ein wenig länger auf dem blutigen Hemd. »Ah, Fechtergilde. Ehrenhändel?«

»Schicksalsurteil«, nickte Dawyd knapp und kämpfte kurz gegen das erneut zappelnde Gör an, das sich offenbar mit dem Schmerz im Handgelenk abgefunden hatte.

»Darf ich sie Euch einfach übergeben?«

»Seid Ihr verletzt?«

»Nicht der Rede wert«, lächelte Dawyd ein wenig verkrampft. Die Bändigung des Mädchens wurde zunehmend schwieriger, und das Heilzeichen befreite ihn nicht vollkommen von jeglichem Wundschmerz. Erleichtert atmete er aus, als zwei der Männer dem Mädchen die Arme auf den Rücken drehten und sie zwischen sich nahmen.

»Na, dann einen schönen Abend, Bürger«, sagte ein Blaurock, während ein anderer zu einer der erleuchteten Turmuhren wies und sagte: »Sperrstunde, Bürger. Sonst müssen wir dich auch mitnehmen.«

»Ich bin fast zu Hause«, murmelte Dawyd, und mit der plötzlichen Einsicht, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, wünschte er die Soldaten in Gedanken zur Hölle.

»So, dann wollen wir mal sehen«, knurrte einer der Soldaten, ein langer Kerl mit Backenbart, während er Dawyd den Rücken zuwandte. »Du wirst wohl kaum noch jemanden mit deinen Langfingern belästigen, wenn dir nur noch eine Hand bleibt!«

»Was machen wir denn mit ihr?«, fragte einer der Soldaten seinen Vorgesetzten. »Wir haben doch Order …?« Er verstummte und schoss einen raschen Blick in Dawyds Richtung.

Das Mädchen wandte den Kopf, um Dawyd ein letztes Mal hasserfüllt anzustarren. »Du bist ein guter Bürger! Der aquinzischen Nation!«, schrie sie, und ihre Stimme hallte unheimlich von den Altmeisterstatuen wider, als würden sie alle mit der hellen Kinderstimme an Dawyds Gewissen appellieren.

»Sei still!«, befahl ihr einer der Soldaten. Seine Art zu reden, der Klang seines Dialekts, die Fremdartigkeit, die daran gemahnte, dass die Aquintianer Sygna mit Waffengewalt genommen und ihrem Kaiserreich einverleibt hatten, ließ Dawyd schaudern. Nun nahmen sie die kleine Verbrecherin mit, um ihr eine ihrer schmutzigen Hände abzuschlagen.

Das hätten die früheren Büttel nach einer Anhörung vielleicht auch so gehandhabt – und doch war es etwas anderes, und das sagte ihm der Blick des Mädchens ebenso eindringlich wie das Echo der Schritte zwischen den Altmeistern, von deren Händen die Laternen baumelten.

Dawyd fror, während er den Blauröcken hinterherstarrte.

Sie gingen auf das niedergerissene Weberviertel zu, in dem die Besatzer den Aufstand der Tuchweber und Färber zerschlagen und nun Manufakturen errichtet hatten. Sie würden das Gör über die Altmeisterstraße zur Alten Stadtmauer bringen. Zum Aufweg, der sich durch die Prunkgebäude am Bleiberg wand. Hinauf in die Festung, die den Bleiberg mit ihrem erneuerten Palisadenring wie eine verfallene, etwas zu tief gerutschte Krone umgab.

Dawyd fragte sich, wie viel Zeit dem Mädchen noch mit zwei Händen vergönnt war. Die Blauröcke waren weder für ihre Gnade berühmt noch für ihr Trödeln. Vermutlich würden sie das Urteil ohne das Bemühen einer Gerichtsbarkeit vollziehen. Wie es im Kriegszustand üblich war.

»Ach, verdammt«, murmelte Dawyd und machte sich auf den Weg, kreuzte die Allee und bog in die Vierermarktgasse ein.

Auch hier – Düsternis und verhangene Marktstände. An der nächsten Kreuzung bog er nach rechts ab. Er tastete nach seinem Mantel und zog die Kapuze tief in die Stirn – sie war vom jüngsten Regenguss noch klatschnass und klebte sofort an seinen kinnlangen Locken. Und dann tat er etwas, das er mit Sicherheit bereuen würde: Er zog das Lange Schwert – lautlos glitt es aus der Lederscheide – und begann zu laufen, parallel zur Steinmetz-Allee und mit einem fassungslosen Fluch auf den Lippen.

Er konnte einfach nicht glauben, was er gerade tat. Er beschloss, nicht allzu lange darüber nachzudenken. Er hatte schon Dümmeres getan, redete er sich ein, und das entsprach vermutlich der Wahrheit. Seine Kameraden nannten ihn nicht umsonst Dawyd das Maul – wie sehr er diesen Namen verdiente! Die Chancen darauf, dass er jemals Dawyd das Hirn genannt würde, schwanden ins Bodenlose.

Als er wieder auf die Steinmetz-Allee einbog, schlugen die Turmuhren gerade gleichzeitig die zwölfte Stunde und verkündeten somit, dass das Betreten der Straße unter Strafe verboten war. Dawyd sah den vier Soldaten entgegen, die nun stehen blieben, das Mädchen zwischen sich, und ihn verwirrt anstarrten.

»Bürger!«, rief dann der Kommandant. »Du bist vor der Sperrstunde gewarnt worden. Und das Tragen deiner Waffe ist dir vielleicht gestattet, doch das Ziehen keinesfalls. Weise dich aus!«

Dawyd hob die Hand mit dem Siegelring der Goldfechter und dabei auch das Heft seines Anderthalbhänders. »Zum Genüge der Goldenen Gilde«, flüsterte er seinem Schwert hastig zu, denn ohne diesen Schwur ging kein Schwertfechter von Sygna in den Kampf.

»Ich muss Euch ersuchen, das Mädchen laufenzulassen«, sagte er dann laut.

»Ist das ein Trick? Gehörst du zu Dreifinger und seinem Rebellenpack?«, gellte die Stimme des Kommandanten nun aufgebracht, und der spitze Schnurrbart des Mannes zuckte. Sofort sicherten zwei seiner Soldaten mit Hellebarden nach links und rechts, während der dritte die Muskete von der Schulter gleiten ließ und, den Lauf vor sich, einmal rundherum sicherte. Sie bemühten sich, das Straßenkind dabei in ihrer Mitte zu behalten, doch die Kleine war schmaler und gewandter, als es den Anschein hatte, und warf sich zwischen zweien von ihnen hindurch und auf den Boden. Dawyd glaubte, seine Augen spielten ihm einen Streich, denn sie verschwand so plötzlich in der Dunkelheit, dass er nicht sagen konnte, wohin sie verschwunden war. Auch die beiden Soldaten schrien auf.

Der Kommandant zog den Degen und trat einen Schritt auf Dawyd zu, während seine Untergebenen auf Hausdächer zielten oder in die schwarzen Mündungen finsterer Gassen stierten, als fürchteten sie um ihr blankes Leben.

Sehr gut, dachte Dawyd, wie stets bereit, sein Glück zu strapazieren. Sie rechnen damit, dass ich Teil eines Hinterhalts bin!

