Die dritte Leich - Georg Unterholzner - E-Book

Die dritte Leich E-Book

Georg Unterholzner

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Beschreibung

Der Abt der Klosterschule Heiligenbeuern ist überraschend gestorben. In derselben Nacht wurde der Vater eines Zöglings ermordet. Für die 14-jährigen Internatsschüler Kaspar und Max steht fest, dass hinter den Klostermauern ein Mörder umgeht. Doch die Polizei tappt im Dunkeln. Nicht unfreiwillig helfen die beiden Jungen dem Wolfratshauser Inspektor Huber bei seinen Ermittlungen und stellen auf eigene Faust Nachforschungen an. An dem spannend konstruierten Fall entlang erzählt Unterholzner die Geschichte seiner Protagonisten. Trotz der blutigen Story um Messer- und Giftmorde leistet er sich skurrile Typen und komödiantische Momente. Mit großzügigem Lokalkolorit eröffnet er auch dem Ortsunkundigen en passant die Welt zwischen Isar und Loisach. Süddeutsche Zeitung

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Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten der Romanfiguren mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt, ebenso wenig eine Beschreibung der Verhältnisse in tatsächlich existierenden Institutionen, Organisationen oder Vereinigungen.

LESEPROBE zu Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2013

© 2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Titelfoto: © macromagnon – Fotolia.com Autorenfoto in »Worum geht es im Buch?«: Patrick la Banca Satz: Bernhard Edlmann Verlagsdienstleistungen, Raubling Datenkonvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

eISBN 978-3-475-54403-3 (epub)

Worum geht es im Buch?

Georg Unterholzner

Die dritte Leich

Der Abt der Klosterschule Heiligenbeuern ist überraschend gestorben. In derselben Nacht wurde der Vater eines Zöglings ermordet. Für die 14-jährigen Internatsschüler Kaspar und Max steht fest, dass hinter den Klostermauern ein Mörder umgeht. Doch die Polizei tappt im Dunkeln. Nicht unfreiwillig helfen die beiden Jungen dem Wolfratshauser Inspektor Huber bei seinen Ermittlungen und stellen auf eigene Faust Nachforschungen an.

An dem spannend konstruierten Fall entlang erzählt Unterholzner die Geschichte seiner Protagonisten. Trotz der blutigen Story um Messer- und Giftmorde leistet er sich skurrile Typen und komödiantische Momente. Mit großzügigem Lokalkolorit eröffnet er auch dem Ortsunkundigen en passant die Welt zwischen Isar und Loisach. Süddeutsche Zeitung

Dr. Georg Unterholzner, geboren 1961, lebt in Oberbayern in der Nähe von Wolfratshausen.

Inhalt

Kapitel I Der Tanz beginnt

Kapitel II Erste Informationen

Kapitel III Wir sind dabei

Kapitel IV Im Krankenrevier

Kapitel V Der rote Ignaz

Kapitel VI Huber greift ein

Kapitel VII Noch eine Leiche

Kapitel VIII Die Jagd geht weiter

Kapitel IX Erwin

Kapitel X Nächtliches Geständnis

Kapitel XI Der letzte Akt

Epilog

Kapitel I

Der Tanz beginnt

Mein Vater hatte mich mit dem Motorrad zur Bahn nach Wolfratshausen gebracht. Von dort ging es mit dem Abendzug nach Heiligenbeuern ins Internat, das von allen Schülern ›Beusl‹ genannt wurde.

Kurz vor sieben Uhr kam der Zug an. Einige Dutzend Schüler, von denen ich ein paar bereits durch die ersten vier Wochen im Beusl kannte, stürmten auf den Bahnsteig. Mit Koffern und Reisetaschen beladen gingen wir zum nahe gelegenen Kloster. Dorthin begleitete uns der Präfekt der ersten Klasse, der vor allem auf die Disziplin seiner Wurzler achtete.

Nachdem wir die Pforte passiert hatten, ging es links die Treppe hinauf zu den Studierräumen. Der Studiersaal meiner achten Klasse lag im ersten Stock und gleich daneben war unser Schlafsaal. Ich grüßte hierhin und dorthin, spürte aber, wie fremd ich immer noch war. Wie am ersten Tag, als mein Vater mich hier abgeliefert hatte, stach mir der Geruch der frisch gewachsten Treppen und Gänge in die Nase.

Pater Zeno, unser Präfekt, gab mir an der Tür zum Studiersaal die Hand und fragte: »Na – gut erholt?«

Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern eilte gleich zu einem Klassenkameraden, der seine frischen Unterhosen lässig in den Spind hineingeworfen hatte. »Das räumst du sofort auf«, bellte ihn der kleine, breit gebaute Mönch an.

Der Junge zog den Kopf ein und brachte Ordnung in sein Durcheinander. Er hatte Glück, wenn er ohne ›Parademarsch‹, das heißt ohne Strafaufgabe, bei der man endlose Reihen lateinischer Stammformen zu schreiben hatte, davonkam.

»Servus Kaspar, alte Kuhhaut.« Jemand hatte mir von hinten mit der Hand auf die linke Schulter geschlagen. Ich drehte mich um und da stand der rothaarige Max Stockmeier, mein Freund aus den ersten Wochen. Er und Erwin waren wie ich zu Jahresbeginn neu in die Klasse gekommen.

Nun zog Max einen großen, schweren Mann mit einem rotblonden Schnurrbart und freundlichen, hellen Augen zu mir heran. »Da, Papa, das ist der Kaspar, von dem ich dir schon erzählt hab.«

Herr Stockmeier streckte mir seine mächtige Rechte entgegen und ich grüßte ihn schüchtern. Das war also der Bräu von Wolfratshausen, dem man nachsagte, dass keiner in der Umgebung mehr Kraft hätte als er.

