Die Dunkeldorn-Chroniken - Ranken aus Asche - Katharina Seck - E-Book
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Die Dunkeldorn-Chroniken - Ranken aus Asche E-Book

Katharina Seck

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Beschreibung

Sie kennt die Wahrheit über die Dunkeldornmagie – doch wird Heldin Opal dem Dornenprinz widerstehen? Band 2 der Dunkeldorn-Chroniken!

Opal ist auf der Flucht: Nachdem sie die Wahrheit darüber herausgefunden hat, dass sie nicht die einzige Überlebende des Plantagenunglücks ist, muss sie neue Verbündete finden. Denn in den Gewölben unter der Universität werden abscheuliche Experimente durchgeführt – und Opal hat geschworen, einen geliebten Menschen aus den Fängen der Magier zu befreien. Doch auch der Dornenprinz versucht, Opal und ihre neu gewonnene Gabe in seine Gewalt zu bringen. Kann sie ihm trauen, jetzt da sie weiß, dass hinter den schwarzen Mauern der Universität jeder nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist? Opal muss ein Versprechen halten und die Universität zu Fall bringen. Und dafür ist kein Ort besser geeignet als das Dornenschloss, der Sitz der grausamen Herrscherfamilie ...

Die Dunkeldorn-Chroniken:
1. Blüten aus Nacht
2. Ranken aus Asche
3. Knospen aus Finsternis

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Buch

Opal ist auf der Flucht: Nachdem sie die Wahrheit darüber herausgefunden hat, dass sie nicht die einzige Überlebende des Plantagenunglücks ist, muss sie neue Verbündete finden. Denn in den Gewölben unter der Universität werden abscheuliche Experimente durchgeführt  – und Opal hat geschworen, einen geliebten Menschen aus den Fängen der Magier zu befreien. Doch auch der Dornenprinz versucht, Opal und ihre neu gewonnene Gabe in seine Gewalt zu bringen. Kann sie ihm trauen, jetzt, da sie weiß, dass hinter den schwarzen Mauern der Universität jeder nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist? Opal muss ein Versprechen halten und die Universität zu Fall bringen. Und dafür ist kein Ort besser geeignet als das Dornenschloss, der Sitz der grausamen Herrscherfamilie …

Autorin

Katharina Seck wurde 1987 in Hachenburg geboren und wuchs in dieser mittelalterlichen Kleinstadt im Westerwald auf. Dort arbeitete sie seit vielen Jahren in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Personalwesen, ehe sie sich gänzlich dem Schreiben widmete. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit Menschen, Natur, Politik und Kultur sowie der Bewältigung des Stapels der ungelesenen Bücher. Besondere Inspiration findet sie am Meer, in den heimischen Wäldern und beim Genuss phantastischer Literatur.

Weitere Informationen unter: www.katharinaseck.de

Die Dunkeldorn-Chroniken von Seraph-Gewinnerin Katharina Seck:

1. Blüten aus Nacht

2. Ranken aus Asche

3. Knospen aus Finsternis

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KATHARINASECK

RANKENAUSASCHE

Roman

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Copyright der Originalausgabe © 2022 by Katharina Seck

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung und -motiv: Anke Koopmann

BL · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-641-28351-3V002

www.blanvalet.de

Für Kathrin,

für deine Arbeit, deinen Support und weil es echt mal langsam Zeit wird!

Karte

Prolog

Die Tage waren bereits in den frühen Morgenstunden spürbar wärmer geworden. Die Zeit, in der die Morgendämmerung oder das Leuchten der Nacht Linderung vor der drückenden Hitze versprachen, schwand allmählich.

Dem alten Mann schmerzten die Knochen. An Lebensjahren gezählt, war er noch gar nicht so alt, er mochte in der Mitte der Vierziger sein. Doch die jahrzehntelange Knochenarbeit hatte aus ihm einen Greis gemacht, dem man bei jedem einzelnen Schritt ansah, dass er die Last eines zerstörten Körpers und viel erlebtes Leid mit sich schleppte. Weil er die schwere Maschinerie der Wasserverteiler nicht mehr bedienen konnte, half er den jungen Frauen, die die blühenden Dunkeldornen entstäubten, trug ihre Ausrüstungen und bereitete die geernteten Pflanzen für die Entsorgung vor.

Seine Schicht hatte gerade begonnen. Er blickte über die Plantage, die Hand schützend über die von all dem Blütenstaub bereits trüb gewordenen Augen gelegt, um trotz der aufgehenden Sonne seine Umgebung erkennen zu können. Die Männer und Frauen verteilten sich in gewohnter Manier auf den Plantagenblöcken, ohne unnötig Zeit zu verlieren. Sie waren eingespielt, konzentriert, geübt und so routiniert wie in all den Jahren zuvor, in denen er die Drecksarbeit für die Dunkeldornmagier erledigte.

Der junge Mann im alten, zerschundenen Körper gönnte sich diesen kurzen Augenblick und betrachtete die Feldarbeiterinnen, wie sie nach ihren Wassereimern griffen, und die Männer, die die Maschinen überprüften, bevor sie auf ihre Sitze klettern würden.

Alles war wie immer.

Alles war völlig anders.

Seit Elver war nichts mehr wie zuvor.

Obwohl Elver einige Tagesmärsche von dieser Plantage entfernt war, hatte sich die Kunde über das Unglück wie ein Lauffeuer verbreitet. Die Aufpasser hatten sie alle zusammengetrommelt und ihnen von einer Tragödie berichtet: einer Tragödie, die schlimm war, aber einzigartig. Dass es dort besondere Windverhältnisse gegeben habe, dass sie sich keine Sorgen machen müssten, ihnen würde nichts geschehen, sie waren sicher, sie könnten weiter sorgenfrei ihre Arbeit erledigen. Es war eine Tragödie gewesen, die den Tod gebracht hatte, die sich aber nicht wiederholen würde, das hatte man ihnen versichert.

Und dann hatte man sie zurück an die Arbeit geschickt, denn diese Arbeit war wichtig, war essenziell für das Land, schenkte ihnen allen Wohlstand und Magie, die sie vor den Feinden an den Außengrenzen schützte, die den anderen Mächten ordentlich Angst und Respekt einflößen sollte.

Sie, hatten die Aufpasser feierlich gesagt, waren die Helden des Landes, und dann hatten sie die Peitschen gegen die Helden des Landes geschwungen, weil sie nicht schnell genug waren, weil die Beine schwer und müde waren und der Kopf voller Trauer war und die Hände zitterten und der Blick panisch zu den edlen schwarzen Pflanzen flackerte.

Alles war wie immer.

Alles war völlig anders.

Seit Elver war nichts mehr wie zuvor.

Der junge, alte Mann spürte die Angst, die in seinen Eingeweiden lauerte und seinen Brustkorb verengte und die auch in den anderen Eingeweiden saß, in den anderen Gesichtern, in den anderen Blicken. Sie sprachen es nur leise und im Geheimen, im Schutz der eigenen vier Wände aus, dass das, was die Aufpasser ihnen erzählt hatten, eine Lüge war.

Was in Elver geschehen war, konnte überall passieren. Jederzeit. Jeder Windstoß, jeder Sonnenstrahl, jeder Schritt konnte den Tod bedeuten, darin waren sie sich alle einig.

