Mörderlatein - Georg Unterholzner - E-Book

Mörderlatein E-Book

Georg Unterholzner

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Beschreibung

Eigentlich haben Max und Kaspar gar keine Zeit, sich mit dem Toten zu befassen, den sie in einem Jaguar am Straßenrand finden, denn die Internatsschüler stecken mitten in den Vorbereitungen für die Abiturprüfungen. Doch als die Leiche verschwindet und sich herausstellt, dass ihre Lateinlehrerin in den Fall verwickelt ist, nehmen die beiden die Ermittlungen auf. Bis zur völlig unvorhersehbaren Auflösung des Falls warten einige philosophische, amouröse und überaus menschliche Zwischenfälle auf die beiden inzwischen volljährigen Detektive. Die Stadt Geretsried mit ihrer noch jungen, doch bewegten Geschichte bietet eine authentische Kulisse für Unterholzners dritten Roman.

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Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten der Romanfiguren mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt, ebenso wenig eine Beschreibung der Verhältnisse in tatsächlich existierenden Institutionen, Organisationen oder Vereinigungen.

LESEPROBE zu Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2011

© 2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Lektorat und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten Titelfoto: © Adam Korzekwa – iStockphoto Autorenfoto in »Worum geht es im Buch?«: Patrick la Banca Datenkonvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

eISBN 978-3-475-54401-9 (epub)

Worum geht es im Buch?

Georg Unterholzner

Mörderlatein

Eigentlich haben Max und Kaspar gar keine Zeit, sich mit dem Toten zu befassen, den sie in einem Jaguar am Straßenrand finden, denn die Internatsschüler stecken mitten in den Vorbereitungen für die Abiturprüfungen. Doch als die Leiche verschwindet und sich herausstellt, dass ihre Lateinlehrerin in den Fall verwickelt ist, nehmen die beiden die Ermittlungen auf.

Bis zur völlig unvorhersehbaren Auflösung des Falls warten einige philosophische, amouröse und überaus menschliche Zwischenfälle auf die beiden inzwischen volljährigen Detektive. Die Stadt Geretsried mit ihrer noch jungen, doch bewegten Geschichte bietet eine authentische Kulisse für Unterholzners dritten Roman.

Dr. Georg Unterholzner, geboren 1961, lebt in Oberbayern in der Nähe von Wolfratshausen.

1

Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen.  (Phaedrus) 

Max mochte es, wenn jemand auf unnatürliche Art und Weise ums Leben kam. Er mochte es genauso wie Mathe, hübsche Mädchen und sein Motorrad. Doch eigentlich war er eine Wundertüte, und man wusste nie, was in seinem Kopf wirklich vorging.

Donnerstag

Es war schon nach Mitternacht, als wir vom Pink-Floyd-Konzert nach Hause fuhren. Es nieselte, doch Max holte das Äußerste aus seiner Maschine heraus wie immer. Ich summte die Melodie der letzten Zugabe so leise, dass Max mich nicht hören konnte. Das wäre mir peinlich gewesen.

Einige hundert Meter hinter Geretsried bemerkte mein Freund das dunkelblaue Auto im Straßengraben. Sofort bremste er die Kawasaki herunter, wendete auf der Fahrbahn und fuhr auf den Unfallwagen zu. Im Scheinwerferlicht konnten wir erkennen, dass der Jaguar E-Type von der Straße abgekommen war und einige Sträucher umgefahren hatte. Der linke Außenspiegel war abgerissen, der Kühlergrill hatte eine Delle und der Lack einige tiefe Kratzer.

Max stellte sein Motorrad so, dass es den Unfallort beleuchtete. Dann stieg er ab.

»Scharfer Schlitten«, meinte er und schob einen Kaugummi in den Mund.

Ich war bereits auf dem Weg zum Auto, meinen Helm in der Hand. Als ich zum Beifahrerfenster hineinschaute, sah ich einen dicken, blonden Mann bewegungslos im Wagen. Er war nach rechts umgekippt, so dass Oberkörper und Gesicht auf dem Beifahrersitz ruhten.

»Da ist einer drin«, flüsterte ich.

Sofort war Max bei mir. Er überlegte nicht lange und riss die Fahrertür auf. Seinen Helm hatte er auf die Motorhaube gelegt. Er lehnte sich weit ins Wageninnere und versuchte den Mann aufzuwecken. Erst sprach er ihn an, dann stieß er ihn mehrmals. Als er sich nicht rührte, schüttelte Max ihn mit beiden Händen.

»Vielleicht ist er besoffen.« Ich war heilfroh, dass mein Freund die Initiative ergriffen hatte.

Max legte nun die linke Hand an den Hals des Verunglückten und schwieg. Er musste sich konzentrieren, um den Puls zu fühlen. Schließlich packte er den schweren Mann am Kragen seines hellen Sakkos und zog ihn in eine aufrechte Position. Dann untersuchte er ihn erneut.

»Der ist tot«, sagte er nach einer Weile und schaute zu mir hoch. »Maustot! Aber noch nicht lang. Er ist noch ganz warm.«

Ich wandte mich ab. Mir wurde speiübel bei dem Gedanken, mich in der Nähe einer Leiche zu befinden.

Max erhob sich, streckte seinen beinahe zwei Meter langen Körper und brummte: »Was machen wir jetzt? Wir können ihn nicht gut liegen lassen. Und die Polizei können wir auch nicht holen.« Er atmete schwer wie nach einer großen Anstrengung.

Ich hob die Achseln. Woher sollte ich das wissen?

Da sahen wir ein Auto von Geretsried her mit hoher Geschwindigkeit näher kommen.

»Wir müssen abhauen, schnell«, zischte Max.

Ohne Zögern rannten wir zur Kawasaki, und Max startete den Motor. Ich setzte den Helm auf und umfasste mit der Rechten den Oberkörper meines Freundes. Mit der Linken deckte ich das Nummernschild ab, damit es nicht identifiziert werden konnte. Dann preschten wir los.

Ich drehte den Kopf und sah, wie das ankommende Auto bei dem Jaguar abbremste und die Scheinwerfer löschte. Max beschleunigte und raste um die lang gezogene Kurve Richtung Königsdorf, so dass ich nicht weiter verfolgen konnte, was an der Unfallstelle geschah. Als ich den Kopf wieder in Fahrtrichtung wandte, hatte ich die langen Haare meines Freundes im Gesicht.

»Verdammt«, entfuhr es mir. Max hatte den Helm auf der Kühlerhaube vergessen.

Nach gut zehn Minuten waren wir in Heiligenbeuern bei der Holzliege vom Unterbauern. Der ältere, alleinstehende Landwirt erhielt von Max jeden Monat einen Kasten Bier als Miete für den Stellplatz. Und einen halben Kasten extra bekam er dafür, dass niemand von seinem Motorrad erfuhr. Denn die Schüler des Internats Heiligenbeuern durften weder Motorräder noch Autos haben. Dieses Verbot wurde streng überwacht, und es waren schon Zöglinge wegen geringerer Vergehen von der Schule verwiesen worden.

Als Max den Zündschlüssel abzog, begann er zu schimpfen: »Jetzt hab ich Depp den Helm vergessen.« Er schlug sich mit der Hand vors Hirn.

»Sollen wir zurückfahren?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass es keine besonders gute Idee war.

»Bist du narrisch?« Er schüttelte mehrmals den Kopf. »Dort ist sicher schon die Polizei, und wir müssten dann als Zeugen aussagen. Zum Schluss kriegt der Pater Zeno mit, dass wir mitten in der Nacht an der Unfallstelle waren.« Max kratzte sich mit der Rechten an seinem bartlosen Kinn. »Wenn unser Präfekt von dem Ausflug erfährt, dann interessiert es ihn nicht, dass du der größte Pink-Floyd-Fan weltweit bist und die Burschen gestern Abend in der Olympiahalle aufgetreten sind. Es interessiert ihn auch nicht, dass ich dich hin gefahren hab, damit du dir das blöde Gedudel anhören kannst. Die Kutten schmeißen uns raus. Auch zwei Wochen vor dem Abitur.«

Er hatte Recht.

»Und du bist dir sicher, dass der Mann tot war?«, fragte ich voller Zweifel.