»Ihr seid umstellt!«, bluffte er, doch der Kommandant fiel ihm ins Wort: »Leiste keinen Widerstand, Fechter, und du wirst eine Verhandlung bekommen. Ansonsten erhältst du hier und jetzt eine Kugel.«

»Ich möchte widersprechen«, entgegnete Dawyd, stieß mit einem Ausfall vor, setzte einen, zwei Schritte nach, wischte den Degen seines Gegners mit einem Schlag seiner eigenen Klinge beiseite, schnitt mit einer geschmeidigen Bewegung durch den Ärmel der blauen Uniform und legte die Spitze des Anderthalbhänders an die Kehle des Kommandanten. Es war eine schöne Sequenz, die in diesem Fall in der Praxis beinahe ebenso gut funktioniert hatte wie im Training, und erst als er die Spitze des Langen Schwerts auf dem hervorquellenden Adamsapfel liegen sah, übergoss ihn wie ein kalter Regenguss, dass dies kein Scherz war, kein Training, keine Tat, aus der er sich mit einem Lächeln würde herauswinden können. Es setzte ihn auf eine Stufe mit jenen Aufständischen, die schon seit der Übergabe der Stadt an die Besatzer Hinterhalte legten, meuchelten und die aquinzischen Soldaten damit erst dazu brachten, so hart durchzugreifen. Er keuchte, doch lauter noch war das Geräusch, das der Kommandant von sich gab, mit blutendem Arm zur Salzsäule erstarrt. Zutiefst entsetzt starrte der Kommandant ihn über die lange Klinge an.

»Das ist dein Todesurteil, Bursche«, presste er mit verzerrtem Mund hervor.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Dawyd. Das Mädchen war längst abgehauen, und selbst wenn er es ihr gleichtat, steckte er in gewaltigen Schwierigkeiten. Wie lange mochte es wohl dauern, bis die Soldaten in den Fechtergilden herausfanden, dass der Einzige, der den Sandplatz mit zerrissenem Hemd verlassen hatte und auf den die Beschreibung passte, Dawyd Iackmar war? Einen Tag? Zwei?

Er zog das Schwert zurück, fuhr herum und versuchte, sich mit einem langen Satz in den Schatten der Vierermarktgasse in Sicherheit zu bringen.

»Feuer! Jetzt schieß den Bastard schon nieder!«, schrie der Kommandant hinter ihm dem Schützen zu. »Aber folgt ihm nicht! Wir haben unsere Order!« Dawyd Iackmar rannte, als säße ihm der Krumme Mann der Tiefe im Nacken. Ein Schuss zerfetzte die Fugen der Backsteinmauer zu seiner Rechten, doch bevor die beiden Soldaten mit den sperrigen Hellebarden die Gasse erreicht hatten, war er bereits ins Labyrinth der Sygnaer Sträßchen eingetaucht.

Ismayl wartete und lauschte in die hereinbrechende Nacht. Hier war es still, nur in den gut gestellten Meistervierteln unterhalb der Festung hingen menschliche Laute wie in einem Bienenstock – ein Bienenstock, der nur schlief, wenn die Nacht schon weit vorangeschritten war. Früher hatte die ganze Stadt ihren eigenen Rhythmus gehabt, ein wenig entkoppelt vom Lauf der Sonne. Nun brachten die Blauröcke sie zur Ruhe, und wer dort im Meisterviertel noch auf den Beinen war, hatte sich gut mit ihnen gestellt. Ismayl presste die Lippen zusammen.

Gut mit ihnen gestellt – kurz war ihm, als hörte er seinen alten Meister höhnisch darüber lachen. Er war ein Virtuose des Spotts gewesen, jemand, der anderen den Spiegel auf unvergleichliche Weise vorhielt. Dafür hatte er längst bezahlt, und mit Ismayl beschritt nur ein schwaches, unzulängliches Spiegelbild des Meisterpoeten diese Seite der Welt. Er schluckte und schmeckte Tinte. Das war nicht gut – das Zeichen durfte sich nicht zu früh von seiner Zunge lösen.

Für einen Moment wünschte er sich, jenes magische Zeichen zu beherrschen, das Dunkelheit brachte, die von Augen nicht durchdrungen werden konnte. Jendra konnte es ritzen, und die Dunkelheit floss dann um sie herum herab wie Tinte.

Tatsächliche Tinte zierte seine Zunge. Er atmete mit leicht geöffnetem Mund, musste das Zeichen überreden, länger zu bleiben.

Natürlich war es ihm unmöglich, Jendras Zeichen zu erlernen: Obwohl die Diebe und das Gesindel der Unterwelt bereits seit Hunderten von Jahren nicht mehr von einer Gilde regiert wurden, erlegten sie sich die gleichen Regeln zur Weitergabe der Zeichen auf, der sich auch die rechtmäßigen Handwerksmeister und Gildenvorsteher beugten. Dieses Wissen war kostbar; eigentlich war es ein Wunder, dass Jendra in ihrem Alter bereits eines der Zeichen erlernt hatte.

Und dennoch hätte Ismayl einiges für ein Verborgenes Zeichen gegeben. Stattdessen stand er hier, mit einem Zeichen auf der Zunge und einem weiteren auf der Klinge, und obwohl beide ihm den Hals retten konnten, fühlte er sich entblößt wie jemand, der nackt zu einem Wintnachtsumzug geht.

Wann kommt Jendra denn nun endlich?

Ismayl wechselte das Schwert unbehaglich von einer Hand in die andere. Seine Augen wanderten im Licht der Laternen über das kleine, stumpfschwarze Zeichen, das unterhalb der Parierstange in die Klinge eingeprägt war. Filigrane Linien formten sich zu einem endlosen Knoten. In seine Gedanken hinein tippte ihm eine Hand auf die Schulter. Er fuhr mit einem unterdrückten Schrei herum, und Jendra bedachte ihn mit dem süßesten Lächeln, das ihr schmutziges Koboldgesicht zustande brachte. Sie war völlig lautlos hinter ihm vom Balkon gesprungen.

»Es ist so gelaufen, wie ich gesagt hab«, grinste sie zufrieden. »Du bist dran.«

Sie verschwand wieder – natürlich nicht einfach so, nicht spurlos, nicht wie vom Erdboden verschluckt. Trotzdem ging alles schneller, als Ismayl es sich wünschte.

Jendra tauchte in den nächstgelegenen Treppenturm, und Ismayl fuhr gerade rechtzeitig herum, um den Fechter im Eingang der Gasse zu sehen. Als Ismayl ihm in den Weg trat, kam er aus dem Lauf zum Stehen. Sofort heftete sich sein Blick auf die Waffe, die Ismayl in der Hand hielt.

»Was soll das? Wer bist du? Du gehörst nicht …« Kurzes Zögern, er musterte Ismayls Gesicht. »Du gehörst nicht zu den Soldaten!«

»Ich ermahne dich, Dawyd das Maul, ein Duell mit mir zu fechten«, brachte Ismayl mit einem Würgen in der Kehle hervor, und die Worte flossen an der Tinte vorbei, an den Wirbeln des Zeichens auf Ismayls Zunge.

Der Fechter schüttelte den Kopf, nicht in Verneinung, sondern als wolle er Ismayls Forderung abschütteln. Dann jedoch hob er in einer flüssigen und dennoch zeremoniell anmutenden Bewegung das Schwert, das er in der Rechten hielt. »Ich bin immer für ein Duell zu haben«, grinste er, ermuntert durch Ismayls von Zeichenkraft verstärkten Worten, und hob das Gehilz, das Heft seines Schwerts, vor sein Gesicht. Er sah sich kurz um, doch die Duellforderung flößte ihm Wagemut ein, das wusste Ismayl. Offenbar glaubte er, dass er seine Verfolger abgeschüttelt hatte. »Zum Genüge der Goldenen Gilde!«

Jetzt, da es so weit war, wäre Ismayl gern noch einmal pinkeln gegangen. Seine Hände waren schweißnass. Aber mit Worten zu spielen, das war immerhin seine Profession. Er schmeckte die letzten Reste des Zeichens. Es blieb ihm keine Zeit mehr, es musste jetzt geschehen.

