Die Gezeichneten - Georg Unterholzner - E-Book

Die Gezeichneten E-Book

Georg Unterholzner

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Beschreibung

Einer weinenden Frau kann Kaspar nichts abschlagen - schon gar nicht, wenn sie im Rollstuhl sitzt. Also fährt er nach dem Anruf seiner Studienkollegin Elli mitten in der Nacht los und findet den erschlagenen Zivi im Zimmer. Die Polizei vermutet den Täter im kriminellen Umfeld des Opfers, ohne eine heiße Spur zu haben. Als Elli einen Erpresserbrief erhält, sucht Kaspar Rat bei seinem Freund Max, Krimispezialist und Benediktinermönch auf Probe. Sie geraten in ein Netz aus Intrigen und Lügen, denn auch Elli scheint mehr zu wissen als sie zugibt. Für den vierten Roman von Georg Unterholzner bietet das Schwabing der Siebziger Jahre den idealen Rahmen. Max und Kaspar decken dunkle Machenschaften auf - mit fatalen Folgen.

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Für Walter Kuhn,

der nur im Kopf tanzen konnte

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten der Romanfiguren mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt, ebenso wenig eine Beschreibung der Verhältnisse in tatsächlich existierenden Institutionen, Organisationen oder Vereinigungen.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012

© 2012 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Lektorat und Satz: Bernhard Edlmann Verlagsdienstleistungen, Raubling

Titelfoto: © Munic, www.istockphoto.com

Autorenfoto auf der Buchrückseite: Patrick la Banca

Datenkonvertierung: TypeShop, Rosenheim

E-Book ISBN 978-3-475-54172-8 (epub)

1

Denn die Tage sind vergangen wie im Rauch,

und meine Beine sind verdörrt wie im Feuer.

Mein Herz ist geschlagen und spröde wie Gras,

dass ich sogar vergesse, mein Brot zu essen.

(Psalm 102)

Montag

»Du musst kommen«, hörte ich Elli sagen. »Sofort!«

Ich stand auf dem Gang des Studentenheims, hielt den Telefonhörer in der Hand und hatte überhaupt keine Lust, an diesem kalten, verregneten Herbstabend das Haus zu verlassen.

Außerdem kannte ich Elli kaum. Wir saßen in den Seminaren gelegentlich nebeneinander und hatten zwei, drei Mal einen Kaffee zusammen getrunken. Woher wusste sie überhaupt meine Telefonnummer?

»Nein«, entgegnete ich und versuchte, hart zu klingen.

»Bitte«, flüsterte sie nach einer kleinen Pause. »Bitte, Kaspar, komm vorbei. Es ist etwas Schreckliches passiert.«

»Was denn?«

»Das kann ich dir am Telefon nicht erzählen.«

Ich atmete tief ein und wieder aus. Es war mir immer schon schwergefallen, einer Frau einen Wunsch abzuschlagen. Elli saß noch dazu im Rollstuhl. Doch das Wetter war scheußlich, der kalte Novemberregen schlug gegen die Fensterscheiben, und es war schon nach zehn.

Da fing sie an zu weinen. Aber sie heulte nicht einfach los wie ein Schlosshund. Sie schniefte vielmehr und sagte kein Wort. Ich hörte sie stoßweise atmen und das Wasser in der Nase hochziehen. Aber sie legte nicht auf.

Gibt es etwas Schlimmeres für einen Mann als das Weinen einer Frau? Ich jedenfalls kann es nicht ertragen und habe in meinem Leben schon weiß Gott was unternommen, damit die jeweilige Dame damit wieder aufhörte. So auch diesmal.

»Okay, Elli, ich komme. Wo wohnst du?«

Sie nannte mir eine Adresse in der Kaulbachstraße, bat mich noch einmal, so schnell wie möglich da zu sein, und legte auf.

Ich nahm meine Motorradjacke, lief nach unten und fuhr los. Der Regen schlug mir ins Gesicht, und ich ärgerte mich vom ersten Meter an, dass ich nachgegeben hatte. Außerdem hatte ich keinen Helm aufgesetzt. Hauptsache, ich hatte meine Papiere dabei; Leute in meinem Alter wurden zurzeit ständig kontrolliert, denn in diesem Herbst ging die Angst vor der RAF und ihren Sympathisanten um wie noch nie zuvor.

