Die Dreizehnte Fee - Julia Adrian - E-Book

Die Dreizehnte Fee E-Book

Julia Adrian

5,0

Beschreibung

Ich bin nicht Schneewittchen. Ich bin die böse Königin. Für tausend Jahre schlief Die Dreizehnte Fee den Dornröschenschlaf, jetzt ist sie wach und sinnt auf Rache. Eine tödliche Jagd beginnt, die nur einer überleben kann. Gemeinsam mit dem geheimnisvollen Hexenjäger erkundet sie eine Welt, die ihr fremd geworden ist. Und sie lernt, dass es mehr gibt als den Wunsch nach Vergeltung. "Kennst du das Märchen von Hänsel und Gretel?", frage ich flüsternd. Er braucht mir nicht zu antworten, er weiß, dass nicht alle Märchen wahr sind. Nicht ganz zumindest. Es gibt keine Happy Ends, es gab sie nie. Für keine von uns.

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Seitenzahl: 225

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Julia Adrian

Die Dreizehnte Fee

Erwachen

Astrid Behrendt Rheinstraße 60, 51371 Leverkusenwww.drachenmond.de, [email protected]

Satz, Layout Martin Behrendt

Lektorat, Korrektorat:Michael Lohmann, worttaten.de

BildmaterialHintergrundmuster: lolloj / shutterstock.comBrombeeren: Guzel Studio / shutterstock.comBlätter und Ranken: Kopainski Artwork

Umschlaggestaltung Alexander Kopainski, kopainski-artwork.weebly.com

Zitat / Gute Nacht LiedClemens Brentano

ISBN: 978-3-95991-231-0 ISBN der Druckausgabe: 978-3-95991-131-3

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Prolog

Bett aus Rosen

Rückkehr der Königin

Nordwind

Das Heim der Sieben

Wahrung des Erbes

Verlorene Träume

Die Kinderfresserin

Der Uhrmacher

Die Giftmischerin

Schicksal

Im Schutz der Nacht

Hexenwahn

Nixen

Zauber des Glücks

Brunnenhexe und Rattenbiest

Die Wurzel

Scheidepunkt

Das Ende einer Reise

Danksagung

Für Petros

Du bist der Grund, warum es dieses Buch gibt,dieses Märchen über Schuld und Unschuld.»Warum ist die Hexe bei Hänsel und Gretel böse?«Eine Frage.Hier die Antwort.Vielleicht.Vertraue deinem Herzen.Es ist nicht alles so,wie es auf den ersten Blick scheint.

Prolog

Ich komme zu spät. Ich weiß es.

Die Erde fliegt unter meinen Füßen dahin. Ich berühre sie kaum, achte nicht auf meinen Tritt. Vorwärts, ist alles, was ich denken kann. Vorwärts. Und meine Füße tragen mich schnell und doch nicht schnell genug.

Dreh um, hallt es in meinem Kopf, du willst das nicht sehen.

Ich muss. Ich habe keine Wahl.

So ist die Liebe. Sie bindet, sie bindet mich und ich kann nicht anders, als dem Schrecken entgegenzulaufen. Ich weiß, was mich erwartet und dennoch kann ich nicht aufhören zu hoffen.

Bitte, bitte, habe sie verschont!

Ich beiße die Zähne zusammen, würge den Schrei hinunter. Nur die Tränen kann ich nicht aufhalten.

Du wolltest lieben. Liebe bedeutet Leid. Hast du das denn immer noch nicht begriffen?

Nein! Ich schließe die Augen, lasse mich tragen über die Wiesen. Und alles, was ich sehe, ist ihr Gesicht und es brennt in mir. Alles brennt. Nur nicht sie!

Sie ist ein Mensch. Unbedeutend.

Sie ist alles.

Die Königin in mir lacht, aber sie lacht leise und ich spüre, dass auch sie leidet.

Liebe, höhnt sie und dann verstummt sie. Denn ich stehe am Hang und blicke hinab auf das Tal. Ich blicke hinab auf den Tod.

Ich habe sie verloren.

Bett aus Rosen

Es war einmal – so beginnen die Märchen und so begann auch mein Leben. Und es hätte tatsächlich ein Märchen werden können, doch das ist lange, lange her. So lange, dass sich die Jahre zu Staub verwandelten, zu Bruchstücken einer sich selbst vergessenden Zeit. Und nicht einmal ich kann sagen, wann mein erstes Es war einmal seinen Anfang fand.

Ich atme. Ich lebe. Zum zweiten Mal.