»Hilfe!«, gellte er in die Nacht, und wieder verstärkte das Zeichen die Dringlichkeit seiner Worte. »Garde! Der aufständische Fechter!«

Dawyd runzelte die Stirn. »Was soll das? Hast du keine Ehre im Leib? Bist du von den Stählernen Fechtern?«

Vom Dach kam ein leiser Pfiff der Bestätigung – Jendra kündigte wie abgesprochen an, dass die Bewaffneten seinem Ruf folgten. Ismayl fühlte sich, als müsse er sich übergeben. Unverkennbar hallten nun Rufe und Getrappel auf der Steinmetz-Allee, doch Ismayl wusste, dass die Soldaten noch sicherlich hundert Schritt zurücklegen mussten. Dem schlichten Hilferuf eines Sygnaer Bürgers wäre sicherlich nicht der ganze Wachtrupp gefolgt, wo sie doch Order hatten, Wertvolleres zu bewachen – doch Ismayls Wortzeichen wusste, wie es Menschen zu Taten motivierte.

Das galt jedoch auch für den Fechter, der nun ebenfalls jegliche Vorsicht aus seinem Geist verbannt hatte und ihn breit angrinste. »Ich gebe dir einen Grund, um Hilfe zu rufen. Hol ihn dir ab!«

Das Schwert des anderen wirkte einen guten Finger länger als das in Ismayls Händen – und so spitz … Andererseits konnte er kein Zeichen erkennen, das im Stahl prangte. Und das Zeichen im Stahl seiner eigenen Waffe war schließlich das einzig Wehrhafte, das er selbst außer spitzen Worte mit zum Duell gebracht hatte. Er hatte ansonsten wenig Ahnung, wie man mit einem Schwert kämpfte.

»Wird es jeden Hieb von mir abwenden?«, hatte er Elisabeda gefragt, als sie es ihm übergeben hatte. Sie hatte gelacht und den Kopf geschüttelt. »So etwas konnten nur die Zeichen der Fechter, und die sind lange vergessen. Dieses Zeichen da kann nur die Eigenschaft des Metalls verändern.«

»Also schneidet es durch das Schwert des anderen hindurch?«, hatte Ismayl versucht, sich zu versichern, doch Elisabeda hatte lediglich zerknirscht gelächelt. »Nein, es ist eines der nutzlosesten Eisenzeichen, Ismayl, aber keines könnte dir in einem solchen Kampf besser zu Diensten sein.«

Der Fechter verlor wenig Zeit. Ismayl war durchaus versiert in Kneipenschlägereien, im Hinterhalten und in Ablenkungsmanövern jeglicher Art, doch in einem fairen Kampf gegen einen echten Fechter hatte ein falscher Schwertschwinger wie er keine Chance.

»Bring das Schwert einfach zwischen dich und den Hieb«, hatte Elisabeda ihm geraten.

Ein exzellenter Rat. Der andere machte einen weiten Schritt nach vorn und zur Seite, während Ismayl versuchte, der Bewegung mit seiner Schwertspitze zu folgen. Ohne dass er den Hieb im Ansatz hatte erkennen können, fuhr die lange Klinge des Goldfechters auf ihn nieder. Ismayl schrie auf, stolperte einen hastigen Schritt zurück und brachte sein eigenes Schwert hoch.

Klank.

»Das Zeichen magnetisiert deine Klinge«, hatte Elisabeda gesagt – und ihr Zeichen hatte Wort gehalten.

»Was zur …«, schrie Ismayls Gegner mit wutverzerrtem Gesicht, als seine Klinge kleben blieb, als habe er in einen Klumpen Harz geschlagen. Seine Augen blitzten, die Narbe über der Augenbraue, der traditionelle Schmiss, trat blass im geröteten Gesicht hervor.

»Du … du bist gar kein Fechter! Eine hässliche Fratze wie deine wäre mir doch schon mal aufgefallen«, zischte der Kerl nun und hebelte an seiner Klinge herum. Ismayl kämpfte darum, das Schwert nicht aus der Hand gerissen zu bekommen.

Mit einem Ruck und einem Keuchen kamen sie voneinander frei. Der Goldfechter presste die Lippen zusammen und attackierte sofort mit heimtückischen Stichen, um Ismayls Klinge zu entgehen. Zwei Stiche gingen fehl, weil Ismayl erneut zurücktaumelte. Den dritten fing er wieder mit dem magnetischen Schwert auf, bevor die Sache noch tödlich endete.

Klonk.

»Hör mir zu …«, sagte Ismayl im Verschwörerton, als der andere wieder darum kämpfte, sein Schwert zu befreien. Ismayl spürte, dass das Zeichen auf seiner Zunge zerflossen war. Dass es nur noch seine eigenen Worte waren, nicht mehr. »Die Blauröcke kom …«

»Der Aufständische!«, gellte es da durch die Seitenstraße. Das Licht der Straßenlaternen malte die Silhouetten gewaltiger, als sie tatsächlich waren. »Waffen sinken lassen, im Namen der Blauen Garde!«, brüllte eine zweite Stimme. Die Soldaten hielten ihre Waffen angriffslustig vor sich.

»Lass mein verdammtes Schwert los!«, presste der Goldfechter hervor.

»Ich kann nicht«, gab Ismayl zu. »Aber jetzt sollten wir laufen!«

»Ohne mein Schwert laufe ich nicht!«

War Ismayl zuvor ganz auf den Goldfechter mit dem Mordwerkzeug in der Hand konzentriert gewesen, so nahm er jetzt wieder die gesamte Lage in Augenschein. Dort, wo die schmalere Weber-Allee in die statuengesäumte Prunkstraße mündete, hatten sich fünf oder sechs weitere Blauröcke eingefunden. Das Ruinenfeld begann jenseits der Weber-Allee, und inmitten der zerfallenen Bauten, selbige als Steinbrüche nutzend, lagen die flachen Baracken der neuen Manufakturen.

Der Fechter riss mit einem wütenden Schrei an seinem Schwert, doch Ismayl ließ einfach los und zog das vertraute lange Messer aus dem Gürtel. Der Goldfechter stolperte mit den zwei Schwertern in der Hand zurück, prallte gegen die Häuserwand zur Linken.

»Du Ratte«, keuchte er und zog sich beim Anblick der Soldaten so tief in die Schatten zurück, wie es ging.

»Ich habe gehört, du läufst schnell!«, presste Ismayl hervor. In der Theorie hatte Jendras Plan durchführbar geklungen und nicht annähernd so tödlich.

»Leck mich!«

»Im Namen des Kaisers! Ich stelle dich unter Arrest!«, drohte der Gardist von weiter vorn.

»Ich bin unschuldig!«, gellte die Stimme des Goldfechters, während es ihm endlich gelang, die beiden Schwerter wieder voneinander zu trennen.

»Rebellenpack! Den Frieden des Kaisers zu stören!«, kam die Antwort, und Ismayl, der sich ebenfalls in der Dunkelheit Schritt für Schritt von dem in die Gasse zielenden Musketenlauf entfernte, zählte in einem kurzen, eitlen Moment des Triumphs, dass sogar sieben Blauröcke auf seinen Ruf hin ihren Posten verlassen hatten. Es war noch keine Sperrstunde, und Ismayl trug keine unerlaubte Waffe – er konnte nun einfach hervortreten und sich als Geretteter dankbar erweisen. Sie würden nicht auf Dawyd schießen, wenn noch ein unschuldiger Bürger mit erhobenen Händen zwischen ihnen und ihrem Ziel stand.

Er hob bereits die Hände – doch dann schoss eine Erinnerung an das spöttische Lachen seines Meisters durch seinen Kopf.

