Der Schnitter - Georg Unterholzner - E-Book

Der Schnitter E-Book

Georg Unterholzner

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Beschreibung

Max, der Bräu von Wolfratshausen, ist leidenschaftlicher Privatermittler. Als ein Kölner Geschäftsmann in seinem Gasthaus erschossen wird, geht es ihm aber doch zu weit. Zusammen mit seinem Spezl Kaspar macht er sich auf die Suche nach dem Täter. Schon bald stellt sich heraus, es gab mehr als einen Grund den Rheinländer umzubringen. Hat Erica, die schöne Kellnerin, etwas mit dem Toten zu tun? Eine äußerst undurchsichtige Rolle spielt der Stammgast Ludwig Schnitter. "Als Bauernbuben sind wir in den Krieg geschickt worden, als Mörder sind wir wieder heimgekommen", sagt er jedem, der sich an seinen Tisch beim Bräuwirt setzt. Ein Toter mehr oder weniger würde bei dem ehemaligen MG-Schützen das Kraut auch nicht mehr fett machen.

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Für Jupp, der nicht hätte sterben dürfen.

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten der Romanfiguren mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt, ebenso wenig eine Beschreibung der Verhältnisse in tatsächlich existierenden Institutionen, Organisationen oder Vereinigungen.

LESEPROBE zuVollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2013

© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Titelfoto: © Günay Mutlu – iStockphoto.com und© alexfiodorov – Fotolia.comAutorenfoto in »Worum geht es im Buch?«: Patrick la BancaLektorat und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

eISBN 978-3-475-54276-3 (epub)

Worum geht es im Buch?

Georg UnterholznerDer Schnitter

Max, der Bräu von Wolfratshausen, ist leidenschaftlicher Privatermittler. Als ein Kölner Geschäftsmann in seinem Gasthaus erschossen wird, geht es ihm aber doch zu weit. Zusammen mit seinem Spezl Kaspar macht er sich auf die Suche nach dem Täter. Schon bald stellt sich heraus, es gab mehr als einen Grund den Rheinländer umzubringen. Hat Erica, die schöne Kellnerin, etwas mit dem Toten zu tun? Eine äußerst undurchsichtige Rolle spielt der Stammgast Ludwig Schnitter. „Als Bauernbuben sind wir in den Krieg geschickt worden, als Mörder sind wir wieder heimgekommen“, sagt er jedem, der sich an seinen Tisch beim Bräuwirt setzt. Ein Toter mehr oder weniger würde bei dem ehemaligen MG-Schützen das Kraut auch nicht mehr fett machen.

Georg Unterholzner lebt mit seiner Familie in Oberbayern in der Nähe von Wolfratshausen.

1

Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,

Hat Gewalt vom höchsten Gott,

Heut wetzt er das Messer,

Es schneidt schon viel besser,

Bald wird er drein schneiden,

Wir müssens nur leiden,

Hüt dich, schöns Blümelein.

Die dicke Köchin Zenzl stand schwitzend am Herd und rührte in zwei Töpfen gleichzeitig.

»Der Tag wird kommen, da bring ich ihn um, diesen Verbrecher!«

Sie ließ die Kochlöffel los und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann eilte sie zum Kühlschrank, riss die Tür auf, holte einen großen Brocken Fleisch heraus und warf ihn voller Abscheu auf den großen Küchentisch, an dem wir frühstückten.

»Einen Rindsbraten habe ich bestellt, und was bringt mir der Grattler? – Nix als Fett und Sehnen. Grad dass es noch für ein Gulasch taugt.«

Ihr breites Gesicht war rot vor Zorn.

»Die meisten, die du umbringen wolltest, leben noch«, brummte Max, biss in sein Honigbrot und wandte sich wieder der Zeitung zu.

Aber die Zenzl war noch nicht fertig. Sie beschwerte sich wortreich, wir wären wieder viel zu spät aufgestanden, und sie müsse sich alleine um den ganzen Betrieb kümmern. Sie war schlicht unerträglich.

Also erhoben wir uns und verließen mit Kaffeetasse und Honigbrot die geräumige Küche des Bräuwirt. Wenn die Zenzl sich einmal warm geschimpft hatte, gab es keine Argumente mehr. Sie würde heute Vormittag einen jeden anfauchen, der die Küche betrat oder ihr sonst wo über den Weg lief.

Wir gingen in die Wirtsstube, wo es immer noch nach kaltem Zigarettenrauch roch, grüßten die Hausgäste und nahmen am leeren Stammtisch Platz. Neben uns saß eine fünfköpfige Familie aus Berlin. Die drei Kinder zankten sich um die letzte Semmel, und die Eltern mahnten zur Ruhe. Das junge Paar am Ecktisch schwieg und sah sich nach jedem Bissen verliebt in die Augen.

Ich fand meine Theorie bestätigt, dass Verliebte und Besoffene besonders blöd dreinschauen. Ein leerer Tisch daneben war für eine Person gedeckt.

»Die Weißwürst vom Kandlbinder sind die besten«, erklärte Max. »Und in Wolfratshausen beliefert er nur mich. Dafür muss ich ihm auch das schlechtere Rindfleisch als Braten abkaufen. Ich hab’s der Zenzl schon tausendmal erklärt, aber sie mag es nicht einsehen. Ein Braten ist ein Braten, sagt sie, und kein Gulasch!«

Er schnaufte sorgenvoll und schob das letzte Stück Honigbrot in den Mund.

Da kam Erica, der Sonnenschein vom Bräuwirt, zu uns an den Tisch. Sie war sehr hübsch, und alle waren ein bisschen verliebt in die dunkelhaarige Bedienung – ich auch. Erica blieb stets professionell und kühl, ließ sich jedoch anhimmeln mit einem herablassenden Lächeln auf den vollen Lippen, als würden sie die Emotionen der Herren nichts angehen.

»Frühstück gibt’s zwischen halb acht und neun«, schimpfte sie in Richtung Max. So aufgebracht kannte ich sie gar nicht. »Entweder kommt dieser Eilmann jetzt gleich, oder er kann sich beim Metzger eine Leberkässemmel kaufen. Seinen Kaffee schütt’ ich jedenfalls in fünf Minuten weg.«

Max reagierte nicht. Er kümmerte sich um die Brauerei und die Wirtschaft. Mit den Übernachtungsgästen wollte er nichts zu tun haben.

Also wandte sich Erica an mich: »Geh, Kaspar, sei so gut und hol den Eilmann zum Frühstück. Erstes Zimmer rechts.«

Ich stand auf, erntete ein bezauberndes Lächeln und verließ die Gaststube. Die alte, knarzende Holztreppe gegenüber der Küchentür führte hinauf zu den Fremdenzimmern. Vor Eilmanns Tür blieb ich stehen und klopfte, ungeduldig, laut und deutlich. Nichts. Ich klopfte erneut. Als sich niemand rührte, drückte ich die Klinke, um die Tür aufzuschieben, doch es ging nicht. Also lehnte ich mich dagegen, aber sie ließ sich nur einige Zentimeter öffnen. Sie war also nicht abgeschlossen. Vielmehr musste sich dahinter etwas Schweres befinden, eine Kommode oder ein Schrank. Doch wieso stellt jemand eine Kommode vor eine unverschlossene Tür?

Kurz entschlossen stemmte ich die rechte Schulter gegen die Tür und schob an, bis sie sich aufdrücken ließ. Ich schlüpfte ins Zimmer und sah sofort das ganze Schlamassel: Eine breite Blutspur führte vom Bett zur Tür, wo der wuchtige Körper eines riesigen Kerls lag.

Es war Eilmann! Ich erkannte ihn an den langen, dunklen Haaren, in denen geronnenes Blut klebte. Mit weit aufgerissenen Augen und gestrecktem Hals lag er leblos da.

Einige Augenblicke verharrte ich stockstarr neben der Leiche. Mir war speiübel. Dann gelang es mir, den ersten klaren Gedanken zu fassen. Ich musste Max Bescheid geben, damit er die Polizei informiert. Ich stolperte aus dem Raum und rannte nach unten.

»Max, du musst sofort kommen«, stotterte ich.

»Gleich«, wollte Max mich abwimmeln.

Er war gerade beim Sportteil. Vor einer Woche hatte die deutsche Nationalmannschaft die Europameisterschaft 1980 gewonnen, und Bernd Schuster, sein Lieblingsspieler, wechselte nach Barcelona.

»Nix gleich!«, fuhr ich ihn an. »Du musst sofort kommen!«

Erica und die Zimmergäste glotzten neugierig. Offensichtlich hatte ich sehr laut geredet.

»Was ist denn?« Genervt sah Max zu mir auf.

»Der Eilmann …« Ich wusste nicht, wie ich mich in Gegenwart der Gäste ausdrücken sollte. »Mit dem stimmt was nicht.«

»Ist er besoffen?«, fragte Max. »Oder abgehauen?«

»Nein.« Ich wollte keine weitere Erklärung abgeben. »Jetzt komm!«

Mein Freund brummelte etwas Unverständliches, schob die Zeitung zur Seite und erhob sich. Stumm folgte er mir die steile Treppe hinauf zu Eilmanns Zimmer.

Als Max den toten Mann und das viele Blut sah, wurde er blass und brachte kein Wort heraus. So durcheinander hatte ich ihn lange nicht mehr gesehen. Langsam ging er um den leblosen Körper herum, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Am Fußende angekommen drehte er den Kopf zu mir herüber, das Gesicht voller roter, nervöser Flecken.

Wie ein Föhnsturm brach es nun aus ihm heraus: »Bringt doch so ein Dreckhammel in meinem Wirtshaus jemanden um!« Die Adern an seinem Hals schwollen an. »In meinem Wirtshaus!«

Ohne ein weiteres Wort rannte er an mir vorbei aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Ich folgte ihm.

