Aus Zauberseide und Schwanenfedern - Julia Adrian - E-Book

Aus Zauberseide und Schwanenfedern E-Book

Julia Adrian

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Beschreibung

Prinzen, die sich in Schwäne verwandeln, ein Elementargeist, der zum Menschen wird, und eine junge Frau, die im Moor ihre wahre Stärke findet ... Verwandlungen spielen in Märchen seit jeher eine große Rolle. Manchmal ist die Transformation magischer Natur und kostet einen hohen Preis. Ein anderes Mal hilft ein schlichtes Stück Stoff, um unerkannt zu bleiben. Was musst du wagen, um wirklich frei zu sein? Wie heiß kann Liebe brennen? Oder Wut, Zorn und Verzweiflung? Wie sehr musst du dich verändern, um dich selbst zu finden? Tauche ein in sechzehn magische Geschichten, die alten Märchen eine neue Bedeutung geben. Eine märchenhafte Anthologie mit Geschichten von: Julia Adrian, C.E. Bernard, Nina Blazon, Thilo Corzilius, Corinna Götte, Anna Jane Greenville, Christian Handel, Daeny Levi, Juliet Marillier, Nina MacKay, Regina Meißner, Lisa Pohlers, Kathrin Solberg, Kai Spellmeier, Tanja Voosen und Ana Woods. "Aus Zauberseide und Schwanenfedern" ist die sechste Märchenanthologie des Drachenmond Verlages.

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Seitenzahl: 453

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Aus Zauberseide und Schwanenfedern

EINE MÄRCHENHAFTE ANTHOLOGIE

HRSG. CHRISTIAN HANDEL

Copyright © 2022 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Julia Adrian, Stephan Bellem

Übersetzungen:

Kathrin Solberg: Kupfer, Silber, Gold

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

alexanderkopainski.de

Umschlagbildmaterial: Shutterstock

Illustrationen: Soufiane El Amouri

Rahmenillustration: Katharina V. Haderer

ISBN 978-3-95991-877-0

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Vorwort

Corinna Götte

Schwanenprinz

Julia Adrian

Betrüger unter sich

Kathrin Solberg

Der bittere Kern

Juliet Marillier

Kupfer, Silber, Gold

C. E. Bernard

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

Nina Blazon

Menschenkleid

Tanja Voosen

Die Irrlichter sind in der Stadt

Ana Woods

Die letzte Nachtigall

Daeny Levi

Der Wunsch des Prinzen

Anna Jane Greenville

Birkott – Das Geheimnis der Highlands

Kai Spellmeier

Siebenrauh

Christian Handel

Ein Mantel aus Rabenfedern

Regina Meißner

Der Schrecken des Waldes

Lisa Pohlers

Wie Schnee zu küssen

Thilo Corzilius

... und im Norden die Lichter

Nina MacKay

Es ist nicht alles Feenstaub und Glasschuhe, was glänzt

Drachenpost

Vorwort

Märchen gehen in Erfüllung. Hätte mir Anfang 2016 jemand gesagt, dass etwas über fünf Jahre später sechs wunderschöne Märchenanthologien erschienen sind, die ich herausgeben durfte – vermutlich hätte ich es nicht geglaubt.

Dass wir unsere Kurzgeschichtenreihe mit diesem Band in die sechste Runde schicken dürfen, liegt zum einen an der großartigen Arbeit all der fleißigen Helfer im Hintergrund – von den Illustrator*innen, Übersetzer*innen, Lektor*innen, unserer Korrektorin Michaela Retetzki, den Autor*innen und ihren wundervollen Geschichten, an unserem Coverkünstler Alexander Kopainski, den Setzern des E-Books, der unermüdlichen Arbeit von Astrid. Zum anderen an euch, die ihr (oft jedes Jahr aufs Neue) in unsere fantastischen Geschichten eintaucht, über die Bücher sprecht und postet. Ein herzliches Dankeschön!

Nachdem ich den beteiligten Autor*innen der Vorjahresanthologie mit dem Wasserthema einen Rahmen vorgegeben hatte, wollte ich die diesjährige Sammlung etwas freier gestalten. Als es darum ging, einen Titel zu finden und die jeweiligen Geschichten in eine atmosphärisch passende Reihenfolge zu bringen, musste ich mir dann allerdings doch Gedanken darüber machen, inwiefern sich ein roter Faden durch die Anthologie zieht. Und erfreulicherweise dauerte es gar nicht lang, bis ich ihn fand: In den folgenden Geschichten geht es um Verwandlungen. In Märchen ist die Metamorphose ein großes Thema: Brüder verwandeln sich in Rehe oder Raben, Prinzen mitunter sogar in Eisenöfen. Wer von der weißen Schlange kostet, versteht die Sprache der Tiere. Manchmal ist die Verkleidung magischer Natur und kostet einen hohen Preis: Die kleine Seejungfrau tauscht ihren Fischschwanz gegen Beine ein und zahlt dafür zunächst mit der Stimme, dann mit ihrem Leben. Und oft spielt ein besonderes Kleidungsstück bei der Verwandlung eine große Rolle: Mäntel machen unsichtbar und die Hemden, die ihre Brüder vom Tierfluch erlösen, müssen von einer jungen Frau aus Nesseln oder Sternblumen hergestellt werden. Kleider machen Leute: Ein Prinz kann zum Schweinehirt werden, ein Schneidergeselle zum falschen Prinzen. Weil sie einen Mantel aus verschiedenen Pelzen trägt, hält man Allerleirauh für eine Dienerin. Und Cinderella wird im Kleid der guten Fee für eine Prinzessin gehalten und noch nicht einmal von ihrer Stieffamilie erkannt, obwohl ihr Aussehen sich nicht ändert.

Auch die Heldinnen und Helden der nachfolgenden Geschichten durchlaufen Metamorphosen, ebenso wie die Botschaften, die die Autorinnen und Autoren in ihre Versionen der alten Märchen legen: Wie sehr musst du dich verändern, um wirklich frei zu sein? In welchen Gestalten begegnen wir einander? Wie heiß kann Liebe brennen? Oder Wut, Zorn und Verzweiflung? Und wie kann ein gefallener Stern dabei helfen, der Welt das wahre Ich zu offenbaren?

Auf den folgenden Seiten findet ihr lustige und melancholische, leidenschaftliche und tiefsinnige Neuinterpretationen uralter Geschichten – von den jeweiligen Erzählerinnen und Erzählern verwandelt in etwas Neues.

Viel Spaß beim Lesen!

Christian Handel, Herbst 2021

Corinna Götte

Seit meiner Kindheit wächst meine Märchenbuchsammlung«, verrät Corinna Götte. Sie ist ein echter Buchmensch: Als gelernte Buchhändlerin hat sie über zwanzig Jahre bei Thalia gearbeitet, ehe sie zu einem Nestdrachen wurde und seit geraumer Zeit dafür sorgt, dass die Packdrachen immer gute Laune haben und eure Bestellungen sicher bei euch ankommen.

Ihr Debüt als Autorin gab sie in der Anthologie Von Fuchsgeistern und Wunderlampen. Auch in ihrer Geschichte damals hat sie mehrere Märchen miteinander verbunden und sich davon treiben lassen, warum die Figuren im Märchen eigentlich so handeln, wie sie es tun. Diesmal beschäftigte sie vor allem die Frage, wie es nach dem klassischen Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende tatsächlich weitergeht. Ist am Ende wirklich alles gut? Für alle?

»Den Schwanenprinzen habe ich mir ausgesucht, weil er mir nicht aus dem Kopf gegangen ist, seit ich Die wilden Schwäne das erste Mal gehört habe. Als Kind fand ich die Liebesgeschichte romantisch und tragisch – bis ich gedanklich immer häufiger am jüngsten Bruder hängen blieb, da mich das Thema Anderssein und Behinderung schon mein ganzes Leben lang begleitet.«

Ich hoffe, ihr seid ebenso glücklich wie ich, dass Corinna dem Schwanenbruder jetzt sein eigenes Märchen geschenkt hat.

Schwanenprinz

CORINNA GÖTTE

Wilhelmina weinte, wieder einmal. Sie stand am Fenster und sah zu den Sternen hinauf. Elias erkannte es am leichten Beben ihrer Schultern, und als sie sich zu ihm umdrehte, glänzten ihre Wangen feucht. Eilig wischte sie mit dem Handrücken die verräterischen Spuren fort und schenkte ihm ein zittriges Lächeln. Schön sah sie aus im Mondlicht, das durch die geöffneten Fensterflügel fiel und sich über den Boden und ihr Ballkleid fächerte. Der Stoff schimmerte, als hätten die Schneider ihn aus Sonnenstrahlen gewoben, und die goldenen Bänder in ihrem Haar verwandelten sie in eine Prinzessin.