»Meinst, ich spinn?«, gab Max zurück. »Ich hab genau gespürt, dass das Herz nimmer geschlagen hat.«

»Dann hätten wir nicht abhauen dürfen, sondern …«

»Es ist ja ein Auto gekommen und hat gebremst. Der Fahrer hat sich sicher um die Sache gekümmert.«

»Und warum hat er gleich die Scheinwerfer gelöscht, als er an der Unfallstelle war?«

»Was weiß ich.« Max passte meine Frage nicht. »Ist ja auch egal. Jedenfalls können wir den Helm heut Nacht nicht mehr holen. Blöderweise steht auch noch mein Name und die Adresse drin.«

Es war ein sündteurer, roter Integralhelm, den er von seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Mit einem unguten Gefühl im Bauch gingen wir los Richtung Internat. Am Kloster angekommen erwartete uns der aufregendste Teil eines jeden nächtlichen Ausflugs. Denn beim Einsteigen bestand die Gefahr, von einem der Präfekten erwischt zu werden. Und wenn man erwischt wurde, konnte man sich am nächsten Tag eine andere Schule suchen. Wir knobelten, wer zuerst einsteigen sollte. Der Erste hatte das wesentlich größere Risiko. Ich verlor wie immer.

Max versteckte sich hinter einem Birnbaum, während ich zögernd zur Klostermauer ging. An den Spalierbäumen kletterte ich hoch zum Eckfenster des Speisesaals. Es war nur angelehnt. Clemens, ein Klassenkamerad, hatte es nach dem Zubettgehen für uns geöffnet. Vor dem Erreichen des Fensters hatte ich die größte Angst, denn hier gab es keine Fluchtmöglichkeit.

Ich drückte es auf und glitt lautlos in den dunklen Raum. Hoffentlich wartete nicht einer der Präfekten mit einer Taschenlampe auf mich. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Erst als ich merkte, dass die Luft rein war, schnaufte ich erleichtert aus und gab Max ein Zeichen, dass er nachkommen könne.

Mit den Schuhen in der Hand schlichen wir die langen Gänge des Schülertrakts entlang bis hinauf in den zweiten Stock zu unserem Schlafsaal. Dort zogen wir schnell die Schlafanzüge an und legten uns ins Bett. Anschließend holte Max zwei Halbe Märzenbock aus seinen ›eisernen Beständen‹, wie er sein privates Bierdepot im Nachtkästchen nannte. An Schlaf war nach all der Aufregung ohnehin nicht zu denken.

»Wie kann der tot sein?«, überlegte ich und nippte an meinem Bier. »An dem Auto war doch fast kein Schaden.«

»Am Unfall selbst ist er sicher nicht gestorben. Wahrscheinlich war er schon hin, bevor er von der Straße abgekommen ist.«

»Und dann hat er noch das Licht ausgemacht und den Motor abgestellt?«

»Depp!«

Damit war unsere Unterhaltung beendet, und jeder hing seinen Gedanken nach. Mir schossen die Erlebnisse der letzten Stunden wirr durch den Kopf. Vor allem die leblose Gestalt im Auto. Doch ich redete mir ein, dass Max sich getäuscht hatte. Er übertrieb gerne ein bisschen. Vor allem wenn es um vermeintliche Verbrechen ging. Den Helm würde er schon irgendwie wieder kriegen, ohne dass Pater Zeno davon erfuhr. Notfalls konnte er sagen, dass er ihm gestohlen worden war.

Und immer wieder kam mir mein baldiger Abschied aus dem Beusl und damit auch von Max in den Sinn.

In zwei Wochen waren die Prüfungen. Danach sollte es noch eine Abschiedsparty geben, und schließlich würden wir auseinander gehen. Mit den meisten aus meiner Klasse kam ich gut aus, doch ich würde keinen von ihnen vermissen – außer Max.

Ich hatte die Einberufung zu den Panzergrenadieren. Lieber wäre ich zu den Gebirgsjägern gegangen, aber ich bin nicht schwindelfrei.

Max dagegen war untauglich. Eigentlich wollte er sich aufgrund der Tuberkulose freistellen lassen, an der er als Kind erkrankt war. Dem Chirurgen vom Kreiskrankenhaus, einem Freund seines Vaters, schien diese Variante jedoch zu unsicher. Die Lunge hatte sich prächtig erholt, und es konnte schiefgehen, falls er bei der Musterung an den falschen Arzt geriet.

Auf Anraten des Chirurgen legte sich Max nun ein offiziell bestätigtes Leiden an seiner rechten Hand zu. Bei einer Rauferei vor einem Jahr hatte er sich zwei Finger gebrochen, die nicht ganz gerade zusammengewachsen waren. Dieser Missstand wurde durch Röntgenbilder dokumentiert, bei denen Max seine Hand etwas verdreht auf die Röntgenplatte legen musste. Anschließend schrieb der Chirurg ein Gutachten, aus dem hervorging, dass man sich mit einem derartigen Handicap kaum mehr schmerzfrei in der Nase bohren könne. Max wurde untauglich gemustert.

Gleich nach dem Abitur wollte er mit dem Studium der Brauereiwissenschaften in Weihenstephan beginnen. Lediglich die niedrige Frauenquote störte ihn an der kleinen Uni in Freising. Nach den Prüfungen würden wir uns nicht mehr oft sehen. Möglicherweise waren das Konzert in München und die leblose Gestalt in dem Jaguar unser letztes gemeinsames Abenteuer.

Freitag

Ich hatte schlecht geschlafen und war immer noch hundemüde, als wir von Pater Zeno geweckt wurden. Der Mann im Auto hatte mich bis in meine Träume verfolgt.

Der Unterricht zog sich zäh und fad durch den Vormittag. Max beschloss nach der dritten Stunde, an Kopfweh zu leiden, und verließ die Klasse, um sich im Krankenzimmer auszuschlafen. Mir war dieser Ort aufgrund des allgegenwärtigen Geruchs nach Haferschleimsuppe und Desinfektionsmittel zuwider.

In der Pause fragten mich Klassenkameraden nach dem Konzert gestern Abend. Ich war froh, über die phantastische Bühnenshow berichten zu können. Max mochte Pink Floyd nicht besonders, er stand mehr auf Hardrock von Black Sabbath oder Deep Purple. Nur meinetwegen war er mitgefahren. Er hatte mir einen Gefallen geschuldet, und ich wäre ohne ihn und sein Motorrad nie nach Heiligenbeuern zurückgekommen. Jedenfalls nicht mitten in der Nacht.

Außerdem hatte er gehört, dass auf allen Rockkonzerten hübsche Mädchen herumliefen. Doch er hatte gestern Abend wenig Eindruck schinden können. Während er mit seinen schulterlangen rotblonden Haaren in der Gegend von Heiligenbeuern und in seiner Heimatstadt Wolfratshausen auffiel wie ein bunter Hund, tummelten sich auf dem Konzert in der Großstadt wesentlich schrillere Figuren als er. Niemand achtete auf den baumlangen Provinzcasanova. Das hatte ihn schwer getroffen, auch wenn er es nicht zugab.

Nach dem Mittagessen kam Max aus dem Krankenzimmer zurück. Wir redeten nicht über den Toten im Jaguar. Doch ich spürte, dass er an nichts anderes dachte. Er sprach an diesem Tag überhaupt nicht viel, machte einige Matheaufgaben und las die meiste Zeit in einem amerikanischen Krimi, den ihm sein Onkel geschickt hatte.

Am Abend rief er zu Hause an. Niemand hatte sich wegen des Helms gerührt. Das machte ihm Sorgen. Mir auch.

Samstag

Gleich nach dem Mittagessen kaufte Max eine Zeitung am Bahnhofskiosk und las zuerst den Lokalteil. Diese Nachrichten zu lesen war unter den Abiturienten verpönt und galt als superspießig. Ich lieh mir den Sportteil. Doch darin stand nichts Erfreuliches. Die Löwen hatten verloren. Sicher würden sie wieder nicht aufsteigen. Es war wie verhext.

Clemens, unser Klassenprimus, wollte die Seiten über Politik und Wirtschaft. Den Lokalteil dürfe Max ruhig behalten, meinte er. Ihn würde nämlich nicht interessieren, wer zum Vorstand im Karnickelclub von Hinterpfuideifi gewählt worden sei.

»Kümmer dich um deinen eigenen Dreck!«, fuhr Max ihn an.

Ich wunderte mich über seine schlechte Laune. Mit verkniffener Miene schaute er die Regionalnachrichten ein drittes Mal durch.

»Das gibt’s doch gar nicht«, zischte er.

»Was?«, wollte ich wissen. Wie jedes Schuljahr saß ich neben ihm; in der Schule und im Studiersaal.