Max und ich verstauten die mitgebrachte Wäsche in unseren Spinden, dann begleiteten wir seinen Vater zum Parkplatz vor der Pforte, um uns dort von ihm zu verabschieden. Zurück im Studiersaal setzten wir uns an mein Pult und erzählten, was wir am Heimfahrtswochenende erlebt hatten.

Alle Zöglinge in Heiligenbeuern hätten bis spätestens sieben Uhr da sein sollen, doch einige kamen etwas später. Als Letzter traf mein Pultnachbar Erwin Kathan mit seinem Vater ein. Ich schaute gerade zur Eingangstür, als die beiden den Studiersaal betraten. Erwin war ein dunkelhaariger, schmaler und für seine vierzehn Jahre zu kleiner Junge. Er grüßte still. Sein Vater dagegen, ein schlanker, großer Mann mit streng zurückgekämmten, schwarzen Haaren, schien uns gar nicht zu bemerken. Er hatte Schweißperlen auf der kahlen Stirn.

»Papa, was ist denn? Ist dir nicht gut«, fragte Erwin besorgt.

Herr Kathan starrte vor sich hin, er schluckte. Seine Hände fingen jetzt an zu zittern und er schwitzte immer noch mehr. Dann hielt er sich an unserem Pult fest. Vielleicht wollte er nicht, dass wir seine Hände zittern sahen. Oder er hatte Angst hinzufallen, wenn er nicht irgendwo Halt fand.

Plötzlich sah er auf und fragte mit rauer Stimme: »Wo ist euer Präfekt? Ich muss mit Pater Zeno reden. Sofort.«

Die Frage erschien unsinnig, denn Pater Zeno unterhielt sich keine fünf Meter entfernt mit den Eltern eines Mitschülers. Mechanisch, wie von einer Schnur gezogen, ging Herr Kathan zu dem Mönch.

Die beiden sprachen kurz miteinander, um anschließend im Präfektenzimmer zu verschwinden. Wir warteten vergeblich, dass sie in den Studierraum zurückkehrten.

Erst um Viertel nach acht, zu der Zeit also, da wir ins Bett gehen mussten, kam Pater Zeno wieder. Er ging sofort zu Erwin, der still auf seinem Platz saß.

»Erwin, dein Vater wollt unbedingt noch mit dem Abt reden. Ich hab ihm zwar gesagt, dass das nicht möglich ist, weil die Ordensregeln einen so späten Besuch nicht vorsehen, aber er hat drauf bestanden.« Besorgt schüttelte der Pater den Kopf. »Sag mal, ist bei euch zu Hause etwas passiert. Dein Vater war ganz durcheinander. – Wenn was wär, kannst du jederzeit zu mir kommen.«

»Nein«, sagte Erwin, »es war nichts. Es war wirklich ein schönes Wochenende und Papa war besonders nett. Normalerweise ist er nämlich nicht so. Und jetzt auf einmal …«

Erwin fing an zu weinen und Pater Zeno legte ihm den Arm um die Schulter. Eine solche Geste hatte ich nie zuvor bei ihm gesehen.

»Ich weiß zwar nicht, was mit deinem Vater los ist, aber so schlimm wird es schon nicht sein. – So, Kinder«, damit erhob der Mönch seine Stimme, und sie hatte wieder den Klang, der keinen Widerspruch zuließ, »jetzt wird es Zeit, dass wir ins Bett gehen.«

Wenige Minuten später marschierten wir in den Schlafsaal.

Nachdem das Licht gelöscht war, hörte man Erwin noch eine Zeit lang leise weinen. Dann war Ruhe.

Am nächsten Morgen wurden wir wie üblich um sechs Uhr geweckt und versammelten uns nach dem Waschen und Anziehen im Studiersaal zum Morgengebet.

Pater Zeno wirkte traurig und vor dem Beten sagte er uns den Grund dafür: »Liebe Kinder, heute Nacht ist unser Abt gestorben. Wir wollen ihn in unser Gebet einschließen. Der Herrgott gebe ihm die ewige Ruhe.«

Ich schaute zu Max, der am Pult vor mir saß. Und als hätte der meinen Blick im Nacken gespürt, drehte er den Kopf um und sah mich geheimnisvoll an.

Auf dem Weg zum Frühstück fragte ich ihn, warum er so komisch geschaut habe.

»Der Aufenthalt im Beusl könnt spannend werden«, entgegnete er knapp.

»Warum?«, fragte ich.

»Warum?«, äffte er mich nach. »Sag mal, hast du gar kein Hirn? Gestern Abend läuft der Kathan rum wie eine lebendige Leich und muss unbedingt mit dem Abt reden. Und heut? Heut ist der Abt tot.«

Max blieb stehen und sah mir fest in die Augen.

»Hast du den Abt beim Abschlussgottesdienst vor dem freien Wochenend g’sehen? Sag, hat der krank ausg’schaut? Ein bisserl g’wampert war er schon, aber dass er gleich stirbt?« Max riss die grünblauen Augen beim Reden immer noch weiter auf. »Warum war der Kathan gestern so komisch? Und warum hat er unbedingt noch mit dem Abt reden müssen? Da stimmt doch was nicht, oder?«

Die ersten beiden Schulstunden fielen aus. Es wurde ein Trauergottesdienst für den Verstorbenen abgehalten, an dem alle Schüler teilnehmen mussten. Ich saß ein paar Plätze von Max entfernt und dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Sollte das seltsame Verhalten von Herrn Kathan mit dem Tod des Abtes zusammenhängen? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.