Während ich keuchend die süße, unheilschwangere Luft einsauge, mein Herz in wilder, neu erwachter Energie pumpt, ahne ich, dass sich alles verändert hat, und begreife doch nicht was. Meine Lippen prickeln wie in Erinnerung an einen zärtlichen Kuss. Ich fasse mit meinen Händen in die steifen Laken, fühle den rauen Stoff unter meinen Fingerkuppen zu Staub zerfallen.

Ich schlage die Augen auf und sehe doch nichts. Aber ich fühle, dass da jemand ist, bei mir. Ich höre den Atem, das nervöse Zucken von Wimpern. Ich rieche Schweiß: Angst, Erregung und Erschöpfung.

Fremde Hände greifen nach mir, berühren mich. Etwas zerbröselt. Bestürzt stelle ich fest, dass es mein Kleid ist. Ich balle die Finger zur Faust, erwarte die Hitze der Magie – doch meine Hand bleibt leer.

Das Bett schwankt unter dem Gewicht des Fremden. Ich öffne die Hand und rufe erneut nach meiner Macht – nichts geschieht. Nur die Finger fassen mich an, schüren meine Verwirrung und meinen Zorn.

»Verflucht.«

Stille.

Dann: »O Gott, sie ist wach!« Lauter: »Sie ist wach!«

Hallende Schritte. Eine Tür, die aufgerissen wird. Frische Luft.

»Was sagst du? Sie ist wach? Was machst du da?«

»Ich dachte, weil sie doch nur so da liegt … ich glaubte, es würde niemanden stören!«

»Hast du sie geküsst?«

»Nein, ich meine ja …«

Ein Schwert wird zischend aus der Scheide gezogen. Ich kenne das Geräusch. Ich blinzele, kämpfe gegen die gleißende Helle, gegen das Gefühl der Ohnmacht. Nur langsam kehrt die Kraft zurück. Ich muss lange geschlafen haben. Zu lange. Etwas stimmt nicht. Etwas ist ganz und gar falsch.

»Wieso ist sie nackt?«

»Ich naja … ich … ich habe nur …«

»Was hast du getan?«

»Beim Fluch der Eishexe! Ich wollte sie nur einmal berühren. Aber das Kleid, das Kleid, es zerfiel einfach!« Die Worte überschlagen sich fast. Es schmerzt in meinen Ohren.

»Du hast die Schlafende erweckt. Ich hatte befohlen, sie nicht anzufassen.«

»Ich dachte … ich meine …«

»Wie lange?« Ich unterbreche den Streit. Meine Stimme klingt so sanft wie die einer neugeborenen Elfe, nicht wie die der uralten Frau, die ich fürchte zu sein.

»Wie lange?« Ich wiederhole die Frage und kann endlich Schemen ausmachen. Vage Umrisse, von vier oder fünf Gestalten. Menschen. Ein gutes Zeichen, wenn es noch Menschen gibt. Dann hat die Welt sich nicht allzu oft gedreht.

»Wie lange was?«, fragt der Mann mit der unerträglichen Stimme. Blonde Haare, helle Haut.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, frage ich.

Schweigen.

Und in dem Schweigen kommt mir die Erinnerung an die letzten Momente, kurz bevor der Zauber seine Wirkung tat.

Und ich begreife die entsetzliche Wahrheit: Sie haben mich betrogen!

Eiskalter Hass brennt in mir, flammt durch meine Adern. Ich hebe den Arm, drehe die Hand. Das Zeichen auf dem Handgelenk brennt schwarz wie eh und je.

Ein verlogenes Symbol!

»Sie ist eine Hexe«, knurrt der Zweite. Der Blonde kreischt, er weicht zurück. Noch mehr Schwerter zischen. Eines legt sich an meinen Hals, kühl und scharf. Endlich klärt sich mein Blick und ich löse die Gedanken von der Vergangenheit. Ich sehe von dem tödlichen Stahl auf meiner Kehle hinauf in die schwarzen Augen eines dunkelhaarigen Mannes.

»Unser Dornröschen ist eine Hexe«, murmelt er und hebt mein Kinn mit der Spitze des Schwertes.

Fünf Männer stehen im Raum. Drei von ihnen scheinen Soldaten eines Reiches zu sein, dessen Wappen mir unbekannt ist: eine goldene Schlange auf blauem Grund. Der Blonde ist ein Edelmann, ein Prinz. Falls es noch Prinzen gibt und Königreiche.