»Da steht nix über den Unfall.«

Er legte den Lokalteil auf meine Pultseite. Ich überflog die Seiten und gab sie achselzuckend zurück.

»Mehr fällt dir nicht dazu ein?«, fragte Max. Er erwartete einen Kommentar.

»Was weiß ich, warum sich niemand für den blöden Unfall interessiert«, sagte ich und wandte mich wieder der Regionalligatabelle zu.

»In dem Auto war ein Toter.«

Max sprang auf und verließ den Studiersaal. Nach einer guten Viertelstunde kam er tropfnass zurück. Es regnete schon den ganzen Tag.

»Ich war in der Telefonzelle und hab den Inspektor Huber angerufen«, sagte er und strich die langen, nassen Haare aus dem Gesicht. »Der hat auch nix von einem Unfall mit einem Toten gehört. Verstehst du das?«

»Dann wird der Kerl schon nicht tot gewesen sein«, meinte ich und verspürte eine gewisse Erleichterung.

Nach einer Weile schaute ich zum Fenster. Der Regen hatte endlich aufgehört. Ich stand auf und fragte Max, ob er mitkommen wolle an die Loisach. Doch er winkte ab und deutete auf den amerikanischen Krimi in seinen Händen. Max las Krimis nicht wie andere Leute. Er unterstrich die Ermittlungsfehler mit einem roten Filzstift. Am meisten Spaß machten ihm die Bücher, bei denen er besonders viel zu kritisieren hatte. Er behauptete, mit dieser Übung seine kriminalistischen Fähigkeiten trainieren zu können. Indirekt sei die Lektüre auch gut für das logische Denken und für Mathe.

Als ich nach einer knappen Stunde von der Loisach zurückkehrte, sah ich den alten Opel von Inspektor Huber am Parkplatz vor der Pforte. Auf einer Bank in der Nähe der riesigen Blutbuche saß der Polizist neben Max und rauchte.

Eigentlich wollte ich nicht mit dem Inspektor reden. Ich kannte ihn beinahe so lange wie Max. Sobald er auftauchte, gab es Ärger. Und ich konnte momentan keinen zusätzlichen Ärger brauchen. Die Prüfungen genügten. Doch Max hatte mich bereits gesehen und winkte. Widerwillig ging ich zu den beiden und begrüßte den Inspektor mit einem flüchtigen Handschlag.

Der sah mich nur kurz an, um sich sofort wieder Max zuzuwenden: »Ich glaub dir das mit dem Auto. Ich hab mir die Stelle angeschaut, und es gibt einwandfrei Spuren von einem Fahrzeug, das von der Straße abgekommen ist. Aber wie sollte ein Toter in das Auto kommen? Und warum erfährt die Polizei nichts davon? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich hat der Mann fest geschlafen oder war besoffen.«

Er zündete sich eine weitere Zigarette an.

»Nein!« Max schüttelte energisch den Kopf. »Der hat nicht geschlafen. Sonst wär er doch aufgewacht, als ich ihn geschüttelt hab. Und besoffen war er auch nicht. Wie so einer ausschaut, weiß keiner besser als ich. Schließlich haben wir eine Wirtschaft daheim.«

»Vielleicht hat er Schlaftabletten genommen.« Huber rutschte unruhig auf der Bank hin und her. »Habt ihr euch wenigstens das Nummernschild gemerkt? Dann hätten wir zumindest irgendwas in der Hand und könnten den Halter des Fahrzeugs ermitteln.«

Max schüttelte den Kopf. Er merkte, wie ihm die Felle davonschwammen.

»So meine Lieben«, Huber erhob sich, »dann kümmert euch mal um euer Abitur und bleibt nach Einbruch der Dunkelheit daheim. Nicht dass ihr euch noch mal mit einer Leiche in einem wildfremden Auto erschreckt. Besonders vorsichtig solltet ihr sein, wenn es sich um einen Jaguar mit abgerissenem Spiegel und einer Delle handelt.«

Er meinte, etwas unglaublich Witziges gesagt zu haben und ging ohne ein weiteres Wort des Abschieds davon. Hubers eigenwillige Scherze gingen mir genauso auf die Nerven wie seine ständige Raucherei.

Ich rückte näher an meinen Freund heran und legte ihm den Arm um die Schulter: »Nimm’s nicht so schwer, dass der Kerl noch gelebt hat.«

Max stieß meinen Arm weg und sprang auf. »Der war tot! Ganz sicher!«

Er drehte den Kopf trotzig in Richtung Klosterkirche. So brauchte er dem Polizisten nicht zuzuschauen, wie er sein Fahrzeug in Bewegung setzte.

Gleichzeitig bog ein dunkelblauer Jaguar E-Type in den Klosterhof ein. Der linke Außenspiegel war abgerissen, der Kühlergrill eingedrückt, und der Lack wies einige tiefe Kratzer auf.

Max spürte wohl, dass sich in seinem Rücken etwas Interessantes ereignete, und wandte sich um. Einige Sekunden lang starrte er das Fahrzeug an. Es hielt auf dem Parkplatz von Frau Laaf, unserer Lateinlehrerin. Die Fahrertür ging auf und »Lovely Rita«, wie sie von uns Schülern genannt wurde, stieg aus dem Wagen. Sie streckte sich wie eine Katze, prüfte mit einem schnellen Blick die Umgebung und beugte sich noch einmal ins Auto, um mit einem Stapel Papier wieder zu erscheinen. Schließlich schloss sie die Fahrertür mit dem Knie. Auf dem Klostergelände war es nicht notwendig, sein Fahrzeug abzusperren.

Lovely Rita war eine der zwei weiblichen Lehrkräfte an unserem Institut, doch von beiden ging keinerlei erotische Gefährdung aus. Die eine war über sechzig, und die wesentlich jüngere Frau Laaf alles andere als eine Schönheit. Sie trug ein elegantes Kostüm und war wie immer sehr großzügig geschminkt. »Make Up mit der Maurerkelle«, wie Max dieses Verfahren nannte. Dadurch waren die Unebenheiten in ihrem maskulinen Gesicht zumindest einigermaßen überdeckt. Am Hals war der Einsatz von Kosmetika jedoch hoffnungslos. Er war dünn und sehnig. Lange, faltige Hautstreifen zogen sich vom Kinn bis zum Schlüsselbein. Ihr herausragendes Merkmal war jedoch die markante Nase, die jedem Apachenhäuptling zur Ehre gereicht hätte.

Frau Laaf war nicht schön, doch sehr beliebt in der Klasse. Ihr Unterricht hatte nicht die Strenge der Lektionen bei Pater Aurelian. Auch die Schulaufgaben erschienen uns leichter, und von Zeit zu Zeit machte sie sogar einen Scherz, was bei Lateinlehrern eher selten vorkam.

»Ich werd verrückt!«, stieß Max hervor. »Lovely Rita fährt mit dem Jaguar rum, den wir suchen.«

Er ließ sich auf die Bank fallen, schüttelte immer wieder den Kopf und grinste.

In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie kam unsere Lateinlehrerin zu dem Auto, in dem wir vor zwei Tagen einen leblosen Mann gefunden hatten. Normalerweise fuhr sie einen feuerroten Porsche, den jeder hier kannte.

»Was macht die Alte am Samstagnachmittag im Beusl?«, fragte Max leise.

»Heut um fünf ist doch Streberstammtisch«, gab ich Auskunft.

Der Streberstammtisch war die Latein-Neigungsgruppe, die von Frau Laaf am Anfang des Schuljahres ins Leben gerufen worden war. Aus der Abiturklasse nahm nur Clemens daran teil.

»Warum fährt die Alte mit einem Auto rum, in dem vor zwei Tagen ein Toter gesessen ist und kommt damit am Samstagnachmittag ganz locker zur Streberrunde? Grad als wenn nix passiert wär?« Max nagte heftig an seiner Unterlippe.

»Vielleicht hat sie ihren Porsche verkaufen müssen«, vermutete ich. »Es hat mich eh gewundert, wie sich eine Lehrerin ein solches Auto leisten kann.«

»Der Jaguar ist auch nicht billiger«, murmelte mein Freund. »Von ihrem Gehalt kann sie vielleicht den Kundendienst und einen Ölwechsel machen lassen. Mehr nicht. Aber Geld hat sie genug. Schließlich ist ihr Mann Chef von den Geretsrieder Motorenwerken.«

»Woher weißt du das?«, fragte ich.