»Weine nicht, Schwester.« Er ging zu ihr und schlang einen Arm um ihren Rücken. »Was soll dein Verlobter davon halten, wenn du mit tränenfeuchten Augen auf dem Ball erscheinst?«

Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich muss immer wieder daran denken, dass ich versagt habe.«

»Es ist so lange her«, erwiderte er, obwohl es ihn jedes Mal mehr Überwindung kostete, mit ihr darüber zu sprechen. Weil er keine tröstenden Worte für sie kannte.

»Drei Jahre.«

»Du darfst deswegen nicht mehr weinen«, sagte er stattdessen, »vor allem nicht heute. Geh zu Konrad und schenk ihm dein schönstes Lächeln.«

»Du hast recht.« Sie löste sich von ihm und strich ihr Kleid glatt, drückte die Schultern durch und hob ihr Kinn. »Wirst du mich in diesem Jahr begleiten und mir den ersten Tanz gewähren?«

Elias blickte zur Seite und tat so, als richtete er sein feines Hemd. Der edle Zwirn fühlte sich fremd auf seiner Haut an. Fast könnte man ihn für einen Prinzen halten. Aber zu dem wurde er nicht einmal, wenn seine Schwester den König heiratete.

»Vielleicht«, sagte er, um sie zu beruhigen, obwohl er wusste, dass er dem Ball fernbleiben würde. Wie jedes Jahr.

Fast gleichzeitig sahen sie sich um, als laute Stimmen zu ihnen in den Raum drangen. Ein Lächeln zog über Wilhelminas Gesicht, vertrieb ihre Traurigkeit und rettete ihn. Und da polterten sie auch schon herein, fünf lärmende Männer, die sich auf Wilhelmina und Elias stürzten. Ihre Brüder. In ihrer feinen Abendgarderobe waren sie Elias seltsam fremd. Aus den Jungen von einst waren längst Männer geworden. Familienväter, Ehemänner und Partner, die ehrbaren Handwerken nachgingen und über Ansehen verfügten.

»Elias«, rief der Älteste und zog ihn ungeachtet seines abwehrenden Gesichtsausdrucks in seine Arme, bis die Knochen knackten. »Hast du vergessen, dass du uns besuchen wolltest?«

Widerwillen regte sich in Elias. »Ich werde bald kommen«, log er.

Die Vorstellung, sich präsentieren und begaffen lassen zu müssen, löste schon jetzt so großen Druck in ihm aus, dass er sein Wort unmöglich halten konnte. Im nächsten Moment vertrieb eine schwere Hand auf seiner Schulter bereits seine Gedanken. Erschrocken drehte sich Elias zur Seite und schüttelte sie ab. Die Nähe zu seinen Brüdern war ungewohnt geworden, seit sie nach und nach fortgegangen waren. Er war der Einzige, der bei seiner Schwester geblieben war, weil es für ihn keinen anderen Ort gab, an dem er wie sie ein neues Leben und Freude finden konnte.

Er biss die Zähne aufeinander und ließ sich von seinen Brüdern herumreichen. Sicherte zu, ihre Ehefrauen, Freundinnen und Partner kennenzulernen, und wusste doch, dass nichts davon geschehen würde. Trotz der Liebe, die er für seine Familie empfand, hielt er sie von sich fern. Weil er sie bewahren wollte vor seiner Unfähigkeit, Glück zu empfinden.

Für sie hatte sich alles zum Guten gewendet, nicht aber für ihn.

Als sie fort waren und seine Schwester mitgenommen hatten, atmete er auf. Durch das offene Fenster klang bereits die fröhliche Melodie eines Liedes zu ihm herein. Das Orchester spielte zum Tanz auf, der Ball hatte begonnen. Er trat näher ans Fenster und blickte hinaus in die Nacht und hinauf zum Himmel. Hell glitzerten die Sterne und entfachten eine Sehnsucht in ihm, die ihn niederdrückte.

Es dauerte noch ein wenig, bis die Anspannung endgültig von ihm abfiel. Die Erinnerungen an die Umarmungen und Berührungen seiner Brüder verblassten, während er seine Versprechen, sie zu besuchen, in den hintersten Winkel seines Schädels schob. Die letzten drei Jahre hatten ihm gezeigt, dass sie ihm verzeihen würden, wenn er ein weiteres Mal wortbrüchig wurde.

Er rollte seine Schultern und ließ den rechten Arm kreisen, bevor er die Augen schloss und den Flügel abspreizte, der anstelle eines Armes aus seiner linken Schulter wuchs. Er breitete ihn ganz aus, dieses Ding aus schneeweißen Federn, das er hasste und gleichermaßen liebte.

Manchmal wünschte er sich, dass Wilhelmina die Nesselhemden, die ihn und seine Brüder vom Schwanenfluch befreit hatten, nie geknüpft hätte. Seine Brüder waren wieder zu Menschen geworden, während er seitdem mit einem Schwanenflügel leben musste. Weil seine Schwester sein Hemd nicht mehr hatte fertig knüpfen können. Seit dem Tag ihrer Rückverwandlung hatte er sich ferngehalten von ihnen, denn hätten sie ihn gefragt, ob er Mensch oder Schwan sein wollte, hätte er keine tröstende Antwort für sie gehabt.

»Schwanenprinz.«

Ein Wispern raunte durch die Luft und riss ihn aus seinen Gedanken, aber als er sich umwandte, war da niemand.

»Schwanenprinz.«

Die Stimme zog ihn in hinaus auf den Korridor. Kerzen erhellten den Gang und säumten den Weg hinunter zum Ballsaal. Als er daran vorbeieilte, flackerten die Flammen in ihren Leuchtern. Den Blick auf den Teppich gerichtet, der seine Schritte dämpfte, und den Flügel eng an den Körper gefaltet, näherte er sich dem Lärm der Gäste. Zu seiner Überraschung führte ihn das Flüstern jedoch nicht in den Ballsaal, sondern leitete ihn auf eine kleine Empore, von der aus er unbemerkt den Saal überblicken konnte. Er kannte dieses Schloss, in dem er seit drei Jahren lebte, wie seine Westentasche. Es gab keinen Erker, keinen Geheimgang, keine versteckte Tür, die er nicht gefunden hätte. Auf die Empore flüchtete er sich gern, um allein zu sein und trotzdem die ein oder andere Beobachtung zu machen. Ein kurzer Kommentar zur Kleidung eines Herrn oder zum Kopfschmuck einer Dame, und schon glaubte seine Schwester, er hätte sich unter die Gäste gemischt. So musste er ihr durch Ausflüchte keinen zusätzlichen Kummer bereiten.

Der Ballsaal quoll bereits über vor Menschen. Paare drehten sich auf der Tanzfläche, ein funkelndes Farbenmeer aus Ballkleidern, dazwischen die weniger bunten Anzüge der Herren. Beide Kronleuchter waren mit Kerzen bestückt und tauchten die Tanzenden in warmes Licht.

Seine Brüder entdeckte er in dem Treiben nicht, nur hin und wieder meinte er, ihr Gelächter zu hören. Seine Schwester dagegen fand er sofort. In ihrem goldglänzenden Kleid war sie mit Abstand die Schönste auf dem Ball.

Dass der junge König sie zu seiner Verlobten gemacht hatte, hatte niemanden überrascht. Obwohl sie nicht gesprochen und nicht einmal Schuhe getragen hatte. Obwohl ihre Kleidung sie als einfaches Mädchen ausgewiesen hatte und ihre Finger vom Knüpfen der Hemden blutig gewesen waren.

»Sie ist wunderschön und wirkt glücklich, aber diese Schwermut in ihr kann ich nicht besiegen.«

Elias blickte auf, als der König neben ihn trat und beide Hände auf die Balustrade legte. Die Erschöpfung in seinem Gesicht vertrieb Elias’ Gedanken an das Flüstern. Wie egoistisch er war! In seiner eigenen Traurigkeit durfte er nicht vergessen, dass Konrads Kräfte nicht endlos waren.

»Ich weiß«, gab er zu. »Aber sie liebt dich.«

»Ich würde alles für sie tun.« Konrad warf ihm einen etwas zu langen Seitenblick zu. »Und für dich. Wir finden eine Lösung, gib nur die Hoffnung nicht auf.« Er wandte sich ihm zu und schob eine Hand auf seine Wange, bis sein Daumen über sein Ohrläppchen strich.