Der fünfte und letzte Mann jedoch ist mir ein Rätsel. Er ist anders – er riecht anders.

»Was seid Ihr?«, frage ich.

Er neigt den Kopf, als würde er sich wundern. Die Augen verengen sich.

»Unmöglich, eine Hexe?«, näselt der Blonde und späht über die Schultern der verängstigten Soldaten. Seine Augen sind wässern. Kein Glanz ist in ihnen, keine Andeutung von Tiefe.

»Sie trägt das Zeichen«, antwortet der Dunkelhaarige.

»Sie sieht nicht aus wie eine Hexe!«, beharrt der Prinz störrisch. »Ich meine, sie ist so überaus reizend. So vollkommen und schön!«

»Die Eishexe ist auch schön«, flüstert einer der Soldaten.

»Und die Giftmischerin«, wirft der zweite ein.

»Es ist das Zeichen der Dreizehn Hexen.« Der Dunkelhaarige mustert mich genau. »Doch gab es bisher nur zwölf.«

Zwölf, sie leben.

»Es sind dreizehn, waren es immer«, sage ich leise und ignoriere die hastig gestammelten Gebete der vier anderen. Ich brauche sie nicht anzusehen, um sie wahrzunehmen. Ich höre ihre ängstlich flatternden Herzen, das Zischen ihrer Lungenflügel. Doch erreicht es mein Bewusstsein nur dumpf. Keine Magie, geschwächte Wahrnehmung. Die Jahre fordern ihren Tribut.

»Wer hat den Fluch gebrochen?«, frage ich und mein eigenes Herz beginnt zu stocken. Der Mann neben mir hebt eine Braue. Seine kurzen Haare schimmern schwarz wie der Himmel bei Nacht. Ob er …?

Er fixiert mich. Sein Blick sucht eine Antwort. Er scheint sie nicht zu finden.

»Unser Prinz«, antwortet er.

Nur langsam begreife ich den Sinn der Worte. Der blonde Prinz, er küsste mich. Mein Blick fährt herum, findet ihn. Er erbleicht.

»Du!«, zische ich und schmecke bittere Enttäuschung. Feige versteckt er sich zwischen den Soldaten und ihren Schwertern. Verlogenheit und Selbstsucht umgibt ihn wie ein schwelender Gestank. Dieser Mensch erlöste mich durch einen Kuss? Er soll der Eine sein? Meine wahre Liebe …?

»Ich … ich glaubte, Ihr wäret eine Prinzessin«, wirft er mir pikiert vor.

»Was soll mit Eurer Hexe geschehen?«, fragt der Dunkelhaarige. »Ihr erwecktet sie, jetzt gehört sie zu Euch.«

Hexe?

Es klingt wie eine Beleidigung. Besäße ich meine angestammte Macht, wäre sein Urteil besiegelt: Tod. Hätte ich meine Magie, würde nichts, aber auch nichts von ihnen bleiben. Ich würde sie alle zerstören, meinen Frust an ihnen auslassen … und meine Enttäuschung.

Verdiene ich jemand so selbstsüchtigen wie den Prinzen?, frage ich mich plötzlich erschöpft. Ist es das, was die Menschen Gewissen nennen? Die Erkenntnis über die eigenen Fehler?

»Ihr seid der Hexenjäger«, schnappt der Prinz. »Ich bin gesandt, um meinem Vater von dem Turm zu berichten. Nicht um Hexen zu töten oder gar heimzubringen.«

»Hexenjäger?« Ich ziehe überrascht die Augenbrauen hoch und mustere den Mann. Er wirkt kräftig, die Augen wachsam. Eine Narbe zieht sich über die Hälfte der Wange. Und noch während ich ihn betrachte, zuckt sein Mundwinkel spöttisch. Hexenjäger – das gab es zu meiner Zeit nicht.

Das Gewicht der Armbrust an seiner Schulter scheint er kaum zu spüren, zwei Dolche stecken im Gürtel. Das Schwert in seiner Hand liegt ruhig, ich spüre kein Zögern wie bei den Soldaten. Nein, der fürchtet mich nicht. Im Gegenteil, er würde keine Sekunde zögern, mich zu töten. Doch er tut es nicht. Warum?

»Die Dreizehnte Hexe«, höre ich ihn murmeln.