»Einmal im Monat kommen sie zu meinen Eltern in die Wirtschaft. Mal zu zweit, mal mit Geschäftsfreunden. Sie machen immer eine Mordszeche. Das Beste ist gerade gut genug. Meine Eltern müssen sich immer eine Weile zu ihnen an den Tisch setzen. Das wird erwartet. Ich hab mich bisher erfolgreich gedrückt, denn der Anblick meiner Lateinlehrerin während der Ferien ist wirklich nicht zumutbar.« Max verdrehte die Augen, um seine Aversion gegen diese Abende zu unterstreichen. »Dem Laaf geht’s darum, meinen Papa als Aktionär für die Motorenwerke zu gewinnen. Die Mama hat gemeint, man könnt leicht ein bisserl Geld investieren, weil eine hohe Dividende gezahlt wird. Außerdem gibt’s dort eine kleine Autowerkstatt mit exklusiven Wagen. Jaguar zum Beispiel. Oder Porsche. Die Mama hätt gern mal was anderes als immer bloß Mercedes.«

»Und dein Vater sträubt sich?«

»Freilich. Sein Geld legt er aus Prinzip bei der Raiffeisenbank und bei der Sparkasse an. Die Leute von der Sparkasse kommen regelmäßig zum Mittagessen, und mit dem Direktor von der Raiffeisenbank spielt er jeden Donnerstag Schafkopf. Außerdem haben die bei uns ihre Weihnachtsfeier. Da kann er seine Kohle nicht gut woanders hinbringen. Und – soviel ist es ja auch wieder nicht.«

Nun schaute Max so sparsam, wie es nur Leute können, denen sehr am Irdischen gelegen ist. Denn der Wahrheitsgehalt dieser letzten Äußerung war diskussionswürdig. Jeder in der Gegend wusste, dass Max’s Vater, der Bräu von Wolfratshausen, einer der reichsten Männer im Landkreis war. Ihm gehörte neben dem großen Gasthaus die einzige Brauerei in Wolfratshausen, außerdem besaß er noch einige Wohnhäuser.

»Ist es was geworden mit dem Jaguar für deine Mama?«, wollte ich wissen.

»Den hätt sie fast gekriegt«, kicherte Max. »Die Mama hat meinen Vater wochenlang bearbeitet, und zu ihrem Glück ist an unserem Mercedes wirklich was kaputt gegangen.« Er beugte sich nach vorne und sprach nun etwas leiser, als hätte er Angst, seine Mutter könne ihn hören. »Ich hab sie ja im Verdacht, dass sie ein bisserl nachgeholfen hat. Jedenfalls ist sie mit dem Papa nach Geretsried zum Laaf, um sich ein Fahrzeug anzuschauen. Bloß anschauen, hat der Papa gesagt. Aber die Mama hat sich sofort in die hellen Ledersitze von einem Jaguar vergafft und wollt den Wagen unbedingt haben. Im Büro hat man sich dann über den Preis unterhalten und meinen Eltern was zu trinken angeboten. Mama wollt Kaffee und der Papa natürlich ein Bier.« Max grinste jetzt bis über beide Ohren. »Und dann hat der Laaf einen kapitalen Fehler gemacht: Er hat dem Papa ein Warsteiner eingeschenkt und gesagt, das wär sein Lieblingsbier.«

Ich lachte. Wie konnte ein Geschäftsmann nur so blöd sein. Das Leben besteht aus Geben und Nehmen. Das wusste sogar ich, obwohl wir kein Geschäft zu Hause hatten, sondern einen Bauernhof.

Max fuhr fort: »Der Papa hat nicht mal genippt an dem Preußenzeug in den kleinen Flaschen. Er ist aufgestanden und hat dem Kerl erklärt, dass sein Lieblingsauto ein Mercedes wär. Dann sind sie gegangen.«

»Und was hat deine Mama gesagt?«

»Der war die Angelegenheit natürlich sauzuwider. Aber als Geschäftsfrau weiß sie, wie man sich zu benehmen hat. Wenn der Laaf so damisch ist und meinem Vater ein anderes Bier als sein eigenes anbietet, dann ist er halt stockdumm. Und meinen Papa als Kundschaft kann er sich abschminken.«

Sonntag

Wie jeden Sonntag mussten wir die Schülermesse um neun Uhr besuchen. Danach hatten wir frei. Als Max und ich aus der Kirche kamen, sahen wir Frau Laaf am Friedhofstor stehen. Heute trug sie einen zitronengelben Hosenanzug. Sie schaute zur Kirchentür und schien auf jemanden zu warten. Max stach wegen seiner Größe und der schulterlangen rotblonden Haare aus der Menge der Kirchgänger heraus. Als sie ihn erkannte, eilte sie los.

Bei uns angekommen stemmte sie die Hände in die knochigen Hüften, lächelte und fragte mit ihrer dunklen, samtigen Stimme: »Hast du mir die Polizei auf den Hals gehetzt, Stockmeier?«

Recht viel blöder als in dieser Situation habe ich Max noch nie dreinschauen sehen. Er riss die Augen weit auf, und gleichzeitig fiel ihm der Unterkiefer herunter. Doch er brachte kein Wort heraus.

»Und du steckst sicher auch in der Sache drin, Spindler«, gurrte sie mich an. »Schließlich seid ihr zwei wie Siamesische Zwillinge.«

Die vorbeikommenden Kirchgänger und Mitschüler schauten neugierig zu uns her. Es kam selten vor, dass eine so auffallend gekleidete Frau auf dem Kirchhof stand.

»Kommt mit, dann zeige ich euch was.« Sie drehte sich um und stakste in ihren hochhackigen, schwarzen Lackschuhen auf dem Kiesweg zum Parkplatz, wo ihr Porsche stand. Dort öffnete sie die Beifahrertür, beugte sich hinein und kam mit einem roten Sturzhelm in der Rechten wieder zum Vorschein.

»Ist das deiner?« Sie hielt ihn Max unter die Nase und zog die Augenbrauen hoch.

Er nahm den Helm und überlegte. Schließlich probierte er ein kleines charmantes Lächeln und meinte: »Sie wissen doch genau, dass es meiner ist. Mein Name steht drin.«

»Kannst du dir vorstellen, wo ich ihn gefunden habe?« Sie drehte ihren Kopf etwas nach links und strich die Haare hinter ihr rechtes Ohr. So konnte sie Max’ Antwort besser hören. Außerdem lag eine gewisse Eleganz in dieser Bewegung.

Max zuckte die Achseln und machte ein unschuldiges Gesicht. Er wollte offensichtlich nichts sagen. Mit der Tour sollte er aber nicht durchkommen. Frau Laaf hatte ihren Oberkörper, dem jegliche weiblichen Attribute fehlten – ein Busen, als wenn eine Maus eine Faust macht, wie Max sich ausdrückte – leicht nach vorne gebeugt. Sie war offenbar ganz Ohr.

»Er war auf der Kühlerhaube von dem Jaguar, mit dem Sie gestern in die Schule gekommen sind«, gab Max schließlich zu.

»Und wie kommt dein Helm mitten in der Nacht auf die Motorhaube des Wagens?«

Max blähte die Backen. Was sollte er sagen? Sie wusste sehr gut, dass er den Helm auf dem Unfallwagen hatte liegen lassen. Warum wollte sie es von ihm noch einmal hören? Wir mussten nicht lange auf die Erklärung warten.

»Wenn ich dem Abt oder Pater Zeno von dem Helm erzähle, den ich am Donnerstag kurz nach Mitternacht auf dem Auto meines Mannes gefunden habe, dann könnt ihr beide euer Abitur an irgendeiner Schule auf dieser Welt schreiben, in Heiligenbeuern aber sicher nicht mehr.« Sie zog eine Schnute, um ihr Bedauern auszudrücken. »Dann fliegt ihr nämlich heute raus. Das ist euch doch bewusst, oder?«

»Aber …«, stammelte ich.

Bei dem Gedanken an einen Rausschmiss zwei Wochen vor der Abschlussprüfung bekam ich keine Luft mehr. In meinem Kopf drehte sich alles. Wie sollte ich das meinen Eltern erklären?

»Um den Kaspar geht’s ja gar nicht. Der war nicht dabei«, behauptete Max und richtete sich auf.