»Diese Scheiß-Fremdenzimmer sind mir schon immer auf die Nerven gegangen«, schimpfte er, während er zwei Stufen auf einmal nahm. »Und dieser Eilmann auch. Es gibt Leute, denen sieht man es doch gleich an, dass sie Ärger machen.«

Am Fuß der Treppe blieb er stehen und wandte sich um. »Ein Zimmer mit Bergblick wollte er, der Herr Eilmann.« Max tippte sich an die Schläfe. »Wo soll ich bittschön in Wolfratshausen in der Marktstraße ein Zimmer mit Blick aufs Karwendel herkriegen? – So ein Depp, so ein blöder!«

Ein kurzer Fluch, dann lief er weiter in sein Büro. Dort ließ er sich in den breiten Ledersessel fallen. »Hätt’ sich der Trottel nicht in Tölz oder Lenggries erschießen lassen können? Dort hätt’ er seine Aussicht gehabt und wir jetzt kein G’schiss mit der Leich’.«

Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Schließlich griff er zum Telefon, wählte eine Starnberger Nummer und ließ sich mit Hauptkommissar Huber verbinden.

»Ich bin’s, der Max. In einem Fremdenzimmer liegt ein Toter. – Können Sie kommen?«

Das Gemurmel aus dem Telefonhörer war nicht zu verstehen.

»Nein, Herr Huber, ich mach keine Scherze … Ich weiß auch nicht, wer’s war … Nein, keine Zeugen. Gestern Mittag war er noch ganz lebendig … Dann kommen Sie schnell, wenn Sie sich schon freuen, dass sich endlich mal was rührt in Ihrem Bezirk.«

Grußlos lege er auf.

Max liebte Kriminalfälle und hatte deshalb schon öfter mit Huber zu tun gehabt. Beim letzten Verbrechen vor gut drei Jahren hatte Max auch seine Frau Elli kennengelernt. Er hatte absolut nichts dagegen, wenn jemand in seiner Umgebung ermordet wurde und er sich in die Ermittlungen einschalten konnte. Mord ja! Aber nicht bei ihm daheim! Nicht in seiner Wirtschaft! Da mochten sich gelegentlich ein paar Burschen prügeln, wenn sie zu viel gesoffen hatten. Sobald sie mit dem Raufen fertig waren, schmiss Max sie raus – wenn die Gefahr bestand, es könnte die Einrichtung zu Bruch ging, schon eher. Aber ein Toter passte nicht zum Bräu. Und was würde Elli sagen, wenn sie vom Urlaub zurückkam?

»Ist dir an dem Eilmann was aufgefallen?«, fragte Max. Seine hohe Stirn lag in Falten.

»Ihm gehört das rote Mercedes-Coupé auf dem Parkplatz«, meinte ich. »Er ist am Samstag gekommen und wollt’ bis heute bleiben. Besonders sympathisch war er nicht. ›Die Sonne scheint durchs Kellerloch – einen könn’ mia noch‹, hat er immer geschrien, wenn er noch ein Bier oder einen Schnaps wollte. Beim Schnitter ist er lange gesessen und hat sich mit ihm unterhalten.«

»Der Schnitter redet sonst kaum mit Fremden.«

»Beim Eilmann hat er nicht viel sagen müssen. Der hat bloß einmal Luft geholt und dann eine Viertelstunde durchgeredet.«

»Was sucht jemand aus Köln hier in Wolfratshausen?« Max sah mich neugierig an. »Verwandte? Oder Floßfahrt?«

»Verwandte hat er sicher keine«, überlegte ich. »Sonst wäre er nicht die ganze Zeit im Wirtshaus gesessen. Und von einem Floß weiß ich auch nichts. Er hat viel gegessen und getrunken. Und auf den armen Schnitter hat er eingeredet wie ein Staubsaugervertreter.«

»Sonst was Besonderes?«

»Am Samstagabend ist er zur Erica hingegangen und hat sie mit Gabi angeredet. Ich habe es von der Schenke aus mitgekriegt.«

»Gabi?«

»Ja, ich hab’s genau gehört.«

»Und dann?«

»Die kurzen Haare würden ihr gut stehen, hat er gesagt. Außerdem würde er sich wahnsinnig freuen, sie wiederzusehen und ihr nichts nachtragen, obwohl sie sich nicht von ihm verabschiedet hätte.« Ich machte eine kleine Pause. »Sie hat sich ohne ein Wort weggedreht, ist zum Stammtisch und hat den Kartenspielern zugesehen. Er hat sich wieder zum Schnitter gesetzt. Geredet haben die beiden an dem Abend nichts mehr. Sie hat ihm sein Bier gebracht und fertig. Kein ›Wohl bekomm’s‹, kein ›Leck mich am Arsch‹.«

»Ungewöhnlich für unsere Gräfin«, bemerkte Max.

Erica wurde von vielen Gästen Gräfin genannt, weil sie so höflich, schön und unnahbar war. Sie siezte die meisten Gäste, auch wenn sie selbst geduzt wurde.

Ganz anders die Anni, unsere zweite Bedienung. Sie war eine gebürtige Wolfratshauserin, etwas korpulent, mit lustigen, gescheiten Augen. Sie duzte alle Gäste außer dem Stadtpfarrer und dem Bürgermeister. Meist hatte sie ein freundliches Lächeln auf den vollen Lippen, doch wurde sie gereizt, konnte die Anni auch pelzig werden, wie Max sich ausdrückte. Dann nahm sie kein Blatt vor den Mund und erklärte jedem – Gast oder Chef – was ihr nicht passte, und zwar in aller Deutlichkeit.

»Ich hab die Erica gefragt, wer der Kerl ist. Sie wollt erst nicht rausrücken mit der Sprache. Schließlich hat sie mich so komisch angeschaut und gesagt: Ein böser Mensch, von dem man sich fernhalten sollte.«

Max betrachtete mich nun mit einem Blick, der tiefe Unruhe erkennen ließ, und drehte seinen Kopf Richtung Fenster. »Vielleicht hat meine Mutter recht gehabt.«

»Womit?«

»Dass wir uns mit der schönen Erica eine Menge Ärger ins Haus holen.«

2

Wenige Minuten später hörte ich im Hausgang lautes Rufen: »Absperren! Alles Absperren!«

Wir eilten aus dem Büro und sahen die Wolfratshauser Stadtgendarmen, wie sie mit breiten, rotweiß gestreiften Absperrbändern den Tatort sicherten. Mittendrin der schwergewichtige Hauptwachtmeister Krautschuh. Als er Max sah, humpelte er schwerfällig auf ihn zu. Denn die Gicht war sein steter Begleiter.

»Max, es ist ein Saustall, dass du zuerst die Starnberger angerufen hast.« Sein rotes Gesicht glänzte vor Zorn. »Wenn hier schon mal was passiert, dann wollen wir es auch als Erste erfahren! Sonst werden wir die nächste Weihnachtsfeier halt beim Grünen Baum abhalten.«

Zwei junge Beamte bewachten nun den Zugang zur Wirtschaft. Wir gingen zur Zenzl in die Küche und erzählten ihr, was passiert war.

»Der Kerl mit dem roten Angeberauto ist also umgebracht worden.« Ihr Mund wurde schmal. »Hochmut kommt vor dem Fall«, murmelte sie schließlich und bekreuzigte sich.

Ich ging in die Gaststube und berichtete Erica von dem Toten. Sie war sichtlich verstört, musste sich setzen und starrte zu Boden. Ich betrachtete versonnen die Linie ihrer Lippen und das Pulsieren ihres Halses.

Als das junge Pärchen von dem Mord erfuhr, wollten die beiden gleich davon. Doch sie mussten genauso wie die Berliner warten, bis man ihre Personalien und eine kurze Aussage aufgenommen hatte. Ich spendierte den Kindern einstweilen eine Cola auf Kosten des Hauses. Die Erwachsenen bekamen einen Schnaps.

Nur Erica wollte keinen. Sie hatte mit einem Mal dunkle Augenschatten und bewegte sich so langsam, als hätte sie ein Gespenst gesehen.

Eine Viertelstunde nach den Wolfratshauser Gendarmen traf Hauptkommissar Huber von der Kripo Starnberg ein. Er schaute gar nicht in die Wirtsstube, sondern wollte gleich zu den Fremdenzimmern im ersten Stock. Die Spurensicherung aus München würde laut Krautschuh noch eine halbe Stunde auf sich warten lassen.

Der Hauptkommissar war mit der Besichtigung des Tatortes nach ein paar Minuten fertig. Er kam mit schweren Schritten die Treppe herunter in die Küche, wo Max und ich bleiben mussten, um die Ermittlungen nicht zu stören.

»Schaut fast nach einem Heimspiel für dich aus, Max.« Hubers breites Gesicht zeigte ein Lächeln, als würde er meinem Freund den Ärger gönnen. Dafür erntete er von Max einen bösen Blick.

Der schwergewichtige Hauptkommissar hatte sich seit unserer letzten Begegnung vor gut zwei Jahren kaum verändert. Die kleinen blauen Augen steckten tief in seinem breiten, schwammigen Gesicht, als könnten sie sich nur schwer zwischen Schlaf und Wachsein entscheiden. Er ließ sich auf einen freien Stuhl am großen Küchentisch fallen und zündete sich eine Zigarette an. »Jetzt erzählt mir alles, was ihr über den Toten wisst.«

»Muss das sein?«, empörte sich die Zenzl.