Lange, so lange Zeit. Die Spuren der Zauber, die einst diesen Ort umgaben, liegen noch in der Luft. Ich höre meine Schwestern ihre Bannsprüche sprechen, um meinen Schlaf der Ewigkeit auszuliefern, versteckt im Wald. Doch ihre Flüche sind gebrochen, verflogen die Zauber, die mich vor den Augen der Welt verbargen. Vergaßen sie, sie zu erneuern? Vergaßen sie mich?

Ihr Fehler wird sie teuer zu stehen kommen, denn jetzt bin ich frei.

»Was machen wir mit ihr?«, ruft der Prinz. »Beim Feuer der Drachen, sie ist eine Hexe! Eine der Dreizehn!« Seine Miene wechselt zwischen Hilflosigkeit, Angst und Wut. »Es ist mir gleich, was das Gesetz der Magie besagt. Niemals kann diese Hexe meine wahre Liebe sein! Hätte ich sie doch nur nicht geküsst!«

»Ja«, zische ich und erkenne, dass alles misslungen ist. Ich starre ihn an, den Prinzen, der den Zauber erlöste, und empfinde nichts als Verachtung.

Er keucht und die Furcht lodert in ihm auf wie ein gleißendes Schwert. »Tötet sie!«, kreischt er. »Sofort!«

Die Waffe auf meiner Kehle zuckt unmerklich – doch ich atme noch, ich lebe. Der Hexenjäger verharrt. Innerhalb eines Wimpernschlags erkenne ich, dass es nicht der Prinz ist, der über Leben und Tod entscheidet, sondern der Hexenjäger. Doch war ich zu lange an der Macht, um mich unterzuordnen. Ich werde nicht im Staub kriechen!

Ich überfliege die Situation. Der Turm, erinnere ich mich mit klarer Gewissheit. Ich befinde mich in dem Turm. In meinem luftigen Grab: die einst seidenen Vorhänge des nun zerschlissenen Himmelbettes, die zerbrochenen Fensterscheiben, die rankenden Rosen mit ihrem unerträglichen Duft, der an verwesende Leiber erinnert.

Hinter dem Prinzen gähnt die Tür wie ein dunkles Omen. Die Treppe hinab in die Freiheit, hinunter in den Wald der Geister – oder wie immer er heute heißen mag.

Mit einer einzigen, überaus flinken Bewegung schlage ich das Schwert des Hexenjägers beiseite und gleite an ihm vorbei. Der Mund des Prinzen klafft im stummen Schrei. Die Soldaten weichen. Ein Schwert klirrt verloren auf den kalten Steinfliesen. Ich bin an der Tür, als mich ein Schlag in die Seite trifft. Obwohl ich fast so schnell bin wie einst, gelingt es dem Hexenjäger, meinen Zopf zu greifen. Er reißt daran. Ich lande mit dem Rücken auf den kalten Fliesen. Der Aufprall raubt mir den Atem. Der Hexenjäger zieht mich zurück. Ich winde mich, will ihn treten. Doch er holt aus und seine Faust landet auf meiner Schläfe. Schmerz explodiert in meinem Kopf, Punkte tanzen vor meinen Augen und meine Gegenwehr erstickt.

Er hat mich geschlagen.

Ein Mensch.

Mich!

»Was bist du?«, knurrt der Hexenjäger, reißt mich hoch und drückt mich gegen die Wand. Er nimmt mir den Atem. Sein Duft. Ich mag seinen Duft. Unfähig mich zu befreien, starre ich in sein grimmiges Gesicht. Er ist nicht nur stark. Er ist schnell. Viel schneller als erwartet. Ja, die Welt hat sich verändert. Die Menschen sind nicht mehr die Opfer, die sie einst waren.

»Hexenjäger«, flüstere ich seinen Namen und muss fast lachen. Seine Augen glühen. Ich kenne den Blick. Ich muss schön sein, so schön wie in meinem ersten Leben, dass es selbst ihm schwerfällt, sich meinem Zauber zu widersetzen. Haut so weiß wie Schnee, Haare so schwarz wie Ebenholz und Lippen so rot wie Blut.

Die perfekten Menschen – Feenkinder – heute Hexen.

»Du hast das Zeichen«, sagt er und streicht mit den Fingern über die schwarze Stelle an meinem Handgelenk. »Aber du hast keine Macht. Du bist nicht wie sie. Wer bist du?«

Ich balle die Hand, öffne die Finger, einen nach dem anderen. Ich rufe nach ihr, mit all meinen Fasern. Ich rufe nach meiner Magie.

Die Muskeln des Hexenjägers verkrampfen. Die scharfe Klinge des Dolches presst sich auf die pulsierende Ader an meiner Kehle.