Einer der Aufpasser brüllte ihm einen Befehl zu. Der junge, alte Mann hatte zu lange gewartet und zu lange nachgedacht. Schwerfällig setzte er seinen ausgemergelten Körper in Bewegung, bevor ihn das dünne Seil der Peitsche treffen konnte. Der Zorn in ihm half, den Schmerz in seinen Gliedern zu überlagern.

Der Zorn, der schon seit Jahrzehnten wie Kohlen gezündelt hatte, war nun aufgeflammt.

Seit Elver war nichts mehr wie zuvor.

Seit Elver wuchsen neue Gedanken in den Köpfen der Menschen, die nicht länger unsichtbar und ersetzbar sein wollten.

Seit Elver formte sich auf den Plantagen und in den müden Herzen der Feldarbeiter Widerstand.

1 Der Blender

Sengend heiß schien die Sonne auf meine geschundene Kopfhaut nieder und brannte dabei so intensiv, als würden ihre Strahlen durch große, gläserne Linsen verstärkt werden. Der Asphalt unter meinen Füßen fühlte sich an wie glühende Kohlen und heizte sich mit fortschreitender Stunde weiter auf. Ich sehnte den Abend herbei, der nicht nur Linderung brachte, sondern auch die Dunkelheit, die mich besser vor neugierigen Blicken verbergen konnte als Sonnenbrand und Schmutzflecken in meinem Gesicht und eine weitere Schicht erdigen Drecks, der meine Haarfarbe übertünchen sollte.

Ohne Geld und ohne Arbeit war jeder einzelne Tag auf den Straßen Florentias ein Überlebenskampf. Ich war hungrig, mein Körper ausgelaugt. Er lechzte nach Wasser in der Hitze, nach Abkühlung und Schatten.

Das Schlimmste waren aber nicht die Entbehrungen, die mein Körper erdulden musste. Das Schlimmste war das schlechte Gewissen, das mich bei jedem Schritt wie ein an mir klebender Schatten begleitete.

Ich hatte ein Versprechen gegeben.

Ein Versprechen, das mich jagte.

Ein Versprechen, das mich jede Nacht aus meinen Träumen hochfahren ließ, wenn ich auf dem bloßen Asphalt schlief oder zwischen den blühenden Bäumen am Waldrand oder irgendwo zwischen den dürren Büschen der Dunklen Allee, nicht weit vom Fluss Sharza entfernt, die Geräuschkulisse des heruntergekommenen Hafens namens Wildwasserpier immer im Ohr.

Ein Versprechen, das ich dabei war, zu brechen, weil ich nicht schnell genug, nicht gut genug war, während ich zu überleben versuchte.

Mit jedem Tag, den ich hier draußen mit Nichtstun vergeudete, steckte Julian in einem Überlebenskampf, den mein Freund aus Kindheitstagen langfristig verlieren würde.

Wenn es mir nicht bald gelang, ihn aus dem unterirdischen Labor der Universität von Florentia zu befreien, dann würde er so enden wie die anderen. Dann würde er sich als Folge der geheimen Experimente an Menschen, die Professorin Weisdorn dort durchführte, in ein animalisches Dornenmonster verwandeln.

Er hatte mich angefleht, ihn zu töten und ihn vor diesem Schicksal zu bewahren, aber ich hatte ihn nicht aufgeben können. Ich konnte einfach nicht. Ich konnte ihn nicht ein zweites Mal verlieren.

Mit gesenktem Blick schob ich mich dicht an den Häuserwänden entlang, um eine möglichst weite Distanz zu den anderen Menschen zu halten, die hier unterwegs waren. Ich durfte das Risiko nicht eingehen, dass mich jemand auf offener Straße erkannte. Dieses Risiko war verdammt hoch: Überall in der Stadt hingen Plakate mit Gesuchen nach mir, einer beunruhigend treffenden Zeichnung meines Gesichts und dem Versprechen einer großzügigen königlichen Belohnung.

Der Königsgleiche höchstpersönlich suchte nach mir. Was für eine Ehre!

Ich wusste, dass ich nicht ewig so weitermachen konnte. Auch wenn die Zeichnung zu einer Person zu gehören schien, die ich nicht mehr war, auch wenn mein Gesicht extra voller Schmutz und meine Haare staubig und mit Erde bestrichen waren: Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich kriegen würden, bis mich jemand hier, auf der Dunklen Allee, auf den Straßen rings um die Zermahlerin, erkennen und verraten würde. Die Dunkle Allee war ein Ort voller bröckelnder schwarzer Häuser und kaputter Straßen, auf denen sich Bettelnde und Kriminelle herumtrieben, Menschen, die verzweifelt waren, die ihre Familien durchbringen mussten, ehe sie verhungerten. Niemand von ihnen hätte Gewissensbisse, mich auszuliefern, und ich konnte es ihnen nicht verdenken. Und wenn ich erst einmal selbst in den Laboren säße, wäre jede Möglichkeit, mein Versprechen einzulösen, unwiederbringlich dahin. Ich wusste, dass Julian mir das nie verzeihen würde.

Vielleicht würde er mir jetzt schon niemals mehr verzeihen.

Die Leute, an denen ich vorbeischlich, sahen größtenteils noch heruntergekommener aus als ich. Die meisten von ihnen hatten einen Teil ihres Lebens als Arbeitskraft in der Zermahlerin verbracht. Wenn man das überlebte, wurde man an dem Tag, an dem man das Pensum in der Fabrik nicht mehr aushalten konnte, weil man zu alt oder zu krank war, auf die Straße geworfen, um zu verhungern, während man der wenigen Sachen beraubt wurde, die man am Leib trug.

In den fünf Wochen, in denen ich mich nun auf den Straßen durchschlug, auf den Märkten Nahrung stahl und sogar einige Kleidungsstücke von Wäscheleinen in den nobleren Vorgärten entwendet hatte, hatte ich den rauen Umgangston in diesem Viertel zu schätzen gelernt. Es gab einen unausgesprochenen Ehrenkodex, gegen den nur die schäbigsten Verbrecher verstießen – und die hielten sich nicht lange hier auf der Dunklen Allee, der Straße, in welcher die Zermahlerin ihren Sitz hatte. Wer nur noch eine einzige Sache, eine einzige Kostbarkeit, ein einziges Erinnerungsstück besaß, dem stahl man nichts. Jeder brauchte diese eine Sache, diese eine wichtige Erinnerung, um in dieser Hölle am Leben bleiben zu wollen.

Dieser Leitspruch verhalf zu einem erstaunlichen Frieden, der die Obdachlosen, die Verstümmelten, die Ausgemergelten, die Gebrechlichen vereinte und ihnen gemeinsame Widersacher gab: die Zermahlerin. Die Obrigkeit. Den Dunklen Rat. All jene, für die sie buckeln mussten, und das alles im Namen Tensias.