Elias drehte den Kopf zur Seite. Nicht weil ihm die Berührung unwillkommen war, sondern weil er nicht wollte, dass Konrad die Zweifel in seinem Blick bemerkte. Von allen Menschen war er der einzige, dessen Berührungen ihm nicht unangenehm waren. Weil er ihm trotz aller Nähe Raum zum Fühlen gab und seine Schatten akzeptierte. Weil er die Sehnsucht in seinem Herzen kannte. Ausweichende Antworten und falsche Beschwichtigungen hatte es von Anfang an nicht zwischen ihnen gegeben.

Dafür war ihr Schicksal zu ähnlich.

»Ich werde weitere Kundschafter ausschicken.« Für einen Wimpernschlag ließ er seine Hand auf Elias’ Schlüsselbein sinken, dann nahm er sie weg.

»Das tust du bereits seit Jahren«, meinte Elias. Ärger regte sich in ihm, geboren aus dem Wissen, dass es nichts und niemanden gab, was ihn ganz machen konnte. Konrads Hoffnung war zwar nicht naiv, dennoch teilte Elias sie nicht.

Die Tränen seiner Schwester, die aufdringliche Unbeschwertheit seiner Brüder, die lärmenden Gäste, deren Ausgelassenheit zu ihnen auf die Empore schwappte – es war zu viel, und er verdrängte, dass es auch für den König nicht leicht war.

»Wenn der Fluch nicht gebrochen wäre, dann wäre Hoffnung noch angebracht, aber es ist vorbei, und so, wie es ist, wird es bleiben.«

»Also hast du aufgegeben? Willst du dich wirklich in deiner Trauer verlieren? Dein Leid über alles andere stellen? Nicht einmal versuchen, Freude zu empfinden?«

Vorwürfe, die allzu rasch zu einem Streit werden konnten.

»Solltest du nicht bei deiner Verlobten sein? Immerhin ist heute euer dritter Jahrestag.«

»Das ist richtig, aber heute jährt sich auch der Tag, an dem sie euch befreit hat. Deine Brüder feiern, nur du bleibst wie immer am Rand und ergibst dich deinem Leid.«

Elias’ Augen verengten sich, sein Schwanenflügel zuckte. Konrad trat wieder näher und strich behutsam darüber. »Hör endlich auf, ihn als Bürde zu betrachten. Er ist wunderschön.«

»Du weißt ganz genau, dass es nicht das ist, was mir zu schaffen macht!«

Die Federn vibrierten unter der sanften Berührung, und er bezwang den Drang, seinen Flügel aufzufächern. Erinnerungen überfluteten ihn. Das Gefühl, durch die Luft zu schweben, die Weite hoch oben über den Menschen, der Wind, der über sein Gefieder fegte.

Nein, es war nicht sein Flügel, der eine Bürde war. Es war der menschliche Teil von ihm. Er vermisste es, ein Schwan zu sein. Er vermisste die Freiheit, die es bedeutete, hinauf zum Mond, zur Sonne und zu den Sternen zu fliegen.

»Mir fehlt sie auch.« Konrad ließ seine Hand sinken. »Aber ich habe es akzeptiert.«

»Hat es dich glücklich gemacht? Ist meine Schwester wirklich die, die deiner Seele Frieden gibt?«

Konrads Augen verengten sich, seine Lippen presste er aufeinander. »Tu das nicht, Elias«, sagte er leise. »Fang nicht so an!«

Elias schluckte und verkniff sich den nächsten Kommentar. Den einzigen Menschen zurückzustoßen, der verstand, wie es ihm ging, war falsch.

»Es tut mir leid«, würgte er hervor. »Heute ist es nur schwerer als sonst.«

»Dann komm mit mir hinunter. Bleib an meiner Seite.«

»Willst du das wirklich?« Elias wandte sich ab, um in den Ballsaal hinabzublicken, als Konrad nickte.

»Natürlich, aber ich werde dich nicht dazu drängen.« Nebeneinander standen sie für einige Minuten an der Balustrade. Schulter an Schulter, wie so oft, während die Musik und der Lärm der Menschen zu ihnen hinauffloss und sie einhüllte. Wilhelmina sah zu ihnen hoch, hob eine Hand zum Gruß, ließ sie aber schnell wieder sinken, um sich in einen weiteren Tanz ziehen zu lassen.

»Du solltest an ihrer Seite sein, nicht an meiner.«

Aber Konrad rührte sich nicht. Er überließ ihn nicht sich selbst, als spürte er, dass Elias ihn brauchte. Die letzten drei Jahre hatte er ein fast schon beängstigendes Gespür dafür entwickelt, wann er gehen konnte und wann es besser war, noch einen Moment zu verweilen.

»Du musst kein schlechtes Gewissen haben«, erwiderte Konrad. Ein leichtes Lächeln wuchs in seinem Mundwinkel. »Ich kann mit deiner Unzufriedenheit genauso gut umgehen wie mit Wilhelminas Tränen, das weißt du. Aber ich sollte sie wirklich nicht länger warten lassen.«

»Unzufriedenheit?«, murmelte Elias. »Wohl eher Respektlosigkeit.«

Seine leisen Worte verklangen ungehört. Konrad hatte sich bereits abgewandt und war hinter einer marmornen Säule verschwunden, hinter der sich eine Wendeltreppe in den Ballsaal drehte.

Elias’ Blick heftete sich auf die Stelle, an der er wieder auftauchen würde. Und er behielt recht. Selbst wenn die Gäste nicht ehrfurchtsvoll den Weg freigegeben hätten, damit er zu seiner Verlobten gelangte, hätte Elias die hochgewachsene, schlanke Gestalt des Königs überall erkannt. Zielstrebig lief Konrad auf Wilhelmina zu, während die Musik kurz ihren Takt verlor. Ein angedeuteter Knicks, eine knappe Verbeugung, zwei Hände, die sich ineinanderlegten, und schon drehten sie sich, von anderen Paaren begleitet, über die Tanzfläche.

Drei Jahre waren sie inzwischen verlobt. Das Volk hatte bereits nach dem ersten Jahr begonnen zu reden. Klatsch und Tratsch, der leicht zu ignorieren gewesen war. Schlimm war es nach Ablauf des zweiten Jahres gewesen. Die Menschen hatten den Brüdern die Schuld daran gegeben, dass noch keine Hochzeit stattgefunden hatte. Erst im dritten Jahr waren die Stimmen verstummt und Ruhe war eingekehrt.

Sein Bedürfnis, mit seinen Brüdern zu sprechen, war von Monat zu Monat kleiner geworden, bis es schließlich ganz verschwunden war. Auch heute fehlte die Lust, den Abend an ihrer Seite zu genießen. Sie alle hatten sich nie daran gestört, was die Menschen hinter vorgehaltener Hand flüsterten, und bereitwillig über ihre Jahre in Schwanengestalt berichtet.

Elias hatte sie nie gefragt, warum sie ihre Frauen und Männer dennoch fernhielten. Als würde der Königshof mit all den Menschen, Geschichten und Erinnerungen in ein anderes Leben gehören, dem sie bis auf die seltenen Besuche längst den Rücken gekehrt hatten.

Er selbst wollte nicht ständig daran erinnert werden, aber die Blicke der Menschen ließen ihn nicht vergessen, was er war: Ein junger Mann, der seit drei Jahren mit einem Schwanenflügel leben musste. Ein Flügel, der ohne sein Gegenstück nicht die Kraft hatte, seinen Körper in den Himmel zu tragen.

Niemals würde er sich unter die Tanzenden mischen und sich anstarren lassen. Viele der Gäste waren damals dabei gewesen, als die Königinmutter seine Schwester auf dem Scheiterhaufen hatte verbrennen lassen wollen. Weil sie nicht sprach und Nesselhemden knüpfte. Untätig hatten sie zugesehen, zu feige, um sich der Fehlgeleiteten entgegenzustellen. Und heute feierten sie mit seiner Schwester genau diesen Tag. Lachten ihr ins Gesicht, wünschten ihr Glück, freuten sich mit ihr. Als hätten sie nicht beinahe den Tod einer Unschuldigen auf sich geladen. Als hätten sie sich nicht das Maul über sie zerrissen, weil die Hochzeit noch immer nicht gefeiert worden war.

Konrad war der Einzige gewesen, der sich dem Vollstrecker und den Soldaten entgegengestellt hatte. Eine Tat, die ihn zum König gemacht und ihm eine Verlobte eingebracht hatte. Ihm war nie wichtig gewesen, ob seine Schwester feine Pantoffeln trug oder barfuß lief. Aber das war nicht der Grund dafür, dass Elias ihm vertraute. Konrad war es gewesen, der sich um ihn gekümmert hatte, als er sich völlig verstört in seinem menschlichen Körper hatte zurechtfinden müssen. Seitdem waren sie jeden Tag zusammen, und keiner kannte ihn besser als er.