Es war nur ein Kilometer bis zur Kaulbachstraße, und spätestens in einer Dreiviertelstunde, also um elf, musste ich wieder zurück sein. Dann wurden im Wohnheim die Pforten geschlossen, und ich kannte noch kein Schlupfloch, durch das man nachts ungesehen hineinkam.

Bald erreichte ich die richtige Adresse und wunderte mich über den aufwendig sanierten Altbau, an dessen Eingang eine Rampe angebracht war.

Ich überlegte, wie Elli es sich leisten konnte, hier zu wohnen. In den restaurierten Schwabinger Bürgerhäusern waren Zahnarztpraxen und Anwaltskanzleien untergebracht, keine Buden für schwerbehinderte Studentinnen der Klassischen Philologie.

Ich klingelte bei Guthor und hörte kurz darauf Geräusche in der beleuchteten linken Parterrewohnung. Dann summte der Türöffner, und ich drückte die schwere Pforte auf.

Im Hausgang mit der hohen Stuckdecke brannte Licht. Elli saß in ihrem Rollstuhl in der geöffneten Tür. Blass und mit dunklen Augenschatten sah sie mir entgegen. Sie war wie immer schwarz gekleidet, die dunklen Locken waren durcheinander, und nur der knallrote Lippenstift brachte etwas Farbe in ihr mageres Gesicht.

»Was ist passiert?«, fragte ich und schloss die Haustür hinter mir.

Elli rollte wortlos in die Wohnung, und ich folgte ihr. Die erste Tür links führte in die Küche, wo sie in ihrem Rollstuhl an der Stirnseite des Tisches saß und sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette drehte. Die zündete sie wortlos an, nahm einen tiefen Zug und starrte in den überquellenden Aschenbecher.

Sie hatte schöne Hände mit langen, kräftigen Fingern. Das war mir noch nie aufgefallen. An ihren Schläfen und am Unterkiefer auf Höhe der Mundwinkel verliefen dünne blaue Venen direkt unter der Haut.

»Warum hast du mich angerufen?«, fragte ich und gähnte.

Sie deutete mit den beiden Fingern, zwischen denen die Zigarette steckte, auf den Gang. Schräg gegenüber der Küche stand eine Zimmertür halb offen. Aus dem Türspalt drang Licht.

»Und was ist da?« Ich hatte keine Lust zu raten.

»Der Horst«, antwortete sie mit belegter Stimme.

»Und?«

Ich kannte Horst, ihren Zivi. Er kam mit ihr jeden Tag an die Uni. Während der Vorlesungen verschwand er und tauchte wieder auf, wenn Elli in einen anderen Hörsaal, in die Mensa oder nach Hause gebracht werden wollte. Er hatte lange blonde Haare und trug meist einen alten Parka. Obwohl er nichts für sein Äußeres tat, war er ein sehr hübscher Kerl. Die Mädchen im Kurs tuschelten, Horst sehe aus wie David Bowie, bloß besser und mit schöneren Zähnen.

Doch Horst machte sich nichts aus dem Interesse, das die Damenwelt ihm entgegenbrachte. Er bewegte sich langsam und tat zögerlich, was Elli ihm auftrug. Wenn sie sich über seine Trägheit beschwerte, grinste er, als könne er sich dadurch ihre schlechte Stimmung vom Leib halten, und befolgte unaufgeregt ihre Befehle.

»Der Horst liegt da drüben«, wiederholte sie so leise, dass ich sie kaum verstand. »Er rührt sich nicht, und sein Kopf ist voll Blut. Ich glaube, er ist …«

Sie stockte, und ich merkte, wie mir eine eisige Hand in die Magengrube fuhr.

»Ich glaube, er ist tot«, vervollständigte Elli den Satz, drückte die Zigarette in den Aschenbecher und sah mich mit gelben Katzenaugen an. Ihr Gesicht war spitz geworden. Sie kam mir vor wie ein halb verhungertes, scheues Herbstkätzchen, das man in die Enge getrieben hatte, um es zu fangen.

»Und warum rufst du nicht die Polizei an?«, brachte ich gerade noch heraus. Mein Mund war strohtrocken.

Sie blickte auf den Boden vor meinen Füßen. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Da bist du mir eingefallen.«

»Warum ich?«

»Ich habe nicht viele Freunde. Und die wenigen sitzen im Rollstuhl.«

»Wie kommst du darauf, dass wir Freunde sind?«

»Ich hatte immer den Eindruck, dass du mich magst.« Sie schaute kurz auf. Jetzt tat sie mir leid.