Sie mochte es nicht, wenn in ihrem Allerheiligsten geraucht wurde. Aber Huber tat so, als hätte er den Tadel der Köchin nicht gehört.

»Der Eilmann ist am Samstagnachmittag gekommen.« Max kratzte sich am bartlosen Kinn. »Am Abend hat er was gegessen und ein paar Halbe getrunken. Am Sonntag war er beim Frühschoppen und Mittagessen in der Stube, danach ist er verschwunden. Er hat viel und zu laut geredet. Wenn er nicht so lange Haare gehabt hätte, hätte man ihn für einen Vertreter halten können.«

Huber klemmte seine Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger der linken Hand und zog mit der rechten einen Notizblock aus dem karierten, altbackenen Jackett.

»Hatte er Kontakt zu anderen Leuten?«

»Zu mir, zum Kaspar und zu verschiedenen Gästen in der Stube.«

»Was hat er gesagt?«

»Dass er aus Köln kommt und schon fünf Mal Karnevalsprinz war, weil er die Polonaise so gut kann.«

Ich lachte.

Huber verdrehte die Augen. Er kannte Max’ Humor. »Und sonst?«

»Mit dem Schnitter hat er sich lange unterhalten.«

Jeder in der Umgebung wusste, wer der Schnitter war.

»Und worüber?«

»Da müssen Sie schon den Schnitter selber fragen.«

»Was hast du mit dem Opfer geredet?«

»Wo er herkommt, wie lange er bleiben will. Was man halt so redet.« Max zuckte die Achseln.

»Bei unseren anderen Toten warst du kooperativer«, meinte Huber, dann wandte er sich an mich. »Was machst du eigentlich hier. Ich dachte, du würdest studieren. Latein oder Hebräisch?«

»Ich studiere Altphilologie, also Latein und Griechisch. In den Ferien muss ich aber arbeiten, ich brauche Geld.«

»Was hat der Eilmann gesagt?«

»Die Sonne scheint durchs Kellerloch, ein’ könn’ mia noch!«

Jetzt lachte Max, Huber nicht.

»Ich habe kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Die letzten Tage war viel los, und ich hatte überhaupt keine Zeit zum Ratschen.«

Max schaltete sich ein. »Der Eilmann war ein unsympathischer Kerl. Das Zimmer hat ihm nicht gefallen, weil es keinen Bergblick hat. Am Essen hat er auch rumgenörgelt, wegen der Knödel.«

»Dann soll er doch in eine Pizzeria gehen, dort gibt’s bloß Nudeln«, schimpfte die Zenzl vom Herd herüber.

»Was hat er eigentlich hier gewollt?«, wollte Huber nun wissen.

»Keine Ahnung.« Mein Freund zuckte die Achseln.

»Wo warst du gestern Nachmittag?«

»Bei der Flößerprozession. Ich bin bei den Gebirgsschützen mitgegangen.«

»Und was hast du gemacht?« Huber wandte mir sein breites Gesicht zu. Uns beide verband seit unserer ersten Begegnung vor neun Jahren eine unterschwellige, chronische Antipathie.

»Ich habe alles für den großen Ansturm nach dem Festzug vorbereitet.«

»Und Sie, Fräulein Zenzl?«

»Die erste Hälfte vom Umzug habe ich mir angeschaut, danach bin ich in die Küche, um die kalten Sachen herzurichten, den Wurstsalat und den sauren Presssack.«

Auf dem Gang hörte man eilige Schritte.

»Die Spurensicherung ist da«, rief der Hauptwachtmeister Krautschuh durch die Küchentür. »Vier Mann. Und jeder hat einen weißen Overall, als wollten sie auf den Mond fliegen.« Schweißperlen standen auf seiner niedrigen Stirn. Er dampfte vor Aufregung.

Huber erhob sich schwerfällig. Ohne Eile ging er zur Zenzl und ließ sich zeigen, was sie zum Mittagessen vorbereitet hatte: Rindsgulasch, dazu Semmelknödel und Blaukraut. Mit einem großen Schöpflöffel holte sie etwas Gulasch aus dem riesigen Topf, probierte und verdrehte dabei die Augen mit demselben konzentrierten und inbrünstigen Ausdruck, mit dem sie bei der Sonntagsmesse die Kommunion empfing.

Der Hauptkommissar versprach, die Wirtschaft zum Mittagessen wieder freizugeben. »Wär doch a ewige Sünd und schad um das gute Gulasch, Fräulein Zenzl.«

Huber verließ die Küche, und man hörte ihn die Treppe in den ersten Stock hinaufkeuchen.

3

»Saublöd hat es ihn erwischt, den Eilmann.« Huber zog den großen Aschenbecher mit dem Ringfinger zu sich her. »Schuss durch den Hals aus kurzer Entfernung. Wahrscheinlich hat es eine Arterie zerrissen, deshalb das viele Blut. Sicher wollte er noch aus dem Zimmer, hat es aber bloß noch bis zur Tür geschafft. Schreien konnte er nicht, der Kehlkopf war zerfetzt.«

Wir befanden uns im Nebenzimmer, wo sich sonst die Wolfratshauser Gebirgsschützen trafen. Ich überlegte, wie oft ich mit Max und dem Hauptkommissar schon so zusammen gesessen hatte, die beiden voller Eifer, den Täter zu finden, und ich voller Grauen vor dem Verbrechen.

»Wann ist er erschossen worden?«, fragte Max.

»Gestern Nachmittag, zwischen zwei und fünf«, meinte Huber. »Sagt zumindest der Pathologe.«

»Und womit?«

»Ein Neun-Millimeter-Geschoß. Vollmantel.«

»Also eine Pistole.«

»Genau.«

»Hm«, brummte Max.

»Hat denn niemand einen Schuss gehört?«

Ich betrachtete Huber durch den Rauchvorhang hindurch, der von seinen Lippen aufstieg.

»Gestern Nachmittag ist es in der Marktstraße hoch hergegangen. Einige Gebirgsschützenkompanien waren da. Mit Böllern. Dazu die Trachtenkapellen und Trommlerzüge.« Max kratzte sich am Kopf. »Ein einzelner Pistolenschuss kann da leicht untergehen.«

»Wie lange hat das Spektakel gedauert?«

»Eine Stunde. Von zwei bis drei.«

»Wer war zu diesem Zeitpunkt hier im Haus?«

Max überlegte. »Unsere Zimmergäste waren alle unterwegs beim Floßfahren oder Wandern. Meine Frau und die Kinder sind im Urlaub.«

»Ich habe nicht gefragt, wer nicht da war, sondern …«

Ich fuhr unbeirrt fort: »In der Gaststube waren bloß die Erica, der Schnitter und ich, außerdem noch ein junger Mann, der die Erica angegafft hat.«

»Tun das nicht alle?«, fragte Huber anzüglich.

Gelegentlich kam er mit seiner Frau zum Essen zum Bräu und kannte Erica.

»Aber der hat sie angegafft, als hätte er das Blödschauen erfunden«, erklärte ich.

»Eifersüchtig?«, fragte der Polizist, und ich merkte, dass ich rot wurde.

»Jeder, der sich beim Bräu eine Halbe Bier kauft, darf unsere Bedienungen anschauen, so lange er mag«, mischte Max sich ein. »Und der Herrgott hat’s eben gut mit ihr gemeint. Dafür ist ihr Junior keine Schönheit. Sie dürften ihn kennen, er arbeitet oft am Wochenende in der Wirtschaft.«

Huber nickte. »Wo war denn der Kleine gestern?«

»In seinem Zimmer. Er hat gelernt.«

»Aha.« Huber blies die Luft aus seinen dicken Backen. »Ich würde gerne mal mit der Erica reden. Schickt mir die Dame bitte rüber!«

Max und ich gingen in die Gaststube und sagten Erica, sie solle zum Hauptkommissar kommen.

Die Schöne sah uns mit großen Augen an. »Jetzt geht’s schlecht. Eine Menge Leute sind zum Essen gekommen, und der Stammtisch ist auch voll.«

Die Polizeifahrzeuge vor der Wirtschaft, die Uniformierten im Hausgang und die Absperrung zu den Fremdenzimmern im ersten Stock hatten eine Menge Neugieriger angelockt. Huber hatte aber sein Versprechen gehalten und die Gaststube freigegeben.

»Geh nur«, meinte Max. »Wir machen das schon.«

»Aber …« Sie holte Luft, um eine weitere Ausrede vorzubringen, doch es fiel ihr keine ein. Schließlich fragte sie: »Was soll ich dem Hauptkommissar denn erzählen?«

»Alles, was er dich fragt. Zum Beispiel, wer gestern Nachmittag während des Umzugs in der Wirtschaft war.«

Erica überlegte. »Hier waren bloß der Schnitter, der Kaspar und ich.«

»Sonst niemand?« Wieso fragte er Erica Dinge, die er von mir schon erfahren hatte.

Erica ergänzte: »Mein Junge war droben in seinem Zimmer, er hatte zu lernen. Heute ist Lateinschulaufgabe.«

Max kräuselte die schmalen Lippen. »Die Polizei wird ihn sicher auch verhören wollen.«

»Wann kommt er aus der Schule?«, fragte ich.

Erica sah mich verwundert an. »Erst am Wochenende. Er ist doch im Internat in Heiligenbeuern.«

Das hatte ich in der Aufregung ganz vergessen.

Erica zögerte, als wollte sie uns noch etwas Wichtiges sagen, verschwand aber ohne ein weiteres Wort in Richtung Nebenzimmer.

Max ging gleich zum ersten Tisch und nahm die Bestellungen auf. Ich schenkte einen Schwung Weißbier und Helles ein. Max trug die Gläser aus.