Schlagartig ließ er sämtliche Gedanken an die Vergangenheit fallen, als er bemerkte, wie unten ein Barde Einzug hielt.

»Auch das noch«, flüsterte er und verfolgte, wie sich die Schar der Tanzenden teilte, um ihn passieren zu lassen. Sein Ziel war ein Podest, das am Rand der Tanzfläche eigens für ihn errichtet worden war. Gewichtig nahm er auf dem gepolsterten Sessel darauf Platz und zog die Laute auf seinen Schoß, die eben noch über seiner Schulter gehangen hatte.

Die Menschen liebten die Lieder der Barden, diese melodische Aneinanderreihung von Lebensgeschichten, in denen die Wahrheit dem Wunsch nach einem gefälligen Ende weichen musste.

Wie in den Jahren zuvor, begann der Barde seinen musikalischen Vortrag mit der Geschichte über seine Schwester. Das arme Mädchen mit den sechs Brüdern, die von ihrer eigenen Mutter verflucht worden waren. Er pries Wilhelminas Opferbereitschaft, sang über ihre Jahre des Schweigens, über den jungen Prinzen, der nicht einmal erwachsen war, als er sie traf. Sang über die Freude, als die Brüder erlöst wurden, und über die Liebe, die den Prinzen mit dem Mädchen verband. Und leider sang er auch über den jüngsten Bruder, dessen linker Arm für immer ein Schwanenflügel bleiben würde und der die Folgen der Verwünschung sein Leben lang ertragen musste. Süß und schmerzlich rann die Musik in seine Ohren und zu seinem Herzen.

Höchste Zeit, eine Weile an die Luft zu gehen.

Er schlüpfte durch eine hinter einem Wandteppich verborgene Tür, eilte den schmalen Gang entlang, der sich daran anschloss, und folgte ihm bis zu einer steilen Steintreppe, die hinab zu einer weiteren Geheimtür führte. Vorsichtig öffnete er sie und schob sich hinaus ins Freie.

»Schwanenprinz.«

Da war es wieder, das Flüstern, das ihn zu einem Prinzen machte, obwohl er keiner war. Er verharrte und lauschte in die Nacht, ohne Furcht, dafür aber mit prickelnder Neugier, die ihm fremd geworden war. Allerdings wollte er nicht auf Gäste des Balls treffen und scheute sich, hinter dem Busch hervorzukommen, der ihn und die Tür verbarg. Erst als alles still blieb, umrundete er das Gestrüpp und warf einen prüfenden Blick zur Terrasse hinüber. Die bodentiefen Fenster waren geschlossen, während die Glastüren einen Spaltbreit geöffnet waren. Die fast reglosen Schemen hinter den beschlagenden Scheiben verrieten ihm, dass der Barde noch immer über ein gebanntes Publikum verfügte.

»Guten Abend, Schwanenprinz.«

Er schrak zusammen und drehte sich so schnell herum, dass sein Schwanenflügel auffächerte und jeglicher Versuch, ihn in der Dunkelheit durch eine geschickte Haltung zu verbergen, zum Scheitern verurteilt war.

Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, stand vor ihm. Ihr Kleid war einfach geschnitten, glänzte aber, als ob sich der Sternenhimmel darin verfangen hätte. Ihre weißblonden Haare fielen offen über ihre Schultern den Rücken hinab. Auf ihrem Kopf saß ein schmales Diadem aus Kristallen, vermutete er zumindest. Der einzige Schmuck, den er erkennen konnte. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen und Neugier in ihrem Blick.

Ein Gast vom Ball, dachte er, bis er sah, dass sie barfuß lief.

»Guten Abend«, erwiderte er. »Was machst du hier? Wo kommst du her? Wie ist dein Name?«

Sie legte den Kopf ein wenig schief und musterte ihn.

»So viele Fragen«, sagte sie und kam einen Schritt näher. »Dabei bin ich nur gekommen, um dem Barden zu lauschen. Und was ist mit dir?«

»Ehrlich gesagt bin ich auf der Flucht vor ihm«, gestand er und überlegte, warum ihre Haut wie Mondlicht schimmerte.

Sie lachte leise. »Ich habe nie zuvor jemanden getroffen, der seine Lieder nicht mag. Warum ist das so?«

»Wie würdest du es finden, wenn ein Mensch, den du gar nicht kennst, deine Geschichte einer ganzen Schar von Zuhörern erzählt, die du ebenfalls nicht kennst – und dann auch noch falsch?«

»Macht er dich zum Bösewicht?«

»Nein, das nicht, aber …« Er verstummte. Beinahe hätte er eine völlig Fremde mit seinem Frust überschwemmt.

»Und wenn ich dir sage, dass er tatsächlich über mich singt? Würdest du mir glauben?«

Er runzelte die Stirn und wusste nicht, ob sie ihn aufzog oder es ernst meinte.

»Begleite mich«, bat sie. »Ich habe erfahren, dass der Barde Lieder in seinem Repertoire hat, die mir unbekannt sind. Von einem Bruder, der in ein Reh verwandelt wurde. Von einer Prinzessin, die einen Bettler heiratete und doch an der Seite einer anderen Prinzessin ihr Glück fand. Von Kleidern aus Mondlicht, Sternenglanz und den Strahlen der Sonne. Von sieben Brüdern, die zu Raben und von ihrer Schwester gerettet wurden. Von einem Mädchen, das alles gab und von den Sternen beschenkt wurde.«

Elias trat zurück. »Die meisten Lieder davon kenne ich bereits.«

»Würdest du sie trotzdem zusammen mit mir hören? Die, die du kennst, und die, die neu sind?«

Sie streckte ihre Hand aus und er ergriff sie. Ihre Haut fühlte sich glatt und kühl an. Gemeinsam liefen sie zur Terrasse, fanden einen Platz vor einem der geöffneten Türflügel und lauschten nah beieinander dem Gesang des Barden, der lustig und traurig und schön an ihre Ohren drang.

Elias entspannte sich, denn das Lied über ihn war längst verklungen. Als der Barde von der Prinzessin sang, die ein Kleid aus Sternenlicht gefordert hatte, wurde er ruhig und begann sogar, die Melodie zu genießen. Er mochte die Sterne und bildete sich gern ein, dass sie über ihn wachten. In seiner Schwanengestalt war er Nacht für Nacht emporgestiegen, in dem Versuch, ihnen nahe zu sein. Sein Flügel zitterte erwartungsfroh bei dieser Erinnerung.

»Wie heißt du?«, fragte er zwischen zwei Liedern und entdeckte im selben Moment Wilhelmina und Konrad inmitten der Zuhörer.

Selbst aus der Entfernung erkannte Elias, dass Konrad angespannt war. Dass nach all den Jahren noch ein Lied über ihn gesungen wurde, hatte ihn wahrscheinlich überrumpelt. Dabei wusste nur Elias, welches Lied seine Geschichte erzählte. Nicht einmal Wilhelmina hatte er sich anvertraut.

Als Konrad in seine Richtung sah und sich ihre Blicke verhakten, wurde die Welt für einen Augenblick still.

»Wie ist dein Name?«, wollte das Mädchen neben ihm wissen und brachte den Lärm zurück.

»Ich bin Elias.« Hatte er ihre Antwort verpasst?

»Elias.« Sie streckte die Hand aus und strich behutsam über seinen Flügel. »Der Prinz mit dem Schwanenflügel und der Traurigkeit im Herzen.«

Er war versucht, es abzustreiten, bekam aber keinen Ton heraus.

»Hör nur«, rief sie, als die nächsten Töne an sein Ohr drangen und sich die Stimme des Barden für ein neues Lied über die Menge erhob. Gekonnt zupften dessen Finger die Saiten der Laute, als er über sieben in Raben verwandelte Brüder sang. Erlöst wurden sie nur, weil ihre Schwester genug Mut besessen hatte, um Sonne, Mond und Sterne um Hilfe zu bitten.

Elias’ Flügel spannte sich auf und seine Federn vibrierten. Obwohl das Lied zu Ende war und längst wieder Tanzmusik ertönte, klang die fremde Melodie in seinem Herzen nach. Vielleicht sollte er ebenfalls gehen, hinauf zur Sonne und zum Mond und zu den Sternen, um endlich ganz zu werden. Die leise Hoffnung, dass es doch eine Möglichkeit für ihn gäbe, die Freiheit wiederzuerlangen, die er in den Lüften verspürt hatte, ließ seine Haut prickeln.