»Was bist du für eine seltsame Hexe«, murmelt er, als nichts passiert.

»Hexen«, zische ich und muss die Tränen unterdrücken. »Früher nannte man uns Feen.«

»Nenn dich, wie du willst.« Der Dolch schneidet in die Haut. Ich spüre den Schmerz kaum. Schmerz gehörte schon immer zu meinem Leben – sodass ich kaum weiß, wie es ohne ihn ist. Einzig der Duft des Blutes gräbt sich tief in mein Bewusstsein und ich erkenne, dass er kurz davor ist, sich für meinen Tod zu entscheiden.

»Du jagst uns Feen?«, flüstere ich erstickt. Ich darf nicht zweifeln, darf nicht der ungewohnten Angst nachgeben, die in meinem Bauch wächst und meine Glieder zu lähmen droht. Meine Kraft wird wiederkehren und mit ihr meine Magie. »Töte nicht die Einzige, die dir helfen kann, sie zu finden.«

Der Mund des Hexenjägers verzieht sich zu einem spöttischen Grinsen, aber die Klinge verharrt. Er hört mir zu. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich deine Hilfe brauche?«

»Brauchst du nicht?«, frage ich zurück.

Sein schwarzer Blick wandert von meinen Lippen zu meiner Kehle. »Nein.« Doch er zögert.

»Bist du sicher?«, frage ich und versuche das gleichmäßige Pulsieren seines Herzen zu ignorieren. Er fürchtet mich nicht. Magie nährt sich von Furcht. Wer ist er? »Ich kann von Nutzen sein«, presse ich hervor. »Ich weiß Geheimnisse über sie, die niemand sonst kennt. Ihre Schwachstellen, ihre Vergangenheit.«

»Bringt es zu Ende, Hexenjäger«, ruft der Prinz ungeduldig. Jetzt da ich gefangen bin, traut er sich vorzutreten. Der Hexenjäger schweigt, mustert mich nachdenklich. »Hört nicht auf ihre Worte. Sie ist eine verdammte Hexe. Ach, wisst Ihr was? Behaltet sie. Ich überlasse sie Euch für die Mühen Eures Geleitschutzes durch die Hecke. Betrachtet sie als Lohn.« An die Soldaten gewandt fügt er hinzu: »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vor dem nächsten Sonnenaufgang hinaus aus diesem verfluchten Wald. Vater wird erfreut sein, von dem Turm zu hören und dem Geheimnis, das er barg. Eine Hexe, eine der Dreizehn – jetzt muss er mich zum Erben bestimmen!« Er klatscht in die Hände. »Los, los. Sattelt die Pferde!«

Die Soldaten fliehen der Treppe entgegen. Sie können dem muffigen Grab nicht schnell genug entkommen. Ihre Schritte hallen tausendfach aus dem Schacht empor. Der Prinz kehrt als Letzter zur Tür. Sein Blick fängt den meinen, er verzieht den Mund, als ekele er sich vor mir, und doch sehe ich die Gier. Angst und Lust, eine gefährliche Mischung.

»Beeilt Euch, falls Ihr mit uns reiten wollt – wir warten nicht!« Er folgt den Soldaten. Und der Prinz, der mich erweckte, verschwindet aus meinem Leben, ohne eine Spur hinterlassen zu haben.

Wir sind alleine. Ich und der Mann, der meine Schwestern jagt. Ich blicke in seine Augen und erkenne voller Verwunderung, dass sie nicht schwarz sind, sondern grün wie die dichtesten Tannenwälder.

»Was mache ich nur mit dir?«, murmelt er.

»Was würdest du denn gerne mit mir tun?«, wispere ich zurück. Eine Einladung, ein Versprechen. Die einfachste und älteste Falle der Welt und doch so effektiv.

Er stockt, seine Augen weiten sich, dann lacht er schallend auf. »Es steht wahrlich schlimm um dich.« Langsam nähert er sich, den Blick auf meine Lippen gerichtet, dann sieht er mich aus seinen geheimnisvollen Augen an. Mein Herzschlag beschleunigt, mein Atem stockt. Was geschieht mit mir? Ich spüre seinen Atem, die Wärme seiner Haut und fühle mich unendlich verletzlich. »Selbst wenn du die letzte Frau auf Erden wärst …«, flüstert er rau, greift in meine Haare und zieht meinen Kopf in den Nacken. »Deine Hexenkräfte wirken bei mir nicht.«

»Nicht?«, flüstere ich gepresst.