Tagsüber pflegten sich die von der Fabrik zerstörten Männer und Frauen in der Stadt zu verteilen, um zu betteln, zu stehlen oder zwielichtigen Geschäften nachzugehen, wenn sie nicht in irgendeiner stillen, dunklen Gasse einsam an ihren Verletzungen und Krankheiten starben. Gegen Abend versammelten sie sich am Ufer des Sharzas, der an der Hinterseite der Zermahlerin vorbeifloss und der – wie manche Leute zu sehen glaubten – in seinem schwarzen Gewässer pflanzlichen Müll, Unrat und während der Arbeit verstorbene Menschen aus der Stadt hinaustrieb, fort von zu aufmerksamen Augen und Ohren. Ganz abwegig war das nicht, wenn man bedachte, wie giftig der Sharza war.

Auch ich hatte am Ufer manche Nächte verbracht. Manchmal hatte ich gedacht, in der Dunkelheit Blütenblätter auf der Oberfläche treiben zu sehen, aber sicher war ich mir nicht gewesen, denn das Wasser war so schwarz, dass man es kaum von den winzigen Dingen auf seiner Oberfläche unterscheiden konnte.

Eine Weile hatte ich dort nach Keya Ausschau gehalten, wenn die Uniformierten die Arbeiterinnen und Arbeiter zum Ausladen der Kisten, die von den Plantagen herangekarrt wurden, nach draußen ließen. Aber ich hatte sie nie zwischen all den unzähligen dürren, blassen Gestalten ausmachen können.

Ein harter Stoß holte mich aus meinen Gedanken in die Realität zurück. Jemand hatte mich angerempelt. Mein Herz setzte für einen Schlag aus, als mich ein älterer Mann laut anbrüllte, dass ich gefälligst aufpassen sollte, wohin ich ging, ob ich keine Augen im Kopf hätte, ich naives, dreckiges Ding.

Ohne ihm zu antworten, schlüpfte ich unter seinem wild gestikulierenden Arm hindurch und entfernte mich im Laufschritt von dem zeternden Herrn, während mein Puls raste. Hatte er mich erkannt? Hatte er in dem naiven, dreckigen Ding die junge Frau von den Plakaten sehen können? Doch als ich einen Blick über die Schulter zurückwarf, bemerkte ich, wie er ohne Eile weiterspazierte, noch leise vor sich hin murrend. Ich atmete auf.

Ich konnte keine Komplikationen gebrauchen. Nicht jetzt. Nicht heute. Nicht, da ich verdammt noch mal endlich einen Plan hatte, Julian aus diesem Rattenloch zu befreien.

Bei dem Gedanken an den Plan, an dem ich die ganze Woche gearbeitet hatte, wurde mir flau. Es war gewagt, was ich da vorhatte. Vielleicht war es sogar vollkommen abwegig, Selbstmord. Ich würde mir eine Zielscheibe auf die Stirn brennen.

Aber ich hatte genug Nächte am Ufer des Sharzas, dem Schlaflosen, verbracht, manchmal zitternd vor Kälte, manchmal glühend vor Hitze und mich windend wegen wiederkehrender Albträume, dass ich all das Flüstern und Wispern der anderen nicht hatte ausblenden können. Das Flüstern und Wispern über den Blender.

Der Blender.

Ein Mann voller Mythen, ein Mann der Unterwelt, ein Mann, der alles möglich machte, wenn man ihm im Gegenzug etwas geben konnte, das ihn interessierte. Aber das Interesse des Blenders zu wecken war schier unmöglich, sagte man.

Bei dem Gedanken daran wollte mir das Herz in die Hose rutschen. Ich hatte so viel zu verlieren und im Gegenzug nichts Besonderes zu bieten. Ich führte nichts bei mir, das für den Blender möglicherweise von Interesse wäre und womit ich ihn um einen Gefallen bitten konnte.

Das ist nicht wahr. Du hast etwas Besonderes. Du bist etwas Besonderes.

Ich senkte den Kopf, als ich in eine deutlich belebtere Straße wechselte, die ich nicht umgehen konnte. Hier waren viele Geschäfte angesiedelt, einige Bars und Gasthäuser und auch eine verkommene Spelunke, bestehend aus einer Spielothek und einer Saufstätte mit billigem Fusel und dem vertrauenerweckenden Namen Die gefälschte Münze. Diese Spelunke war im Besitz des Blenders, dessen wahren Namen ich nicht hatte herausfinden können. Aber zumindest hatte ich in Erfahrung gebracht, wo man nach ihm fragen konnte; die Leute am Sharza waren erstaunlich auskunftsfreudig.

Ich konnte das Gebäude bereits aus der Ferne erkennen. Die Spelunke stach aus der mit bunten Wildblumen gerahmten grünen Straße hervor wie ein Klecks schwarzer Farbe, der irrtümlich auf einem Sommergemälde gelandet war. Die dunklen Holzwände wirkten heruntergekommen, alt und wenig in Schuss gehalten, das Glas der Tür war zerbrochen und wieder zusammengeklebt worden. Außerdem prangte ein großes Geschlossen-Schild daran.

Ich ließ mich davon nicht beirren und stemmte mich gegen die Tür. Sie gab unter dem Druck nach und schwang quietschend auf. Von innen schlug mir verqualmte, abgestandene Luft entgegen, in die sich der Geruch von billigem Parfüm, Alkohol und Zigarren mischte.

Dafür, dass die Spelunke geschlossen war, drängten sich erstaunlich viele Menschen, Männer wie Frauen, um die Bar. Einige hatten die Tische in Beschlag genommen und spielten lautstark Karten, während sie rauchten und Bier oder Whisky oder anderes günstiges Zeug tranken.

Mit meinem Eintreten kehrte augenblicklich Stille ein, und viele Augenpaare musterten mich, manche misstrauisch, andere neugierig.

»Wir haben geschlossen, Mädchen, oder hast du Tomaten auf den Augen?«, rief eine stämmige Frau, die hinter der Theke Gläser mit einem fleckigen Geschirrtuch abtrocknete und dann mit einem Klirren auf den Tresen knallte.

»Das habe ich gesehen«, erwiderte ich betont ruhig und ging ein paar Schritte weiter in den Raum hinein. Die alten Holzdielen unter meinen Schuhen knarrten.

»Na, dann mach, dass du abhaust«, rief ein brummiger, bärtiger Kerl in einem abgewetzten hellen Hemd mit roten Flecken. Vor ihm auf dem Tisch lag gut sichtbar ein Messer neben seinem halb vollen Bierhumpen.

Julian. Um Himmels willen, Julian, ich tue das hier für dich. Für dich und für mich. Hoffen wir, dass wir nicht beide im Sharza landen.

Ich nahm meinen verdammten Mut zusammen und schüttelte den Kopf, eine Hand halb hinter meinem Rücken verborgen und zur Faust geballt, weil ich nicht wusste, wohin sonst mit meiner Anspannung.

»Ich suche den Blender.« Ich gab mich selbstbewusster, als ich mich angesichts eines Dutzends Menschen, von denen einige Messer oder Pistolen an den Gürteln trugen, tatsächlich fühlte.

Für einen Moment war die Stille im Raum so präsent, dass man eine Nadel hätte fallen hören können, dann brach schallendes Gelächter aus.

»Die ist ja lustig, die Kleine«, dröhnte der Mann mit dem fleckigen Hemd und hieb mit seiner Pranke so schwungvoll auf den Tisch, dass die abgestellten Gläser gefährlich ins Wanken gerieten.