Für einen Montag herrschte großes Gedränge. Die Stammgäste von Raiffeisenbank und Sparkasse fanden kaum noch Platz bei all den Neugierigen, die unbedingt erfahren wollten, was hier passiert war. Beim Bräu war jemand erschossen worden, soviel hatte man von den örtlichen Gendarmen erfahren.

»Heut ist ja richtig was los«, stellte Anni lautstark fest und kam hinter die Schenke, um sich dort ihre Schürze umzubinden.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich sie über die Schulter, denn ich schenkte gerade zwei Weißbier gleichzeitig ein. »Heute ist doch dein freier Tag.«

»Die Zenzl hat mich angerufen. Ich darf euch nicht im Stich lassen, hat sie gesagt. Ein Gast ist ermordet worden, und es kommen bestimmt ein Haufen Leute zum Gaffen und Mittagessen.«

Die Zenzl hatte wirklich einen Sinn fürs Praktische.

»Was ist denn passiert?« Anni war fertig angezogen und trank einen Schluck Cola wie immer, bevor sie loslegte.

»Der fette Kerl aus Köln ist in seinem Zimmer erschossen worden.«

»Wer war’s?«

»Keine Ahnung!« Ich holte eine Apfelschorle aus dem Kühlschrank. »Die Kriminalpolizei ist da und untersucht die Sache.«

»Der Huber aus Starnberg?«

Ich nickte.

»Der geizige Kerl! Von dem hab ich noch nie ein Zehnerl Trinkgeld gekriegt.«

»Ein Polizist verdient auch nicht besonders viel.«

»Pah«, machte Anni und ging zum Ecktisch, wo sich gerade eine Gruppe Maurer niedergelassen hatte.

»Vier Helle und ein Spezi«, rief sie mir zu, eilte zur Durchreiche und schrie in die Küche, dass der Alois und seine vier Maurer vom Krämmel ein Gulasch wollen. »Extraportion! Die Burschen haben Hunger!«

Das hätte sie nicht zu erwähnen brauchen, denn die Zenzl meinte es immer sehr gut mit den Handwerkern. Sie bekamen deutlich mehr auf den Teller als die Bleistiftspitzer vom Landwirtschaftsamt oder der Bank.

Der Schnitter saß wie jeden Tag an seinem Stammplatz und schaute durch das Fenster zur Marktstraße hinaus. Er sah mickrig aus – nicht klein oder mager, sondern armselig. Beim Sitzen hielt er das steife Bein zur Seite gestreckt, er machte einen Buckel, und die Schultern hingen nach vorne. Er trank zwar jeden Tag etliche Halbe und dazu einige Schnäpse, aber er verließ die Wirtschaft abends genauso aufrecht, wie er sie vormittags betreten hatte.

Mancher munkelte, er sei nicht ganz bei Trost. Mir allerdings kam er vor wie eine Spinne, die am Rand ihres Netzes hockt und auf ein Opfer wartet. Während der letzten Woche waren fast jeden Tag Leute zu ihm gekommen, mit denen er ein, zwei Schnäpse getrunken und eine Weile geredet hatte. Wenn sich jemand zu ihm setzte, übernahm der Schnitter – wie ein Chamäleon – wohl unbewusst Haltung und Gebärden des Gesprächspartners. Während sie redeten, schaute er die Leute immer nur für wenige Augenblicke an, als würde er fürchten, ihre Blicke könnten sich treffen. Zum Schluss reichte er den Besuchern die Hand und gelegentlich notierte er etwas in das kleine schwarze Büchlein, das er stets in seiner fadenscheinigen Anzugjacke bei sich trug.

Dr. Weiß, der Notar, war im Lauf der vergangenen Woche zwei Mal zum Schnitter gekommen. Die beiden hatten sich unterhalten und Katasterpläne durchgesehen. Der Notar hatte sich jedes Mal per Handschlag verabschiedet. Der Schnitter sei sein bester Kunde, hieß es.

Meist aber saß der Schnitter alleine, las in der Zeitung oder schaute aus dem Fenster auf die Marktstraße. Nur selten wechselte er ein paar Worte mit den Stammtischbrüdern, obwohl er sie alle gut kannte und sich keineswegs für etwas Besseres hielt.

Heute war die Wirtschaft aber rappelvoll, und er hatte gezwungenermaßen Gesellschaft an seinem Tisch. Der Schnitter war jeden Tag beim Bräu, das war allgemein bekannt. Wenn also jemand etwas Interessantes mitbekommen hatte, dann er.

Die große Aufmerksamkeit, die ihm heute zuteil wurde, gefiel ihm jedoch gar nicht. Misstrauisch dreinschauend gab er unwillig Auskunft. Die Schnäpse, die ihm die Neugierigen spendiert hatten, standen in einer Reihe vor ihm auf dem Tisch. Er würdigte sie keines Blickes und nippte nur von Zeit zu Zeit an seinem Bier, das er ganz nahe zu sich herangezogen hatte, als müsse er es beschützen.

»Jetzt sag halt, was gestern Nachmittag hier los war.«

Die Umsitzenden gaben keine Ruhe, und schließlich begann der Alte: »Ich bin auf meinem Platz gesessen wie jeden Tag und hab eine Halbe getrunken. Dazu einen Willi. Um halb drei trink ich meistens einen Willi, weil der gut ist für die Verdauung. Ich habe aus dem Fenster geschaut, wie der Festzug vorbeigezogen ist. Schad, dass die Frau Elli nicht da ist, hab ich mir gedacht. Wenn sie da wär, könnten wir eine Partie Schach spielen.«

Als Entschädigung für die entgangene Schachpartie hätte er sich noch einen zweiten Willi genehmigt, meinte er und verzog das Gesicht zu einem schrägen Grinsen. Er konnte lange Zeit mit diesem verlorenem Lächeln verharren, eingesperrt in seine eigene Welt, als hätte sich alles, was ihn umgab, in nichts aufgelöst.

»Warst du allein in der Gaststube?«, fragte der Raiffeisenkassier Knoller ungeduldig und schob dem Schnitter einen Kirschgeist hin.

Der Wirtshauslärm hatte nachgelassen. Jeder wollte hören, was der Alte zu sagen hatte.

»Nein«, murmelte der Eigenbrötler.

»Wer war sonst noch da?«

»Die Erica.«

»Und weiter?«

»Der Kaspar und ein junger Mann hinten am Ecktisch.« Jetzt wurde es still in der großen Stube.

»Hast du den Kerl gekannt?«

»Nein.«

»Wie hat er ausgesehen?«

»Wie junge Männer halt so ausschauen.« Der Schnitter kniff die Augen zusammen. »Schneidig. Kurze, dunkle Haare hat er gehabt und ein Muttermal über dem rechten Auge.«

»Könnt’s sein, dass er es war?«

»Was?«

»Ja, der Mörder halt. Es soll doch jemand erschossen worden sein. Deswegen rennen die vielen Polizisten rum.«

»Aha«, machte Schnitter und sah auf die Tischplatte.

»Was heißt da aha«, echauffierte sich Knoller.

»Aha heißt aha«, brummte der Schnitter mit einem tiefen Ton, der besagte, er habe genug erzählt, und man solle jetzt Ruhe geben.

»Das kann dich doch nicht so kalt lassen«, stichelte der Knoller weiter.

Schnitter sah ihn abweisend an. »Wenn’s einen Toten gegeben hat, dann will ich mit der Sache nix zu tun haben.« Und nun folgte der Satz, für den ihn jeder in der Stadt kannte: »Als Bauernbuben sind wir in den Krieg geschickt worden, als Mörder sind wir wieder heimgekommen. – Von Toten und vom Umbringen hab ich genug. So, und jetzt lasst’s mir meine Ruhe! – Den Schnaps kann saufen, wer mag. Mir ist der Appetit vergangen.«

Er schlug die Zeitung auf, die neben ihm auf der Eckbank gelegen hatte, und begann mit einem ausdruckslosen, pergamentartigen Gesicht, das ihm die Neugierigen vom Leib halten sollte, zu lesen.

Die Leute, die ihn neugierig umstanden, murrten. Sie hätten gerne mehr erfahren.

»Ein Soldat ist kein Mörder«, krakeelte plötzlich der junge Feichthuber vom Stammtisch herüber, und zwar so laut, dass alle es hören konnten.

Es wurde wieder leiser, und vielleicht hielt der Feichthuber dies für Zustimmung. Also stand er auf und wiederholte in Richtung Schnitter: »Ein Soldat ist kein Mörder! Ein Soldat tut bloß seine Pflicht!«

Mit einem Mal war es totenstill in der Stube. Man war gespannt, was jetzt passieren würde.

»Halt’s Maul, wenn’s um Sachen geht, von denen du nix verstehst, du junger Depp«, schimpfte der Schnitter in seine Zeitung hinein. Er starrte geradeaus, sein Gesicht war angespannt, der krumme Rücken jetzt kerzengerade.

»Dir geb ich gleich einen Deppen.« Der Stuhl vom Feichthuber flog laut scheppernd nach hinten. Er war aufgesprungen und stand nun hoch aufgerichtet hinter dem Stammtisch, den Kopf nach vorne gestreckt und jederzeit zum Angriff bereit.

Doch Max war sofort zur Stelle. »Ganz ruhig, Martl. Sonst schmeiß ich dich raus. In meinem Wirtshaus gibt’s keine Rauferei.«

»Dann sag dem alten Grattler, dass er nicht so blöd daherreden darf. Er ist nicht der Einzige, der was mitgemacht hat im Krieg. Meinen Vater hat’s zweimal schwer erwischt. Hüftdurchschuss und zwei Finger beim Teufel.«

»Wär gescheiter gewesen, die Russen hätten ihm den Zipfel weggeschossen«, grantelte der Schnitter laut genug, dass es jeder hören konnte. »Dann hätt’ er keinen solchen Trottel wie dich mehr machen können.«

Alles lachte, und die ungute Stimmung war mit einem Mal verflogen.