»Dass ich nicht lache«, meinte die Lehrerin. Ihr Blick ging zwischen Max und mir mehrmals hin und her. »Ich habe euch gesehen, wie ihr auf einem Motorrad mit Vollgas vom Unfallort weggefahren seid. Der Fahrer hatte lange Haare. Und er ist losgebraust, so schnell es ging. Der Beifahrer hat mit seiner linken Hand versucht, das Nummernschild abzudecken. Dafür gibt’s Zeugen.« Sie entfernte mit dem Nagel ihres rechten Zeigefingers eine tote Fliege vom frisch polierten Lack ihres Sportwagens. »Wenn du der Fahrer warst, Stockmeier, dann war der Spindler dein Sozius. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Wir waren geliefert. Beide. Max biss sich auf die Unterlippe und saugte daran herum. Leugnen hatte keinen Sinn. Also kam er auf den Anfang unseres Gesprächs zurück: »Aber wie kommen Sie darauf, Frau Laaf, dass wir Ihnen die Polizei auf den Hals gehetzt hätten?«

Das Gesicht der Lehrerin wurde ernst. »Gestern Abend nach dem Aufbauunterricht ist mir ein Polizist in Zivil nachgefahren, ein gewisser Inspektor Huber. Als ich den Wagen daheim abstellte und ins Haus gehen wollte, stand er plötzlich vor mir. Nachdem er sich ausgewiesen hatte, fragte er mich, wie es zu den Dellen im Jaguar gekommen sei. Ich erzählte ihm von dem Unfall am Donnerstag, bei dem Gott sei Dank niemand zu Schaden gekommen ist. Etwas verbeultes Blech und ein kaputtes Scheinwerferglas – mehr nicht.«

Frau Laaf beobachtete unsere Reaktionen auf ihre Geschichte ganz genau. Sie wusste, dass wir mehr gesehen hatten als die Schäden an der Karosserie.

»Der Wagen ist von der Fahrbahn abgekommen und dann nicht mehr angesprungen. Ich habe Hilfe geholt. Mein Mann ist im Wagen geblieben und eingeschlafen. Als ich wieder zurück kam, war er kaum aufzuwecken. Er schläft manchmal wie bewusstlos.«

»Aha«, machte Max.

»Wie kommt der Polizist darauf, dass ein Toter im Wagen gesessen hätte?« Sie trat einen Schritt vor und sah zu dem beinahe zwei Köpfe größeren Max auf.

»Keine Ahnung«, log Max. »Von uns hat er diesen Unsinn nicht.«

»Dann ist es ja gut. Ich hatte schon befürchtet, dass ihr dem Inspektor irgendwelche Flöhe ins Ohr gesetzt habt. Solltet ihr nämlich solchen Unfug rumtratschen, dann würde mir sofort die Sache mit dem Motorradhelm wieder einfallen. Und ich müsste es dem Pater Zeno erzählen. Das wäre gewissermaßen meine Pflicht als Lehrerin an diesem Institut. Schließlich haben die Präfekten größtes Interesse daran zu erfahren, was ihre Zöglinge nächtens treiben.« Drohend hob sie den rechten Zeigefinger. »Wir haben uns also verstanden? – Schönen Tag noch, die Herren.«

Ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sie sich ab, setzte sich in den roten Sportwagen, knallte die Fahrertür zu und brauste davon.

»Die war aber nicht gut aufgelegt«, stellte ich fest.

»Damit könnt ich leben«, stöhnte Max und legte die Hand an sein spitzes Kinn. »Aber die Alte hat uns in der Hand. Ein Wort von ihr und wir fliegen raus.« Er überlegte. »Ich frag mich bloß: warum geht sie nicht gleich zum Abt und hängt uns hin?«

»Aus Nächstenliebe«, versuchte ich einen Scherz. »Oder damit deine Mama doch noch einen Jaguar bei ihrem Mann kauft.«

»Schmarrn! Die hängt uns nicht hin, weil sonst die Sache mit dem Toten aufkommt, und sie der Polizei erzählen müsst, was in der Nacht wirklich passiert ist. Solange wir also nix über den Toten ausplaudern, lässt sie uns auch in Ruh. So was nennt man einen Deal.«

»Du meinst also, dass wir sicher sind, solange wir niemandem sagen, was wir Donnerstag Nacht gesehen haben?«

»Genau.« Max kaute schon wieder an seiner Unterlippe. »Zuerst müssen wir also unsere Aussage zurücknehmen und dem Inspektor mitteilen, dass ich mich mit dem Toten getäuscht hab. Anschließend finden wir ohne den Huber raus, was sich am Donnerstagabend wirklich abgespielt hat.«

»Ich hab aber momentan gar keine Zeit für deine Detektivgeschichten. Bis zum Abitur muss ich lernen, was das Zeug hält.«

»Ganz so einfach kannst du es dir aber nicht machen. Du bist nämlich schuld an dem Schlamassel. Du wolltest ja unbedingt zu dem blöden Konzert, und jetzt können wir sehen, wie wir aus der Sache wieder rauskommen. Wenn Lovely Rita auspackt, kannst du dir das Abitur nämlich in die Haare schmieren.«

Montag

Nach dem Mittagessen gingen wir zur Telefonzelle vor der Klosterpforte. Max warf einige Münzen in den Schlitz und wählte Hubers Nummer. Nach dem zweiten Läuten hob der Polizist ab.

»Ich bin’s, der Max.«

Huber fragte, was er wolle. Max hielt den Hörer so, dass ich mithören konnte.

»Ich glaub, dass ich mich mit dem Toten im Auto getäuscht hab. Bei ein paar Klassenkameraden hab ich ausprobiert, ob ich den Puls fühlen kann. Die halbe Klasse dürft nach meiner Pulsdiagnostik nicht mehr leben.«

»Willst du damit sagen, dass der Mann in dem Jaguar gar nicht tot war?«, fragte Huber gereizt.

»Ich kann’s halt nicht beschwören.« Max blinzelte mir zu und grinste.

»Das hättest du dir auch früher überlegen können. Ich habe vorgestern einen dunklen Jaguar in den Klosterhof hineinfahren gesehen, der so aussah, wie du ihn beschrieben hast. Ich habe gewartet, bis die Fahrerin wieder zurückgekommen ist, und bin ihr nachgefahren. Die Dame ist Lehrerin im Kloster. Latein und noch was. Sie war ganz aus dem Häuschen, als ich sie danach gefragt hab, ob ein Toter in ihrem Auto gewesen wär.«

»Und?«, fragte Max.

»Was und?«

»Was hat die Lehrerin gesagt? War ein Toter in dem Wagen?«

»Natürlich nicht«, entgegnete der Polizist. »Es war ihr Mann, und der hat einen sehr tiefen Schlaf.«

»Aha«, machte Max.

»In Zukunft sparst du dir jedenfalls solche Scherze.« Der Polizist knallte den Hörer auf die Gabel.

»Jetzt ist er sauer«, stellte ich fest.

Max holte das restliche Kleingeld aus dem Apparat. »Der braucht sich gar nicht zu beschweren. Schließlich ist er der Alten nachgefahren und hat sie ausgequetscht, ohne uns vorher Bescheid zu geben. Das hätt uns Kopf und Kragen kosten können.«

»Darf ich mich jetzt endlich auf meine Prüfungen konzentrieren?«, fragte ich.

»Spinnst du?« Max sah mich entsetzt an. »Lovely Rita fährt ihren verstorbenen Mann spazieren und lügt uns an, dass er gar nicht tot war. Zum Schluss droht sie noch damit, dass sie unseren Rausschmiss anleiern wird, wenn wir nicht kuschen.« Max strich sich mit beiden Händen die Haare nach hinten. »Das lassen wir uns doch nicht bieten, oder?«

Zwei Stunden später standen wir im Verkaufsbüro der Geretsrieder Motorenwerke. In dem großen, nüchternen Raum waren einige Motorenmodelle ausgestellt, die in dem Werk gebaut wurden. Eine große, attraktive, etwa zwanzigjährige Frau mit auffallend weit auseinanderstehenden, orientalischen Augen hatte uns gebeten, auf den schwarzen Ledersesseln im Verkaufsraum Platz zu nehmen. Sie wollte jemanden rufen, der uns die gebrauchten Sportwagen zeigen sollte. Max hatte ihr gesagt, dass er nach dem Abitur ein eigenes Auto bekommen würde. Leider kein neues, wie er betonte.