Wie sicher bist du dir?, schien er zu fragen, und er hatte es stets vermocht, Fragen zu stellen, die andere dazu brachten, selbst zu hinterfragen. Ismayl blieb stehen und blickte in die Richtung, in der er Dawyd vermutete.

»Jetzt!«, murmelte er eher für sich. Denn die, die er damit meinte, war weit außerhalb seiner Hörweite. Doch als hätte sie ihn verstanden oder einfach das gleiche Gefühl für die Situation, erloschen alle Laternen. Die eine, die an einem Seil über die Gasse gespannt war, aber auch die großen, die in den Händen der Altmeister in der Allee die Nacht zurückgedrängt hatten. Wie von Geisterhand erstickten die Flammen an den petroleumgetränkten Dochten.

»Feuer!«, befahl der Kommandant der Soldaten als kaltblütige Schlussfolgerung auf die plötzliche, übernatürliche Dunkelheit.

Ismayl warf sich zur Seite in eine Nische der Hauswand. »Fechter! Runter mit dir!«, schrie er, und er konnte nicht sehen, ob der andere gehorchte. Etwas krachte mit einem metallenen Geräusch – Ismayl interpretierte es als den Laut eines geworfenen magnetischen Schwerts, das gegen einen stählernen Kürass prallt. Dann wurde die Muskete abgefeuert. Diese verfluchte Höllenwaffe, der die Armee des Kaisers Sieg um Sieg verdankte! Die Rohre spien Feuer, Krachen zerriss die Luft, Steine splitterten, Männer mit Degen und Hellebarden rückten vor, um ihren Gegnern den Rest zu geben.

Ismayl ließ den ersten an der Nische vorbei in die pechschwarze Dunkelheit laufen. Dem zweiten, obwohl er ihn nur als hastige Bewegung und Schemen wahrnahm, stieß er blindlings das Messer in die Seite. Es traf zunächst auf Stahl, glitt daran ab und fand bald schutzloses Fleisch. Der Mann schrie auf, ein weiterer rief: »Ein Hinterhalt! Schickt nach Verstärkung!«, und das musste Ismayl eigentlich gutheißen, denn das bedeutete, dass der Weg für seine Kampfgefährten im Weberviertel frei wurde. Trotzdem jagte ihm der Ruf eine Heidenangst ein. »Fechter!«, rief er ins Gewühl.

»Verdammt, ja!«, kam ein Keuchen zurück, begleitet von einem hässlichen schneidenden Geräusch und einem weiteren Schrei aus einer Soldatenkehle. »Ich glaub, ich hab jemanden umgebracht!«

Ismayl hörte das Knirschen eines Soldatendegens an der Wand, zu nah bei seinem Kopf raspelte es Splitter von den Stuckarbeiten. Von oben schimmerte lediglich der wolkenverhangene Mond – zu weit weg und zu finster, um die Gasse zu erhellen. Ismayl stieß wieder mit seinem Messer zu, duckte sich in die Nische, sprang erneut daraus hervor und wagte noch einen Stich. Ein Schrei, ein ungläubiges Ächzen.

»Fechter! Hierher, durch die Tür!«, zischte Ismayl, und wenn Jendra nun wirklich jede Facette ihres Plans berücksichtigt hatte, würde sich die Tür des von der Nische verborgenen Seiteneingangs mittlerweile hoffentlich öffnen lassen. Mit der freien Linken tastete Ismayl nach dem Türknauf – und fand ihn nicht. Stattdessen stolperte er direkt über die Schwelle.

»Scht!«, flüsterte Jendra und zerrte ihn in den Korridor. Er versuchte, weder sie noch sich mit seinem Messer zu verletzen, und lehnte sich keuchend gegen die Wand. Hier drinnen war es noch düsterer als draußen. Sie stieß die Tür zu, es klickte, als sie sie verschloss. Pechschwarze Dunkelheit, Hämmern von Fäusten gegen das Holz der Tür.

»Dawyd, bist du unverletzt?«, fragte Jendra.

»Wer ist das?«

»Das bin ich«, knurrte eine Stimme. Ismayl hatte trotz des engen Korridors noch gar nicht begriffen, dass es Jendra gelungen war, auch den Fechter in den Flur zu ziehen.

»Kommt mit«, sagte Jendra – er konnte ihr Grinsen hören. »Aber Vorsicht – es geht eine Treppe hoch!«

Ignaz wartete auf dem Katzbuckel.

Die alte innere Stadtmauer zog sich an dieser Stelle über einen Hügel am Fuße des Bleibergs, bevor sie in marode Trümmer auslief, die niemand mehr benötigte. Ignaz mochte die alte Mauer. Sie war selbst an den höchsten Stellen kein Vergleich zum neuen Prunkbauwerk mit den Schanzen, das sie dennoch nicht vor den Truppen Kaiser Yulians hatte bewahren können. Der Fall der Stadt hatte nichts mit Schanzen zu tun gehabt. Er war von innen heraus eingeleitet worden. Menschen, die glaubten, viel zu verlieren zu haben, hatten geschachert – und gewonnen. Zumindest für sich selbst.

Ignaz ließ seine Beine von der Mauer baumeln. Er hatte einige unwägbare Karten auf der Hand gehabt – die unwägbarste davon Jendras neuste goldene Karte: der Fechter –, aber das Spiel war dennoch aufgegangen.

Jendra hatte gute Arbeit geleistet und im Voraus einiges über den jungen Mann herausgefunden. Es war nicht schwer gewesen, denn er hatte vor seiner Zeit als Fechter einige krumme Dinger mit der Sygnaer Unterwelt gedreht, die Jendras Heimat war. Dem Adoptivsohn eines Lehrers stand jedoch stets eine Hintertür aus der Gosse offen, und wenn er auf noch so schiefe Bahnen geriet. Seine Eltern hatten ihn bei den Fechtern in die Lehre geschickt, und seitdem hatte er dem Zwielicht entsagt. Er hatte jedoch immer noch ein Faible dafür, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Seine Eltern hatten ihm die kriminellen Flegeljahre nie vergeben, und so banden ihn nur wenige Bekanntschaften und noch weniger ehrliche Freundschaften.

Dawyd Iackmar, nicht ohne Grund »das Maul« genannt, war genau der Mann, den Ignaz suchte.

Er lächelte und blickte über die Stadt; oder vielmehr durch sie hindurch, denn die meisten Häuser im neuen Teil der Stadt überragten die Mauer mittlerweile.

Die Ruinen des Weberbezirks konnte er dennoch wie eine schwärende Wunde wahrnehmen – fünf Straßenzüge im Süden, die Straßenbeleuchtung glomm wieder, und die ausrückenden Suchtrupps trugen Laternen, deren Lichtpunkte im Weberbezirk leuchteten. Ismayls Wortzeichen und der Goldfechter hatten einen Großteil des Wachtrupps abgezogen, und mit dem Rest hatten es Elisabeda, Neigel und Jannis’ Leute mit der Schützenhilfe durch Jendras Schattenzeichen aufnehmen können.

Die Soldaten dort unten würden nichts mehr finden. Weder die Täter noch deren Diebesgut. Die mit kruder Zeichenmagie versehenen Musketen hatten Jannis’ Leute über den unterirdisch verlaufenden Gaubach in ein Versteck gebracht; damit würde kein Blaurock mehr ausgestattet werden.

Ignaz zerbrach sich den Kopf über die Musketen. Wie konnten die schlampig daraufgepressten Zeichen den Effekt erzielen, auf den es die Aquintianer abgesehen hatten? Wie war es möglich, dass in den Manufakturen Zeichen gewirkt wurden – von Leuten, die sie nie gelernt hatten? Neue, unsaubere Zeichen, die machtlos hätten sein sollen, es aber nicht waren.