Die Augen vom Feichthuber aber sprühten Funken, und er wollte seinem Widersacher sofort an den Kragen. Doch Max hatte sich bereits zwischen ihn und den Schnitter gestellt. Er überragte den etwa gleichaltrigen, kräftigen Burschen um einen guten Kopf und war nicht mehr so mager wie früher. Mit dem jungen Bräu legte sich niemand an, der sich keine blutige Nase holen wollte. Da hatten einige Heißsporne bereits schmerzhafte Erfahrungen gemacht.

»Ich weiß schon«, raunzte der Martl. »Deine Frau spielt jeden Tag Schach mit dem alten Deppen. Außerdem ist er deine beste Kundschaft, weil er sich in deinem Wirtshaus langsam totsäuft.« Er warf Max einen bösen Blick zu. »Deshalb darf er sagen, was er mag, auch wenn’s eine Beleidigung für einen jeden ist, der im Feld war.«

Er riss den Geldbeutel aus der Gesäßtasche, öffnete ihn mit zittrigen Fingern und warf einen Schein und ein paar Münzen auf den Tisch. Dann verschwand er mit lauten, zornigen Schritten.

In der Tür wäre er fast mit Hauptkommissar Huber zusammengestoßen, der mit Ericas Vernehmung fertig war und sie zurück in die Gaststube begleitet hatte. Erica war blass, ging aber gleich zur Schänke. Dort gab es schließlich eine Menge Arbeit.

»Kann jemand von euch den Chico aus dem Internat holen?« Huber war zu mir an den Tresen gekommen und zündete sich eine Zigarette an. »Er war gestern den ganzen Nachmittag in seinem Zimmer direkt gegenüber vom Eilmann und hat gelernt. Vielleicht hat er was gehört oder gesehen. Einen Streifenwagen mag ich nicht schicken. Das gibt bloß ein Mordsgeschau.«

Max stand beim Huber an der Theke. »Der Kaspar kann fahren. Das Mittagsgeschäft ist bald vorbei.«

Ich wollte widersprechen, denn mein alter Kadett hatte kaum mehr Sprit und ich war gerade äußerst schlecht bei Kasse. Eigentlich hatte ich Max heute wegen eines Vorschusses anpumpen wollen, doch der Zeitpunkt erschien mir angesichts der Ereignisse ungünstig.

»Du kannst mein Auto nehmen«, meinte Max und hielt mir den Schlüssel seines neuen BMW entgegen. Dieses Mördergerät hatte über 200 PS und war meistens voll getankt – ein Zustand, den mein Fahrzeug kaum kannte.

Max ging mit mir auf den Hof, um mir zu zeigen, wie die Automatik in seinem Wagen funktionierte. Ich setzte mich gleich auf die Fahrerseite.

»Der Feichthuber kommt so schnell nimmer«, meinte ich und probierte einige Knöpfe und Hebel.

»Schmarrn!« Max winkte ab. »Der rennt jetzt in die anderen Wirtshäuser und erzählt seinen Blödsinn dort. In zwei Wochen hockt er wieder bei uns am Stammtisch und tut so, als wär nix gewesen. Ich kenn die Brüder.«

»Stimmt es, dass der Schnitter einen Haufen Geld hat?«, fragte ich.

Max nickte.

»Wie ist er dazu gekommen?«

»Das ist eine lange Geschichte.« Max machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem. »Die alte Schnitterbäuerin ist Mitte der Fünfzigerjahre gestorben, und beim Schnitter haben sie eine große Verwandtschaft. Je ärmer das Bäuerlein, desto fruchtbarer. Das hat schon mein Opa gesagt. Jedenfalls ist der Schnitter nach dem Leichenschmaus zu meinem Vater und hat gefragt, was er schuldig ist. Er wollte bei der Bank das Geld holen. Papa hat ihm gesagt, dass es nicht pressiert mit dem Zahlen. Er soll ihm das Geld geben, wenn er ein Stück Vieh verkauft.

Die Viecher sind alle schon beliehen, hat der Schnitter geantwortet. Er wird halt die Wiese an der Loisach hergeben müssen, um die alten Schulden und die Zeche von der Beerdigung zu bezahlen. Meinem Vater war das zuwider, die zwei sind zusammen in die Schule gegangen. Also hat er ihm die Zeche gestundet und ihm geraten, die Wiese an der Loisach unbedingt zu behalten.

Mein Vater hat was läuten hören, dass die Gemeinde Grund gesucht hat für ein Neubaugebiet. Wolfratshausen ist damals narrisch gewachsen. Also ist er zum Bürgermeister und hat ihm die Wiese an der Loisach vorgeschlagen. Denn die hat sich dafür geradezu angeboten. Anschließend ist er zum Sparkassenleiter und schließlich zum Chef von der Raiffeisen.

Alle drei waren von der Idee begeistert und sind der Reihe nach hin zum Schnitter. Sie haben gemeint, dass der Grund billig hergeht, für zwei, drei Mark den Quadratmeter. Jeder hat gewusst, dass dem Schnitter das Wasser bis zum Hals steht. Der Schnitter hat sich die hohen Herren angehört und gemeint, er werde über ihr Angebot nachdenken. Anschließend hat er ein Fuder Mist aufgelegt und ist damit auf sein Feld an der Loisach gefahren. Jetzt war klar, dass er es nicht hergeben würde: Kein Bauer düngt eine Wiese, die er bald verkauft.«

Max lachte, als wäre er selbst auf diese brilliante Idee gekommen.

»Der Schnitter hat nix getan, gar nix. Er hat bloß gewartet, und auf einmal war die Wiese neben der Loisach der teuerste Baugrund in der ganzen Umgebung, vielleicht sogar im Landkreis. Die Stadt, die Sparkasse und die Raiffeisen sind wieder hin zum Schnitter und haben ihr Angebot aufgebessert. Der Schnitter hat sich wieder einen jeden angehört und ganz offen gesagt, wie viel der andere das letzte Mal geboten hätte. Schließlich hat er fünfzehn Mark für den Quadratmeter gekriegt. Das war der höchste Preis, der bis dahin im Landkreis für eine Wiese gezahlt worden ist. Mit dem Geld ist er zum Bräu, hat seine Schulden bezahlt und sich einen schönen Rausch angesoffen.

Am nächsten Tag ist er wieder in die Wirtschaft gekommen, und da hat ihn ein Häusler aus Gelting angeredet. Er hätt eine saure Wiese neben der Loisach, die er nicht gerne mäht, weil ihm die Kühe von dem schlechten Gras krank werden. Der Schnitter war gut aufgelegt und hat ihm ein Fünfzigerl für den Quadratmeter geboten. Der Häusler hat gleich eingeschlagen. Mit so viel hatte er gar nicht gerechnet. Zwei Tage später ist der Notar gekommen, und sie haben am Tisch vom Schnitter verbrieft.

Seitdem kommt er jeden Tag. Er trinkt sein Bier und seinen Schnaps, liest die Zeitung und macht Geschäfte. Seit die Erica hier bedient, kommt er sogar schon am Vormittag. Am Nachmittag trinkt sie ihren Kaffee am Tisch vom Schnitter, und die zwei unterhalten sich. Es sind halt alle ein bisserl verliebt in unsere Erica.«

Max blinzelte mir zu und stieß die Beifahrertür auf, doch er blieb sitzen und wandte sich noch mal zu mir um.

»Der Schnitter ist ein ganz ausgefuchster Bursche, das kann ich dir flüstern. Meine Frau spielt sehr gut Schach. Aber gegen den Schnitter hat sie kaum eine Chance. Und weißt du, warum?«

Er unterbrach sich einen kurzen Moment, als erwarte er von mir eine Antwort, die ich ohnehin nicht wissen konnte. »Weil er sie mit Fehlern aus dem Konzept bringt. Würde er so spielen, wie es sich gehört, würde sie öfter gewinnen. Aber dieses durchtriebene Männlein lockt sie immer wieder in eine Falle, aus der sie dann nicht mehr rauskommt. Der Schnitter spielt nie ein Spiel, er spielt immer mehrere.

Ich habe mich darüber mal mit dem Herrn Notar unterhalten. Natürlich hat er nichts zu den Einzelheiten der Geschäfte verraten, die er für den Schnitter tätigt. Aber er sagte, er würde niemanden kennen, der auf so vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzt, ohne die Übersicht zu verlieren. Der Schnitter kauft hier, verkauft dort, und kein Mensch versteht, was er treibt. Am Jahresende hat er entweder seinen Immobilienbestand grandios erweitert oder einen Haufen Geld verdient oder beides. Dabei hat er keinerlei Konzept, er riecht vielmehr seine Chancen wie ein Fuchs die Mäuse.«

Max gab mir einen Klapps auf den Oberschenkel und war draußen.

Ich drehte den Zündschlüssel. Sofort schnurrte der Motor. Kein Orgeln und Zuckeln wie bei meinem alten Kadett. Zunächst hatte ich meine liebe Not mit diesem Auto. Zu viele Schalter, zu viele Möglichkeiten, zu viele PS. Zwischen Wolfratshausen und Geretsried konnte ich eh nicht schnell fahren, da lauerten Hubers Kollegen hinter jedem Busch. Aber zwischen Königsdorf und Bichl hatte ich noch nie einen Blitzer gesehen, also ließ ich die Pferdchen laufen.