»Es ist gut, dass du mich dazu gebracht hast, dem Barden zu lauschen.«

»Gemeinsam ist es doch viel schöner«, erwiderte sie. »Wenn sich Geist und Herz öffnen und die Bereitschaft, Vergangenes festzuhalten, schwindet.«

Er warf ihr einen schrägen Blick zu. Merkwürdig war es, dieses Mädchen im sternglitzernden Kleid. Ein wenig theatralisch, aber vielleicht hatte es recht?

Ihrem Glanz und ihren seltsamen Worten konnte er sich nicht entziehen, und als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn auf die Wange küsste, fühlte es sich richtig und gar nicht unwillkommen an.

»Nun muss ich gehen«, sagte sie und trat von ihm zurück.

»Nein, bleib bitte!« Die Aussicht, mit der leisen Hoffnung im Herzen wieder allein zu ein, ängstigte ihn.

»Wir werden uns wiedersehen, Schwanenprinz, sehr bald schon.«

Auf ihren bloßen Füßen tänzelte sie in die Nacht hinaus. Für einen Wimpernschlag hing ihr Leuchten noch in der Dunkelheit und legte sich auf die Blumen und Büsche, dann war sie fort.

»Du bist doch gekommen.«

Konrad erschien an seiner Seite. Das Licht der unzähligen Kerzen und der Lärm der Tanzenden begleiteten ihn und vertrieben die Ruhe.

»Ist alles in Ordnung? Du wirkst verändert.«

Elias löste seinen Blick von der Dunkelheit und heftete ihn auf Konrad.

»Ja«, sagte er schnell. »Ja, es geht mir gut.«

Erst in diesem Moment merkte Elias, dass sein Schwanenflügel noch immer aufgespannt war. Die weißen Federn warfen zackige Schatten und verschmolzen mit denen ihrer Körper. Er betrachtete für einige Herzschläge die seltsame Form auf dem steinigen Untergrund, bevor er den Kopf hob und Konrad in die Augen blickte.

Er wollte ihm so gern von dem Mädchen erzählen, und dass er dank ihm von den Rabenbrüdern gehört hatte. Dass ihre Verwünschung und ihre Rettung die Hoffnung in ihm geweckt hatten, einen Weg aus seiner Unzufriedenheit zu finden. Dass sich endlich etwas verändern würde, wenn er nur genug Mut besaß, über die engen Grenzen seines Lebens hinauszublicken.

Aber er fand nicht die richtigen Worte, um das auszudrücken, was in seinem Herzen lag. Als sich die Türen weiter öffneten und andere Gäste auf die Terrasse strömten, musste er sich auch nicht mehr darum bemühen. Fröhliche Gesichter und Gesprächsfetzen, Gelächter und klackernde Schritte. Das Treiben hatte ihn eingeholt.

»Haben dir die Lieder des Barden gefallen?«

»Nein.« Konrad verschränkte die Arme vor der Brust und sah durch die geöffneten Türflügel hinüber zu Wilhelmina, die gerade mit einem ihrer Brüder tanzte. »Und du weißt auch warum.«

»Weil es nie vorbei ist, egal wie viele Jahre vergehen.« Elias zog den Flügel wieder eng an seinen Körper. »Dabei hätte ich es mir so gewünscht für dich.«

Konrad atmete einmal tief durch. »Es war richtig, dir damals zu erzählen, was mir widerfahren ist, aber manchmal wünschte ich, ich hätte es nicht getan.«

Elias’ Schultern sanken herab. »Ohne dich und das Wissen um deine Verwünschung hätte ich all das nicht überstanden«, sagte er leise und wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. »Ich habe fast genauso lange als Schwan wie als Junge gelebt. Hättest du mir nicht geholfen …«

»Es ist in Ordnung«, unterbrach Konrad ihn.

»Nein, ist es nicht«, widersprach Elias. »Ich habe nie zu einer Bürde für dich werden wollen, deine Last ist schon schwer genug.« Er hob den Blick wieder. »Warum sagst du es Wilhelmina nicht? Hast du immer noch Angst, dass sie mit deiner Vergangenheit nicht umgehen kann?«

»Das ist nicht so einfach«, meinte er und fuhr zusammen, als ganz in der Nähe Gelächter ertönte. Zu viele Menschen beobachteten sie. »Ein Ball ist nicht der richtige Ort, um darüber zu sprechen.« Er streckte Elias eine Hand entgegen. »Komm, lass uns hineingehen und tanzen.«

»Damit sie mich anstarren?« Ärger fächerte sich über Elias’ Gesicht, und Konrad ließ seine Hand wieder sinken.

»Ich bleibe bei dir, und deine Geschwister würden sich freuen.«

»Nein.« Ohne eine Erklärung wandte er sich ab und verschwand in die Nacht.

Zwei Geheimtüren, drei Gänge und eine Treppe brachten ihn ungesehen zurück in seine Kammer unter den Dächern des Schlosses, von der aus er durch das Fenster auf die Terrasse gelangte, die sich über einen kleinen Teil des Daches erstreckte. Sogar eine Bank hatte Konrad dort hinschaffen lassen, damit all jene, die hinauf in den Himmel oder hinunter in den Park schauen wollten, verweilen konnten. Meist ließ sich Elias lieber auf dem Boden nieder, den Rücken an einen der massigen Blumenkübel gelehnt und von den Blumen darin vor neugierigen Blicken verborgen. Heute aber setzte er sich auf die Bank. Die Kälte klärte seinen Geist und zog seine Aufmerksamkeit zu den Sternen empor.

Drei Jahre hatte er sich seinem Schicksal ergeben. Es war genug.

Im Morgengrauen brach er auf. Seine Reisekleidung spannte um die Brust. Seit er sie das letzte Mal getragen hatte, war er größer und breiter geworden. Da war nichts Jungenhaftes mehr an ihm. Wilhelmina hatte ihm geraten, neue Kleidung anfertigen zu lassen, aber er hatte sich nicht überwinden können, seinen Körper dem Maßband eines Schneiders zu überlassen.

Das Knacken der Nähte lenkte ihn von seinem schlechten Gewissen ab, weder seiner Schwester noch Konrad Lebewohl gesagt zu haben. Ausgerechnet den beiden Menschen, die ihm mehr bedeuteten als alle anderen. Wenigstens eine Feder hatte er auf Konrads Nachttisch hinterlassen, es aber nicht über sich gebracht, ihn zu wecken. Die Räume seiner Schwester hatte er danach gar nicht erst aufgesucht.

Zum Saum des Himmels führte seine Reise, hoch in den Norden. Dorthin, wo die Sonne ihn wärmte und nicht verbrannte, wo der Mond ihm Schatten spendete und ihn nicht vertrieb. Wo die Sterne auf ihn warteten, die er um Hilfe bitten wollte.

Viele Tage reiste er, und in den Nächten träumte er von dem Mädchen mit dem Kleid aus Sternen und den bloßen Füßen, von ihrer schimmernden Haut und wie sie ihn dazu verführt hatte, dem Barden zu lauschen. Er träumte von verzauberten Raben, die wieder zu Jungen geworden waren. Von einem Reh, das durch die Wälder sprang, und von Schwänen, die zur Sonne aufstiegen. Von Wilhelminas Tränen und Konrads Lächeln.

Dörfern wich er aus, weil er nicht auf Menschen treffen wollte, die seit jeher alles ablehnten oder davonjagten, was anders war. Solange er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte, würde er nicht die Kraft finden, für sich selbst einzustehen.

Und eines Tages wuchsen vor ihm endlich Berge in den Himmel. Kahle Felsen, deren weiße Gipfel in den Wolken verschwanden. Ein Pfad führte hinein ins Gebirge. Er war nicht der Erste, der diesen Weg eingeschlagen hatte, so ausgetreten, wie er war. Hatten die Wanderer vor ihm ebenfalls nach Antworten gesucht? Waren sie wie er verwünscht worden und trugen die Sehnsucht nach einem verlorenen Körper in sich?

Leitete der Pfad ihn zunächst noch in sanften Windungen weiter hinauf, so wurde er bald so steil, dass er ins Schwitzen geriet.

Stunde um Stunde schleppte er sich vorwärts. Seine schmerzenden Glieder nahm er als Preis, dem Himmel näher zu kommen, gern in Kauf. Die Sonne verbrannte sein Gesicht, und er spannte seinen Flügel auf, um Schatten zu erlangen; und in der Nacht fächerte er ihn über sich, um sich vor der Kälte zu schützen.