»Nein«, sagt er nur. »Ich finde dich nicht im Mindesten anziehend.«

»Du lügst.«

Er lacht und ebenso plötzlich, wie er sich mir näherte, entfernt er sich wieder, gibt meine Hände frei. Nur den Zopf schlingt er um die Hand. Eine Leine. Eine Demonstration seiner Macht.

»Du bist anders als die anderen«, meint er nachdenklich.

Anders, das war ich schon immer. Doch es gibt niemanden mehr, der um mein Geheimnis weiß – niemanden außer meinen Schwestern.

»Du bist schwach.«

»Ich war eine Königin«, erwidere ich und hebe die Handflächen empor. Sanft zeichnen sich die Linien ab. Es sollten die Hände einer alten Frau sein – runzelig und verbraucht. Stattdessen sind sie weich und stark: die Hände der Königin von einst.

Ich hebe den Blick. Vor uns thront der mächtigste Spiegel des Landes. Mein Spiegel. Mein Land. Ich hauche gegen das matte Glas, und wie von Feenflügeln berührt weicht der feine Staub, um mein Antlitz zu enthüllen. Glattes, tiefschwarzes Haar umfließt ein blasses Gesicht, das schöner nicht sein könnte. Dunkle Wimpern, stechende Augen, ein sinnlicher Mund so rot wie der pulsierende Lebenssaft selbst. Das Gesicht der Königin. Das Gesicht der Schönsten. Daneben der Hexenjäger, feindlich und ungezähmt. Er lässt meinen Zopf durch die Finger gleiten. Er hebt ihn an und fast – aber eben nur fast – ist er versucht, an meinen Haaren zu riechen.

»Zieh dich an«, fordert er abrupt und ich weiß, dass seine Entscheidung gefallen ist. Doch es ist nur ein Aufschub, ein bisschen Zeit.

»Ich weiß nicht was«, sage ich ruhig. Wie lange …, frage ich mich. Wie lange hielt mich der Fluch gefangen? Der Fluch des Todesschlafs.

Der Hexenjäger reißt einen Schrank auf. Für einen Moment glänzen Dutzende Kleider in allen Farben des Regenbogens. Prächtige Juwelen, golddurchwebte Schleier. Doch wie von Zauberhand verblasst der Glanz. Und langsam, so als würden sie den Moment hinauszögern, zerfallen sie und rieseln seufzend zu Boden. Von den einst kostbaren Kleidern bleibt nichts als ein Haufen Staub.

»Was ist das für ein Zauber?«, knurrt er und zerrt an dem Zopf.

»Kein Zauber«, erkläre ich schlicht. »Nur der Tribut der Zeit.«

Er schnaubt. »Ich glaube dir kein Wort. Aber gut, du willst nackt sein? Nur zu, mich soll es nicht stören.« Ohne zu zögern, strebt er dem Ausgang zu. Sein Schritt ist fest und entschlossen. Er wird mich nicht töten, noch nicht.

Ich folge dem Feind meiner Schwestern die Stufen hinab. Mit jedem Schritt wird der Duft des muffigen, nach Leichen stinkenden Grabes schwächer. Ich entfliehe meinem Gefängnis. Ich bin bereit, so bereit, mein zweites Leben zu beginnen.

Meine Rache wird furchtbar sein.

Rückkehr der Königin

Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

So enden die Märchen, nur dass es kein Ende ist, sondern ein ewiges Fortbestehen. Ein Segen, zugleich ein Fluch. Auf niemanden passt dieses Ende besser als auf uns Feenkinder. Wir sind die Auserwählten, die Mächtigen. Unsere Leben scheinen endlos, unsere Geschichten fantastisch. Sie füllen die Bücher, die Träume der Kinder – und deren Alpträume. Wir waren niemals dazu bestimmt, gut zu sein, zumindest die meisten von uns. Hexen – so nennen sie uns heute. Der Schrecken braucht einen Namen, um ihm die Angst zu nehmen. Und um ihn zu jagen.

Ich laufe über den weichen Waldboden, genieße das Gefühl der nackten Füße auf Gras, Nadeln und Moos. Es zeigt mir, wie lebendig ich bin. Ich folge dem Hexenjäger auf seinem Pferd, die Hände vor dem Bauch gefesselt. Er hält meinen Zopf umschlungen. Ich bin seine Gefangene. Ob ich die Erste bin? Oder lief einst eine meiner Schwestern ebenso wie ich hinter ihm her?

Die mächtigen Dreizehn – das waren wir vor so langer Zeit.