Die Frau hinter der Bar zuckte die Schultern. »Findest du? Ich finde es eher nervig, wenn jeden Tag Dutzende Touristen hier hereinspazieren, weil sie mal etwas Aufregendes sehen wollen.«

»Ich bin keine Touristin«, widersprach ich. »Oder seit wann laufen Touristen in solcher Kleidung herum?«

Die Wirtin machte eine unwirsche Geste. »Was oder wer auch immer du bist, scher dich von dannen. Du bist hier nicht willkommen. Komm heute Abend wieder, wenn du es nicht lassen kannst, aber bring genügend Geld für die Spieltische mit, sonst gibt es keinen Eintritt.«

Sie drehte sich abrupt um und warf sich das nasse Geschirrtuch über die Schulter. Es war eindeutig, dass das Gespräch für sie beendet war. Auch die anderen Anwesenden straften mich nun mit Missachtung und nahmen ihre Unterhaltung, das Trinken und das Kartenspielen wieder auf.

Lass dich nicht abwimmeln. Nicht jetzt. Noch nicht. Nicht, solange das Messer noch still auf dem Tisch liegt und nicht eingesetzt wird.

»Ich habe etwas für den Blender, das ihn interessieren könnte«, sagte ich energisch und reckte das Kinn, um selbstsicher zu wirken.

Wieder sorgten meine Worte für einsetzendes Schweigen, aber dieses Mal folgte kein Gelächter. Dieses Mal wurde die Stimmung im Raum merklich angespannter. Der Mann mit dem Fleckenhemd erhob sich langsam. Bei der Bewegung schob er den Stuhl mit einem bedrohlichen Quietschen über den alten Boden.

»Wir sagen es dir noch ein zweites Mal im Guten, junge Dame«, drohte er leise. »Und wir sind dafür bekannt, beim dritten Mal nicht zimperlich zu sein. Zisch ab.« Seine Fingerspitzen berührten die Tischkante, nur wenige Zentimeter von der matt glänzenden Messerklinge entfernt, die bloß darauf zu warten schien, dass er die Hand um sie schloss.

Ich zwang mich dazu, ruhig zu bleiben und dem Drang zu widerstehen, auf der Stelle kehrtzumachen und all den feindseligen Mienen zu entfliehen.

Julian. Julian im Labor. Julian angekettet. Julian mit schwarzen Schuppen im Gesicht. Julian, der nicht mehr lange durchhalten würde.

Diese Bilder halfen mir, nicht sofort zu türmen, sondern den Fluchtimpuls niederzuringen.

»Ich möchte dem Blender etwas anbieten, das ihn mit Sicherheit interessieren wird«, wiederholte ich behutsam. »Im Gegenzug für einen Gefallen.«

Der Mann mit dem Fleckenhemd schnaubte. In der nächsten Sekunde lag das Messer nicht mehr auf der Tischplatte, sondern in seiner Hand. Seine Miene war nicht länger misstrauisch, sondern plötzlich begierig. »Wisch dir mal den Dreck vom Gesicht, Mädchen. Man erkennt dich ja kaum.«

Mist. Hat er mich erkannt? Verdammt.

»He, guckt euch die doch mal an. Merkt ihr was? Ich glaube, die Zeche für die nächsten Abende ist damit gezahlt.«

Ich sprang zurück, bevor er sich auf mich stürzen konnte, und brachte mich hinter einer Sitzgruppe vor seinen greifenden Händen in Sicherheit. Aber diese Sicherheit würde nicht länger als zwei, vielleicht drei Atemzüge währen, dann würden sie mich in die Finger kriegen. Ich konnte hoffen, schnell genug zur Tür hechten zu können, oder das letzte und einzige Ass spielen, das ich noch im Ärmel hatte.

»Bitte«, rief ich verzweifelt. »Ich kann Dunkeldornmagie brechen. Ist das nicht etwas für den Blender?«

Der Fleckenhemdmann war jäh bei mir und packte mich an den Haaren. Ich stieß einen Schmerzenslaut aus, als er mich hinter der Sitzgruppe hervorzerrte und mich auf den Boden schleuderte. Feine Splitter bohrten sich in meine Hände und Knie, als ich hart auf dem Holz aufkam.

Aber bevor er sich über mich beugen und erneut packen konnte, drang ein gellender Pfeifton durch die Spelunke.

»Aufhören«, befahl eine leise, samtene Stimme.

Der Mann mit dem Fleckenhemd nahm seine schwieligen Hände von mir und trat widerwillig einen Schritt zurück.

Ich atmete auf, auch wenn mein Körper nach wie vor in einer angespannten, fluchtbereiten Haltung verharrte. Von ganz hinten, aus einer verrauchten Ecke der Spelunke, die gut von einem quer durch den Raum reichenden Balken verdeckt wurde, näherte sich eine zierliche, elegant gekleidete Frau. Die Farbe ihrer Haut hob sich deutlich von dem hellen Beige ihres geknöpften Hemdes und ihrer weißen Hose ab. An ihren Ohren hingen zwei schlichte Silberohrringe in Form eines Ankers.

Sie kam so nahe, dass sie nur noch eine Armlänge von mir entfernt war. Ein frischer, blumiger, angenehmer Duft stieg mir in die Nase und machte mir deutlich, wie erbärmlich ich im Gegensatz zu dieser adretten Dame riechen musste. Am liebsten wäre ich zurückgewichen, damit ihr diese Tatsache nicht auffiel.

»Was hast du eben gesagt? Dass du Dunkeldornmagie brechen kannst?«, fragte die Frau und beugte sich zu mir nach vorne. Auf ihren Lippen lag dunkelroter Lippenstift, und ihre Lider waren mit einem schwarzen Kohlestift nachgezogen, während die dunklen Haare ihr gerade bis zu den Schultern reichten. Als sie sich noch weiter zu mir beugte und dabei leicht in die Knie ging, nahm ich das dünne, schon lange verheilte Narbengeflecht an ihrem Hals wahr, das sich bis hoch übers Kinn und die Wangen zog.

Ich blieb auf der Hut. »Das bespreche ich nur mit dem Blender selbst.«

Die geschminkten Lippen der Frau verzogen sich zu einem Lächeln. »Ach, da hast du aber Glück.«

Ich musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Wie meint Ihr das?«

Im Hintergrund ertönte dröhnendes Lachen, und einige Männer hieben sich auf die Schenkel.

»Steh auf und komm mit«, sagte sie, ohne auf meine Frage zu reagieren. Weil mir ohnehin nichts anderes übrig blieb, rappelte ich mich auf. Während ich den Raum hinter ihr durchquerte, zupfte ich mir verstohlen die kleinen Splitterreste aus den zerschrammten Handinnenflächen.

Entgegen meiner Annahme nahm die Dame nicht wie zuvor in der hintersten Sitzecke Platz, sondern führte mich durch eine weitere Tür in ein kleines Büro. Dort umrundete sie den wuchtigen Schreibtisch, auf dem neben einigen Stapeln Akten auch mehrere Bündel Geldscheine und fein säuberlich sortierte Münzen lagen, und setzte sich auf einen Stuhl. Mit der rechten Hand wies sie auf den wackelig anmutenden Holzstuhl auf meiner Seite des Schreibtisches.