»Jedenfalls müssen wir die Polizei holen«, meinte ich.

»Willst du nicht nachsehen, ob er wirklich …?«

»Nein!«, sagte ich und schüttelte energisch den Kopf. »Ich kann kein Blut sehen.«

»Vielleicht habe ich mich getäuscht«, flüsterte sie und zündete sich eine weitere Zigarette an.

»Das wird die Polizei feststellen. Ich geh jedenfalls nicht in das Zimmer. Mir graust es vor Toten.« Ich erhob mich und schaute an den Türstock gelehnt in den Gang. »Hast du ein Telefon?«

»Nein.«

»Und wo kann ich anrufen?«

»Fünfzig Meter vom Haus ist eine Telefonzelle.«

Ich kontrollierte meine Hosentaschen. Mist! Ich hatte kein Geld eingesteckt.

»Der Notruf ist frei«, sagte Elli.

Ich verließ die Wohnung und lief zur Telefonzelle. Dort schilderte ich der Dame in der Notrufzentrale in knappen Sätzen die Situation. Sie versprach mir, eine Streife vorbeizuschicken. In wenigen Minuten sollte sie da sein.

Auf dem Rückweg beschloss ich, mich gleich nach Eintreffen der Beamten zu verdrücken. In einer knappen halben Stunde würde das Studentenheim geschlossen.

Als ich zurückkam, saß Elli immer noch am Küchentisch. Immer noch starrte sie in den vollen Aschenbecher. Die Polizei würde bald eintreffen, sagte ich. Ich verschwieg aber, dass ich dann gleich verschwinden wollte.

»Horst war ein seltsamer Typ«, begann sie mit monotoner Stimme. »Nach drei Monaten wusste ich nicht viel mehr über ihn als nach drei Stunden.«

»Wie meinst du das?«

»Wir waren monatelang fast jeden Tag zusammen, und doch war er immer sehr weit weg von mir.« Elli hob die Augenlider. »Sogar wenn er mich aus dem beschissenen Rollstuhl hob oder mich wieder hineinsetzte.«

Ihre Augen hatten etwas, das mich auf der Hut sein ließ.

Ich überlegte. »Sind uns nicht die meisten Menschen fremd? Sogar Leute, mit denen wir jeden Tag zu tun haben.« Als ich den Satz beendet hatte, ärgerte ich mich, eine derart hohle Phrase gedroschen zu haben.

Doch Elli nickte und sagte kein Wort mehr.

So hatte ich Zeit, über sie nachzudenken: Wir mochten uns irgendwie, und in den Pausen zwischen den Vorlesungen hatten wir uns öfters unterhalten. Es ging ihr auf die Nerven, in einem Zeitalter der Überarbeitung und Unterbildung zu leben. Ihrer Meinung nach waren die meisten Akademiker so fleißig, dass sie über ihren Büchern verblödeten. Und mit dieser Ansicht hielt sie nicht hinterm Berg. Ihr beißender Sarkasmus und dass sie den anderen Studenten, aber auch den Professoren gegenüber kein Blatt vor den Mund nahm, beeindruckte mich. Sie erinnerte mich an Max Stockmeier, meinen Freund aus dem Internat in Heiligenbeuern.

Die meisten Dozenten konnten sie nicht leiden. Elli war vorlaut und kritisierte alles, was ihr nicht passte. Aber in den Übersetzungskursen war sie die Beste. Mit Abstand. Sie hatte einen scharfen Verstand und ein hervorragendes Gedächtnis. Je schwieriger ein Text war, desto mehr Spaß schien sie daran zu haben.

Nach einer kleinen, stummen Ewigkeit hörte ich die Sirene eines Streifenwagens näher kommen. Autotüren wurden zugeschlagen. Es klingelte. Kurz darauf standen zwei Polizisten in der Wohnung.

»Sie haben angerufen?«, fragte der Größere der beiden. »Wo ist die Leiche?«

Ich deutete zu Horsts Zimmer, in dem immer noch Licht brannte. Die beiden betraten vorsichtig den Raum. Von der Küche aus hörte ich nun die Geräusche von Männern in Straßenschuhen, die sich langsam, mit Bedacht bewegten.