Nebenbei kam mir Chico in den Sinn, Ericas vierzehnjähriger Sohn. Ich kannte ihn seit einem guten Jahr, als er zusammen mit seiner Mutter nach Wolfratshausen gekommen war. Sie bewohnten zwei Zimmer im ersten Stock.

Chico half am Wochenende und in den Ferien in der Wirtschaft, vor allem bei Hochzeiten und Beerdigungen. Gestern war die Wirtsstube schon beim Frühschoppen brechend voll gewesen. Chico hatte die Brotzeiten und später das Mittagessen serviert. Ich hatte ausgeschenkt, Erica und Anni hatten bedient und abkassiert.

Chico war ein ruhiger, zuverlässiger Bursche. Er war beliebt, und an seine Punkerkleidung und die grünen Haare hatten sich die Leute schon gewöhnt. Er war der Erste gewesen, der mich Professor genannt hatte. Der Spitzname war mir geblieben.

Chico übte im Kartoffelkeller vom Schnitter Schlagzeug. Er spielte in jeder freien Minute und war schon recht gut. Er sprach oft davon, eine Punkband zu gründen. Einen Namen dafür hatte er schon: Motzki.

Den ganzen gestrigen Nachmittag hatte er wegen der Lateinschulaufgabe in seinem Zimmer gesessen. Erica war sehr streng mit ihrem Buben. Wenn es in der Schule nicht lief, durfte er nicht zum Schnitter in den Kartoffelkeller – Höchststrafe!

»Vielleicht kommen wir eines Tages groß raus wie die Ramones«, hatte mir Chico am Wochenende erklärt. »Auf der Bühne würde ich mir mit einer Rasierklinge die Brust bis zu den Rippen aufschlitzen.« Seine Augen leuchteten. »Wäre super für die Show! –Tut aber sicher sauweh, und die Mama hat’s mir verboten.«

In solchen Augenblicken mochte ich ihn besonders, den Schlacks mit den hochgegelten Stachelhaaren. Er hatte außer den zerrissenen Klamotten und den wilden Haaren wenig gemein mit Johnny Rotten oder Sid Vicious von den Sex Pistols. Chico war ein netter Kerl.

4

In Heiligenbeuern angekommen stellte ich den BMW auf den Parkplatz direkt vor die Pforte und war sofort von einer Traube Erstklässler umringt. Denen schilderte ich in knappen Worten die schmerzhaften Konsequenzen, falls es jemand wagen sollte, den Wagen anzutappen oder ich bei meiner Rückkehr einen Kratzer im Lack entdecken würde.

Dann lief ich die Treppe hinauf zur Pforte. Ich fragte nach Chico Flores aus der achten Klasse und wurde in den ersten Stock zum Studiersaal von Pater Zeno geschickt. Den Weg kannte ich bestens.

Immer noch roch es auf der Treppe nach Bohnerwachs, genauso wie vor neun Jahren, als ich ins Beusl gekommen war. Der Geruch hatte sich in mein Gehirn eingebrannt wie die Studierzeiten und das lausige Essen.

Ich öffnete die Tür zum Studiersaal, und neugierige Bubengesichter, einige mit etwas Flaum unter der Nase, starrten mir entgegen. Heute war schönes Wetter, und die Studierzeit begann erst in einer halben Stunde. Die meisten Schüler trieben sich also draußen auf dem Fußballplatz oder an der Loisach herum.

»Wo ist euer Präfekt?«, fragte ich in die Runde.

»Da, wo er hingehört«, entgegnete ein semmelblonder Frechdachs und deutete zum Präfektenzimmer. »In seiner Zelle.«

Die anderen lachten.

Ich ging zu der Tür am anderen Ende des Raumes und klopfte.

»Herein«, rief eine tiefe Stimme.

Ich drückte die Klinke und schob die Tür auf. Pater Zeno saß hinter seinem Schreibtisch und schaute mir entgegen.

»Der Spindler«, sagte er trocken, doch dann bekam sein Gesicht einen freundlicheren Ausdruck. Der kleine, stämmige Mönch stand auf und kam um den Schreibtisch herum auf mich zu. »Schön, dass du dich mal blicken lässt. Wie geht’s denn?« Zeno hatte immer noch einen kräftigen Händedruck.

»Gut«, sagte ich.

»Und dem Max?«

»Dem auch.«

Jetzt sah er mich mit verschränkten Armen an. Er wusste, dass ich nicht gekommen war, um Artigkeiten auszutauschen. »Womit kann ich dienen?«

»Ich bin gekommen, um den Chico zu holen.«

»Den Chico? Warum?«

»Er soll bei der Polizei aussagen.«

Zenos großer, eckiger Kopf fuhr nach vorne. »Steckt da vielleicht der Max dahinter?« Seine Augen wurden klein und misstrauisch.

Ich blies etwas Luft durch die Lippen. Was sollte ich antworten? Die Wahrheit klang nicht gut, und anlügen wollte ich ihn auch nicht. Wieso auch?

»Der Max steckt doch immer dahinter«, mutmaßte Zeno. Er runzelte die Stirn. »Ist etwa jemand umgebracht worden?«

Ich nickte.

»Wo?«

»Beim Bräu.«

»Wann?«

»Gestern Nachmittag.«

»Und was will die Polizei vom Chico?«

»Der Bub war gestern Nachmittag im Nachbarzimmer und soll erzählen, ob er was gesehen oder gehört hat«, erklärte ich.

»Warum kommt die Polizei nicht selber?«

»Sie will kein Aufsehen.«

»Ist denn dieser Hauptkommissar Huber auch mit von der Partie?«

Zeno kannte den Beamten von einem früheren Mordfall im Beusl und wusste wahrscheinlich, dass er für unsere Gegend zuständig war.

Ich nickte erneut.

»Eine Leiche, dazu der Max und der Huber«, brummte Zeno, und es klang, als hätte er Pest und Cholera gesagt.

Chico hatte sich in den Beifahrersitz fallen lassen. Er war sehr groß für seine vierzehn Jahre und trug zerrissene Jeans und ein schwarzes T-Shirt über dem mageren Oberkörper. Die Pickel sprossen in seinem käsigen Gesicht wie die Primeln in einem Frühlingsbeet. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er der Sohn der schönen Erica war. Doch ich war mir sicher, dass sich das hässliche Entlein zum Schwan entpuppen würde, sobald die Pickel verschwanden und etwas Fleisch an ihn hingewachsen war.

Nun flätzte er im Beifahrersitz und machte keinen Mucks.

»Wie geht’s?«, begann ich.

Er schaute mich aus den Augenwinkeln an. »So lala.« Chico war auf der Hut. »Wer ist denn umgebracht worden?«, fragte er zögerlich.

Ich hatte ihm auf dem Weg zum Auto erklärt, warum ich gekommen war.

»Ein Pensionsgast.« Ich fuhr los.

»Name?«

»Eilmann.«

»Der hat doch im Zimmer gegenüber gewohnt.«

»Genau.«

»Und wie …?« Chico versuchte ein kleines, unbeholfenes Lächeln. »Und wie ist er umgebracht worden?«

»Ein Schuss.«

»In den Kopf?«

»Nein, in den Hals.«

Chico schluckte. »Gleich tot?«

»Nicht ganz. Er ist noch bis zur Tür gekommen und dort liegengeblieben.«

»Und wo ist die Knarre?«

»Verschwunden.«

»Wer war’s?«

»Keine Ahnung. Wenn es die Polizei wüsste, hätte ich dich nicht aus dem Beusl geholt.«

»Was wollen die Bullen von mir?«, fragte er misstrauisch, zog die Schultern hoch, als würde er frieren, und rutschte in dem lederbezogenen Recaro-Sportsitz noch weiter nach unten.

»Der Hauptkommissar Huber hat ein paar Fragen. Vielleicht hast du was mitgekriegt, schließlich warst du zur Tatzeit in deinem Zimmer. Du müsstest eigentlich den Schuss gehört haben.«

»Fuck!« Er fuhr in die Höhe. »Ich hab gar nichts gehört.« Er wedelte mit dem rechten Zeigefinger. »Vor dem Haus war doch der Umzug von den Trachtenheinis. Die haben die ganze Zeit rumgeballert, und danach hat sich halb Wolfratshausen in der Gaststube zugesoffen. Ich habe bis Mittag in der Gaststube geholfen, das weißt du. Danach musste ich lernen. Also habe ich mir Oropax in die Lauscher geschoben und probiert, ein paar Unregelmäßige in meinen Schädel reinzukriegen.«

Er wandte den Kopf zum Beifahrerfenster und sah stumm hinaus.

Nach einer kleinen Pause fragte ich: »Und, wie ist es gelaufen?«

»Was?«

»Die Schulaufgabe.«

Er drehte den Daumen nach unten. »Scheiße!«

»Warum?«

»Weil ich den blöden Text einfach zum Kotzen fand. Den ganzen Cäsar mit seinen Kriegsgeschichten finde ich zum Kotzen, dazu sein schlechtes Latein. Der Kerl hat den gefangenen Galliern die Hände abhacken lassen und sie dann heimgeschickt. Hast du das gewusst? Alle sollten wissen, was ihnen blüht, wenn sie sich mit dem großen Julius anlegen. – Fuck! – Der Typ war doch voll pervers, und wir müssen jetzt seine Lügenmärchen übersetzen.«

Ich wusste natürlich, dass Cäsar kein Philanthrop war. »Hast du wenigstens ein bisserl spicken können?«

»Nein, ich spicke nicht.«

»Warum?«

»Ich bin Punk. Und Punk sein heißt ehrlich sein.« Er war offensichtlich erkältet und zog jetzt den Rotz in der Nase hoch. »Ich lüge nie.«

Ich musste lachen. »Jetzt übertreibst du aber.«

»Gut, ich übertreibe.« Er verschränkte die Arme und sah durch die Windschutzscheibe die Landschaft auf uns zurasen. »Manchmal lüge ich ein bisschen, aber nur wenn’s nicht anders geht«, brummte er mit dunkler Jungmännerstimme.