Die Hufe des Pferdes federn lautlos auf dem dichten Moos, lautlos für menschliche Ohren. Mir bietet sich ein Feuerwerk der Sinne: Das emsige Surren der unzähligen Elfenflügel, die Blüte für Blüte der seltenen Mondblumen anfliegen, den wertvollen, silbernen Nektar schlürfen. Ich höre die Wichtel in ihren von Glühwürmchen erhellten Höhlen schimpfen, tief unter uns im Schoß der Erde. Und ich höre das hektische Flüstern der Bäume, die die beängstigende Kunde meiner Rückkehr verbreiten, hinaustragen in die grünen Hügel, die dichten Wälder, die Flüsse und Seen. Das ist Pandora – meine Heimat.

Eine Elfe landet auf meiner Schulter. Ihr goldenes Gesicht strahlt. Sie flüstert meinen Namen.

»Ja«, sage ich leise und fühle eine seltsame Freude darüber, dass sie mich nicht vergessen hat. »Ja, ich bin wieder da.«

Ihr Lachen klingt in meinen Ohren. Sie ruft die anderen Elfen, sie flattern herbei, umkreisen mich. Ihre Flügel leuchten, glitzernde Funken tanzen hinter ihnen her. Selbst bei Tag spiegelt sich das Mondlicht in ihren Augen.

Willkommen, seufzen sie im Chor.

Eine hüpft kichernd auf meinen Kopf, zwei balancieren auf dem dicken, langen Zopf zum reitenden Hexenjäger. Er kneift die Augen zusammen.

»Verschwindet«, knurrt er.

Kichernd sausen sie davon, die meisten folgen. Sie winken mir fröhlich zum Abschied. Nur die Elfe auf meiner Schulter bleibt eine Weile sitzen und summt ein vertrautes Lied. Manche Dinge bleiben, während andere vergehen. Noch nie fürchteten sie mich. Noch nie. Sie reibt ihre kleine Nase an meiner Wange, dann verschwindet auch sie zwischen den uralten Stämmen der Bäume und bleibt hinter uns zurück.

Mit jeder Meile, die zwischen mir und dem Turm wächst, verblasst die Spur der Magie, die ihn so sorgsam verborgen hielt. Und endlich erhebt sich vor uns die letzte Barriere: eine gewaltige, düstere Brombeerhecke. Überreife Früchte, prall und schwarz, hängen schwer an den Zweigen. Eine Schneise ist in das dornige Dickicht geschlagen, das wie ein Ring um den Turm gewachsen ist. Der Hexenjäger lenkt das Pferd hindurch. Vorsichtig folge ich, bemüht mich nicht in den Dornen zu verfangen. Kalkweiße Totenschädel hängen in dem samtig schimmernden Laub. Die Hecke, so schön wie tödlich. Dann sind wir hindurch, raus aus dem süßlichen Brombeer-Aroma, hinein in den Wald der Menschen. Der letzte magische Ring ist bezwungen. Ich bin frei!

Ich atme den Duft des feuchten Laubes ein, das Aroma des ewig währenden Kreislaufes von Geburt, Leben und Tod. Aber da ist mehr, etwas Unterschwelliges, das vor meiner Gefangenschaft im Turm nicht da war. Ein intensiver Geruch, penetrant und alles durchdringend.

»Was ist das?«, frage ich leise.

Mein Begleiter schweigt. Nur das Zucken seiner Finger um meinen Zopf verrät, dass er mich gehört hat. Wir reisen alleine. Mein schwächlicher Prinz, mein Auserwählter, er hat nicht auf uns gewartet. Auf ihn viel mehr. Mich erwartet er erstochen und geschändet im Turm, stumm und tot, wie ein lästiges Insekt. Und das ist die Liebe?

Der Geisterwald ist anders, als ich ihn in Erinnerung habe. Dunkler und stiller. Die uralten Stämme entfalten ein dichtes Blätterdach, kein Sonnenstrahl findet seinen Weg hindurch. Sie tanzen auf den Kronen, sie schimmern matt. Eine grüne Kathedrale. Ein Ort der Toten. Doch die Geister von einst sind verstummt.

»Wo sind die Geister?«, frage ich.

»Es gibt keine Geister mehr.«

»Wo sind sie hin?«

Er antwortet nicht. Er ist mir nichts schuldig. Ich erwarte nichts.