»Da liegt jemand«, sagte der eine tonlos.

»Der ist tot«, ergänzte der andere. »Erschlagen.«

Wenige Augenblicke später kam der Größere wieder auf den Gang. Er meinte, ich solle in der Küche bleiben. »Ich werde die Dienststelle anfunken, damit die Mordkommission verständigt wird.«

Der Mann verschwand, und bald darauf erschien der kleinere Polizist mit blassem Gesicht in der Küchentür. Er setzte sich an den Tisch und nahm unsere Personalien auf.

Als ich fragte, ob ich jetzt gehen könne, da mein Studentenheim in wenigen Minuten seine Pforten schließe und ich nicht wisse, wo ich sonst schlafen sollte, sah er mich fassungslos an.

»Da drüben liegt ein Mann, dem der Schädel eingeschlagen wurde«, meinte er kopfschüttelnd. »Und Sie machen sich Sorgen, wo Sie heute Nacht schlafen.«

»Du kannst hier bleiben, wenn du willst.« Elli nahm ihren rechten Oberschenkel mit beiden Händen und legte ihn über den linken. »Platz ist genug. – Außerdem wäre ich dann nicht allein.«

Das Letzte sagte sie etwas leiser, es fiel ihr nicht leicht.

»Sie werden beide heute noch vernommen. Bis dahin dürfen Sie die Wohnung nicht verlassen«, fügte der Polizist hinzu.

»So ein Mist!«, murmelte ich und dachte an Max, der in den vergangenen Jahren Mordfälle angezogen hatte wie ein Misthaufen Fliegen. Jetzt war ich auch ohne Max in Scherereien geraten, als hätte er mich mit seinem außergewöhnlichen Talent angesteckt. Max hatte immer einen Mordsspaß daran gehabt, auf ein Verbrechen zu stoßen. Mir dagegen grauste es vor Blut und jeder Form von Gewalt. Es interessierte mich wenig, wer wem etwas angetan hatte. Hauptsache, ich hatte mit der Angelegenheit nichts zu schaffen.

Jetzt saß ich hier in der verrauchten Küche, und mein eben erst begonnenes Studentenleben hatte eine unerfreuliche Wendung genommen.

Keine zehn Minuten später wimmelte es in der Wohnung von Beamten in Uniform und Zivil. Zuletzt kam ein dunkelhaariger Mann, der von den anderen mit Hauptkommissar Hastreiter angeredet und mit großem Respekt behandelt wurde.

Er sah sich den Tatort ausführlich an. Anschließend kam er in die Küche, stellte sich vor und richtete ohne Umschweife seine erste Frage an Elli: »Sie sind Frau Guthor, wie auf dem Türschild steht?«

Elli nickte.

»Vorname?«

»Lisbeth.«

»Und wer ist der Tote?«

»Horst Lang, mein Pfleger.« Sie wandte den Kopf ab. »Jeder sagt Zivi, aber Horst war mein Pfleger. Er wurde für seine Arbeit ordentlich bezahlt.«

»Ich verstehe.« Der Polizist machte eine kleine Pause, während er mit einem kurzen Bleistift seine Aufzeichnungen in einen kleinen braunen Block notierte. »Wann haben Sie ihn gefunden?«

»Kurz bevor ich den Kaspar anrief.« Sie machte mit dem Kopf eine Geste in meine Richtung. »Also kurz vor zehn.«

»Was ist passiert?« Hastreiter schrieb die ganze Zeit, sogar während er Fragen stellte. Das machte mich nervös, da er weder Elli noch mich anschaute, wenn er mit uns sprach.

Ich hätte ihn gerne gebeten, den Block wegzulegen, traute mich aber nicht.

»Keine Ahnung.« Elli drückte ihre halb gerauchte Zigarette aus und warf den Kopf nach hinten. »Zwischen halb neun und halb zehn höre ich oft Musik im Wohnzimmer. Das heißt: Ich stülpe mir den Kopfhörer über die Ohren und drehe die Anlage auf.« Sie sah den Kommissar an, als würde sie ihm nun weiß Gott was für eine Intimität verraten. »Und wenn ich Glück habe, vergesse ich diese beschissene Welt wenigstens für eine Stunde.«

»War Herr Lang zu dem Zeitpunkt, als Sie die Kopfhörer aufsetzten, zu Hause?«, unterbrach sie Hastreiter.