Bald schon kam sie mit einem Mann mit breitem Oberlippenbart und angegrauten Koteletten zurück. Er führte uns auf den Hof, wo die in Frage kommenden Fahrzeuge standen. Mir war die Situation peinlich, da Max das Gespräch nur als Vorwand benutzte, um herauszufinden, wie lange der Ehemann unserer Lateinlehrerin schon nicht mehr in der Firma aufgetaucht war.

Nacheinander wurde uns ein alter Porsche, ein Triumph, ein Alfa Spider und ein Käfer Cabriolet vorgeführt. Der Verkäufer erklärte die Vorzüge eines jeden Wagen und bezeichnete sie ausnahmslos als Schnäppchen. Mit einem Augenzwinkern bedeutete er, dass man mit einem solch schnittigen Fahrzeug bei den Frauen gut ankäme.

Max blieb ablehnend reserviert. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und die Mundwinkel nach unten gezogen. An jedem Fahrzeug hatte er so viel auszusetzen, dass ein Kauf nicht in Frage kam.

»Am besten gefällt mir ja noch der Spider, vor allem wegen der roten Farbe«, meinte er und deutete mit dem Kinn zu dem italienischen Sportwagen. »Aber der ist ja verrostet wie ein alter Schubkarren.«

Bevor der Verkäufer sich zu diesem Vorwurf äußern konnte, fuhr Max fort: »Könnten Sie nicht den Herrn Laaf holen. Das ist ein Geschäftsfreund von meinem Vater. Vielleicht hat der noch ein schönes Fahrzeug in Reserve. Schließlich ist er der Chef.«

»Die Werkstatt und den Autoverkauf leitet aber Herr Kornheim, und der ist nicht im Haus.« Der gut gekleidete Mann sprach jetzt sehr leise. »Herr Laaf hat mit den Autos wenig zu schaffen, außerdem ist er sehr beschäftigt. Ich glaube kaum, dass er Zeit für Sie hat.«

Max streifte den Verkäufer nun mit einem Blick, in den er all seine Arroganz hinein legte. Der Mann wurde unsicher und meinte schließlich: »Fragen wir Fräulein Nora. Vielleicht kann sie etwas in der Sache tun.«

Er lief los in Richtung Bürogebäude, und wir hatten Mühe, ihm zu folgen. Vor dem Schreibtisch der jungen Frau, die uns bereits empfangen hatte, blieb er stehen.

»Die Herren wünschen den Chef zu sprechen. Der Vater ist ein Geschäftsfreund.«

Er rümpfte die Nase, um anzudeuten, dass er uns nicht glaubte. Dann wünschte er noch einen guten Tag und eilte davon, als würden vor der Tür zehn Kunden warten, die seinen Rat benötigten.

»Ist der jetzt beleidigt?«, fragte Max und deutete mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung, in die der empfindliche Herr verschwunden war.

»Um Gottes Willen, nein.« Fräulein Nora hatte eine tiefe Stimme, die gut zu ihren langen, beinahe schwarzen Haaren passte. »Sie können sich mit der Kaufentscheidung so lange Zeit lassen, wie Sie wollen.« Nun nahm sie den Telefonhörer in die Hand und meinte: »Ob der Chef allerdings Zeit hat, wage ich zu bezweifeln.«

Sie wählte eine Telefonnummer, und nach mehrmaligem Anläuten meldete sich jemand.

»Hier sind zwei Herren, die Sie sprechen möchten, Herr Laaf.«

Die Antwort konnten wir nicht verstehen, doch ihr Gesicht nahm einen bedauernden Ausdruck an. Sie bedeckte nun mit der rechten Hand die Sprechmuschel und flüsterte in unsere Richtung: »Herr Laaf ist äußerst beschäftigt. Wen darf ich denn eigentlich melden?«

»Stockmeier. Maximilian Stockmeier«, nuschelte Max und blickte genervt zur Decke des Verkaufsraumes. Man sollte ihm ruhig ansehen, dass er nicht gewohnt war zu warten.

Kaum hatte die junge Dame den Namen an ihren Chef weitergegeben, da hellte sich ihre Miene auf: »Eigentlich hat Herr Laaf gar keine Zeit, wie ich schon sagte. Doch wenn Sie sich einen Augenblick gedulden wollen, wird er Sie empfangen.«

Mit einem Lächeln, das ihre perfekten Zähne zeigte, und einer knappen Kopfbewegung deutete sie auf die Sitzgruppe.

Wir setzten uns, und ich hatte Gelegenheit, mich umzusehen. Der Raum war weitläufig und hell. An der Stirnseite thronte Fräulein Nora, sie tippte etwas in ihre Schreibmaschine. An einem zweiten Schreibtisch saß ein blondes Mädchen, das ich vorher übersehen hatte. Sie hielt ihr Gesicht von uns abgewandt und sortierte Papiere, wahrscheinlich Rechnungen. Trotz der großen Hitze an diesem Tag trug sie einen Pullover und darüber eine blaue Kostümjacke. Als sie aufstand und kurz mit ihrer Kollegin flüsterte, sah ich ihr hübsches kleines Kindergesicht zwischen den langen Haaren. Dann setzte sie sich wieder.

Das Telefon läutete, und das blonde, etwa siebzehnjährige Mädchen drehte den Kopf weg. Fräulein Nora hob ab, horchte lächelnd in die Muschel, murmelte etwas Unverständliches und legte schließlich auf. Nun sah sie uns freundlich an und hielt dabei das Gesicht ein wenig nach rechts gedreht, so dass man es im Profil sehen konnte. Diese Pose wirkte einstudiert. Sie erinnerte mich an ein Werbeplakat für Haarshampoo.

»In den ersten Stock hinauf«, sagte sie, »und dann die zweite Türe rechts. Herr Laaf erwartet Sie.«

Max stand auf und ging zur Treppe. Ich folgte ihm.

»Der Laaf meint sicher, dass dein Vater kommt«, flüsterte ich ihm zu, als wir den ersten Stock erreicht hatten.

Max grinste. Er klopfte an der schweren Eichentür, auf deren Türschild »Siegfried Laaf – Generaldirektor« stand. Ohne das Herein abzuwarten, öffnete er die Tür und betrat den großen Raum, der mit dicken Teppichen ausgelegt war. Hinter einem überdimensionierten Schreibtisch mit grauer Marmorplatte saß ein mittelgroßer Mann in hellem Anzug mit einer gelb-blau gestreiften Krawatte.

Das war nicht der Mann aus dem Jaguar. Siegfried Laaf war gut vierzig Jahre alt und hatte braunes, volles Haar. Sein dunkler Teint und die sportliche Figur ließen mich sofort an einen Tennislehrer denken. Sein Erstaunen darüber, dass zwei junge Männer ins Büro kamen, hatte der Direktor schnell im Griff. Flink stand er auf und gab erst Max und dann mir die Hand.

»Ehrlich gesagt«, begann er mit einem charmanten Lächeln, »hatte ich jemand anderen erwartet.«

Er betrachtete uns neugierig, aber nicht unfreundlich. Gerade so, als stellten wir eine willkommene Abwechslung in seinem Alltag dar.

»Ich heiße genauso wie mein Vater«, erklärte Max ohne Umschweife. »Ich bin hier, weil ich nach dem Abitur ein Auto kriegen soll. Einen gebrauchten Sportwagen hätt ich mir vorgestellt. Aber Ihr Mitarbeiter hat mir nicht das Richtige gezeigt.«

»Das tut mir leid«, meinte Laaf und sah kurz aus dem Fenster zu den wenigen Fahrzeugen auf dem Firmenhof. »Gebrauchte Autos, und vor allem gebrauchte Sportwagen sind im Augenblick sehr gesucht. Wegen der Wirtschaftskrise, Sie verstehen? Ich würde Ihnen deshalb raten, sich schnell für eines der vorhandenen Fahrzeuge zu entscheiden. Sonst ist es weg, und das Abitur haben Sie ganz umsonst gemacht.«

Er lachte polternd los, als hätte er einen Bombenscherz gemacht, hörte aber sofort damit auf, als er merkte, dass weder Max noch ich mitlachten.

»Ich habe eigentlich mit den Autos wenig zu tun. Das macht mein Kompagnon, Herr Kornheim. Ich kümmere mich in erster Linie um den Motorenbau.«

»Dann müssen wir wohl mit dem Herrn Kornheim reden«, meinte Max und wandte sich zum Gehen.