Ich wechselte das Gesprächsthema: »Gefällt’s dir im Beusl?«

Bis zur Antwort vergingen einige Sekunden. »Ist cool.« Er überlegte und verbesserte sich dann. »Geht schon.«

»Hast du Freunde?«

Er hob den Kopf, scheinbar erstaunt über die Frage. »Natürlich habe ich ein paar Kumpels. Außerdem mag ich den Pater Zeno und den alten Ignaz. Zu denen kann ich immer gehen, wenn’s Ärger gibt.«

»Und – gibt’s Ärger?«

Er hob die Schultern und setzte ein unsicheres Lächeln auf. »Am Anfang hatte ich Stress mit Latein. Was ich in meiner alten Schule gelernt habe, hat im Beusl bloß für einen Sechser gereicht, mit Glück für einen Fünfer. Meine Mama war voll durch den Wind, weil ich vorher kein schlechter Schüler war. So würde ich im Beusl nicht alt, hat mir der Pater Aurelian prophezeit.«

Ich kannte den alten Lateinlehrer. Er war ein ganz harter Knochen.

»Der Zeno hat mir empfohlen, dem schrulligen Pater Ignaz im Rosengarten zu helfen. Ein ganzes Wochenende lang habe ich Rosen ausgeschnitten und Unkraut gejätet. Ich hatte riesige Wasserblasen an den Händen und aufgerissene Finger von den Dornen. Aber von da an hat mir der alte Ignaz jeden Tag eine Stunde Nachhilfe in Latein gegeben.«

»Und? Hat’s was gebracht?«

»Und wie!« Er richtete sich auf. »Fuck! Jetzt bin ich der Beste in der Klasse.«

Er holte eine Kassette aus der Hosentasche und hielt sie mir entgegen. »Darf ich?«

»Was ist da drauf.«

Er zog die linke Braue hoch. »Ramones.«

Ich nickte, und er schob die Kassette in die Musikanlage. Natürlich drehte er den Lautstärkenregler sofort auf Anschlag, und die ersten Gitarrenriffs trafen mich wie ein Faustschlag.

»Ich bin nicht taub!«, brüllte ich ihn an.

Er verdrehte die Augen zum Himmel und drehte eine Nuance leiser.

»Und ich will’s auch nicht werden!«, schrie ich.

Chico stellte widerwillig auf eine einigermaßen annehmbare Lautstärke, verschränkte die Arme und rutschte wieder tief in seinen Sitz.

»Was sagt der Pater Zeno eigentlich zu deinen Haaren?«

Er maß mich mit einem kurzen Seitenblick. »Haare interessieren den Zeno nicht. Verdammt cool, der Alte. Bloß die Sicherheitsnadeln darf ich im Beusl nicht tragen. Außerdem keine T-Shirts mit ›Fuck‹ drauf oder ›Shit‹. Sonst schmeißt er mich sofort raus. Das hat er mir gleich am Anfang gesagt.«

Chico streckte sich, um besser in die linke Hosentasche zu kommen. Schließlich kramte er eine kleine Blechdose heraus. Er öffnete sie und hielt kurz darauf zwei verbogene Sicherheitsnadeln in der Rechten. Nun klappte er die Sonnenblende herunter und fummelte sich im Schminkspiegel die beiden Nadeln in die Ohrläppchen.

»Hier darf ich doch, oder?«

Ich nickte.

»Gefällt’s dir beim Bräu?«, fragte ich.

»Ist cool«, erklärte er, ohne zu zögern. »Tante Zenzl schimpft zwar immer über meine zerrissenen Hosen. Meine Klamotten würde sie sofort in den Müll schmeißen, sagt sie. Aber sie stellt mir immer was Feines zu essen auf den Tisch, sobald ich auftauche. Den alten Bräu finde ich auch klasse. Der nimmt mich manchmal mit zur Jagd. Stundenlang sitzen wir dann stumm auf dem Jägerstand, und wenn er was schießt, muss ich das Stück aufbrechen und zum Auto tragen. Wegen seinem Rücken. Danach gibt er mir immer einen Zehner.«

»Und die anderen?«

»Die kleinen Zwillinge sind süß. Manchmal muss ich auf die beiden aufpassen, wenn Elli und Max abends weggehen. Dafür gibt’s auch Kohle, aber nicht viel. Die Elli ist nicht vom Stamme Gib.«

Das wusste jeder. Max’ Frau Elli hatte gleich nach der Hochzeit die Finanzen beim Bräu übernommen und achtete genau auf die Ausgaben. Chico brauchte nichts umsonst zu tun, doch reich wurde er bei der Elli sicher nicht.

Die Zenzl war seine größte Fürsprecherin. Chico half ihr in der Küche, beim Gemüseputzen und beim Abspülen. Dafür steckte sie ihm gelegentlich ein paar Mark zu.

Sicher trug er etwas dazu bei, dass Erica es sich leisten konnte, ihn in eine Privatschule zu schicken. Und wahrscheinlich zahlte Chicos Vater anständig Alimente. Erica arbeitete sechs Tage in der Woche und verdiente nicht schlecht. Aber sie führte auch ein aufwendiges Leben mit schicken Klamotten und einem fast neuen schwarzen VW-Cabrio. Viele Leute wunderten sich, dass sich eine alleinstehende Frau mit Kind das alles leisten konnte. Wenn man sie darauf ansprach, wurde Erica jedes Mal schmallippig und erklärte, ein jeder solle sich doch bitteschön um seinen eigenen Kram kümmern.

»Pater Zeno ist einer der coolsten Typen, die ich kenne«, kam Chico plötzlich auf seinen Präfekten zurück. »Fuck, der würde einen guten Punk abgeben.«

Ich musste lachen. »Der Zeno als Punk! Super Idee.«

»Jedenfalls ist er kein Spießer.« Chico zog eine Packung Marlboro aus der Hosentasche. »Darf ich?«

»Nein!«, entgegnete ich trocken.

Er steckte die Zigaretten wieder ein. »Spießer!«

»Ich bin kein Spießer«, verteidigte ich mich. »Aber der Max haut dir auf der Stelle eine runter, wenn er erfährt, dass du in seinem neuen Auto geraucht hast. Außerdem stört es mich, und beim Zeno darfst du auch nicht rauchen. Wenn der dich beim Paffen erwischt, sind die Fluppen weg, und du musst drei Parademärsche schreiben.«

»Aber er tut nicht so scheißliberal. Der Zeno hat mir gleich am ersten Tag erklärt, was ich zu tun und zu lassen habe. Wenn ich was anstelle, wird er mich bestrafen, hat er gesagt. – Aber meine Haare …«, jetzt schaute mich die Rotznase frech von der Seite her an … »meine Haare sind ihm scheißegal, und zwar wirklich scheißegal und nicht dieses blöde ›ich tu so als wären die Haare gar nicht grün scheißegal‹, wie du es machst.« Er wandte sich ab. »Fuck, ist das spießig!«

Jetzt ging er mir auf die Nerven, und ich hatte kein Verlangen mehr, mich weiter mit ihm zu unterhalten. Einige Kilometer fuhren wir ohne ein Wort.

Zwischen Geretsried und Wolfratshausen begann Chico: »Professor, bist du jetzt beleidigt?« Er kontrollierte den Sitz seiner Sicherheitsnadeln.

»Nein, wieso?«, gab ich zurück. »Ein pubertierendes Bürscherl wie du kann mich gar nicht beleidigen.«

»Aha«, entgegnete er und schloss die Augen, als wollte er schlafen.

Kurz vor dem Bräuwirt öffnete er sie wieder. »Der Schnitter ist übrigens der coolste von allen. Noch cooler als der Zeno und die Zenzl.«

5

Beim Bräu in der Küche erwartete uns die Zenzl mit jenem Vollmondlächeln, das sie gerne aufsetzte, sobald der grünhaarige Frechdachs auftauchte. Ich solle den Burschen gleich zum Hauptkommissar bringen, sagte sie. Doch zuvor steckte sie ihm noch zwei Rohrnudeln zu.

»Ganz blass ist er, mein kleiner Grünspecht«, jammerte sie, als er draußen war. »Kaum einen Tag in diesem elenden Beusl, und schon schaut der arme Kerl aus wie der Tod von Altötting.«

Ich ging hinüber in die Gaststube. Dort saßen nur wenige Gäste. Erica rollte Besteck in Papierservietten. Sie roch heute nach Sandelholz, was gut zu ihrer bronzefarbenen Haut passte. Anni war nach Hause gegangen.

»Der Chico ist gleich rüber zum Hauptkommissar«, sagte ich und goss mir eine kleine Cola ein.

Die Ablage an der Spüle war voller dreckiger Gläser, die ich waschen, trocknen und wieder wegräumen musste.

Erica lächelte nervös. Ich sah zu ihr hinüber und bemerkte zum tausendsten Mal ihren schön geschwungenen Hals, an dem zwei Adern wie dunkelblaue, dünne Schlangen entlangglitten. Es fiel mir richtiggehend schwer, die Augen wieder von ihr zu nehmen.

Seit die Sache mit Karin vor einem halben Jahr auseinandergegangen war, hatte ich keine Freundin mehr gehabt. Ein, zwei kleine Geschichten, bei denen ich aber bald merkte, dass es ein Irrtum war. Nichts Ernstes.