Drei Tage und Nächte war er unterwegs, bis er sein Ziel endlich erreichte. Ein gläserner Berg reckte sich vor ihm dem Nachthimmel entgegen, viel höher noch als die grauen Felsen, an die er sich links und rechts schmiegte. Solch ein Bauwerk hatte er nie zuvor gesehen. Glasplatten unterschiedlichster Größe setzten sich einem Mosaik gleich zusammen. Unendlich viele Winkel und Flächen, in denen sich die Sterne spiegelten und zackige Flecken auf das kahle Felsgestein ringsherum warfen. Fenster sah Elias keine, nur ein riesiges Portal mit meterhohen Flügeltüren, durch das man in den Berg hineinkam. Der rechte Flügel stand einen Spaltbreit offen, und obwohl die Neugier ihn dorthin zog, wollte er nicht eintreten. Denn das Gefühl, erst auf eine Einladung warten zu müssen, war zu mächtig in ihm.

»Guten Abend, Schwanenprinz«, hörte er eine vertraute Stimme hinter sich und wandte sich um. Sie war wieder da, in ihrem glänzenden Kleid und mit ihrem Lächeln im Gesicht. »Da bist du ja endlich. Möchtest du nicht hineingehen?«

»Es fühlt sich nicht richtig an«, erwiderte er und starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. »Wer bist du?«

»Weißt du das immer noch nicht?«

Sie trat vor ihn und strich ihm über die Wange. Das sanfte Licht, das sie ausstrahlte, umfasste ihn und tanzte über seinen Flügel. Wie blind er gewesen war!

»Du bist ein Sternenmädchen.«

»Und dies ist mein Zuhause. Sei willkommen!«

Aber er bewegte sich nicht. »Was ist dort drin?«

»All jene, die unglücklich sind und niemanden haben, der sie versteht. Willst du sie kennenlernen?« Sie umrundete ihn und schob den Türflügel weiter auf, bis er erkennen konnte, was sich dahinter verbarg.

Überrascht weiteten sich seine Augen. Ein Saal erstreckte sich im Innern, mit Wänden aus Marmor und voller Licht. Unglücklich sahen die Gestalten nicht aus, die sich dort tummelten und von außen trotz der gläsernen Fassade nicht zu sehen gewesen waren. Das Lächeln hielt sich in ihren Mundwinkeln, als sie den anderen Türflügel öffnete, sodass er die beiden gewundenen Treppen sah, die links und rechts zu einer breiten Empore hinaufführten. Ein dunkelblauer Teppich bedeckte die Stufen, Girlanden aus weißen und blauen Sternblumen umschlangen das Geländer.

»Tritt ein«, sagte sie. »Solltest du dich nicht wohlfühlen, musst du nicht bleiben. Es steht dir frei, jederzeit wieder zu gehen.«

Elias wusste nicht, warum er noch wartete. Er hatte sich nach Antworten gesehnt, und nun, da er endlich am Ziel war und sie zum Greifen nah waren, zögerte er. Als würde das Überschreiten der Schwelle bedeuten, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen.

In dem Augenblick sah er den Barden auf der Empore und hörte auch schon seine Melodie, die fröhlich und traurig zugleich zu ihm herüberwehte. Umgeben von sieben jungen Männern, zupfte er an seiner Laute. Elias erwartete das Lied zu hören, das ihn hergebracht hatte, aber er sang über das Brüderchen und sein Schwesterchen. Eine Geschichte, die er so gut kannte, als wäre sie seine eigene. Über den Jungen, der in ein Reh verwandelt worden war. Über das Mädchen, in das sich der König verliebt hatte. Über die Stiefmutter, deren Machthunger nicht so mächtig wie die Liebe gewesen war, denn aus dem Reh war wieder ein Junge geworden und das Mädchen hatte den König geheiratet.

»Du hast mich hergelockt«, sagte Elias, ohne den Blick von den Menschen und Tieren abzuwenden, die miteinander tanzten, ins Gespräch vertieft waren oder schweigend dem Treiben zusahen.

»Nacht für Nacht habe ich dich beobachtet. Nacht für Nacht habe ich deine Zerrissenheit gesehen und mit dir geweint.«

Elias riss den Blick von den Gestalten im gläsernen Saal los und wandte sich dem Sternenmädchen zu.

»Warum bist du nicht früher zu mir gekommen? Warum hast du so lange gewartet?«

»Weil du mich nicht gerufen hast. Wir Sternenmädchen steigen nur zur Erde hinab, wenn wir gerufen werden.«

»Aber … wenn ich es nicht war, wer hat es dann getan?«

Ein rätselhaftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Ihr Menschen habt so viele Fragen. Nach Namen und Gründen, nach Orten und Lösungen, dabei müsst ihr nur auf eure Herzen hören, um die Wahrheit zu erkennen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Komm mit mir hinein. Vielleicht findest du dort, wonach du suchst.«

Kühl legten sich ihre Finger um seine, und er folgte ihr in das Schloss aus Glas. Ein eisiger Schauer rann seine Wirbelsäule hinab, als er die Schwelle übertrat. Als wäre er durch ein magisches Portal in eine andere Welt eingetreten, umfing ihn ohrenbetäubender Lärm. Nicht länger war da nur das Lied des Barden, sondern Stimmen und Tierlaute, Musik und Gelächter. Er blickte hinauf, um zu erkunden, woher das strahlende Licht kam, das den Saal bis in die letzte Ecke erleuchtete, und sah den funkelnden Sternenhimmel über sich.

Schlief er und all das war nur ein Traum, aus dem er gleich erwachte? Hatten die Mondkälte oder die Sonnenhitze ihn doch der Welt entrissen und ihn in ein unbeschwertes Paradies gebracht?

Nein, ein Paradies war dies nicht, jedenfalls nicht für ihn. Irgendetwas fühlte sich immer noch nicht richtig an, aber er kam nicht dahinter, was es war.

»Wer hat dich gerufen, um mich zu holen?«

Aber sie hörte ihn nicht und zog ihn auf die Tanzfläche. Ehrfurchtsvoll machten ihr die Anwesenden Platz und bildeten einen Kreis um sie. Elias sah Prinzen und Bauern, Esel und Raben, Kinder, so viele, dass er sie nicht zählen konnte. Ein Mädchen mit rotem Cape an der Seite eines Wolfes, ein anderes Mädchen mit geflochtenen Zöpfen neben einem Jungen, dem ein Finger fehlte. Ein stolzes Pferd, einen Bären, mehrere Ziegen.

Hier, unter all diesen Gestalten, die ihm angeblich ähnlich waren, sollte er sich aufgehoben fühlen, aber das tat er nicht. Tanzen wollte er nicht, und so zog er seine Hand zurück. Musik, Gelächter und Stimmen rannen ineinander und wurden genauso unerträglich wie die schnellen Bewegungen der Tanzenden. Die Pracht um ihn herum strengte ihn an und hielt ihn davon ab, sich zu konzentrieren.

Als sich die Flügeltüren erneut öffneten und zwölf wunderschöne Prinzessinnen in glitzernden Pantoffeln hineintanzten, nutzte er die Gelegenheit und schlüpfte unbemerkt hinaus. Draußen umfing ihn wohltuende Stille und frische Luft, die er tief in seine Lunge sog. Für einen Wimpernschlag verschwammen die Grenzen von Zeit und Raum, und er blickte wieder durch die hohen Fenster in den Ballsaal, in dem sich seine Schwester in Konrads Armen über die Tanzfläche drehte.

Aber er war nicht allein. Eine junge Frau trat an seine Seite.

»Mir ist es auch zu voll und laut«, bemerkte sie und betrachtete ihn neugierig. Er wandte sich ihr zu und musterte sie ebenfalls. Ihr schlichtes Wollkleid, die groben Stiefel und das Fehlen von jeglichem Schmuck zeigten ihm, dass er ein einfaches Mädchen vor sich hatte. Sie mochte so alt wie seine Schwester sein und sah nett aus.

»Warum bist du hier? Bist du auch eine Einsame oder Verlorene?«

»Weder das eine noch das andere.« Sie lachte. »Ich bin nur hier, um meine Brüder im Auge zu behalten. Sie sind ein wilder Haufen, und die Gefahr ist groß, dass sie wieder eine Verwünschung auf sich laden. Ich hatte gehofft, dass die Jahre in Rabengestalt sie gezähmt hätten, aber … Nun, sie haben nicht gerade dazugelernt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie ein zweites Mal erlösen könnte.«

Dies also war das Mädchen, das seine Brüder befreit hatte?