»Eine gute Idee!« Laaf streckte uns zum Abschied erneut die Hand entgegen. »Das kann aber noch ein bisschen dauern. Herr Kornheim ist bedauerlicherweise erkrankt, und ich weiß nicht, wann er wieder arbeiten kann.«

Wir verließen das Bürogebäude, nicht ohne vorher noch einen Blick auf die beiden Mädchen im Empfang geworfen zu haben. Fräulein Nora winkte freundlich von ihrem Schreibtisch herüber, während ihre blonde Kollegin in einen Ordner starrte und so tat, als würde es Max und mich gar nicht geben. Wir gingen schweigend zum Motorrad und fuhren ohne Eile davon.

Vor dem Café Waldmann hielt Max an und stieg von der Maschine.

»Ich weiß«, sagte er, bevor ich etwas einwenden konnte. »Du musst lernen und außerdem hast Du kein Geld für eine Brotzeit. Aber wenn ich an das Essen denk, das man uns in den letzten Tagen im Beusl vorgesetzt hat, krieg ich Zustände. Außerdem gibt’s einiges zu bereden, und zwar in entspannter Atmosphäre. Wenn ich Hunger hab, sind meine grauen Zellen kaum zu motivieren.«

Wir setzten uns ins Café. Max bestellte zwei Portionen Schweizer Wurstsalat, je einen großen Spezi und außerdem einen gut gefüllten Brotkorb.

»Die Alte hat uns angelogen«, begann er nach dem ersten Schluck. »Der Tote im Jaguar war niemals ihr Mann. Der Kerl war viel fetter und blond.«

»Und was heißt das?« Mein Magen knurrte so sehr, dass ich mich nur schwer auf das Gespräch konzentrieren konnte.

»Zunächst ist das eine sehr gute Nachricht.« Max lehnte sich selbstsicher zurück. »Lovely Rita wird auf keinen Fall zum Zeno gehen, wenn sie uns über die Identität des Mannes im Jaguar belogen hat. Aber – warum lügt sie? Warum sagt sie, dass ihr Mann in dem Auto geschlafen hat, wenn in Wirklichkeit ein Toter dringesessen hat? – Dafür gibt’s nur eine Erklärung: Sie will auf alle Fälle verhindern, dass jemand draufkommt, was in der Nacht wirklich passiert ist. Und sie will nicht, dass die Polizei oder sonst jemand erfährt, wer der Tote war. Deshalb setzt sie uns unter Druck. Und unser Schweigen ist ihr sicher, solange wir das Abitur noch nicht in der Tasche haben. Danach können wir auspacken, ohne uns um die Konsequenzen zu scheren. Das weiß sie. Sie will also bloß Zeit gewinnen.«

»Warum macht man sowas?«, fragte ich.

»Wenn der Tote eine Kugel im Kopf gehabt hätt, dann könnt ich sie verstehen. Aber der Fahrer war doch bloß von der Straße abgekommen. Es hat eher nach einem Herzinfarkt ausgeschaut. Warum wird der Unfall nicht der Polizei gemeldet? Warum macht die Alte ein solches Geheimnis draus und lügt?«

Endlich kam unser Wurstsalat. Um satt zu werden, aß ich vier Scheiben Brot, mit denen ich die Essigsoße aus dem Teller tunkte. Anschließend lehnte ich mich zufrieden zurück. Max hatte noch einen Bissen im Mund, da starrte er plötzlich zur Eingangstür. Dort standen die beiden Mädchen von den Motorenwerken. Sie sahen sich einige Augenblicke im Café um und gingen dann zu einem freien Tisch am anderen Ende des Lokals.

»Das sind die zwei aus dem Büro«, flüsterte Max und schob das letzte Stück Brot in den Mund. »Die große Dunkelhaarige ist ein echter Kracher. So was trifft man nicht jeden Tag.«

Der Mann im Jaguar war augenblicklich aus seinem Bewusstsein verschwunden. Ich konnte es an seinen Augen ablesen. Ich wusste auch, was jetzt kommen würde: Wären wir in einer Disco gesessen, so hätte er das Mädchen zum Tanzen aufgefordert. Auf einem Volksfest hätte er sich eine Maß Bier besorgt, dann einen Platz gesucht und wäre schließlich neben dem Objekt seiner Begierde zum Sitzen gekommen. Die jetzige Situation war schwieriger, und Max hatte mir schon oftmals erklärt, dass der erste Auftritt der entscheidende sei.

»Wenn du den versaust, hast du bei dem Mädel verschissen bis ans Ende deiner Tage«, pflegte er zu sagen. Tiefe Sorgenfalten gruben sich in seine hohe Stirn. Schließlich glätteten sich die Falten wie durch Zauberhand. Er hatte einen Plan. Wortlos erhob er sich und ging zum Tisch der beiden Mädchen, die ihn zunächst kühl, ja geradezu ablehnend musterten. Was Max sagte, konnte ich aufgrund des Geräuschpegels in dem gut besuchten Lokal nicht hören. Doch plötzlich begann Nora zu lachen, und kurz darauf winkte er mir.

Als ich an den Tisch der jungen Damen kam, saß Max bereits neben der Dunklen.

»Ihr seid wirklich aus einem Internat ausgebüchst?«, wollte sie wissen. Ihre blonde Freundin schwieg.

Ich nickte.

»Den Kaspar hab ich im Taubstummenheim aufgeklaubt«, erklärte Max, und Nora lachte erneut.

Ich setzte mich neben die Blonde, und Max begann mit seiner Balz. Bald trank Nora eine Cola mit Schuss, und mein Freund erzählte Witze, sein übliches Repertoire. Noras Lachen hörte sich an wie das Gurren einer Taube. Sie war eine beinahe perfekte Schönheit. Die braunen Augen standen jedoch etwas zu weit auseinander. Wenn sie einen ansah, konnte man fast meinen, sie schiele. Doch auf Max hatte sie eine ungeheure Anziehungskraft.

Das blonde Mädchen hieß Karin. Sie war zierlich und hatte ein rundes, weiches Gesicht. Bei manchen der Witze lächelte sie, war jedoch stets bemüht, weder Max noch mir in die Augen zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie einen Freund.

Schließlich fragte uns Nora über das Leben im Beusl aus. Wir erzählten von endlosen Studierzeiten, strengen Patres und schlechtem Essen. Bei Letzterem brauchten wir nicht zu übertreiben, um das Mitleid der Damen zu erregen.

Nach einer knappen Stunde musste Karin nach Hause. Es kam zum allgemeinen Aufbruch, und wir verabschiedeten uns vor dem Café. Auf eine feste Verabredung wollte sich Nora nicht einlassen, aber vielleicht würde man sich irgendwo wieder über den Weg laufen. Karin sagte kein Wort. Max sah ein, dass für heute nicht mehr zu erreichen war. Also rollte er seine Kawasaki vom Ständer und setzte vor den Augen der Mädchen den feuerroten Helm auf. Kaum saß ich hinter ihm, da fuhr er mit quietschenden Reifen los.

Im Beusl kamen wir gerade noch rechtzeitig zum Abendessen. Es gab Schweinswürstel mit Kraut. Heute war ein richtiger Glückstag. Anschließend gingen wir in den Klostergarten. Dort fanden wir eine freie Bank.

»Die Nora ist ein heißer Feger. Findest du nicht?« Max streckte die Beine weit von sich und verschränkte die Arme.

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte ich und legte den Kopf in den Nacken, so dass ich die riesige Blutbuche, die hinter der Bank stand, von unten sehen konnte. Das dichte Labyrinth aus Ästen und Zweigen sah aus wie ein in sich geschlossener Kosmos. Die inneren Blätter, die wenig Licht bekamen, waren grün, die Äußeren rötlich-braun.

»Du hättest dich bei der Blonden ruhig besser reinhängen können«, nörgelte Max. »Die sieht gut aus.«

»Das schon«, gab ich zu. »Aber sicher hat sie einen Freund. Die ganze Zeit hat sie irgendwo hin geschaut, bloß nicht zu mir her. Und der Blickkontakt ist das Wichtigste, hast du mir mal erklärt.«

»Ich weiß das von unserem Hausarzt«, dozierte Max. »Der hat gesagt: In der Liebe ist es wie bei einer medizinischen Untersuchung. Erst hinschauen und dann erst hinfassen. Und wenn sich eine Braut nicht anschauen lässt, dann geht sonst auch nix. Das kannst mir glauben.«

Max ging mir mit seinen Sprüchen zu diesem Thema auf die Nerven. Während er sehr großen Erfolg bei den Damen hatte, hielt sich meiner in engen Grenzen. Dabei konnte man ihn nicht als gutaussehend bezeichnen. Sein Gesicht war lang gezogen, das Kinn spitz und die Nase zu groß und etwas krumm. Ein Überbleibsel einer üblen Rauferei. Trotzdem hatte er einen enormen Verschleiß. Kaum war er mit einem Mädchen ein paar Wochen fest zusammen, interessierte sie ihn nicht mehr. Dann kam der seiner Meinung nach schwierigere Teil: Wie werde ich sie wieder los? Doch auch darin hatte er inzwischen Routine.