Mit Erica konnte es bei nüchterner Betrachtung auch nichts werden. Sie war etwa dreißig, also mindestens sieben Jahre älter als ich. Aber als Max mir vorschlug, in den Ferien beim Bräu zu arbeiten, hatte Erica den Ausschlag gegeben. Jeden Tag einige Stunden mit ihr zu verbringen, waren ein großes Pfund.

Ich war nie ein Frauentyp und auch nicht besonders geschickt in Liebesdingen. Vor allem brachte ich den Mund nicht auf, wenn es darauf ankam. Und was hatte ich einer Erica schon zu bieten? Einen alten Kadett und eine Karriere als Lateinlehrer nach dem Referendariat in zwei, drei Jahren.

Nach Erica aber drehten sich die Leute um. Sie war wunderschön und dabei kein bisschen eingebildet, als wüsste sie gar nicht um ihre Wirkung. Sie trug Jeans und enge, einfarbige Blusen, die ihre tolle Figur noch betonten. Das exotische Gesicht mit den breiten Wangenknochen, dem vollen Mund und den Mandelaugen brauchte kaum Schminke, um perfekt auszusehen.

Nach etwa zehn Minuten war Chico mit der Vernehmung fertig und kam in die Wirtsstube auf seine Mutter zugeschlurft. Er hob die mageren Beine mit den schweren Springerstiefeln keinen Millimeter höher als unbedingt notwendig.

Er küsste Erica auf die Wange, dann setzten sich die beiden an den Tisch, der am weitesten von der Theke entfernt stand. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten so leise, dass ich kein Wort verstand. Zuerst redete Chico und schlug dabei die Augen zu Boden. Dann begann seine Mutter, und er presste die Lippen aufeinander und nickte in regelmäßigen Abständen. Mit seiner linken Hand zupfte er immer wieder nervös an den Sicherheitsnadeln in seinen Ohren. Als ich in ihre Nähe kam, um ein Fenster zu schließen, verstummte Erica, sah zu mir her und sprach erst wieder weiter, als ich weg war.

Der Schnitter schaute von Zeit zu Zeit von seiner Zeitung auf und warf einen Blick auf die beiden. Er schien sehr ernst zu sein.

Die Tür ging auf, und herein kam der Huber mit einer Zigarette in der Hand.

»Komm, Kaspar, schenk mir eine Halbe ein. Seit gut zehn Minuten habe ich Feierabend.« Es war fast viertel nach fünf.

Er setzte sich an den Tisch direkt neben der Theke. Ich brachte ihm sein Bier und nahm ihm gegenüber Platz.

»Wie laufen die Ermittlungen?« Für mich hatte ich ein Pils mitgenommen und nippte daran.

»Nix Neues.« Der Hauptkommissar nahm einen tiefen Zug. »Der Eilmann ist nach dem Mittagessen irgendwann verschwunden. Draußen auf der Marktstraße war großes Remmidemmi, und in der Wirtsstube waren nur vier Personen: du, der Schnitter, die Bedienung Erica Flores und ein unbekannter Fremder, von dem wir gar nichts wissen. Der Kerl ist im Laufe des Nachmittags verschwunden und nicht wieder aufgetaucht.«

»Die anderen Übernachtungsgäste?«

Huber wehrte ab. »Ein verliebtes Pärchen und eine Familie mit drei Kindern. Vergiss es!«

»Und sonst?«

»Ein paar Leute aus der Nachbarschaft wollen einen Schuss gehört haben. Zwischen halb drei und drei. Aber keiner kann’s beschwören. Außerdem bringt uns das auch nicht weiter. Wir wissen, dass der Eilmann tot ist. Wir wissen, dass er erschossen wurde, und der Zeitpunkt dreiviertel drei könnte passen.« Er schnaufte. »Könnte.«

Die Tür zum Gastzimmer ging auf, und mich hätte bald der Schlag getroffen: Denn herein trat der fremde, dunkelhaarige Mann von gestern. Ich erkannte ihn sofort an dem Muttermal über der rechten Augenbraue.

Instinktiv beugte ich mich hinüber zum Hauptkommissar. »Das ist der Kerl«, flüsterte ich und spürte, wie mir heiß wurde.

»Was für ein Kerl?«, gab Huber in normaler Lautstärke zurück und sah unvermittelt hin zu dem jungen Mann, der direkt auf uns zukam.

»Der Fremde von gestern«, presste ich heraus.

Da stand der Bursche bereits an unserem Tisch.

Huber streckte seine Linke in dessen Richtung. »Darf ich vorstellen: Kommissar Lothar Schädle. Seit zwei Monaten im Dienst bei der Kripo Starnberg. Er war den ganzen Tag mit dem Pudel von der Starnberger Bürgermeisterin beschäftigt.«

Das war also der Unbekannte!

Schädle stellte sich für einen Moment kerzengerade vor den Tisch. Es fehlte nur noch, dass er die Hacken zusammenschlug wie ein Rekrut. Dann deutete er mit dem Kopf eine Verbeugung an, hielt mir die Hand entgegen und nuschelte: »Schädle. Lothar Schädle.«

Er sagte das so ähnlich wie Sean Connery, wenn er sich als »Bond, James Bond«, vorstellte.

Schädle hatte dunkelbraune, kurze Haare und eine sportliche Figur. Er war mittelgroß und keineswegs hässlich. Wahrscheinlich war er sogar ein Typ, der bei den Frauen gut ankam. Ich konnte ihn vom ersten Augenblick an nicht leiden.

»Herr Schädle ist mir zugeteilt worden, weil das Verbrechen in unserer schönen Gegend immer mehr zunimmt.« Huber bot dem Kollegen mit einer knappen Geste den Stuhl neben dem seinen als Platz an. »Herr Schädle hat sich in der Ausbildung zum Kriminalbeamten ganz besonders hervorgetan und durfte sich deshalb aussuchen, wo er sich die ersten Sporen als Kriminalbeamter verdienen möchte.«

»Und da habe ich mich natürlich für Starnberg und den Hauptkommissar Huber entschieden.« Die samtweiche, hohe Stimme des Kerls entlarvte ihn sofort als elenden Schleimer und bestätigte mein vorgefasstes Urteil. »Hauptkommissar Huber ist zu Lebzeiten schon eine Legende. Er hat die beste Aufklärungsrate in ganz Bayern.«

Er setzte sich neben Huber.

Huber winkte ab. »Hören Sie mir auf mit der Aufklärungsrate und solchem Unsinn. Ich mag solide Kriminalarbeit, auf Statistiken pfeife ich.«

Mir fiel auf, dass er seinen Assistenten beim Reden kaum ansah. Daraus schloss ich, dass auch er ihn nicht leiden konnte. Deshalb hatte er ihn vermutlich den ganzen Tag vom Tatort ferngehalten. Huber wollte hier in Ruhe ermitteln. Er war immer schon ein Einzelgänger gewesen.

»Sie waren gestern Nachmittag hier«, wandte ich mich an Kommissar Schädle, den ich für mich von nun an Spätzle nennen wollte.

»Ja.« Schädle schluckte. »Ich wohne in der Pension Flora. Gestern bin ich zum Mittagessen hierher zum Bräu. Die Küche ist mir empfohlen worden.« Er schluckte erneut. »Der Sauerbraten war übrigens exzellent. Meine Empfehlung an die Köchin!«

»Danke. Ich werd’ das Kompliment an die Küche weiter geben«, log ich.

Einen Dreck würde ich der Zenzl sagen! Die Meinung einer zufälligen Laufkundschaft interessierte sie nicht. Den Stammgästen musste es schmecken, natürlich auch den Stadträten und dem Bürgermeister, wenn sie hier eine Sitzung hatten und anschließend speisten. Dann stand sie mit hochrotem Kopf in der Küche und fragte die Bedienungen, wie es den Herrschaften geschmeckt hätte.

Vor einigen Jahren hatte Franz-Josef Strauß eine Wahlkampfveranstaltung beim Bräu abgehalten. Nach dem Essen war er höchstpersönlich in die Küche marschiert und hatte der Zenzl gratuliert zum besten Krustenbraten, den er in seinem Leben gegessen hätte.

Seitdem hing sein Foto mit einer kurzen Widmung über dem Herd, was die Zenzl aber nicht davon abhielt, weiterhin SPD zu wählen. Schließlich sei sie Arbeitnehmerin und da gehöre es sich nicht, etwas anderes ins Kalkül zu ziehen. Außerdem war ihr Vater Sozialist und hatte deswegen sogar einige Monate im KZ Dachau eingesessen.

»In der Pension Flora gibt’s schöne Zimmer mit Dusche und Klo«, sagte ich, damit der Kerl ja nicht auf den Gedanken käme, zum Bräu umzuziehen.

»Aber mir gefällt’s dort nicht.«

Ich versuchte, ihn wie einen Schwachsinnigen anzusehen. »Wir haben hier ein traditionelles bayerisches Wirtshaus. Es ist laut am Abend, und pro Etage gibt’s bloß ein Klo und eine Dusche.«

Ich sagte ihm nichts davon, dass dieser Mangel an Komfort auch seine guten Seiten hätte: Mit etwas Glück traf man morgens die Gräfin, wenn sie aus der Dusche kam. Natürlich hatte sie einen Bademantel an, aber die schönen Waden mit den schlanken Fesseln und das makellose Dekolletee allein waren es allemal wert, eine Weile vor der Badtür zu warten, bis sie endlich fertig war.

»Das macht nichts . In der Pension Flora ist es so unpersönlich. Jeder Gast hockt auf seinem Zimmer und glotzt in die Röhre.«

»Da gibt es Fernsehen?«, tat ich überrascht. »Super!«