Ab der dritten Stunde war Unterricht. Die Patres waren an diesem Tag eher nachsichtig mit uns Schülern, sogar in Latein. In der letzten Stunde wurde Erwin von Pater Zeno aus dem Unterricht geholt.

Ich sah zu Max hin, und der begegnete meinem Blick wieder mit diesem arrogant blöden Geschau, das er bereits am Morgen aufgesetzt hatte.

Nach dem Mittagessen, an dem Erwin nicht teilgenommen hatte, packte Max meinen Arm und zog mich in eine ruhige Ecke vor der Pforte.

»Da ist gestern was Dramatisches passiert«, meinte er aufgeregt. »Vielleicht sitzt der Kathan schon im Zuchthaus, und seine Frau will den Erwin vor der ganzen Schand bewahren und nimmt ihn aus der Schul.«

»Du spinnst ja. Also Max, jetzt spinnst wirklich.«

Er trat einen Schritt vor. »Sag mal, kannst du zwei und zwei wirklich nicht zusammenzählen? Die letzten fünfhundert Jahr’ hat sich im Beusl nicht so viel Aufregendes abg’spielt wie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden. Das hat doch einen Grund. – Hoffentlich kommt der Erwin bald, dass wir ihn fragen können.«

Kaum hatte er den Satz beendet, da fuhr der Wagen der Kathans, ein schwarzer Mercedes, in den Klosterhof ein. Hinter dem Steuer saß Frau Kathan und daneben Erwin. Sie parkte vor der Pforte, beide stiegen aus und Erwin gab seiner Mutter die Hand. Dann ging die kleine, dunkelhaarige Frau die Treppe hinauf zum Eingang der Pforte, während Erwin etwas verloren zurückblieb.

Max rannte sofort los und ich hinterher. Als wir bei Erwin ankamen, stand der immer noch wie gelähmt neben dem Auto.

»Du, Erwin«, sagte Max, »was ist denn los mit deinem Vater?«

Weiter kam er nicht, da heulte Erwin schon.

Max legte ihm den Arm um die Schulter und führte den armen Kerl in das Klostergebäude. Da die Sonne schien, war niemand im Studiersaal. Pater Zeno mochte es nicht, wenn sich die Schüler bei schönem Wetter im Haus aufhielten. Deshalb scheuchte er uns bei jedem Sonnenstrahl an die frische Luft.

Max führte den viel kleineren Erwin an sein Pult, setzte ihn auf seinen Stuhl und fragte noch einmal: »Was ist denn los bei euch? Mit mir kannst du doch reden.«

Erwin schluchzte weiter. Er hatte ganz verweinte Augen und die Schultern waren noch mehr eingesunken als sonst.

Endlich fing er an. »Papa ist nicht mehr da«, sagte er leise. »Seit gestern Abend ist er verschwunden. Erst war er doch so komisch, das habt ihr ja mitgekriegt. Dann wollte er unbedingt mit dem Abt reden. Anschließend hat er meine Mama angerufen und gesagt, dass er erst Montagnachmittag, also heute nach Hause kommt. Er wollte am Vormittag noch etwas ganz Wichtiges hier in Heiligenbeuern erledigen. Er hat sich deswegen ein Zimmer im ›Gasthof zur Post‹ genommen, ist abends noch mal weggegangen und nicht mehr in den Gasthof zurückgekehrt. Der Wirt hat heute Morgen bei der Polizei angerufen und die hat anschließend meine Mutter verständigt. Er ist einfach verschwunden. Könnt ihr euch das vorstellen?«

Noch nie hatte Erwin so viel auf einmal geredet. Jetzt weinte er wieder leise vor sich hin.

»Hat dein Vater denn nix drüber g’sagt, warum er gestern Abend so komisch war?«, wollte Max wissen.

Erwin schüttelte den Kopf, und Max, der sah, dass er so nicht weiterkommen würde, änderte die Taktik und fragte vorsichtiger: »Wann ist es denn los’gangen, dass dein Vater so komisch war?«

Erwin schaute auf. »Also bei der Herfahrt war er noch bei guter Laune, für seine Verhältnisse wenigstens. Er sprach davon, dass wir in den Allerheiligenferien den Hellabrunner Zoo besuchen. Dann sind wir aus dem Auto ausgestiegen und mit den Koffern durch die Pforte ins Kloster gegangen. Ihr wisst ja, was da unten an dem Abend für ein Betrieb war mit all dem Kommen und Gehen. Auf einmal hat er die Koffer abgestellt und ganz seltsam dreingeschaut. Gesagt hat er von da an kein Wort mehr, erst wieder hier oben im Studiersaal.«

Plötzlich ging die Tür vom Präfektenzimmer auf und Pater Zeno trat heraus. Er kam mit ernstem Gesicht auf uns zu, blieb beim Pult stehen und sagte: »Es ist sehr schön, dass ihr euch ein bisschen um den Erwin kümmert. Seine Mutter war gerade bei mir und meinte, ihr wäre es lieber, wenn der Erwin weiter hier bei uns bleiben würd. Nach dem unerklärlichen Verschwinden ihres Mannes braucht sie alle Kraft, um nach ihm zu suchen. Wenn ihr wollt, könnt ihr während der Studierzeit ein wenig ins Dorf gehen, damit der Erwin auf andere Gedanken kommt.«

»Ich glaube, ich bleibe lieber hier«, entgegnete Erwin still und sah auf den Boden.