»Ich möchte nicht anmaßend sein, aber sind sie nicht recht undankbar?«, war das Erste, was er in seinem Erstaunen wissen wollte.

»Nicht mehr als du, wenn ich das sagen darf«, erwiderte sie. »Für deine Schwester hat sich doch auch nichts geändert.«

»Woher weißt du, wer ich … Ah, natürlich.« Er hatte tatsächlich vergessen, dass sein Schwanenflügel jedem sofort verriet, wer er war. Hitze schoss in seine Wangen. Die Wahrheit in ihren Worten konnte er nicht abstreiten.

»Sorge dich nicht«, sagte sie, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Geschwister achten aufeinander, in guten und in schweren Zeiten. Das hört niemals auf.«

Sie schwiegen eine Weile, in der das Gewissen an Elias nagte. Die Tränen seiner Schwester kamen ihm in den Sinn. Wie oft hatte sie auf der Dachterrasse gestanden und in den Himmel hinaufgeschaut? Wie oft hatte die stumme Bitte in ihrem Blick gelegen, endlich glücklich zu sein? Sie hatte alles aufgegeben, um ihre Brüder zu retten. Hatte er ihr jemals gedankt?

»Was hättest du getan, wenn du nicht alle hättest zurückverwandeln können?«

»Ich wäre traurig gewesen.«

Er blickte zu Boden, den Schwanenflügel eng an den Körper gelegt, als wollte er ihn verstecken.

»Meine Brüder sind wieder zu vollständigen Menschen geworden«, erzählte er. »Sie sind lebenslustig und wild und fröhlich wie deine Brüder. Sie lieben und genießen das Leben.«

»Aber du nicht.«

»Nein, ich nicht.«

»Das tut mir leid«, sagte sie mitfühlend. »Willst du gar nicht wissen, wie meine Brüder zurückverwandelt wurden?«

»Weil du sie liebst und Sonne, Mond und Sterne dir geholfen haben«, erwiderte er. »Sofern das Lied des Barden die Wahrheit erzählt. Allerdings ist jeder Fluch anders und kann nur auf eine Weise gebrochen werden.«

»Aber bist du nicht gekommen, um die Gestirne ebenfalls um Hilfe zu bitten? Vielleicht gibt es ja einen Zauber, der deinen Flügel wieder in einen Arm verwandelt. Ich war bei der Sonne, die mich verbrannt hat, und beim Mond, der mich verjagt hat. Nicht gerade hilfreich, aber dir geben sie womöglich Antworten auf deine Fragen. Beide sind weise und verfügen über das Wissen der Welt – und sie sind nicht so verspielt und rätselhaft wie die Sternenmädchen.« Sie deutete auf einen schmalen Pfad, der sich zur Linken des Glasberges höher ins Gebirge wand. »Geh zu ihnen, wenn du deinen Schwanenflügel wirklich als Bürde betrachtest.«

Elias zögerte nicht und ging auf den Pfad zu. Bevor er ihn betrat, blieb er jedoch stehen. Denn endlich fiel ihm ein, was nicht stimmte.

»All jene, die unglücklich sind und niemanden haben, der sie versteht«, hatte das Sternenmädchen gesagt. Aber er war nicht einsam, und es gab jemanden, der ihn verstand. Er liebte und wurde geliebt.

Auf dem Absatz machte er kehrt und lief zurück, vorbei an der Rabenschwester, der er einen Dank zuraunte, und über die Schwelle des Portals hinein in den ausgelassenen Lärm. Mit einem wissenden Lächeln sah ihm das Sternenmädchen entgegen.

»Ich bin nicht einsam«, sagte er und blieb vor ihr stehen. »Deshalb ist dies nicht der richtige Ort für mich.«

»Es erfüllt mich mit Freude, dass du das endlich eingesehen hast.« Sie strich ihm über die Wange, aber er umfasste ihr Handgelenk und entfernte behutsam ihre Hand von seinem Körper. Ihre Haut fühlte sich kalt wie Glas an, während ihre Augen funkelten, als würde der Nachthimmel darin wohnen.

»Es gibt Liebe in meinem Leben, trotz meines Schwanenflügels.«

Als sie erneut ihre Hand nach ihm ausstreckte, um sie auf seine Brust zu legen, hinderte er sie nicht daran. »Weil dein Flügel dich nicht ausmacht, sondern das, was in deinem Herzen ist.«

»Verrätst du mir jetzt, wer dich zu mir gerufen hat?«

»Das weißt du doch längst.« Sie ließ ihn los und trat einen Schritt von ihm zurück. Lächelte, als sie ihre offene Handfläche zum Himmel emporstreckte und eine gläserne Phiole darauf erschien. Sternenlicht floss durch die schmale Öffnung hinein, glitzerte im durchsichtigen Bauch, und als nichts mehr hineinpasste, verschloss sie sie mit einem silbernen Korken.

»Du hast nichts von mir gefordert, deshalb mache ich dir dieses Geschenk.« Sie reichte ihm die Phiole. »Öffne sie und schenke den Sternen die Freiheit, dann werden sie dir geben, was du dir am sehnlichsten wünschst.«

Elias’ Finger zitterten, als er sie um das schlanke Glasgefäß schloss.

Ich verdiene dieses kostbare Geschenk gar nicht, dachte er und sagte: »Ich danke dir.«

»Geh jetzt, Schwanenprinz. Geh heim zu denen, die dich lieben.«

»Werde ich dich wiedersehen?«

»Aber natürlich«, erwiderte sie und legte den Kopf schief. »Jede Nacht.«

Er verließ den gläsernen Berg und wählte den Pfad, der ihn in Windungen hinab- und aus dem Gebirge hinausführte. Er war dankbar über seinen Schwanenflügel, der ihm wie auf dem Hinweg vor der Nachtkälte schützte und ihm Schatten vor der brennenden Sonne spendete.

Der Weg war weit, und obwohl er seinem Zuhause mit jedem Schritt näher kam, wurde die Sehnsucht danach größer.

Dieses Mal wich er den Dörfern nicht aus. Die meisten Menschen betrachteten ihn zwar mit Argwohn, aber er sah auch freundliche Gesichter. Und jedes Lächeln, das ihm geschenkt wurde, verringerte das Gewicht auf seinem Herzen.

Die Erkenntnis, so geliebt zu werden, wie er war, so launenhaft und unzufrieden, brachte eine Leichtigkeit mit sich, die er lange vermisst hatte. Dass erst ein Sternenmädchen gerufen werden musste, damit er dies erkannte, machte ihn traurig. Dass es ihn so reich beschenkt hatte, demütig. Das Sternenlicht in der Phiole gab ihm jedoch die Sicherheit, selbst aus dem finstersten Tal hinauszugelangen.

Als er in der Ferne endlich das heimatliche Schloss mit seinen vielen Fenstern und hellen Mauern in der Morgensonne erblickte, huschte ein erleichtertes Lächeln über sein Gesicht und sein Herzschlag beschleunigte sich. Kein wunderlicher Glasberg dieser Welt, auch wenn er mit Verwünschten und anderen Gestalten, die ihm ähnlich waren, angefüllt war, konnte das warme Gefühl ersetzen, das er beim Anblick seines Zuhauses empfand. Denn dort warteten die Menschen auf ihn, die ihm wichtig waren.

Sein erster Weg führte ihn auf die Dachterrasse, weil er wusste, dass seine Schwester dort täglich den Morgen begrüßte. Zu seiner Erleichterung hielt ihn niemand auf, obwohl er den direkten Weg hinauf wählte. Aber er verspürte eine so große Aufregung in seinem Herzen, ein so dringendes Bedürfnis, mit ihr zu sprechen, dass er keine weitere Zeit mehr verlieren wollte.

Und in der Tat stand sie am Geländer und sah in die Ferne. Einen Atemzug verharrte er, um sie zu betrachten, bevor er die Terrasse betrat und zu ihr ging. Dumpf klangen seine Schritte auf dem Stein und schreckten sie auf.

»Elias!«

Dieses Mal störte er sich nicht an ihren Tränen. Denn sie lachte dabei und stürzte sich auf ihn, schlang ihm die Arme um den Hals und drückte ihn an sich.

»Ich hatte Angst, dich nie wiederzusehen«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. »Ich wollte dir folgen, aber Konrad wusste, dass du zurückkehrst.«

Elias löste sich von ihr und betrachtete ihr Gesicht. Obwohl sie strahlte, erkannte er die tiefe Traurigkeit, die sich in ihre Züge gegraben hatte.