Schritte rissen Ignaz aus seinen Gedanken.

Der Goldfechter sah alles andere als glücklich aus, als er auf die Mauerkrone kletterte. Er war schmutzig, verschrammt und starrte finster vor sich hin. Ismayl hinter ihm strahlte dagegen erleichtert, und auch Jendra kauerte bereits mit einem Grinsen im Schatten der Mauerzinnen. Ignaz hatte sie nicht kommen hören.

Er stand auf und griff mit der verkrüppelten Rechten nach der Kapuze, die er ins Gesicht gezogen hatte. Er schlug sie zurück.

»Ihr seid das also! Dreifinger!«, knirschte der Fechter, schüttelte dann ungläubig den Kopf und lachte.

»Willkommen, willkommen«, sprach Ismayl feierlich an Ignaz Dreifingers Stelle und deutete eine übertriebene Verbeugung an, »bei den Rebellen von Sygna!«

Dawyd saß in Gesellschaft seiner neuen Bekanntschaften in der erstaunlich gewöhnlichen Dachkammer eines offenbar recht schmalen Gebäudes. Genau wusste er es nicht, denn er war mit verbundenen Augen hergeführt worden. Inzwischen war ihm die Augenbinde zwar wieder abgenommen worden, doch draußen herrschte finsterste Nacht, die Fenster waren verhangen und die Kammer so vollgestellt, dass er sich kaum ein Bild vom dem Gebäude machen konnte. Weit konnte es jedoch nicht vom Katzbuckel entfernt liegen, auch wenn der verrückte Dreifinger ihn durch Umwege in der Kanalisation und im Gewirr der unterirdischen Bachbetten zu verwirren versucht hatte.

Die Augen hatten sie ihm erst verbunden, als sie die Ziegelkavernen der Abwasserkanäle wieder verlassen hatten, und somit hatte sich Dawyd das ganze letzte Stück des Wegs vollends auf den Geruch konzentrieren können, den seine Kleidung nun ausdünstete. Die Kanäle waren nicht nur angefüllt mit den Abwässern und Fäkalien von Sygnas Bürgern, sondern auch noch mit den Schlämmen, Laugen und Giften der Manufakturen. Durch die Kanalisation flutete das Gemisch in die Bäche und mit ihnen in den Schlangfluss und mit jenem wiederum aus der Stadt hinaus – und was scherte es die besetzte Stadt, deren Bewohner sie seit der Besatzung nur unter harten Auflagen oder als zur Armee gepresste Soldaten verlassen durften, was jenseits der Mauern mit den zu einem Fluss angeschwollenen unterirdischen Bächen geschah?

Dawyd rieb seine Handgelenke, als hätte man ihm gerade die Fesseln gelöst – doch er war natürlich nie gebunden gewesen. Was ihn band, waren seine eigenen Gedanken. Die aquinzische Stadtwache hatte Grund gehabt, auf ihn zu schießen.

Du kannst nicht zurück, murmelte es in seinem Geist, und er versuchte, diesen Gedanken, der sich wie eine geballte Faust in seinen Magen bohrte, von sich zu schieben.

Es war alles nur ein Missverständnis. Natürlich kann ich zurück, antwortete er, wenn die Stimme zu laut wurde, doch das konnte sie nicht zum Schweigen bringen. Menschen waren schon wegen geringerer Missverständnisse hingerichtet worden.

»Das stellt Ihr Euch gut vor, nicht wahr?«, murmelte er, hob seinen Blick von seinen Händen und sah in Dreifingers verstörend gelassenes Gesicht. »Ein Goldfechter – an der Seite Eurer abgerissenen Bande?«

Nun wartete Dawyd auf große Worte, eine Rede vielleicht, definitiv eine Moralkeule, die nicht einmal ein Fechter parieren konnte, gute Argumente, die ihn veranlassen sollten, die Reihen des berüchtigten Aufständlers zu verstärken. Stattdessen: »Welche Wahl bleibt dir denn?«

»Welche … welche Wahl? Jede Wahl!«

»Du hast unserer kleinen Jendra die rechte Hand gerettet. Und viel Blut steckt nicht in ihr drin – vielleicht wär sie sogar dran krepiert. Damit hast du die Blauröcke verärgert, und sie werden dir nicht die Dankbarkeit erweisen, die Jendra dir erwiesen hat. Also – welche Wahl bleibt dir, wenn nicht die dankbare Seite zu wählen?«

Dieser Mann hatte eine Art, dass es Dawyd beinahe schien, als gehöre die Stimme in seinem Kopf nicht zu ihm selbst, sondern zu Dreifinger. Wie wenige Männer mochte der Kerl befehligen, dass es ihm auf einen einzelnen Goldfechter ankam?

Nein, hielt Dawyd in Gedanken stolz dagegen. Ein Goldfechter macht immer einen Unterschied .

Er hatte immerhin das Mädchen gerettet, Jendra – aber hatte sie wirklich in Schwierigkeiten gesteckt? Wann hatten sie beschlossen, dass sie ihn zu einem der Ihren machen wollten?

Misstrauisch schielte er zu Jendra hinüber, die sich auf einem der drei Lehnstühle mit ihren spitzen Knien und Ellbogen zusammengerollt hatte.

»Und wie erweist du deine Dankbarkeit, Dreifinger?«, unterbrach Dawyd seine eigenen Gedanken.

»Wie jeder Goldjunge sehnst du dich doch nach einer Gelegenheit, oder, Maul?«, lächelte der Anführer der Aufrührer. Es ließ ihn zugleich freundlicher und unnahbarer erscheinen. Es war ein Lächeln, wie es nur ein aufrechter Schurke zustande brachte, doch das Licht der Kerzen wandelte seine Augen in ein warmes Grün. Dawyd schüttelte den Kopf.

»Was soll das heißen?«

»Eine Gelegenheit, dich außerhalb des Sandhauses zu beweisen.«

»Das ist verboten«, murmelte Dawyd. Er zügelte die hilflose Wut, die in ihm hochkochte. Was hatte Dreifinger mit Jendras Hilfe eingefädelt? Was hatte er, Dawyd, selbst entschieden? Für wie durchschaubar hielt dieser Mann einen Goldfechter, dass er ihn mit Versprechen auf einen Kampf außerhalb der Grenzen der Gilden zu ködern versuchte?

»Unsere Dankbarkeit ermöglicht es dir nun, dich den Verbotenen anzuschließen, um das Verbotene zu tun. Hilf uns dabei, Verbotenes zu tun!«

»Ich verzichte, danke.«

Dawyd lehnte sich zurück und verschwand beinahe in den Schatten zwischen den Möbeln. Nur drei Kerzen erhellten den Raum, und Schränke, Kommoden, ein kleiner Tisch und drei Stühle, besetzt von ihm, Dreifinger und Jendra, taten ihr Bestes, das Licht zu verschlingen. Selbst in den Winkeln des Dachgebälks hingen kleine Regale und Kästen. Dawyd hatte keine Ahnung, was sich in all diesen Schränkchen befand, doch er erkannte, dass ihnen die gleiche Handschrift inne lag – die verzierten Rahmen, die Knäufe der Schranktüren, die Muster, die sich selbst über den Türrahmen zur Stiege wanden, das dunkle Holz, dessen Maserung auf die Gestaltung selbst Einfluss genommen zu haben schien.

»Ihr seid Schreiner«, erinnerte sich Dawyd daran, was er über Dreifinger wusste. Der verzog das Gesicht erneut zu einem Lächeln, jedoch glommen diesmal seine Augen nicht auf, sondern blieben kühl und dunkel in ihren verschatteten Höhlen.