»Wie du willst«, meinte Pater Zeno und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Max und ich waren enttäuscht. Noch nie hatten wir einer Studierzeit fernbleiben dürfen, und diese einmalige Chance war jetzt auch vertan.

Erwin schien unsere Gedanken zu erraten und sagte: »Tut mir leid, dass ich euch um den Spaziergang gebracht habe, aber ich will jetzt lieber allein sein.«

Wir folgten seinem Wunsch und verließen den Studiersaal. Max packte mich auf dem Gang am Arm und zog mich in die Besenkammer, den einzigen Ort, wo man im Beusl wirklich ungestört sein konnte. Jeder von uns setzte sich auf einen umgedrehten Putzkübel.

»Und? – Was hältst jetzt von der G’schicht?«, fragte er und schaute mich erwartungsvoll an.

»Was soll ich davon halten?«, fragte ich zurück. »Ein bisserl komisch ist die Sache schon. Vielleicht hat sich der Kathan aber bloß über irgendwas aufg’regt und dann in einem Wirtshaus einen Rausch ang’soffen. Bei uns daheim dauert ein guter Kirchweihrausch manchmal einen oder zwei Tag’, sagt der Opa. Er hat mal einen Knecht g’habt, der hat eine halbe Woch nimmer aufstehn können. Der wär ihm fast hin ’worden. So was kommt vor.«

Max sah mich enttäuscht an und meinte kopfschüttelnd: »Herrschaftzeiten, Kaspar. Der Kathan ist doch nicht ein versoffener Rossknecht. Hast du nicht g’sehen, wie der gestern Abend ausg’schaut hat? Er hat ausg’schaut, als hätt er ein G’spenst g’sehen. Nein – er hat ein Gespenst gesehen.«

Die Augen von Max leuchteten und er redete hastig weiter, wobei er mehr und mehr ins Hochdeutsche fiel. Das tat er immer, wenn er meinte, etwas besonders Schlaues zu sagen.

»Er muss jemanden gesehen haben, der für ihn wie ein Gespenst war. Das ist die Lösung.« Silbe für Silbe betonte er mit einer leichten Bewegung seines aufgerichteten rechten Zeigefingers. »Aber wen oder was kann er gesehen haben? Das ist die Frage. Und er muss diesen Jemand hier im Kloster das erste Mal gesehen haben. Das ist auch wieder seltsam, denn er war ja schon mindestens zweimal vorher hier, und zwar am Abend, als er den Erwin im Beusl abgeliefert hat, und dann letzten Freitag, als er und seine Frau den Erwin für das freie Wochenende abgeholt haben.«

Ich hörte Max fasziniert zu, wobei ich noch nicht genau wusste, worauf er hinauswollte. Da schrillte auch schon die Klingel, die anzeigte, dass die Freistunde vorbei war. In spätestens fünf Minuten, beim zweiten Läuten, mussten wir an unserem Platz im Studiersaal sitzen.

»Kaspar, wir müssen rausfinden, wen oder was der Kathan gestern Abend auf dem Weg zum Studiersaal g’sehen hat. Aber jetzt pressiert’s.«

Wir schlüpften aus unserem Versteck und rannten in den Studiersaal. Erwin saß immer noch so da, wie wir ihn verlassen hatten.

Die ganze Studierzeit ging mir im Kopf herum, was Max gesagt hatte. Irgendwie klang es logisch, doch ich kannte seinen Hang zu Sensationen. In der Schule war es dasselbe mit ihm. Er löste oft die schwierigsten Aufgaben in Mathe ohne Probleme. Einfache Rechnungen dagegen interessierten ihn nicht, da machte er gerne Leichtsinnsfehler.

Max war mein einziger Freund im Internat. Mit Erwin kam ich ganz gut aus, außerdem saß er neben mir im Studiersaal. Zu sagen hatten wir uns jedoch nicht viel, dafür waren wir uns zu fremd.

Als ›Neuer‹ war man in der eingeschworenen Gemeinschaft von Klosterzöglingen glatter Aussatz, beinahe so unberührbar wie ein Fünftklässler, ein Wurzler. Max hat sich jedoch gleich bei den ersten Raufereien durchgesetzt. Er hat zwar nicht jedes Mal gewonnen, aber großzügig blaue Flecken verteilt. Sogar eine Rauferei mit dem Klassenstärksten ging unentschieden aus. Max musste allerdings danach ein paar Stunden in die Krankenstation und sich blutstillende Watte in die Nase pfriemeln lassen, weil sie nicht aufhören wollte zu bluten.

Erwin und ich wurden dagegen in Ruhe gelassen. Ich vermied jeden Streit und Erwin war so schwächlich, dass niemand ihn angerührt hätte. Da gab es eine Art Ehrenkodex.

Nach der Studierzeit ging es zum Nachmittagstee in den Speisesaal. Natürlich war Max sofort wieder bei mir und redete auf mich ein, als hätte eine Unterbrechung durch die Studierzeit gar nicht stattgefunden: »Es stellt sich folgende Frage: Wen oder was hat der Kathan auf dem Weg vom Auto zum Studiersaal g’sehen? Verstehst? Deswegen müssen wir uns den Weg ganz genau anschauen.«

»Aber den Weg kennen wir zwei doch. Was gibt’s da Neues zu sehen?«

»Himmibirnbaum, Kaspar«, schimpfte Max und fiel dabei ins Bayerische zurück. »Du bist wirklich keine große Hilf. Du musst ein bisserl kriminalistischen Spürsinn entwickeln, sonst kommen wir nicht vorwärts.«

Wir rannten in den Hof zu den Parkplätzen. Von dort gingen wir langsam und alles genau beobachtend die mächtige Treppe zur Pforte hinauf und durch das Hauptportal in den Eingangsbereich des Klosters. Hier sah man rechts das Fenster, hinter dem normalerweise der einarmige Pförtner, Frater Innozenz, saß. Geradeaus ging es in den Kreuzgang, durch den man rechts in den Speisesaal und links in den Quergang zur Kirche gelangte. Davor, auf der linken Seite, war das breite Treppenhaus, durch das man in die oberen Stockwerke und somit auch zu unserem Studiersaal kam.