»Es tut mir leid, dass ich dein Glück verhindert habe. Ich habe mehr an das gedacht, was ich verloren habe, als an das, was mir geschenkt wurde.«

»Aber es ist meine Schuld, dass du traurig bist, denn ich habe dein Hemd geknüpft.«

»Wilhelmina«, sagte er gequält. »Ich wollte nie, dass du dich schuldig fühlst, weil du mich retten wolltest.«

»Du hast gesagt, dass nichts die Freiheit ersetzt, die es bedeutet, zum Himmel und zu den Sternen emporzusteigen. Die Flügel aufzuspannen und die Welt hinter sich zu lassen.« Sehnsucht lag in ihrer Stimme. »Das habe ich dir nie nehmen wollen.«

»Ich habe meine Schwanengestalt verloren, aber das heißt nicht, dass ich nicht frei bin.« Dieses Mal schob er sie nicht von sich, als sie ihn wieder mit beiden Armen umfing. Schützend legte er seinen Flügel um sie und strich ihr mit seiner Hand beruhigend über den Rücken. »Hast du das Sternenmädchen deshalb gerufen? Liebst du mich so sehr, dass du dein eigenes Glück zurückstellst? Das will ich nicht, Wilhelmina.«

»Du bist mein Bruder, Elias, und ich werde immer für dich da sein.«

»Aber nicht für den Preis deines eigenen Glücks«, widersprach er. »Du hättest längst Hochzeit feiern und den Thron besteigen sollen.«

»Ach Elias.« Sie lächelte wehmütig. »Ich erinnere ihn zu sehr an seine Schwester und ihr tragisches Schicksal. Er hat mich doch nur zu seiner Verlobten gemacht, weil man die zukünftige Ehefrau des Königs nicht einfach auf dem Scheiterhaufen verbrennt.«

Elias erinnerte sich an den zugemauerten Raum in den Kellern. Ein Dampfbad sollte dort einst gewesen sein, in dem Konrads Schwester erstickt war. Ihr Kind war nur wenige Wochen nach ihr an einem Fieber gestorben, und der König war kurz darauf fortgegangen, weil er seine Trauer nicht überwinden konnte. Konrad war zurückgeblieben und zum König eines Reiches geworden, in dem Verwünschungen so machtvoll waren, dass sie Menschen in Tiere verwandelten. Sein Volk ahnte nicht, dass ihr König selbst Opfer eines Fluchs gewesen war und die Erinnerungen daran für immer in seinem Herzen wohnen würden.

»Aber du liebst ihn und das Land«, widersprach Elias. »Und er liebt dich.«

»Du liebst dieses Land mehr als ich. Es ist zu deinem Zuhause geworden, aber es fühlt sich trotz der vergangenen Jahre nicht wie das meine an.«

»Ich wusste nicht, dass du dieses Leben nicht willst.« Er klang erschrocken. »Und doch hast du das Sternenmädchen gerufen und zu mir geschickt.« Er zog die Phiole aus seinem Wams und reichte sie ihr. »Dieses Geschenk hat sie mir gegeben, und ich möchte, dass du es bekommst. Für deine unendliche Liebe, die ich gar nicht verdient habe.«

»Sternenlicht«, hauchte sie ehrfürchtig. »Es heißt, es erfüllt die sehnlichsten Wünsche der Menschen.« Mit großen Augen sah sie ihn an. »Nein, Elias, ich kann das nicht annehmen. Es ist für dich bestimmt.«

Sie wollte ihm die Phiole zurückgeben, aber er schüttelte den Kopf.

»Mein größter Wunsch ist, dass du glücklich wirst.« Er legte seine Hand um ihre, bis sich ihre Finger um das kleine Glasgefäß schlossen. Für einige Herzschläge senkte sich Schweigen zwischen sie, aber nicht unangenehm. Als er sie losließ, wandte sich Wilhelmina ab und blickte zum Himmel, bevor sie ihn wieder ansah.

»Sag ihm, dass er mich und meine Brüder gerettet hat. Sag ihm, dass ich ihn liebe, aber nicht so, wie er es verdient. Sag unseren Brüdern, dass ich …«

»Wilhelmina, was hast du vor?«

»Ich habe so viele Jahre zugesehen, wie ihr die Freiheit genossen habt. Wie ihr in den Himmel hinaufgeflogen seid und die Regeln, Sitten und Gebräuche der Menschenwelt abgestreift habt. Ich habe mir immer gewünscht, diese Freiheit ebenfalls zu verspüren. Eines Tages zu gehen, wenn ich weiß, dass ihr mich nicht mehr braucht.«

»Aber ich brauche dich«, widersprach er. »Ich werde dich immer brauchen.«

Sie entkorkte die Phiole und hielt sie in die Höhe. Trotz der Helligkeit glitzerte der Inhalt wie ein Meer aus Diamanten, das die Weisheit des Mondes und die Wärme der Sonne in sich trug. Der gläserne Körper wollte die Sterne nicht länger halten, und so quollen sie heraus. Wie eine funkelnde Wolke breiteten sie sich über Wilhelmina aus, bevor sie sich einer Sternendecke gleich um sie schlangen.

Elias’ Augen tränten, aber er wandte den Blick nicht ab. Heller und heller wurde das Sternenlicht, während es den sehnlichsten Wunsch seiner Schwester erfüllte. Von einer unsichtbaren Kraft wurde sie in die Höhe gehoben, bis nur noch ihre Zehenspitzen den Steinboden berührten. Wie ein Zauberkreisel drehte sie sich in der Luft, begleitet von unzähligen Sternen.

Ihre Arme veränderten sich zuerst. Sie wurden zu Flügeln, und das magische Schauspiel endete nicht eher, bis sie sich in einen wunderschönen Schwan mit schneeweißen Federn verwandelt hatte.

»Ich danke dir, lieber Bruder«, hörte er ihr Flüstern im Wind, bevor sie mit ihren Flügeln schlug und sich in die Lüfte erhob.

Elias wich zurück und sank auf den Boden, lehnte sich wie so oft mit dem Rücken an den Blumenkübel und beobachtete aus seinem Versteck heraus mit glücklichem und traurigem Herzen zugleich, wie sie kurz noch über dem Schloss verweilte und dann mit kräftigen Flügelschlägen fortflog.

Er war nicht überrascht, als Konrad an ihm vorbei auf den Balkon stürmte, an der Balustrade stehen blieb, beide Hände um das Eisengitter klammerte und ihr hinterhersah. Ein Laut hob sich aus seiner Kehle, in dem so viel Schmerz lag, wie Elias es nie für möglich gehalten hätte. Konrad hatte seine Schwester mehr als alles andere auf der Welt geliebt, das wurde ihm jetzt klar.

Sein Herz zog sich zusammen, weil er nicht wollte, dass der, der ihnen stets geholfen hatte, ohne jemals etwas dafür zu fordern, unglücklich war. Konrad hatte ihn nicht bemerkt, das wusste er, denn niemals hätte er sonst so deutlich gezeigt, wie sein Innerstes zerbrach. Dabei hatten sie von Anfang an auch die schlechten Gefühle geteilt, und Elias hatte immer gewusst, dass er ohne sein Lächeln und seine Stärke nicht leben wollte.

Beinahe lautlos erhob er sich und trat hinter ihn.

»Ich soll dir sagen, dass sie dich liebt.«

Konrad fuhr zusammen und wirbelte zu ihm herum.

»Elias.« Kaum hörbar, als würde die Überraschung, ihn vor sich zu sehen, ihm die Luft aus der Lunge pressen. Dann aber zog er ihn an sich, umfing ihn mit beiden Armen und ließ ihn für eine lange Zeit nicht los.

»Ich dachte, du wärest es gewesen. Ich dachte, ich hätte dich verloren.« Der Schreck vibrierte noch immer in seiner Stimme. »Ich wusste, dass du zurückkehrst – und doch hatte ich Angst, dass du es nicht tust.«

Elias lächelte, das erste Mal seit Monaten ohne den traurigen Schatten hinter seinen Augen.

»Ich habe ein wenig gebraucht, um zu erkennen, was ich verlassen habe«, sagte er vage, noch nicht bereit, über das Sternenmädchen und den merkwürdigen Glasberg zu sprechen. Er würde Konrad davon erzählen, später. Für eine Weile wollte er sie jedoch wie ein Geheimnis bewahren, das ihn mit seiner Schwester verband.

»Ich wusste von Anfang an, dass sie eines Tages in ein anderes Leben aufbricht.« Konrad löste sich von ihm und blickte hinauf in den Himmel, obwohl Wilhelmina längst verschwunden war.