Verwirrt nahm ich Platz. »Ich … Soll ich hier auf den Blender warten?«

Die Frau stieß ein Schnauben aus. »Hast du es wirklich immer noch nicht verstanden?«

Die Erkenntnis traf mich. »Ihr seid der Blender?«

»Dein Unglauben verletzt mich«, erwiderte sie schnaubend. »Aber er ist nichts Neues.«

Ich war im ersten Augenblick so verdattert, dass ich sie beinahe entsetzt angesehen hätte, aber im nächsten schämte ich mich dafür. Ich war zu sehr in den hierarchischen Strukturen und Gewohnheiten gefangen, als dass ich mir hätte vorstellen können, dass ein stadtweit bekannter Ganove auch eine Frau sein konnte.

»Ich wollte Eure Ehre nicht verletzen«, murmelte ich zerknirscht. »Aber da ich eben noch glaubte, gleich von einem Mann mit einem Messer erstochen zu werden, verzeiht Ihr mir vielleicht meinen langsamen Verstand, hoffe ich.«

Die Blenderin – wie ich sie nun in meinem Kopf nannte – lehnte sich zurück. Wieder stahl sich ein lauerndes Lächeln auf ihre Lippen. »Sag mir, hast du wirklich geglaubt, dass nur Männer die großen Positionen in diesem Land einnehmen können?«

Ich dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. Sofort war mir Professorin Weisdorn vor dem inneren Auge erschienen, für die ich bis vor Kurzem noch gearbeitet hatte. Die Professorin, die mich verraten hatte, die an Menschen herumexperimentierte, die, gemeinsam mit der Dornenfamilie, meine Heimat auf dem Gewissen hatte. Sicher, sie war skrupellos und unberechenbar, aber sie war auch groß und genial in dem, was sie tat – auf eine schreckliche, abscheuliche Weise.

»Nein, eigentlich nicht«, murmelte ich beschämt, was der Blenderin ein weiteres Lachen entlockte.

»Bevor wir allzu philosophisch werden: Du sagtest vorhin, dass du Dunkeldornmagie brechen kannst. Hast du das einfach dahergesagt, um deine Haut zu retten oder um meine Aufmerksamkeit zu erhaschen? Oder kannst du das tatsächlich?«

Ich wusste, wie immens das Risiko war, das ich in diesem Augenblick einging. Ich entblößte mein größtes Geheimnis, meine Stärke, die zugleich meine Schwäche war.

»Bevor ich das beantworte, stelle ich eine Gegenfrage. Habt Ihr vor, mich auszuliefern, wenn ich Euch die Antwort darauf gebe?« Ich lehnte mich scheinbar lässig zurück und schlug die Beine übereinander, was in Anbetracht der zerschlissenen Hose nicht annähernd so eine Wirkung hatte, wie ich es beabsichtigte.

»Ich sehe, wir haben eine ähnliche Denkweise«, kommentierte die Blenderin trocken. »Aber ich weiß einen guten Geschäftssinn durchaus zu schätzen.«

»Das ist keine klare Antwort auf meine Frage«, gab ich zurück.

Die Blenderin gab ein belustigtes Schnauben von sich. »Gut erkannt. Aber da ich Ehrlichkeit zu schätzen weiß, will ich sie dir entgegenbringen. Wenn du geflunkert hast, werden wir das nette Sümmchen für deinen Kopf gerne kassieren. Wir sind kein Wohlfahrtsverein, und der Finderlohn ist durchaus königlich. Solltest du hingegen nicht gelogen haben und sich deine Aussage bewahrheiten, nun, dann wäre ich geneigt, die Sache mit der Suche nach dir vielleicht vorerst zu vergessen.«

»Sehr gnädig«, murmelte ich, woraufhin die Blenderin eine Augenbraue hochzog.

»Selbst wenn du die Wahrheit sprichst: Du musst dich auch als nützlich erweisen, um einen Gefallen von mir erwirken zu können.«

Nun wagte ich ein Lächeln, das etwas selbstbewusster als zuvor ausfiel. »Ich säße nicht hier, wenn Euch nicht schon etwas Konkretes vorschwebte, oder?«

Ich glaubte, einen Hauch von Belustigung über ihre Miene huschen zu sehen. »Möglicherweise hätte ich da eine Idee, bei der du mir beweisen könntest, dass du mehr wert bist als die Belohnung, die auf dein hübsches Gesicht unter der Schmutzschicht ausgesetzt ist.«

Innerlich zitternd holte ich tief Luft, ehe ich alles auf meine letzte Karte setzte. Ich brauchte nicht nur die Bestätigung, nicht ausgeliefert zu werden. Ich brauchte mehr. Ich brauchte diesen verdammten Gefallen, von dem es hieß, dass er unglaublich viel wert sei. Der Blender, so erzählte man sich, konnte fast alles möglich machen. Genau das brauchte ich am dringendsten.

Ich brauchte fast alles.

»Dafür benötige ich Eure Zusicherung für den berühmten Gefallen, sollte ich meinen Teil der Abmachung zu Eurer Zufriedenheit ausführen.«

Ich hielt dem bohrenden Blick der Blenderin stand, die mich schweigend und mit undurchdringlicher Miene musterte. Die Stille zwischen uns war zum Zerreißen gespannt, und ein Teil von mir wartete bereits darauf, dass sie nach ihren Kumpanen rief, damit die mich zum Königsgleichen schleppen und sich ihr Kopfgeld abholen konnten.

»Man kann dir auf jeden Fall nicht absprechen, dass du mutig bist«, sagte sie scharf. »Andere würden den Mut als Torheit bezeichnen, aber zum Glück bist du heute bei mir gelandet. Ich gebe dir den Vertrauensvorschuss, aber ich warne dich: Solltest du mich angelogen haben, finden wir dich. Wir kennen jeden Winkel in dieser Stadt, und es wird keinen Ort geben, an dem du dich vor uns verkriechen kannst.«

Mir war klar, dass sie mir zeigen wollte, wer die Stärkere von uns beiden war, wer die Oberhand hatte, wer die andere zerstören konnte. Als ob ich das nicht wüsste! Aber trotzdem war ich mir sicher, dass ich nur hier saß, weil sie etwas ganz Bestimmtes von mir wollte. Und das war der Strohhalm, nach dem ich mit letzter Verzweiflung griff.

»Der Gefallen?«, erinnerte ich sie sanft. »Habe ich Euer Wort?«

Für einen Moment hatte ich den Eindruck, nun wirklich zu weit gegangen zu sein.

Aber dann wurde die starre, fast bedrohliche Körperhaltung der Blenderin lässiger, und sie schlug ein Bein über das andere. »Welchen Gefallen forderst du ein?«

Ich ließ mir die Erleichterung, die mich durchflutete, nicht anmerken.

Bloß keine Schwäche zeigen. Bloß nicht zeigen, wie abhängig du von dieser Frau bist.