»Ich war Schreiner«, sagte der Mann ohne weitere Regung. Er mochte um die vierzig sein, kein Alter, um einen Beruf hinzuwerfen, in dem man so gut war, wie all diese Werkstücke es verrieten. Er hob seine dreifingrige Rechte. Nur noch der kleine, der Ringfinger und eine gute Hälfte des Mittelfingers waren ihm geblieben.

»Man erzählt sich in den Straßen, das waren die Aquintianer. Die dich verkrüppelt und dadurch zu ihrem ärgsten Feind gemacht haben«, murmelte Dawyd.

»Das ist gut, dass man das sagt. Es ist gut, dass man redet«, grinste Dreifinger, fuhr sich mit seinen drei Fingern über den kurzen graumelierten Bart und streckte Dawyd dann die grässlich verstümmelte Hand hin. »Gestatten? Ignaz Dreifinger.«

Dawyd ergriff den Überrest dieser Hand und schüttelte ihn, ohne zu viel über die verstümmelten Glieder nachzudenken.

»Erfreut. Dawyd Iackmar, Goldene Gilde der Fechter, zu Euren Diensten. Also, natürlich nicht. Der Höflichkeit halber, aber nicht tatsächlich zu Diensten. Denn ich werde jetzt gehen und mich nicht mit Euch und Eurem Hunger nach Rache einlassen.«

Ignaz musterte ihn ernst. Spätestens jetzt erwartete Dawyd die flammende Ansprache wider die Despoten, die sich Sygna unterjocht hatten, wider Kaiser Yulian und seine Truppen und wider die Aquintianer, die der Stadt ihr kostbarstes Gut, die Zeichen, zu rauben versuchten. Doch die Ansprache kam auch diesmal nicht.

»Dann solltest du untertauchen, Dawyd das Maul«, sagte Ignaz leise, sein Blick wurde völlig ausdruckslos, er ließ Dawyds Hand los und lehnte sich zurück. »Denn dann genießt du nicht mehr mein Obdach. Meinen Schutz. Und mein Versprechen, dass die Blauröcke dich nicht finden werden.«

Dawyd zuckte betont gelassen mit den Schultern und streckte die Beine unter dem kleinen Tischchen von sich. »Ich komme schon zurecht, Meister Dreifinger.«

Ignaz spiegelte beinahe exakt Dawyds Bewegung, nur knapp verfehlten sich ihre Füße unter dem Tisch. »Wenn du meinst. Aber selbst die Blauröcke sind klug genug, um zuallererst bei der Gilde nach einem ihrer Fechter zu fragen. Und die Gilde, wenn ich das recht sehe, zahlt ihren Mitgliedern immer noch aus eigenen Mitteln einen mickrigen Ersatz für die Leibrente. Für ihren … unermüdlichen Einsatz als Unruhestifter und aufgeblasene Gockel. Wie gedenkst du, deinen Lebenswandel nach deinem waghalsigen Kampf gegen die Besatzer und für Mutter Stadt zu finanzieren? Oder willst du aus der Stadt fliehen?«

Dawyd atmete tief ein, er fühlte, wie seine Lungen dabei verräterisch zitterten. Als habe er Angst. Er fühlte den Stich oder die Narbe des Stichs, den er erlitten hatte, bis tief in seinen Brustkorb.

»Ich muss zu meiner Gilde. Meine Ehre gebietet es mir, dass ich mich Seidenschneid erkläre. Und danach …« Er brach ab. Er wusste es nicht. Vielleicht würde sich die Antwort im Sandhaus ergeben, vielleicht würde Timotis Seidenschneid, der Zunftmeister der Goldfechter, ihm eine Möglichkeit eröffnen, wie er sich retten konnte. Wie er Abbitte vor den Besatzern leisten konnte …

Aber er war immer zurechtgekommen. Er hatte schon einmal unbekümmert den Weg nach unten gewählt, den Weg fort von der Gesellschaft, in die er gehörte, und diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen. Er gehörte nun der Goldenen Gilde an, und diese bot ihm Schutz.

Ignaz musterte ihn, ein Auge ein wenig mehr verengt als das andere.

»Wer wäre ich, einem Mann die Ehre zu nehmen?«, murmelte er dann. Das schmale Gör hob seinen Kopf und gab ein langgezogenes »Pfft« von sich, als pfeife es auf die Ehre. Es schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ismayl wird dich begleiten«, ergänzte Ignaz, und nichts an ihm verriet Enttäuschung oder Zögern. Er stand auf. Aus seiner geballten Linken entrollte sich das Tuch, mit dem Dawyds Augen verbunden gewesen waren. Dawyd überspielte seine Furcht – vielleicht die erste Lektion, die er als Fechter gelernt hatte – und lachte höhnisch: »Zwei schlechte Nachrichten – wieder hinab in die Kanalisation, und das auch noch in Gesellschaft dieses eselhaften … Schauspielers! Womit habe ich das verdient?«

Ismayl öffnete am oberen Ende der glitschigen Treppenstufen ein vergittertes Tor, zog dem Fechter mit der anderen Hand die Augenbinde von den Locken und verbeugte sich mit einem Kratzfuß, wie er es auf dem Katzbuckel getan hatte.

»Näher ans Sandhaus heran führen uns die Kanalausgänge nicht«, sagte er und spähte, ein klein wenig beunruhigt, nach draußen.

Der Morgen war bereits hereingebrochen, und die ehrlichen Handwerker und Händler Sygnas begannen ihr Tagwerk. Nach allem, was Ismayl vom Sandhaus wusste, wurde dort noch der Rausch ausgeschlafen. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, was Ignaz sich davon versprach, Dawyd wieder laufen zu lassen.

»So verdreckt kann ich mich dort nicht sehen lassen«, seufzte der Fechter und breitete die Arme dramatisch zu den Seiten hin aus. Ismayl wies mit dem Kinn auf das Hemd, das an den meisten Stellen nicht mehr in Dawyds Gürtel steckte. Die halb aufgerollten Ärmel spannten um die wohlakzentuierten Unterarme des Mannes, vor allen Dingen wurde es aber von einem Blutfleck über dem rechten Rippenbogen dominiert. Auch an mehreren anderen Stellen hatte das Hemd schon gelitten.

»So hast du doch vorher schon ausgesehen«, gab Ismayl lediglich zurück.

»Das Blut meinte ich nicht. Das trägt man im Sandhaus so.«

»Reicht das, was die Gilde euch noch an Leibrente zahlt, nicht für ein neues Hemd? Es soll ja immer noch recht stattlich ausfallen dafür, dass deiner Gilde der Geldhahn zugedreht worden ist.«

Etwas flackerte in Dawyds Augen auf, etwas Seltsames – wie Scham. »Ich meinte den Gestank!«, zischte er.

»Sieh her und lerne für all deine zukünftigen Reisen in der Kanalisation!«, forderte Ismayl ihn auf, nahm einen gut verschnürten Öltuchbeutel von der Schulter und reichte ihn dem Fechter.

»Die es nicht geben wird. Dies hier war meine letzte. Ich bin nicht der Typ … für Reisen dieser Art!«

»Wer ist das schon?«, lächelte Ismayl schmal. Ein wenig ungeduldig zog er Dawyd aus dem miefenden Abgang, der hinab in die Gedärme der Stadt führte, hinein in eine Gasse im Schatten der Ruinen der Stadtmauer. Eine Ratte huschte davon, ihre kratzenden Krallen auf den Pflastersteinen verstärkten die Stille noch.