Ganz langsam gingen wir nun den Weg hinauf, den auch Herr Kathan mit Erwin gegangen sein musste. Wir sahen nichts Auffälliges.

Ich wollte schon weg, doch Max drängte auf eine Wiederholung.

Ein weiteres Mal liefen wir auf den Parkplatz und von da nach oben – nichts Besonderes. Und noch einmal gingen wir den Weg.

»Fällt dir was auf?«, fragte mich Max bereits am Parkplatz und sah mich groß an.

»Was soll mir schon auffallen? Zuerst bin ich an der Außentreppe, von da geht’s zur Pforte hinauf. Oben steh ich dann vor der Pfortentür und seh über den ganzen Klosterhof auf den Springbrunnen und die großen Bäum’. Hier heraußen könnt sich ein Haufen Leute aufg’halten haben, die ihre Koffer raus- und reingetragen haben. Aber die Leute außerhalb vom Kloster hätt der Kathan wegen der Dunkelheit um halb acht gar nicht sehen können.«

»Sehr gut gedacht, Respekt«, lobte mich Max, »und jetzt weiter im Beusl selber. Die Lösung muss also irgendwo innerhalb der heiligen Mauern liegen.«

Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung Klosterbau.

Wir öffneten das Pfortentor und gingen hinein. Gerade wollte ich wieder erzählen, was ich sah, da flog die Tür zur Pfortenkammer auf. Ich schrak zusammen, atmete aber erleichtert auf, als ich sah, dass der bärtige Pförtner Frater Innozenz herauskam und auf uns zuhinkte.

»Also, Jungens, so geht das nicht. Ihr rennt jetzt schon das dritte Mal raus und rein. Den ganzen Tag ist hier ohnehin ein ständiges Kommen und Gehen. Nun lasst mir doch bitte mein bisschen Ruhe, wenigstens am Nachmittag.«

Frater Innozenz sah müde aus und gähnte mehrmals. Sein Schimpfen wirkte auf uns Buben vom bayerischen Oberland jedoch wenig bedrohlich, da er hochdeutsch sprach, was sich bekanntermaßen weit weniger zum Schimpfen eignet als Bairisch. Er war wohl Pförtner im Beusl, weil er nur einen Arm und ein schlimmes Bein hatte und für eine andere Arbeit möglicherweise nicht taugte. Jeder mochte ihn gerne, da er trotz seiner Behinderungen immer noch das Fußballtraining für die Schüler leitete. Es war ihm anzumerken, dass er uns ›Jungens‹ mochte, doch offensichtlich hatten wir sein Nachmittagsschläfchen gestört.

»Entschuldigung, Frater Innozenz«, sagte Max schlagfertig, »aber wir müssen in Deutsch einen Aufsatz über das Kloster schreiben, und da haben wir gedacht, wir sollten uns das Gebäude einmal ganz genau anschauen. Der Kaspar und ich sind nämlich erst ein paar Wochen da. Wir kennen …«

»Ist ja schon gut, ist ja schon gut«, unterbrach ihn der Frater. »Aber nun macht, dass ihr woanders hinkommt, ihr Lausejungs.«

Er drehte sich um und schlurfte kopfschüttelnd in seine Pfortenkammer zurück. Wir gingen hinauf in den Studiersaal.

»Also – was haben wir g’sehen?«, fragte Max, nachdem wir uns an sein Pult gesetzt hatten.

»Den Parkplatz, die Pforte, die Treppe in den ersten Stock und den Ausschnitt zum Kreuzgang hin«, zählte ich auf.

»Du hast was vergessen«, sagte Max.

»Was soll ich vergessen haben?«

»Den Pförtner.«

»Und du meinst, der wär wichtig?«, fragte ich.

»Wer weiß.«

Während der nächsten Studierzeit musste ich über unsere Erkenntnisse nachdenken. Was konnte es gewesen sein? Was hatte Herrn Kathan irritiert? Da fiel mir ein, dass die Mönche abends nach dem Vespergebet in der Nähe der Pforte vorbeikamen. Wen oder was hat Herr Kathan gesehen? Ein Gegenstand konnte es nicht gewesen sein, da sich seit seinem ersten Besuch im Kloster nichts verändert hatte. Also wen, wen hat er gesehen? Wenn es ein Schüler aus einer anderen Klasse gewesen wäre oder dessen Eltern, dann hätte er wohl nicht unbedingt verlangt, mit dem Abt zu sprechen. Für die Schüler waren die jeweiligen Präfekten zuständig. Und für die Eltern? Für Eltern war niemand zuständig, soweit ich wusste.

Als gesuchte Person kam folglich nur einer der Mönche in Frage, die durch den Kreuzgang an der Pforte vorbeigekommen sind. Das waren fast fünfzig Leute.

Nach dem Abendessen berichtete ich Max von meinen Überlegungen, die er sich wortlos anhörte.