»Ich brauche Zutritt zur Universität von Florentia.«

Wenn die Blenderin überrascht war, so verstand sie es gut zu verbergen. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, gab sie ein leises Zischen von sich. »Ich kann dir einen Schlüssel verschaffen. Ist das ausreichend?«

War es ausreichend? Ich war mir nicht sicher. Mein Plan, Julian zu befreien, bestand aus so vielen Eventualitäten und Unmöglichkeiten, dass ich ihn noch nicht bis zum Ende durchdacht hatte. Erst einmal reinkommen, war die Devise, dann weitersehen.

»Ich brauche auch Werkzeug, um jemanden von Ketten zu befreien«, sagte ich hastig.

Die Blenderin lehnte sich nach vorne. »Streng genommen sind das zwei Gefallen.«

Ich starrte sie an, bemühte mich aber, möglichst würdevoll und entschlossen zu wirken. Irgendwie hatte ich das dumpfe Gefühl, dass die Blenderin zugänglicher war, wenn man ihr zumindest annähernd ebenbürtig war.

»Wenn du deine Arbeit gut machst, werde ich gnädig sein.«

Nun hätte ich beinahe doch einen lauten Seufzer der Erleichterung ausgestoßen und hielt mich erst im letzten Moment zurück.

»Danke«, sagte ich schlicht.

Die Blenderin winkte ab. »Ein Tausch ist wie ein Vertrag. Darin ist kein Platz für Dank. Jeder erledigt seinen Part, und man geht in Frieden auseinander.«

Allmählich dämmerte mir, dass ich einem Vertrag zugestimmt hatte, dessen Eckpunkte ich noch nicht vollständig kannte. Allerdings musste man mir zugutehalten, dass über mir ein Kopfgeld schwebte, das mich zusätzlich unter Druck setzte. Außerdem hätte ich einen Pakt mit der göttlichen Dornenmutter, die auf den Dahlischen Inseln abseits des Wellengrabs angebetet wurde, höchstselbst abgeschlossen, wenn ich die Wahl zwischen ihr und dem Königsgleichen gehabt hätte. Jedes Kind wusste, dass ein Pakt mit einer Gottheit immer mit einem hohen Preis einherging.

»Was soll ich überhaupt für Euch tun?«, fragte ich.

Die Blenderin stieß ein Lachen aus. »Ich dachte schon, du fragst nie.« Sie hielt einen Augenblick inne und zog aus einem der Papierstapel ein Plakat hervor. Kurz dachte ich, es wäre das Gesuch nach meiner Person, aber als sie es mir wortlos entgegenhielt, erkannte ich, dass es die Werbung für eine Veranstaltung war, die ich im Vorbeigehen selbst schon hier und da aus den Augenwinkeln gesehen, allerdings nie weiter beachtet hatte. Das Plakat war in dunklen, hauptsächlich grauen und schwarzen Tönen gestaltet. Eine mir nur zu vertraute Person war schemenhaft darauf abgebildet; das schöne Gesicht war von einem mystischen Schatten gerahmt, der sich von dort aus auf dem kompletten Plakat ausbreitete.

Die Prophezeiung wird wahr.

Jede Frau, jeder Mann, jede Licht- und Schattengestalt ist geladen, mit eigenen Augen zu sehen, wie der Königsgleiche zum ersten Mal seine vorhergesagte Macht preisgibt.

Ich betrachtete das zerknitterte Papier in meiner Hand wie einen Fremdkörper. Die Worte waren gestochen scharf und verschwammen dennoch vor meinen Augen. Widerstreitende Gefühle machten sich in mir breit. Sosehr ich den Königsgleichen ächtete, sosehr ich ihn für seine Heimlichkeiten und seine menschenverachtende Arbeit verabscheute, die er mit der Professorin hinter verschlossenen Türen leistete, so sehr war noch da, was sich entwickelt hatte, bevor ich dahintergekommen war … So sehr war die Verbundenheit noch da, die Erinnerung an kurze, brennende Berührungen, an ein Feuer, das nie hätte entfacht werden dürfen.

»In zwei Tagen wird es eine große Veranstaltung in der Parkanlage geben«, erklärte die Blenderin. »Der Königsgleiche und andere wichtige Leute werden da sein. Die Veranstaltung ist zwar für alle gedacht, aber das gewöhnliche Fußvolk ist bei Auftritten dieser Art durch eine Art magische Grenze von den Dunkeldornmagiern und dem Königsgleichen selbst abgetrennt.«

»Was genau ist meine Rolle bei dieser Veranstaltung?«, fragte ich tonlos. Der Gedanke daran, dem Königsgleichen – wenn auch aus der Ferne – wieder zu begegnen, erfüllte mich mit Unruhe. Die Gefahr, in einer solchen Menschentraube erkannt zu werden, war außerdem Grund zu äußerster Vorsicht.

»Mich durch diese unsichtbare Grenze schleusen.«

Ich spürte, wie sich die Unruhe in mir vertiefte. Ich, nicht nur inmitten einer Menschenmenge, sondern auch umringt von Dunkeldornmagiern: Das war keine einladende Vorstellung.

Verdammt, Julian, wenn ich all das riskiere, musst du durchhalten. Du musst irgendwie durchhalten.

»Was wollt Ihr hinter dieser Grenze?«, erkundigte ich mich. »Euch muss doch klar sein, dass Ihr dennoch keine Chance gegen die Macht der Dunkeldornmagie habt.«

Die Blenderin winkte mit einer unwirschen Geste ab. »Glaub mir, ich lege mich ganz sicher nicht mit denen an. Aber solche Auftritte sind die besten Gelegenheiten, Dunkeldornpulver zu stehlen und es teuer weiterzuverkaufen. Es gibt genug Menschen, die, auch wenn sie die Kunst der Dunkeldornmagie nicht beherrschen, ein Vermögen dafür ausgeben. Sei es aus Gründen des Aberglaubens oder um es auf dem Schwarzmarkt irgendeinem Tölpel weiterzuverkaufen, der meint, die Gabe der Dunkeldornmagie zu besitzen. Eine einzige Ampulle, Opal, lässt uns und viele andere auf der Dunklen Allee, für die wir mitsorgen, für einige Zeit über die Runden kommen.«

Ich stieß einen leisen Seufzer aus. »Dann haben wir wohl eine Abmachung.«

So würde es also laufen: Ich würde einen Pakt mit der Blenderin eingehen. Ich würde riskieren, dass sie am Ende des Tages doch noch auf die Idee käme, dass das Kopfgeld auf mich ein lohnenswertes Geschäft war. Du setzt all dein Vertrauen in diese Fremde, Opal.

Aber hatte ich eine Wahl? Konnte ich mir Misstrauen überhaupt leisten?

Die Blenderin ließ sich schließlich zu einem kaum merklichen Grinsen hinreißen. »In der Tat, Opal. Jetzt musst du mich allerdings entschuldigen: Wir öffnen bald, und es gibt noch einige Vorbereitungen zu treffen. Lass dir bitte von Vic, die du eben an der Bar kennengelernt hast, hier ein Zimmer und eine Mahlzeit geben, du siehst nämlich schrecklich aus, wenn du mir die Bemerkung verzeihst. Wir müssen dich wirklich herrichten, damit du übermorgen nicht auffällst. Denn eins ist gewiss: Ich habe einen Ruf zu verlieren. Wer für den Blender arbeitet, kann sich in dieser schönen Stadt so nicht sehen lassen.«

2 Eine königsgleiche Vorstellung

Ich weiß, dass Menschen einander nur Dinge erzählen, wenn sie sich davon etwas versprechen, es sei denn, sie sind Familie oder Freunde. Und Ihr und ich, wir sind beides nicht.