Dawyd öffnete den Beutel und zog jeweils zwei Hemden und Kniehosen hervor. »Ich brauche keine Almosen. Mein Hemd … ist Absicht.« Er pausierte kurz, als suche er nach Ismayls Namen. Vergeblich. »Schmierenkomödiant.«

Ismayl verzog das Gesicht.

»Ismayl genannt Schönauge«, murmelte er. »Und das andere Paar Hosen und das Hemd sind für mich. Oder dachtest du, ich würde mit dem Gestank Vorlieb nehmen? Nein, im Gegensatz zu dir bevorzuge ich nicht nur duftende, sondern auch unbesudelte Kleider.«

Schweigend schälten sie sich nebeneinander aus Hemd und Hose. Ismayl wandte Dawyd den Rücken zu – nicht nur weil er sich vor dem anderen genierte, sondern auch weil er sich somit selbst daran hinderte, den geradezu lächerlich gutgebauten Fechter neidvoll anzusehen.

»Warum heißt du Schönauge?«, fragte der auch prompt. Ismayl fuhr zu ihm herum, als Dawyd gerade die Kniehosen hochzog und mit seinem Gürtel und Waffengehänge haderte. Seufzend schob er seine bestrumpften Füße wieder in die schlammverkrusteten hohen Stiefel. Ismayl tat es ihm gleich und zog sich das weite Leinenhemd so rasch über den Kopf, dass er sich prompt darin verhedderte und Dawyd noch ein paar Blicke auf seine schlaffe weiße Haut gewährte. Wütend über sich selbst zerrte er das Hemd an sich herab und ordnete den Kragen, der über die Schultern reichte. Besonders gut angezogen waren sie nicht, doch sie würden auch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Dann richtete er sich auf und trat noch einen Schritt näher auf den Fechter zu, damit der ihn deutlich sehen konnte, denn obwohl der Himmel bereits heller wurde, hing in dieser Gasse noch immer die Dämmerung fest. »Sieh mich an, Dawyd das Maul! Man nennt mich Schönauge – weil ich schöne Augen habe.«

Dawyd öffnete den Mund, um darauf etwas zu erwidern, hob dann aber lediglich die Brauen, lächelte einnehmend und legte Ismayl gönnerhaft den Arm um die Schulter. »Und darauf legen bekanntlich die Damen wert«, rang er sich schließlich ab.

Ismayl wand sich unter dem Arm hervor, nahm seine und Dawyds stinkende Kleidung und schob sie unter einen zerbröckelnden Steinquader, der sich aus der alten Mauerkrone gelöst hatte und auf der Gasse zum Liegen gekommen war.

Sie traten ins Licht der Höveschstraße, an der gerade die Fensterläden geöffnet wurden. Viele Werkstätten standen jedoch leer, zahlreiche ehemalige Handwerksmeister und –gesellen waren bereits auf dem Weg in die Manufakturen, die die Aquintianer eingeführt hatten. Die Händler präsentierten nur noch bescheidene Waren. Mehr gab es vielleicht unter der Hand, doch danach zu fragen barg Risiken. Jeder konnte einen mittlerweile an die Besatzer verraten. Nur dann gab es schließlich etwas Ordentliches zu beißen.

Ismayl sah sich dennoch nicht missgelaunt um – die Zustände waren nun einmal so, und er hatte schlichtweg nicht die Kraft, sich jeden Tag deswegen schlecht zu fühlen. Er hörte zwei Frauen, die Wasser schleppten und sich über die nächtlichen Ereignisse im Weberviertel unterhielten. Er stieß Dawyd stolz in die Seite, doch dieser presste grimmig die Kiefer aufeinander.

Als sie die beiden Wäscherinnen hinter sich gelassen hatten, lehnte er sich ganz leicht zu Ismayl hin und wisperte: »Du freust dich, wenn sie reden, ja? Du bist mich wohl noch nicht leid. Du hoffst, dass ich mit dir zu Dreifinger zurückkehre, was auch immer der Zimmermann davon haben mag!«

»Er ist Schreiner, kein Zimmermann«, flüsterte Ismayl zurück. »Oder war es, vielmehr.«

»Bevor sie ihn verstümmelt haben, ja? Lautet so nicht die Geschichte?«

»So lautet sie, Maul. Und sie stimmt. Sie haben ihn gefangen genommen, weil er in den Reihen derer stand, die gekämpft haben, obwohl die Stadt bereits übergeben worden war. Auch er beging vielleicht den Irrtum zu glauben, seine Gilde könne ihn von der Anschuldigung des Verrats freikaufen. Stattdessen hat der Rote ihn gekriegt und viel Spaß mit ihm gehabt, Goldfechter. Der Rote ist ein Sammler, und ich wette, die Finger eines Fechters fehlen ihm noch in seiner Sammlung.«

Dawyd starrte ihn an und stolperte dabei beinahe über einen herausstehenden Pflasterstein. »Der Rote Rufin«, flüsterte er, wie ein Kind den Namen des Krummen Manns der Tiefe auf den Lippen führt, wenn seine Eltern fragen, warum es das Zubettgehen fürchtet. »Du kannst einem Angst machen!«

Schönauge nickte und zwinkerte mit den Wimpern. »Natürlich. Ich bin kein Schmierenkomödiant, Maul. Ich bin Dichter.«

Dawyd verzog die Lippen, als habe Ismayl ihm die kanalstinkende Kleidung darangehalten. »Und warum schickt Ignaz einen Dichter mit, wenn er befürchtet, dass die Männer des Kaisers mich einkassieren?«, murmelte er. »Sollst du meinen Tod besingen? Oder hast du dein verdammtes magnetisches Schwert dabei?«

»Nein, du hast es einem von ihnen an den Kopf geworfen«, erinnerte ihn Ismayl, während sie von der Höveschstraße in den Torbogen des Sandhauses einbogen. »Und ich wäre selbst froh, wenn ich eine beruhigendere Antwort auf deine erste Frage hätte.«

Das von der Luft der Stadt gedunkelte dreistöckige Gildenhaus mit der bewegten Geschichte umfriedete mit seinen Flügelgebäuden den sandbedeckten Innenhof. Die vierte Seite schirmte eine Mauer aus rotem Stein zur Straße hin ab, darin eingelassen war eine schmale Pforte mit einem hohen Torbogen aus Ziegelsteinen. Im Schlussstein des Bogens war noch das alte Wappen der Fechter zu erkennen, bevor die Gilde sich geteilt hatte.

Niemand bewachte die Pforte. Es war zu früh am Morgen.

»Wo sind denn alle?«

»Weißt du, wonach die Straße hier benannt ist?«

»Die Höveschstraße?« Ismayl wiegte den Kopf hin und her. Hier, im inneren Kreis der verfallenen Stadtmauer führten die Straßen alte Namen, und die Sprache hatte sich seither ebenso verändert wie die Stadt. »Nach einem Hof?«

»Hübsch«, korrigierte Dawyd mit Triumph im Blick. Er schlug sicherlich nicht oft andere Menschen mit seinem Verstand. »Das Sandhaus lag früher im Hübschlerviertel, als es noch eine ganze Gilde der Kurtisanen gab. Vor Hunderten von Jahren.« Er wies in die Straße, die breit und von massiven hohen Steinhäusern gesäumt war, auf deren spitzen Giebeln Ismayl noch Spuren alter Bemalung erkennen konnte. »Es war ein ganz ehrbarer Beruf. Respektable Handwerkerinnen sozusagen. Und immer noch kann man sich hier sehr gut bis in den Morgen hinein die Zeit vertreiben.« Er taxierte Ismayl mit überheblichem Blick, während er das Tor mit einem Schlüssel aufschloss. »Ich überlasse es also deiner Vorstellung, wo die Gildenfechter jetzt sind.«

»Dann haben die Goldfechter nun wohl ihren Platz eingenommen und gehen gerade ihrem Nebenberuf nach. Weil sie allesamt so gut gebaut sind wie du«, erwiderte Ismayl gewitzt.