Die erste Erfahrung, die mich das Leben lehrte, war die des Verlusts. Alles, was mir lieb und teuer war, wurde zerstört. Das ist das Schicksal. Es unterscheidet nicht zwischen Gut und Böse, zwischen Unschuld und Schuld. Es nimmt, es zerstört. Und wer dem Schicksal heute entflieht, ist morgen dran: Die Zeit meiner Schwestern ist gekommen!

»Wie viele …« Ich zögere, bevor ich das Wort ausspreche – es fühlt sich fremd an. »Wie viele Hexen gibt es noch?«

»Zu viele«, kommt die kalte Antwort.

»Du bist ein Jäger. Was bedeutet das?«

»Ich töte Hexen.«

»Auch die Dreizehn?«

»Gerade die.«

Ich nicke und blicke nach vorne. »Gut.« Das ist alles, was ich sage und meine es auch so.

Je mehr sie gejagt werden, desto eher werden sie fallen.

Die Nacht bricht herein. Die Elfen verkriechen sich in ihre schimmernden Paläste hoch oben in den Baumkronen. Die Wichtel hören auf zu streiten. Das schummerige Grün der letzten Sonnenstrahlen verliert seine Leuchtkraft. Kalte Dunkelheit kriecht wie gieriger, alles verschlingender Nebel herauf. War meine Sehkraft auch vor langer Zeit so stark, dass ich in den schwärzesten Nächten sehen konnte, so ist sie es jetzt nicht mehr. Dunkelheit, das ist neu für mich.

»Warum lachst du?«, fragt der Hexenjäger.

»Ich bin menschlich.« Tatsächlich lächele ich. »Ich sehe nichts.«

»Konntest du es früher?«, fragt er nur.

»Natürlich.«

»Und die anderen? Können sie es auch?«

Meine Freude verblasst. Die anderen. »Damals konnten sie es. Wir alle konnten es.«

»Du bist eine von ihnen«, stellt er nüchtern fest.

»Ja«, hauche ich und friere plötzlich. »Mir ist so kalt.« Eine Gänsehaut zieht ihre Spuren über meinen Körper. »Ich kenne die Kälte nicht.«

»Aber du kennst Schmerz.«

»Ja«, ist alles was ich sage und schweigend setzen wir unseren Weg durch den nächtlichen Wald fort. Eine einsame Eule kreuzt unseren Weg, auf der Suche nach letzten, verirrten Elfen. In der Ferne heult ein Wolf. Ich weiß nicht, wie der Hexenjäger den Weg findet. Ich selbst sehe nichts. Blind folge ich ihm, dicht gedrängt an die Wärme seines Pferdes.

Ich friere. Ich atme. Ich bin nicht tot.

Nordwind

Mitten in der Nacht frischt der Wind auf und trägt eisigen Frost mit sich. Eine Eisschicht überzieht meine Haut. Meine Finger werden taub. Meine Beine schmerzen.

Alles ist kalt.

So verteufelt kalt.

»Das ist der Fluch deiner Schwester«, höre ich ihn sagen. »Sie lässt die Kälte über ihre Grenzen dringen. Aber noch niemals wagte sie sich so weit vor.«

»Meine Schwester?«, hauche ich zitternd. Mein Atem steigt als dampfende Schwaden auf.

»Die Eishexe«, sagt er leise. »Schneekönigin, Gebieterin der Nordwinde. Sie hat viele Namen.«

Ich versuche zu antworten, doch nur ein Stöhnen dringt aus meinem Rachen. Vor uns beginnt ein winziger Funken zu tanzen, nicht mehr als das Blinken eines Sternes. Sein matter Schein lotst uns durch die vereiste Nacht. Ich stolpere ihm entgegen, die Füße zwei eisige Klumpen.

Es ist ein Feuer, prasselnd und lockend, mitten im Wald. Doch es verspricht keine Wärme. Der Wind trägt das dünne Wiehern eines sterbenden Pferdes mit sich.

»Es ist niemand dort«, flüstere ich so leise, dass er mich unmöglich gehört haben kann.

Doch er antwortet: »Niemand Lebendes.«

Der Hexenjäger lenkt das Pferd auf die von Eiskristallen übersäte Lichtung, in deren Mitte das Feuer dem starren Wind trotzt. Vier herrenlose Pferde drängen sich im Tode dicht beisammen. Daneben, zusammengerollt wie Babykatzen, liegen die erstarrten Körper der Reiter. Gläserne Gesichter im Schrei erstarrt, die Hände zu glitzernden Klauen verformt.

Der Prinz mit seinen Soldaten.