Nein, das sind wir nicht. Aber wir könnten es sein. Wir könnten alles sein, Opal. Wir könnten alles sein.

Ich würde mich in die Höhle des Löwen wagen müssen. Mitten hinein. Das war pure Selbstauslieferung.

Nervös sprang ich auf die Beine und begann, mich mit einem kleinen Stück duftender Seife und dem kalten Wasser vom Vorabend zu waschen. Dass ich mich säubern konnte, war in dieser Spelunke ein Luxus, denn die wenigen Zimmer hier waren noch spärlicher ausgestattet als die Schlafräume des Personals an der Universität.

Außerdem hatte ich eine Garnitur neuer Kleidung zur Verfügung gestellt bekommen und meine eigene, völlig verdreckte im Zuber waschen können, sodass ich, wenn der Auftrag erledigt war, zumindest vorzeigbar wieder auf die Straße zurückkehren würde.

Dann aber hoffentlich mit dem Schlüssel zur Universität in der Tasche.

Unruhe machte sich in mir breit. Ich hatte schlecht geschlafen und fühlte mich unausgeruht. Zu den finsteren Träumen, in denen Menschen schrien und brüllten und starben und von schwarzen Nebeln gefressen wurden, hatte sich in den letzten beiden Nächten noch ein weiterer gesellt: ein Traum, in dem der Königsgleiche mich fand.

Wie in den unzähligen Nächten zuvor hatte ich mich am Vorabend in den Schlaf gequält und mir Gedanken über das letzte Zusammentreffen mit dem Königsgleichen gemacht. Nicht jenes in dem Haus seines Bediensteten, in dem wir uns zum ersten Mal nähergekommen waren, in dem uns das laute Aussprechen von Geheimnissen einander vertraut gemacht hatte, sondern das, in dem ich sein wahres Gesicht kennengelernt hatte.

Du bist zu wertvoll für mich, das waren seine Worte gewesen, sie hatten sich in mir eingebrannt. Aber bis heute hatte ich ihre Bedeutung nicht verstanden. Wie sollte ich, die Dunkeldornmagie nur aufbrechen, nur inhalieren, nur zerstören oder neutralisieren konnte, irgendeinen Wert für ihn haben? Brauchte er nicht genau das Gegenteil? Jemanden, der ihm zu Dunkeldornmagie verhalf? Jemanden wie die Professorin, wenn sie nur Erfolg vorweisen konnte?

Ich nahm die neue Kleidung vom Stuhl und zog mich an. Streifte das schlichte, knöchellange schwarze Kleid mit Spitze an den Ärmeln und am Halsausschnitt über den Kopf, kämmte dann meine am Vorabend gewaschenen Haare und band sie zu einem Dutt zusammen. Ich hätte mich, von all dem Straßenschmutz befreit, besser fühlen müssen, stattdessen kam ich mir ohne diese Schicht, die mich verborgen und verzerrt hatte, entblößt und unsicher vor.

Ich schüttelte heftig den Kopf, als könnte ich diese Gedanken dadurch loswerden. Ich durfte mich vom Königsgleichen nicht so sehr vereinnahmen lassen, vor allem, wenn er noch viele Straßenviertel von mir entfernt war und ich mich auf meine abendliche Aufgabe konzentrieren musste.

Aber der Gedanke daran machte es auch nicht besser, und die Panik unter meiner Haut drohte mich zu übermannen, wie sie es in den letzten beiden Tagen immer wieder getan hatte. Was hatte ich mir verdammt noch mal bei diesem waghalsigen Plan gedacht? Ich hatte keinen Schimmer, wie ich meine Fähigkeiten kontrollieren oder bewusst einsetzen konnte – wie also sollte ich eine Grenze aus Dunkeldornmagie durchbrechen? Und zwar ohne dass es jemand mitbekam, vor allem besagte Dunkeldornmagier oder gar der Königsgleiche nicht? In den Wochen auf der Flucht hatte ich mir um wichtigere Dinge Gedanken machen müssen als darum, meine Gabe zu stählen.

Unten im Hauptraum, in dem Bier und Essen ausgegeben und Haus und Hof bei Karten- und Würfelspielen verzockt wurden, wartete Vic bereits mürrisch auf mich.

»Du bist zu spät«, herrschte sie mich an. »Du sollst noch was essen, bevor es losgeht. Der Blender hat Schiss, dass du sonst vor Aufregung in Ohnmacht fällst und ihm den Plan versaust.«

Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und musterte mich so böse, als wäre ich an ihrem Elend und dem der ganzen Welt schuld. Aber nach zwei Tagen hatte ich gelernt, ihre schroffe Art nicht persönlich zu nehmen. Sie behandelte jeden so, nicht nur mich, also hatte sie nicht mit mir, sondern eher mit sich selbst ein Problem.

Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich auf einen der Barhocker am Tresen, wo sie einen tiefen Teller und einen Krug Weinschorle abgestellt hatte. Ein dickflüssiger Eintopf aus Kartoffeln und Gemüse mit zwei Scheiben hartem Brot warteten auf mich. Allein bei dem Geruch wollte sich mir der Magen umdrehen. Entgeistert starrte ich auf die Pampe. Wie sollte ich auch nur einen Bissen herunterbekommen, wenn ich in wenigen Stunden, sobald der Abend zu dämmern begann, dem Königsgleichen gegenüberstehen würde? Auch wenn – wie die Blenderin sagte – aus sicherer Entfernung und unter einem edlen Hut verborgen und von einer oder zwei Untergebenen der Blenderin umringt.

»Mach kein Theater«, murrte Vic. »Runter damit.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«

Vic rollte die Augen und knallte das Handtuch, das sie über die Schulter geworfen hatte, auf den Tresen. Ihre kurzen angegrauten Haare umrahmten das schmale, kantige Gesicht.

»Meine Güte, keine Ahnung, wieso die Chefin auf dich baut, wenn du es nicht mal mit einem Teller Eintopf aufnehmen kannst. Kapier echt nicht, was die an dir findet.« Sie fuhr fort, sich über mich und meine Unfähigkeit zu beschweren, während sie durch den Raum stapfte und in einem Hinterzimmer verschwand. Durch die offene Tür drangen Geschirrklappern und leises Zetern zu mir herüber, während ich mir einige Löffel Eintopf einverleibte und dagegen ankämpfte, dass er wieder hochkam. Er schmeckte widerlich.

Ich nutzte Vics Abwesenheit, um den Rest unangetastet stehen zu lassen und mich mit der Weinschorle unbemerkt wieder nach oben zu verziehen. Ich war so müde und erschöpft von den letzten Nächten, in denen ich kaum ein Auge zugetan hatte und, wenn doch, nur von quälenden Träumen heimgesucht worden war.