»Ja.«

»War er allein?«

»Ja.«

»Erwartete er Besuch?«

»Keine Ahnung.«

»Bekam er oft Besuch?«

»Ja.«

»Von wem?«

Elli überlegte einen Augenblick. »Von seiner Schwester, seiner Mutter, von der Polizei und von allen möglichen seltsamen Typen, mit denen ich beim besten Willen nichts zu tun haben wollte und wegen denen Ihre Kollegen schon öfters da waren.«

»Warum ist die Polizei gekommen?«, fragte Hastreiter.

»Ich sage es Ihnen gleich, denn Sie werden es ohnehin erfahren: Ihre Kollegen behaupteten, Horst würde mit Rauschgift handeln.« Elli hob ihre Katzenaugen und musterte den Kommissar interessiert, als überlege sie, was für eine Art Bulle er wohl sei.

»Und – hat er gedealt?« Hastreiter sah zum ersten Mal von seinem Schreibblock auf. Er hatte wenig Mühe, ihrem Blick standzuhalten.

»Keine Ahnung.« Elli drehte sich schon wieder eine Zigarette. »Ihre Kollegen hatten einen Verdacht, und im letzten Monat haben sie die Wohnung zweimal durchsucht.«

»Und?«

Elli hob die Arme und drehte die leeren Handflächen nach außen. »Sie haben nichts gefunden.«

Hastreiter zögerte einen Augenblick, diese Spur schien ihm nicht ergiebig. Also kam er zu den Geschehnissen des Abends zurück. »Um halb neun hat Herr Lang also noch gelebt?«

Elli nickte.

»Haben Sie einen Verdacht, wer ihn erschlagen haben könnte?«

»Nein«, antwortete Elli knapp.

Nun wandte sich der Polizist mir zu. »Und Sie sind Herr –«

»Spindler. Kaspar Spindler«, antwortete ich.

»Was machen Sie hier?« Er sah mich an, als würde er überlegen, ob er mir den Mord zutrauen könnte. Denn um Mord handelte es sich offensichtlich, sonst hätte man nicht ein solches Aufgebot hergeschickt.

»Elli hat mich angerufen und gesagt, dass etwas Schlimmes passiert ist. Also bin ich gekommen.« Ich merkte, wie mein Hals rau wurde.

Ich ärgerte mich darüber. Schließlich hatte ich nichts angestellt.

»Aha«, machte der Kommissar. »Und jetzt sitzen Sie in aller Ruhe hier in der Küche, während eine Wand weiter ein Toter liegt?«

»Kann ich denn was dafür? Ich hab ihn schließlich nicht umgebracht«, stieß ich hervor. »Ich will mit der ganzen Sache nix zu tun haben.«

»Der Mensch denkt, Gott lenkt«, murmelte Hastreiter. Die müden Augen des Polizisten streiften scheinbar ziellos durch den Raum. »Wir können uns oft nicht aussuchen, wo wir hingeraten.«

Sein flüchtiger Blick traf mich, und augenblicklich hatte ich ein stechendes Gefühl im Bauch, als würde sich ein altes Magengeschwür wieder melden.

»Sie sind also von Frau Guthor angerufen worden und dann gleich hergekommen?«, fragte er.

Ich nickte.

»Frau Guthor hat aber kein Telefon.« Hastreiter schaute mir jetzt direkt ins Gesicht. »Und sie sitzt im Rollstuhl. Wie konnte sie unter diesen Umständen bei Ihnen anrufen?«

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht und hob hilflos die Achseln. Ich hatte keine Ahnung, von welchem Apparat aus Elli mit mir telefoniert hatte.

»Mein Vater hat seine Anwaltskanzlei gleich gegenüber«, erklärte sie.

Hastreiters Blick schweifte wieder zu Elli. »Sie haben also das dortige Telefon benutzt?«

Elli nickte.

Ich überlegte, worauf der Polizist hinauswollte.

»Sind Sie eng mit Frau Guthor befreundet?«, fragte der Kommissar, nun wieder in meine Richtung gewandt.