Zum Schluss resümierte ich: »Also, Max, was ist denn schon B’sonders passiert? Der Kathan ist blass g’worden, als er den Erwin im Beusl abg’liefert hat, und ist dann für einen Tag verschwunden. Morgen ist er sicher wieder da. Der Abt hat sich vielleicht über irgendwas aufg’regt, und sein Herz hat nimmer mitg’macht. Ein bisserl dick war er ja schon.«

»Das glaub ich nicht«, sagte Max leise und hob dann langsam den Kopf. Er überlegte einige Augenblicke, drehte sich dann aber von mir weg und ging in die Besenkammer. Er wollte allein sein.

Am nächsten Tag in der dritten Schulstunde kam überraschend unser Präfekt ins Klassenzimmer. Wir hatten gerade Mathe bei Pater Armin, und so waren alle froh über die Abwechslung. Zeno sah noch bedrückter aus als am Tag zuvor. Er forderte Erwin auf, mit ihm zu kommen, und die beiden verließen den Raum.

Pater Armin versuchte, die Stunde fortzusetzen, doch niemand konzentrierte sich mehr auf den Unterricht. Erwin war gewiss nicht der Beliebteste in der Klasse, aber alle ahnten, dass mit seinem Vater etwas passiert war.

Plötzlich ging die Klassenzimmertür noch einmal auf. Pater Zeno stand im Türrahmen. »Es fällt mir nicht leicht, euch zu sagen, was ich sagen muss.« Er schluckte. »Erwins Vater ist tot in der Loisach gefunden worden. Er wurde erstochen. Die Polizei will nun die genauen Umstände seines Todes aufklären und wird deshalb alle Schüler der Klasse befragen. Die Schule ist für heute beendet. Ihr bleibt bis auf weiteres im Studiersaal. – Gott steh uns bei.«

Jede andere Gelegenheit für den Ausfall des Unterrichts war für uns der Himmel auf Erden. Dafür ging man sogar freiwillig in die Kirche. Diese Nachricht aber war niederschmetternd. Mit hängenden Köpfen trotteten wir in den Studiersaal und beschäftigten uns leise bis zum Mittagessen. Danach sollte die Befragung beginnen.

Ich sah öfter zu Max hin, der am Pult vor mir saß. Er schaute erst einige Minuten aus dem Fenster, dann zog er seinen Schreibblock aus dem Pult und schrieb eine Weile wie besessen. Danach hockte er wieder ruhig da und las das Geschriebene durch.

Auf dem Weg zum Mittagessen fragte ich ihn, was er denn aufgeschrieben habe.

»Ich hab alles notiert, was mir die letzte Zeit im Zusammenhang mit dem Kathan aufg’fallen ist«, sagte er. »Das halt ich dem Kommissar unter die Nase, und dann bin ich in den Ermittlungen drin. Verstehst?«

»Du redest immer nur von Ermittlungen«, meinte ich. »Tut dir der Erwin denn gar nicht leid?«

»Natürlich tut er mir leid. Aber jetzt ist sein Vater tot, und ich möcht rausbringen, wer ihn um’bracht hat. Als Dienst am Nächsten, sozusagen.«

Nach dem Mittagessen mussten wir uns im Studiersaal bereithalten. In alphabetischer Reihenfolge wurden wir in unser Klassenzimmer gerufen, wo die Befragung durch einen Polizeibeamten stattfand. Mir war recht mulmig zumute, Max dagegen konnte es kaum erwarten, bis es endlich losging.

Ich kam vor ihm dran. Mit weichen Knien betrat ich den Raum. Dort hatte man zwei Schultische zusammengestellt. Rechts saß ein etwa vierzigjähriger dunkelhaariger Mann mit gestutztem Schnurrbart und links eine junge, blonde Frau mit einem Schreibblock auf dem Schoß.

Der Mann sprach mich gleich an. »Also, du bist der Spindler Kaspar. Komm nur her, wir beißen nicht.« Dabei deutete er auf den Stuhl, der vor den Tischen stand. Dann sagte er zu seiner Assistentin: »Ich weiß zwar nicht, was sich der Chef von der Befragung der Zöglinge verspricht, aber wir haben es ja bald hinter uns, bei ›S‹ sind wir schon.«

»Ja, Gott sei Dank, Herr Kurzer«, meinte die junge Dame und strich sich den dunklen Rock glatt. »Mit dem Spindler sind es nur noch vier. Auf der Wache mache ich uns dann einen schönen Kaffee.«

»Der wird uns sicher guttun«, seufzte der Polizist und zupfte sich am Schnurrbart. »Aber jetzt zum Mitschüler Spindler.«

Der Kriminalbeamte nahm als Zeichen seiner Arbeitsbereitschaft den Bleistift in die Hand, sah jedoch nicht von dem leeren Blatt Papier auf, das vor ihm auf dem Pult lag. »Hast du vielleicht irgendetwas Besonderes mitbekommen? Dass der Herr Kathan am Sonntagabend recht durcheinander war, wissen wir bereits. Das haben wir schon x-mal gehört. Hast du außerdem etwas Auffälliges beobachtet?«

Ich überlegte kurz, dann sagte ich: »Also der Max meint, dass …«

»Mein Lieber«, unterbrach mich der Kriminalbeamte, »ich habe dich nicht gefragt, was irgendein Max meint, sondern was du beobachtet hast. Also, hast du etwas Besonderes bemerkt?«

»Nein, aber …«

»Nichts aber«, unterbrach mich der Polizist unwirsch. »Fräulein Schmalbach, nehmen Sie ins Protokoll auf, dass der Spindler Kaspar auch nichts Ungewöhnliches gesehen oder gehört hat.«

Nun wandte er sich zu mir und sah mich das erste Mal direkt an. »So, Kaspar, jetzt hast du gesehen, dass es gar nicht schlimm war. Schick uns doch bitte den Nächsten rein. Das dürfte der Stockmeier Maximilian sein.«

Ich verließ das Klassenzimmer, wobei ich vergaß, mich zu verabschieden. Ich hatte mir die Sache schon etwas anders vorgestellt. Dann gab ich Max Bescheid, der im Studiersaal bereits ungeduldig wartete.