Dawyd knurrte. »Ach, setz dich auf deinen Finger, Schönauge! So früh ist einfach noch niemand hier, wir arbeiten meist bis tief in die Nacht und gehen uns danach noch ein wenig vergnügen!«

»Arbeiten und vergnügen. Mit Klingen. Und Rotbier. Und Hübschlerinnen.« Ismayl nickte. »Aber ja. Ich verstehe absolut. Und von solch anstrengender Tätigkeit müsst ihr euch dann, wenn sich der normalsterbliche Arbeiter in den Manufakturen knechten lässt, erholen.«

Dawyd ging durch die Pforte, und Ismayl dachte kurz, der Fechter würde ihn einfach davor stehen lassen. Dann jedoch hielt er die Tür auf, sah sich düster nach ihm um und murmelte: »Warte nur. Bald geht es uns genauso dreckig wie dem nächstbesten Mann. Aber bis dahin bin ich entschlossen, noch ein paar Fechtern von der Stahlbande aufs Maul zu hauen.« Bei den letzten Worten warf er einen finsteren Blick zum rechten Flügel des Sandhauses, auf dessen bleiverkleideten Fensterläden das Siegel der Stählernen Fechtergilde prangte.

Ismayl verzichtete darauf, Dawyd zu sagen, statt auf den Tag zu warten, an dem seiner Gilde das Geld ausginge, solle er sich lieber heute Ignaz Dreifinger anschließen.

Keine Lektionen in Moral, hatte Ignaz ihm eingeschärft.

Also hielt er den Mund und folgte Dawyd ins Sandhaus.

Das Erdgeschoss des weiten Hauptgebäudes ergoss sich über breite, von Säulen gesäumte und von einem weißen Vordach gekrönte Treppenstufen auf den Sandplatz. Oberhalb der Prunktreppe befand sich nicht nur die eindrucksvolle, zweigeteilte Eingangshalle der beiden Gilden, sondern auch, hinter dem kleineren Seiteneingang, der Invalide, die legendäre Schenke des Sandhauses. Dawyd bog mit langen, zielstrebigen Schritten von der Haupttreppe dorthin ab. Dabei lag seine Hand auf dem Knauf des Langen Schwerts an seiner linken Seite, und Ismayl entging nicht, dass sein Blick, seiner geraden und stolzen Körperhaltung zum Trotz, immer nach links und rechts flackerte, als befürchte er Blauröcke im Schatten der Säulen.

Dawyd sah durch die Butzenglasscheibe ins Innere der Schenke. Über der Tür gaben kunstvoll geschnitzte Verstümmelte – Einbeinige, Einarmige, Einäugige – schäumende Humpen Rotbier weiter. Ismayl blickte hinauf und fragte sich, ob Ignaz wohl den Schreiner kannte, der den Invaliden so verziert hatte, oder ob die Schnitzerei älter war. Über diesen Teil der Stadt wusste Ismayl bedauerlich wenig – ein eigenes Viertel für Hübschlerinnen und Liebesdiener! Ob die Menschen, die nun in den Häusern wohnten, wohl davon wussten? Er musste ein paar Geschichten in Erfahrung bringen …

Doch seit keine Dichter mehr auf freiem Fuß waren, war es immer schwieriger geworden, Menschen dazu zu bringen, Geschichten zu erzählen. Ismayl nahm eine Feder vom Gürtel.

»Das ist die falsche Fechtwaffe«, spottete Dawyd, und sein Atem malte Dunst an die Scheiben.

Wenn du wüsstest, dachte Ismayl. Manchmal ist die Feder mächtiger als das Schwert. Doch dieser Gedanke blieb schal. Für ihn war der Entschluss, sich Ignaz’ Sache anzuschließen, leichter gewesen als für Dawyd. Er hatte erfahren müssen, dass auf kurze Sicht nichts mächtiger war als das Schwert. Dass das Schwert die Feder zerhacken konnte, bis ihre kleinen Äste in alle Himmelsrichtungen davonwirbelten, langsam, aber unausweichlich dem Boden entgegen. Ismayl schüttelte den Gedanken ab.

»Immerhin ist sie nicht magnetisch«, erwiderte Ismayl, nahm sein kleines Messer und schnitt den ausgefransten Kiel der Feder sauber an. Die Reste rieselten zu Boden. Nun konnte er wieder damit schreiben, und das würde er vielleicht noch bitter nötig haben, je nachdem, was im Sandhaus vor sich ging. Das Schwert war mächtiger als die Feder – doch wenn er schnell genug war, würden Schwerter vielleicht in ihren Scheiden verweilen, und der Feder würde ein kurzer Sieg zuteil.

Dawyd drückte beinahe zaghaft die Klinke – die Tür öffnete sich knarrend. Die Schankstube lag dunkel und voller alter Gerüche vor ihnen. Das schwere Rotbier war in jedes Holzfurnier der Wand, in jede Fliesenfuge eingezogen, und selbst in den Deckenbalken hatte sich der Geruch nach Schaumkronen und ölig-rotem Bier festgesetzt.

Sie tauschten einen kurzen Blick, dann nickte Dawyd entschlossen, sein Kiefer schob sich etwas vor, als er die Zähne zusammenbiss und eintrat. Ismayl hatte noch den Kopf schütteln wollen – er brauchte noch Vorbereitungszeit! Doch jemand wie Dawyd gab nichts auf die Befindlichkeiten von jemandem wie ihm.

Weit hinten glomm ein kleines Licht.

Dawyd zog, ohne zu zögern, sein Schwert. Ismayl verfiel in Hektik; immer, immer hatte er zu wenig Vorbereitungszeit für seine Feinarbeit, und wen wunderte es dann noch, dass seine Feder gegen Schwerter versagte?

»Dawyd? Dawyd Iackmar?«, kam eine Stimme aus dem hinteren Teil der Schenke. »Dass du dich hertraust, Junge. Dass du dich hertraust!«

Ismayl trat ebenfalls ins Dämmerlicht der Kneipe ein, während er gleichzeitig ein kleines Tintenfläschchen aus der Tasche an seinem Gürtel fischte. Er entkorkte es und stellte es auf einen der Tische, um den herum die Stühle ordentlich geradegerückt waren. Vom Korken tropfte ihm ein wenig Tinte auf den Tisch, und nervös wischte er mit dem Daumen darüber. Dawyd hingegen schien sich zu entspannen. Das Schwert hielt er noch in der Hand, doch er stand nicht mehr in dieser Fechterpose, dieser leichtfüßigen Habachtstellung.

»Joseffe«, sagte er. »Bist du schon wach oder noch auf?«

»Noch, mein Junge«, seufzte der Ältere. »Noch. Ich räume auf. Lass mich dir ein Bier einschenken. Deinem Freund auch eines?«

Mit zitternden Fingern tauchte Ismayl den Federkiel in die schwarze Tinte. Zu wenig Zeit. Immer zu wenig Zeit … Von der Tür schien das graue Morgenlicht über die Feder, als das Schwarz von ihr herab in den Hals des kleinen, bauchigen Fläschchens rann.

»Ich weiß nicht. Bier, Schönauge? Oder willst du erst noch einen Brief schreiben?«

Ismayl antwortete nicht gleich. Er sah auf, schüttelte den Kopf, nickte, brachte dann hervor: »Verschenkt er immer sein Bier?«

»Wer ist das, Dawyd? Stell mir den Burschen mal vor. Wie kommt’s, dass er noch nie hier war?«