»Eigentlich nicht.«

»Warum ruft sie dann ausgerechnet bei Ihnen an?«

»Was weiß ich? Vielleicht, weil ihre anderen Freunde im Rollstuhl sitzen. Die können ihr in einer solchen Situation nicht gut helfen.«

»Und Ihre Eltern? Warum haben Sie Ihren Eltern nicht Bescheid gegeben?« Hastreiter hatte sich vorgebeugt und musterte Elli auf eine direkte und unangenehme Art. »Oder wohnen die nicht in München?«

Elli brauchte einige Augenblicke, bis sie die richtige Antwort fand. So hatte ich Zeit, den ungewöhnlichen Kopf des Polizisten zu studieren. Er hatte einen lang gezogenen Schädel mit einer extrem hohen Stirn, als wäre er bei seiner Geburt nicht bloß mit einer Geburtszange herausgezogen, sondern anschließend noch ein halbe Stunde daran aufgehängt worden. Die dunklen Haare waren kurz und der Schnauzbart sorgfältig ausgeschnitten. Der Kerl war hässlich, doch seine Kleidung geschmackvoll und teuer. Eine üble Mischung! Mit solchen Typen hatte ich bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht.

»Meine Eltern leben in Grünwald und hätten in einer halben Stunde hier sein können. Aber ich wollte nicht, dass sie kommen. Ich habe kein besonders gutes Verhältnis zu ihnen.« Elli sprach sehr leise. Offensichtlich fühlte auch sie sich unwohl in der Gegenwart des Polizisten.

»Wieso haben Sie dann einen Schlüssel zum Büro Ihres Vaters?«, fragte Hastreiter, klappte seinen Notizblock zu und erhob sich, ohne Ellis Antwort abzuwarten.

Er ging zu den Beamten in Horsts Zimmer.

Elli saß eine Weile still da. Dann erklärte sie, sie müsse jetzt pinkeln und ich solle ihr dabei zur Hand gehen.

Damit hatte ich nicht gerechnet und spürte einen Knödel im Hals. Einerseits konnte ich schlecht nein sagen, denn wer hätte ihr sonst helfen sollen. Andererseits hatte ich keine Ahnung, was zu tun war. Es wäre mir lieber gewesen, ein Profi hätte diesen Job übernommen.

Elli kümmerte sich nicht um meine Befindlichkeiten und fuhr durch den Gang zur Toilette, die sich rechts neben der Eingangstür befand. Ich tappte hinter ihr her.

»Sie können da jetzt nicht rein«, sagte ein älterer Herr in einem weißen Laborkittel mit durchsichtigen Gummihandschuhen. »Die Spurensicherung ist noch nicht fertig.«

»Verdammte Scheiße!«, keifte Elli. »Soll ich etwa in meiner eigenen Wohnung in den Gang pissen?«

Der Beamte schrak zusammen und starrte sie ungläubig an. Dann überlegte er einen Augenblick und machte schließlich den Weg frei.

Ich betrat hinter Elli den großen Raum, der Bad und Toilette in einem war. Das Waschbecken hing sehr niedrig, und neben der Kloschüssel gab es zwei massive Metallstangen.

»Hebst du mich bitte aus dem Rollstuhl«, bat sie mit kühlem Blick.

Ich stellte mich mit krummem Rücken vor sie hin und hielt ihr beide Arme entgegen.

»Ich will nicht mit dir knutschen, sondern aufs Klo!«, zischte sie.

Dann verdrehte sie die Augen zur Decke, als wären ihr heute ausschließlich Idioten über den Weg gelaufen.

Nach etwa zehn Minuten war die Angelegenheit erledigt. Elli hatte mir erklärt, was ich tun sollte. Und ich hätte mich gar nicht so blöd angestellt, wie sie abschließend meinte.

»Sie haben eine sehr großzügige Wohnung«, bemerkte Hastreiter, der uns am Küchentisch sitzend erwartete.

»Ist das verboten?« Elli blitzte den Polizisten mit gelben Augen an.

»Nein, aber …« Hastreiter hielt den Kopf etwas schief und wartete auf eine Erklärung.

»Sie wollen wissen, woher das Geld für eine solche Wohnung kommt, stimmt’s?« Elli ließ ihn nicht aus dem Blick. »Die Bude gehört mir.« Sie nahm ihren rechten Oberschenkel und warf ihn über den linken. »Mein Vater gehört nicht zu den Dorfarmen, und ich habe die Wohnung letztes Jahr aus steuerlichen Gründen überschrieben bekommen. – Ganz legal.«

Eine gute Stunde später waren die Polizisten fertig und verließen einer nach dem anderen den Tatort. Mitarbeiter der Pathologie hatten die Leiche abgeholt. Als Letzter ging der Kommissar, der sich kühl verabschiedete und ankündigte, er würde wiederkommen, sobald weitere Fragen auftauchten. Also wahrscheinlich schon bald.