Über seine Verflossenen führte er gewissenhaft Buch. In einem verschließbaren Tagebuch mit einem dicken Ledereinband hatte er sie alle verewigt. Mit Datum, Foto und einigen Details, die niemanden etwas angingen, wie er meinte. Nicht einmal ich hatte jemals den Inhalt gesehen. Ich wusste lediglich, dass es diese Sammlung gab. Er sperrte sie in seinem Spind weg.

»Ich komm halt bei den Mädchen nicht so gut an wie du«, stellte ich fest.

»Weil du zu nett bist«, erklärte er und zog die Augenbrauen hoch.

»Wie meinst du das?«

Er schlug die Beine übereinander und begann: »Frauen wollen keinen, der nett ist. Sie wollen einen Kerl, der weiß, was er will. Aber sie dürfen sich nie zu sicher sein. Sie müssen Angst haben, dass er ihnen von einer Konkurrentin weg geschnappt wird, wenn sie nicht aufpassen.« Er schaute mich ernst an. Neben Kriminalfällen waren Mädchen eines der wenigen Themen, die ihm wichtig waren. »Am Anfang musst du natürlich zeigen, wie witzig du bist. Das zeugt von Phantasie und die ist auch in anderen Bereichen gefragt.« Jetzt grinste er vieldeutig. »Dann kommt der zweite, noch wichtigere Schritt.«

»Welcher zweite Schritt?« Ich war neugierig geworden.

»Du darfst es ihr nicht zu einfach machen. Sie muss sich schon auch ein bisserl anstrengen.«

»Das versteh ich nicht.«

»Warum, glaubst du, sind die Mädels so aufgebrezelt, wenn sie weggehen?«

Ich überlegte: »Damit sie gut aussehen und auffallen. Das macht ihnen Spaß, sagt meine Schwester.«

»Aber das hat doch einen Grund. Auf einer einsamen Insel würd sich keine Frau zwei Stunden lang vor den Spiegel stellen.«

»Meinst du?«

»Sicher.« Max hob den rechten Zeigefinger. »Die Damen machen sich deshalb schön, damit sie uns Männern gefallen und wir hinter ihnen her sind – soweit klar, oder?«

Ich nickte, und Max fuhr fort.

»Aber wenn du hirnlos und mit lauter romantischen Flausen im Kopf hinter einer herläufst und tust, was sie will, dann hast du bald verschissen.«

»Warum?«

»Weil sie dich zum Hanswursten macht. Sie wird ausprobieren, wie weit sie gehen kann. Und wenn du blauäugig und verliebt alles tust, was sie will, dann machst du dich zum Deppen. Und zuletzt gibt sie dir den Laufpass, denn sie möcht ja nicht mit einem Deppen zusammen sein?«

Das leuchtete mir ein, aber wie sollte man sich richtig verhalten.

»Am besten, du zeigst deiner Angebeteten, dass du dich schon für sie interessieren würdest. Aber bloß bis zu einem gewissen Grad. Immer ruhig bleiben! Schließlich ist sie nicht die Einzige auf dieser Welt. Und dann läufst du – im übertragenen Sinn – ein bisserl weg, aber nur ganz langsam. Damit sie dir sicher nachkommt, wenn ihr dran gelegen ist.«

Ich saß still da und überlegte, was Max mir sagen wollte. Das mit dem Deppen leuchtete mir ein. Das mit dem Davonlaufen weniger. Wie sollte man wissen, wie schnell man laufen darf, damit einem das Mädchen noch nachkommt?

Max wusste, was ich dachte. Schon oft hatten wir über dieses Thema geredet.

»Du bist zu nett«, wiederholte er und schüttelte den Kopf. »Einfach zu nett.«

Er sah mich an wie ein Arzt einen Patienten, bei dem es wenig Hoffnung gibt.

2

Anytos und Meletos können mich zwar töten, aber schaden können sie mir nicht.

(Epiktet)

Dienstag

Am nächsten Tag schien wieder die Sonne. Max faselte nach dem Mittagessen etwas von Erledigungen und war verschwunden. So hatte ich meine Ruhe zum Lernen. Erst beim Abendessen tauchte er wieder auf.

»Wo warst du?«, fragte ich und starrte verzweifelt auf die Salzkartoffeln, die wie immer lauwarm, etwas ranzig und schlicht ungenießbar waren. Gott sei Dank hatte ich beim Nachmittagstee einige Semmeln eingeschoben, die ich später in Ruhe essen wollte. Es heißt zwar, dass ein voller Magen nicht gerne studiert, aber ich konnte mich nicht konzentrieren, wenn ich Hunger hatte.

»Rat mal«, entgegnete mein Freund, ohne die ungenießbaren Knollen eines Blickes zu würdigen.

»Wahrscheinlich hast du die Nora besucht.«

Wo sonst sollte er gewesen sein.

»Genau.« Max lehnte sich im Stuhl zurück, während die Tischdiener die noch volle Schüssel mit den Kartoffeln abräumten.

»Und?«

»Wird schon.« Er grinste selbstsicher.

Pater Zeno, der heute Speisesaalaufsicht hatte, klatschte in die Hände, und die Schüler erhoben sich zum Tischgebet. Nachdem wir dem lieben Gott für eine Speise gedankt hatten, für die es meiner Meinung nach keines Dankes bedurft hätte, verließen wir den Speisesaal.

»Ich hab sie in der Arbeit getroffen. Dort hab ich mir den Alfa Romeo noch mal angeschaut. Danach waren wir in der Eisdiele«, resümierte Max seinen Nachmittag auf dem Weg nach draußen. Wir wollten eine kleine Runde drehen, denn ich brauchte etwas frische Luft, um später noch ein Kapitel Vergil zu übersetzen. »Sie hat früher gehen können, weil’s momentan nicht viel zu tun gibt in der Firma.«

»Warum?«

»Der Laden läuft nicht gut, sagt Nora. Seit der alte Schmidt, also der Schwiegerpapa vom Direktor Laaf nicht mehr in der Firma ist, hat der Absatz bei den Motoren schwer nachgelassen. Ihr Chef meint, dass es an der billigen Konkurrenz aus Japan und an der Konjunktur liegt. Er hofft, dass es bald wieder aufwärts geht. Aber die Nora glaubt nicht daran. Sie hat sich vorsichtshalber schon nach einem anderen Job umgeschaut und will wechseln, wenn sich was ergibt.«

»Dabei waren die Geretsrieder Motorenwerke immer ein Vorzeigebetrieb«, meinte ich. »Da ist der Landrat jede Woche vorbeikommen, wenn er wieder in der Zeitung stehen wollt. Es hat geheißen, dass die Motorenwerke ein Beispiel für den Fleiß der Leut wären, die sich nach dem Krieg im Landkreis angesiedelt haben.«

»Aber im Moment kommt kein Landrat.« Max grinste. »Seit der alte Schmidt weg ist, geht’s abwärts. Und vor einem Jahr ist dann ein gewisser Kornheim in den Laden eingestiegen. Er soll einen Haufen Geld mitgebracht haben. Der Kornheim leitet seitdem den Autoverkauf und die Werkstatt. Er kommt und geht aber, wie’s ihm passt. Seit Ende letzter Woche ist er ganz verschwunden. Es heißt, er wär krank.« Max blieb stehen und schaute mich ernst an. »Ich hab mir den Kornheim von der Nora beschreiben lassen, und was meinst du, wie der Kerl aussieht?«

Ich brauchte nicht lange zu überlegen. »Blond und ein bisserl fett. Wie der Tote im Jaguar.«

»Bingo.« Max lachte und klatschte so laut in die Hände, dass einige Schüler auf dem Klosterhof zu uns herschauten. »Die Beschreibung passt genau. Und seit letztem Freitag ist der Kornheim nicht in die Arbeit gekommen. Komischer Zufall, nicht?«

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