»Und«, fragte der aufgeregt, »wie war’s?«

»Bei dem Polizisten kommst du gar nicht zum Reden. Der will bloß möglichst bald einen Kaffee.«

»Das werden wir schon sehen«, meinte Max selbstsicher, steckte den zusammengefalteten Zettel ein und ging zum Klassenzimmer. Ich begleitete ihn und wartete gespannt vor der Tür auf dem Flur.

Bei Max dauerte es wesentlich länger als bei mir. Er war schon eine ganze Weile im Klassenzimmer, als ich Herrn Kurzer losschreien hörte:

»Ich brauche keinen solchen Rotzbuben wie dich, der mir erklärt, was die Kriminalpolizei zu tun hat. Und den Zettel mit deinen Phantastereien kannst du dir sonst wo hinstecken«, polterte der Beamte. »Los, schleich dich und hol mir den Nächsten, das ist der Unger Georg.«

Die Tür ging auf, und heraus kam Max, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Sein Gesicht mit den vielen Sommersprossen glühte, und die rotblonden Haare standen ihm zu Berge. Er schnaufte ein paar Mal kräftig durch, rannte – ohne mich eines Blickes zu würdigen – direkt in den Studiersaal und rief dort laut: »Unger Schorsch, sofort zur Befragung durch den dümmsten Polizisten westlich der Isar.«

Alle im Studiersaal zuckten zusammen, denn es bestand die Gefahr, dass entweder der Kriminalbeamte oder Pater Zeno das gehört hatten. Die Situation roch nach Parademarsch. Aber Max scherte sich nicht darum.

Demonstrativ ruhig ging er zu seinem Platz, setzte sich und holte einen Agatha-Christie-Band heraus. Den schlug er auf und tat so, als würde er darin lesen.

Ich lief hin zu ihm und meinte scheinheilig: »Du, Max, der Kriminalbeamte war ja richtig begeistert von deinen Ideen.«

Er drehte sich zu mir her. »Man kann den hiesigen Verbrechern bloß gratulieren zur Blödheit der zuständigen Polizei. Da kann ihnen nicht viel passieren.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte er sich wieder ab und schaute in sein Buch.

Ich gab aber nicht auf: »Du, Max, wie machst jetzt weiter?«

»Wir klären die Sach natürlich auf. Was denkst du denn«, sagte er trotzig ohne aufzusehen.

»Ich hab schon g’meint, du hättst vielleicht die Nase voll. Die Polizei ist ja nicht besonders scharf auf deine Mitarbeit.«

»Wenn ein solcher Depp wie der Kurzer nicht viel von meinen Ideen hält, dann heißt das eher, dass wir Recht haben. Wir brauchen jetzt bloß eine andere Taktik. Auf die hiesige Polizei können wir nicht zählen.«

Zu Beginn der ersten Studierzeit kam Pater Zeno wie üblich in den Studiersaal und setzte sich an sein erhöhtes Pult, das an der Frontseite des großen Raumes unter dem alten Kruzifix stand. Als wir alle still saßen und mit den Hausaufgaben beginnen wollten, stand er auf und sagte ruhig: »Liebe Kinder. Schlimme Dinge haben sich ereignet. Erst das unerwartete Ableben unseres Abtes und jetzt der gewaltsame Tod von Herrn Kathan. Dazu noch der Besuch der Kriminalpolizei in unseren heiligen Mauern. Erwin ist bereits zu Hause bei seiner Mutter, um ihr in der schweren Zeit beizustehen. Der Konvent der Patres hat nun beschlossen, dass alle Schüler der achten Klasse heute nach einer Andacht um siebzehn Uhr nach Hause fahren können. Es ist notwendig, dass wieder Ruhe in unser Kloster einkehrt. Wir haben das alle nötig. Die Eltern sind verständigt und werden euch nach dem Abendessen abholen. Jetzt sollt ihr euch ruhig beschäftigen. Ihr könnt lesen, wenn ihr wollt. Es ist aber auch nicht verboten, ein paar Vokabeln zu lernen.«

Damit schloss er seine Ansprache, setzte sich und schlug die Bibel auf.

Ich nutzte die Gelegenheit, um mein Wissen über Old Shatterhand aufzubessern.

Nach der Studierzeit ging es zum Nachmittagstee. Max setzte sich im Speisesaal neben mich und begann: »Mensch, Kaspar, während der Andacht müssen wir die Augen aufmachen. Am besten wär’s, wenn wir an den Platz hinkommen, wo der Kathan letzten Freitag beim Abschlussgottesdienst g’sessen ist. Und dann müssen wir uns merken, welchen Pater wir von unserem Platz aus sehen oder besser, wen wir nicht sehen.«

Am vergangenen Freitagvormittag war ein feierliches Hochamt gewesen, zu dem alle Eltern eingeladen waren. Die meisten von ihnen hatten an dem Gottesdienst teilgenommen, bevor sie ihre Knaben für das freie Wochenende abholten. Das wurde von der Internatsleitung gerne gesehen.