Ich hatte inzwischen eine Flasche Rotwein geöffnet, einen guten Gallo Nero. Diese Nacht würde ich bei Elli in der Wohnung zubringen. Das Studentenheim war eh schon geschlossen.

»Du musst bei mir bleiben. Wenigstens die nächsten Tage. Ich kann alleine kaum aufs Klo gehen, wie du gesehen hast.« Sie musterte mich ernst.

»Das geht nicht«, entgegnete ich. »Ich habe keine Ahnung von diesen Dingen. Außerdem muss ich lernen.«

»Es ist ja bloß übergangsweise.« Elli trank ihr Glas leer und versuchte ein scheues Lächeln. »Vielleicht finde ich bald jemand anderen, dann bist du wieder entlassen. Möglicherweise gefällt es dir auch bei mir. Ich habe genug Haushaltsgeld. Du kannst dich hier jeden Tag umsonst satt essen. Wir haben dieselben Kurse an der Uni, außerdem kann ich dir ein Gehalt für deine Dienste zahlen. Dann brauchst du in den Semesterferien nicht zu arbeiten oder unterbelichteten Gymnasiasten Nachhilfe in Latein zu geben.«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bleibe nur heut Nacht. Ab morgen musst du dich nach jemand anderem umschauen.«

Elli teilte den Rest der Flasche zwischen uns auf, dann sah sie mich mit bernsteinfarbenen Augen an. »Du hast doch eine Freundin, oder? Karin Kobek, glaube ich, heißt sie.«

Ich hob den Kopf. »Ja, warum?«

Sie hatte wirklich ein gutes Gedächtnis. Ich hatte Karin nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar vor Wochen.

»Die Hausregeln im Studentenheim sind in Sachen Damenbesuch etwas reaktionär, habe ich gehört.« Sie trank einen ausgiebigen Schluck und wandte mir ihren Blick zu. »Hier hast du immer eine sturmfreie Bude.«

Ich überlegte ein wenig. »Ich könnte also das Zimmer von Horst haben?« Ein ungestörtes Liebesleben mit Karin war eine echte Versuchung.

»Genau«, meinte Elli, nahm ihr Glas und trank es auf einen Zug leer. Sie wusste jetzt schon, dass sie gewonnen hatte.

Anschließend half ich Elli bei der Abendtoilette und brachte sie ins Bett. Einige Dinge hätte sie auch alleine geschafft. Doch anscheinend tat es ihr gut, wenn jemand da war.

Als sie endlich im Bett lag, wünschte ich ihr eine gute Nacht und wollte das Zimmer verlassen.

Ich hatte den Türknauf schon in der Hand, da fragte sie plötzlich: »Kannst du dir vorstellen, warum ich ausgerechnet dich angerufen habe?«

Ich stutzte und wandte mich um.

»Du bist anders als die Streberseelen in unserem Kurs«, sagte sie leise. »Du stinkst nicht gleich nach Angstschweiß, wenn die Übersetzung mal kompliziert wird. Du magst zwar die langen, komplizierten Schachtelsätze nicht, die ich so liebe. Du gehst den Problemen gerne aus dem Weg. Dir sind die einfachen Passagen lieber, das habe ich schon gemerkt.« Ein kleines, kraftloses Lächeln erschien in ihrem mageren Gesicht. »Aber du scheißt dir auch nicht gleich in die Hosen, wenn es mal schwierig wird. Du bleibst ruhig. Ich hatte noch nie den Eindruck, dass du nervös wirst.«

Ich überlegte, warum sie mir das erzählte.

»Horst war auch sehr ruhig«, schloss sie. »Das hat mir gutgetan. Horst hat mir sehr gutgetan.« Sie legte den Kopf aufs Kissen und drehte sich um. »Gute Nacht.«

Sie rollte sich im Bett zusammen wie ein kleines Kind. Ich ließ die Tür einen Spalt offen, damit sie sich nicht so alleine fühlte.

Nun ging ich ins Wohnzimmer, wo ich mir auf dem Sofa ein Bett zurechtmachte. Warum hatte sie gesagt, ich sei wie Horst? Das passte mir nicht. Ich wollte nicht mit ihm verglichen werden. Er hatte mir nie etwas getan, doch er war mir nicht gerade sympathisch gewesen mit seinem zögerlichen Gehabe. Möglicherweise war ich aber auch bloß neidisch auf die Blicke, die die Mädchen ihm zugeworfen hatten.

An Schlaf war noch nicht zu denken nach all der Aufregung, also sah ich mich im Wohnzimmer um. Es war geräumig und mit neuen, hellen Möbeln eingerichtet. In der Mitte einer Einbauwand aus Fichtenholz stand eine Stereoanlage, wie sie nicht einmal Max besaß. Ein Uher-Tonbandgerät, ein Dual-Plattenspieler, auf dem eine Scheibe von Patty Smith lag; dazu ein erstklassiger Verstärker und riesige Boxen. Über eine Beethovenbüste war ein überdimensionaler Kopfhörer gestülpt. Eine solche Ausstattung hatte ich noch nie gesehen.

Ich trat näher und bestaunte das Ensemble, für das ich mindestens ein halbes Jahr im Sägewerk hätte arbeiten müssen. Mindestens!

Dann fiel mein Blick auf die Plattensammlung, die eine Breite von knapp einem Meter einnahm. Platten sagen meiner Meinung nach mehr über einen Menschen aus als ein handgeschriebener Lebenslauf. Also schaute ich nach, was die Elli für eine war.

Geschmack hatte sie: Beatles, Simon and Garfunkel und die Doors. Weiter rechts standen die neuesten Scheiben von Led Zeppelin, Pink Floyd und vielen anderen Bands, die gerade angesagt waren. Sogar drei Platten von Gentle Giant fand ich. Mit deren Musik konnte niemand aus meinem Bekanntenkreis etwas anfangen. Max hatte einmal gesagt, der Sänger jaule wie ein Hund, den man kastriert hat und der – aus der Narkose aufgewacht – gerade seinen Verlust bemerkt.

Wie sehr mir Max in diesem Augenblick fehlte. Er hätte sicher schon eine Ahnung, was hier abgelaufen war. Und er hätte sicher auch eine Idee, wie ich mich am schlauesten verhalten sollte.

Aber er war in Heiligenbeuern, und es sah nicht danach aus, als würde er das Kloster wieder verlassen. Immer wenn ich ihn danach fragte, sagte er, dass die Entscheidung, in den Orden einzutreten, die beste seines Lebens gewesen sei. Dabei hatte sich niemand vorstellen können, dass dieser Weiberheld eines Tages eine Kutte anziehen würde.

Nun schaute ich mir die Bücherwand genauer an. Links beim höhenverstellbaren Schreibtisch standen die Bände, die Elli für die Uni brauchte. Sie hatte alles, was uns die Professoren als Lektüre empfohlen hatten. Verschiedene Ausgaben von Cicero, Seneca und anderen Größen der römischen Literatur. Dazu die Kommentare, alles sorgfältig geordnet. Diese Sammlung kostete ein Vermögen. Ich musste mir die Bücher in der Bibliothek ausleihen, sie waren meist abgegriffen, vollgekritzelt, und oft fehlten sogar Seiten. Ellis Bücher dagegen waren neu.

Rechts neben der Fachliteratur sah ich eine endlose Reihe von Krimis. Hunderte.

2

Warum denn starb ich nicht vom Mutterleibe weg,

kam aus dem Schoß hervor und schied dahin?

So läge ich nun still und könnte rasten,

ich schliefe, alsdann hätt ich Ruhe.

(Hiob)

Dienstag

Es klingelte schon das dritte Mal, bis ich mich endlich entschloss, die Augen zu öffnen.

Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass ich mich in Ellis Wohnung befand. Dann klingelte es erneut.

Rasch schlüpfte ich in meine Jeans, die auf dem Boden vor dem Sofa lagen, verließ das Wohnzimmer und tappte über den Gang zur Wohnungstür. Ich öffnete mit nacktem Oberkörper, und vor mir stand ein großer Mann mit grau meliertem Haar – Typ Generaldirektor. Er trug einen dunklen Anzug, darüber einen teuren Trenchcoat, wie ich ihn aus Filmen mit Humphrey Bogart kannte. Obwohl er schon eine Weile vor der Tür hatte warten müssen, zeigte er kein ärgerliches Gesicht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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