Herr Kathan war während der Messe neben meinem Vater gesessen, in der Bank vor den Eltern von Max. Ich konnte mich genau daran erinnern.

»Also das versteh ich nicht«, warf ich ein. »Warum sollen wir darauf achten, wen wir sehen oder wen wir nicht sehen.«

»Kaspar, manchmal bist du schon ein bisserl begriffsstutzig.« Max machte ein enttäuschtes Gesicht. »Nach unseren bisherigen Erkenntnissen muss der Kathan eine bestimmte Person an der Pforte oder im Kreuzgang g’sehen haben, als er am Sonntagabend den Erwin wieder ins Beusl gebracht hat. Kannst du mir so weit folgen?«

Ich verdrehte die Augen. »Aber warum suchst du jemanden, den er nicht g’sehen hat?«

Max stöhnte. »Stell dich doch nicht blöder, als du bist.« Er schaute mich schon wieder so von oben herab an, wie ich es gar nicht leiden konnte. »Am vergangenen Freitagvormittag waren doch die meisten Eltern und der ganze Konvent der Patres in der Kirch. Eltern, also weltliche Personen, scheiden aus dem Kreis der Verdächtigen aus, sonst hätt der Kathan nicht drauf bestanden, dass er mit dem Abt reden muss. Der Abt ist ja bloß zuständig für die Angehörigen vom Kloster. Hätt der Kathan aber die fragliche Person schon am Freitag in der Kirch g’sehen, dann wär er sofort zum Abt g’rannt. Hat er aber nicht g’macht. Also hat er denjenigen am Sonntagabend in der Nähe von der Pforte zum ersten Mal getroffen. Da können alle Patres vorbeig’laufen sein, weil das Abendgebet grad zu Ende war. Jetzt ist es so, dass man von keinem Platz in der Kirch aus alle Patres auf einmal sieht. Wegen dem Mauervorsprung, der den Altarraum vom Rest der Kirche trennt, verstehst? Jeder Pater hat aber seinen festen Platz im Chorgestühl links oder rechts vom Altar. Wir müssen also vom Herrn Kathan seinem Platz aus schauen, welche Chorstühl’ verdeckt sind, und damit ist der Kreis der Verdächtigen schon viel kleiner. Hast du das jetzt begriffen?«

Ich war erstaunt über seine kalte Logik und ärgerte mich über seine Arroganz. Es wollte mir aber nicht in den Sinn, dass ein Mönch irgendetwas mit dem Tod von Herrn Kathan zu tun haben könnte.

»Also, Max, warum sollt ein Pater den Kathan umbringen? Da hat doch keiner einen Grund oder – wie Ihr Detektive sagt – ein Motiv.«

»Über das Motiv hab ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Ohne Ergebnis. Momentan haben wir bloß einen nackerten Mord. Kein Motiv, keine Verdächtigen. – Aber jetzt müssen wir in die Andacht. Schnell.«

Wir hatten völlig übersehen, dass es schon kurz vor siebzehn Uhr war. Wir rannten los und erreichten schwer schnaufend den Treffpunkt vor dem Seiteneingang der Klosterkirche. Dort wartete bereits die ganze achte Klasse, und Pater Zeno bedachte uns mit einem bösen Blick. Ich hatte natürlich ein schlechtes Gewissen wegen der Verspätung, aber Max ging gleich zu unserem Präfekten hin.

»Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte er leise, »aber mir geht’s nicht so gut. Kann ich mich vielleicht in der Kirch weiter nach hinten setzen, damit ich leichter rauskomm, wenn’s mir richtig schlecht werden sollte?«

»Soll mir recht sein«, brummte Pater Zeno und musterte meinen Freund. »Dein Freund, der Kaspar, darf sich gleich dazusetzen, damit er notfalls mit dir rausgehen kann.«

Somit hatte Max, dieser begnadete Lügner, eine Strafe abgewendet und andererseits erreicht, was er wollte.

Als wir Schüler die Kirche in langen Reihen diszipliniert betraten, scherte Max sofort aus und zog mich mit sich.

»Da muss er g’sessen sein, der Kathan«, flüsterte er, »direkt neben deinem Vater.«

Er schob mich in die drittletzte Bankreihe auf der linken Seite der Kirchenbestuhlung. Ich fühlte die Anspannung in mir immer größer werden. Die prächtige Klosterkirche füllte sich. Zuletzt kamen die Schüler der Abiturklasse. Auch die Patres traten, einer nach dem anderen, aus der Sakristei in ihre Chorbänke, aber ich sah sie diesmal nicht als Männer Gottes. Einer von ihnen war möglicherweise ein Verbrecher. Mir lief es kalt den Rücken hinunter.

Als die Andacht begann, konnten wir von unserem Platz aus alle Patres in den Chorstühlen auf der rechten Seite des Altarraumes sehen. Ein Teil der Plätze auf der linken Seite war durch einen Mauervorsprung verdeckt. Vielleicht saß dahinter der Mörder.

Wie selbstverständlich zog Max einen kleinen Notizblock aus seiner Jackentasche und begann zu schreiben. Von Zeit zu Zeit schaute er scheinbar andächtig nach vorne, um nicht aufzufallen.

Da die Präfekten in den vorderen Reihen ihre Klassen beaufsichtigten, fühlte sich Max relativ sicher. Flink ging der Bleistift über das Blatt, und es entstanden zwei Reihen von Namen, eine lange und eine kürzere.

Plötzlich tippte eine Hand auf seine Schulter. Ich fuhr herum, Max auch.

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