Vor dem Spiegel, der mit Staub und fettigen Fingerabdrücken überzogen war, blieb ich kurz stehen und betrachtete mein Gesicht. Ein paar feine Sommersprossen hoben sich von der blassen Haut ab. Die Angst vor der Nacht stand mir überdeutlich in der Miene geschrieben. Das musste ich in den Griff bekommen, wenn ich meinen Auftrag mit Erfolg hinter mich bringen wollte.

Aber wenn ich ehrlich zu mir war, hatte ich Angst. Nicht nur vor dem Gefangenwerden, vor dem Königsgleichen, vor einer möglichen Falle, nein. Vor allem hatte ich Angst davor, zu versagen, dass meine Kräfte mich im Stich ließen, weil ich, seit ich auf der Flucht war, keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, mich mit ihnen zu beschäftigen oder gar zu üben. Was, wenn es mir nicht gelingen würde, die Blenderin durch die magische Grenze zu schleusen, oder wenn – was viel dramatischer wäre – ich dabei alle anwesenden Dunkeldornmagier auf mich aufmerksam machen würde? Was, wenn meine Gabe für sie wie eine leuchtende Sonne war? Wie sollte ich Julian aus seinem Kerker befreien, wenn ich selbst in einen gesteckt wurde?

Ich hob die Hände und musterte sie nachdenklich. »Kann ich mich auf euch verlassen?«, flüsterte ich in den stillen Raum, der mir nur mit Schweigen antwortete. »Oder lasst ihr mich im Stich, wenn ich euch am meisten brauche?«

Als ich mich auf das Bett legte, um noch für einen Moment zu ruhen, hatte ich das Gefühl, von innen heraus zu erfrieren. Kaltes Eis aus Panik, Sorge und Unsicherheit kroch von meinen Füßen aufwärts über meine Haut und wollte mich einhüllen, bis ich nicht einmal mehr einen Atemzug tätigen konnte.

Wir könnten alles sein, Opal. Wir könnten alles sein.

Ein polterndes Klopfen an der Tür ließ mich aufschrecken. Ich war tatsächlich eingenickt und fühlte mich nun noch mehr gerädert.

»Opal, bist du fertig?«, tönte die Stimme der Blenderin dumpf durch die geschlossene Tür.

Ich räusperte meine schlaftrunkene Stimme, ehe ich zu einer Antwort ansetzte. »Einen Augenblick noch, ich komme sofort.«

Ich sprang auf und zerrte hastig an dem schwarzen Kleid, um die knittrigen Falten wieder glatt zu bekommen. Fahrig überprüfte ich meine Frisur und setzte den Hut auf, der schon seit dem Vortag auf dem Tisch auf seinen Einsatz wartete.

Dann entriegelte ich die Tür und zog sie auf. Im Gang standen die Blenderin und zwei Männer, allesamt ordentlich und bürgerlich, aber nicht zu fein gekleidet. Auch die Blenderin, die sonst deutlich eleganter daherkam als ihre Gefolgschaft, hatte ihre gewohnte Kleidung gegen etwas Schlichteres getauscht. Über dem Arm trug sie einen kleinen Korb, der mit einem Tuch abgedeckt war. Ich stutzte kurz. Dann blinzelte ich.

»Das Tuch bewegt sich«, stellte ich fest.

»Aber natürlich«, erwiderte die Blenderin so gut gelaunt, als stünde uns ein Jagdausflug bevor.

Ich zuckte die Schultern und hakte nicht weiter nach. Stattdessen stiegen wir die Stufen hinab und verließen die Spelunke. Draußen atmete ich die warme Luft ein, die bereits nach Festlichkeiten, Aufregung und Mystik roch. Ich hatte die Bar in den letzten beiden Tagen nicht verlassen, weil wir beide Furcht gehabt hatten, dass man mich so kurz vor dem Ziel noch schnappen könnte. Dass der Königsgleiche sich unter das gemeine Volk mischte, geschah nicht sehr oft, sodass es in den Straßen schließlich nur so von Uniformierten wimmelte, die nach möglichen Sicherheitslücken suchten, Sperren errichteten und Stationen aufbauten, durch die man den Königsgleichen und die Zunft aus Dunkeldornmagiern sicher zur Parkanlage schleusen konnte, ohne dass sie dafür dieselben Wege wie die einfachen Bürger nutzen mussten.

Die Blenderin hielt sich so dicht an mir, dass sich unsere Arme beim Gehen berührten. Ihre beiden Gefolgsleute teilten sich Vor- und Nachhut. Ob sie Angst hatte, dass ich mich im Getümmel von ihr losreißen würde? Ob sie nicht verstanden hatte, dass ich das alles hier für diesen verdammten Schlüssel tat?

Wir ließen das ärmlichere Arbeiterviertel, in dem die Dunkle Allee und die Zermahlerin lagen, bald hinter uns und folgten dem Schwarm an Schaulustigen zur Parkanlage. Ich wusste, dass der Park, der normalerweise nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, sondern den Adeligen, der Dornenfamilie und den Dunkeldornmagiern und an den Wochenenden auch den Studierenden vorbehalten war, in der Nähe des Schwarzen Kolosseums gelegen war. Ich hatte mich in den letzten Wochen von jenem Ort ferngehalten, weil ich ihn nicht nur mit schlechten Erinnerungen verband, sondern auch mit einer Vielzahl an Uniformierten. Die Fabrik hatte ihre eigenen Schläger, um sich um widerspenstige Arbeitende oder zu aufdringliche Bettler zu kümmern.

»Halt den Kopf gesenkt«, raunte die Blenderin mir zu. »Wir sind bald da. Dementsprechend werden wir bald von Uniformierten umringt sein. Es dämmert zwar, aber wer dir zu nahe kommt, könnte dich dennoch erkennen.«

Nun berührte ihre Hand meinen Unterarm, ob aus einer Geste der unterschwelligen Drohung oder des Trostes, vermochte ich nicht zu sagen.

Obwohl ich ihrem Rat Folge leistete und den Blick auf die Füße der Menschen richtete, die vor uns liefen, wagte ich hier und da vorsichtige Seitenblicke auf die Umgebung. Die Straße zur Parkanlage war mit Lichterketten gesäumt, die an den Ästen der Bäume befestigt waren. Die anderen Menschen, die mit uns zum Ort der Veranstaltung strömten, redeten laut miteinander, lachten, versprühten Freude und merkliche Aufregung über ein wenig Abwechslung im tristen Alltag. Viele von ihnen hatten den Königsgleichen noch nie zu Gesicht bekommen und witterten nun eine Möglichkeit, ihm aus der Ferne zuwinken zu können. Ihm, dem Königsgleichen, der wahr gewordenen Prophezeiung.

Wenn sie nur wüssten …

Bald wandelte sich der Boden unter meinen Füßen. Das graue, die Hitze des Tages abstrahlende Pflaster wich grünem Gras, Gänseblumen und Kleeblättern. Ich wagte es, das Kinn anzuheben. Der Park war voller Schatten spendender Bäume, aber gleichzeitig so groß und weitläufig, dass die mannshohe Bühne, die in der Mitte aufgebaut worden war, von allen Seiten gut einzusehen war. Auch hier war alles mit Lichterketten, die von einem Baum zum nächsten gespannt waren und sich quer durch die Parkanlage zogen, angenehm dezent erleuchtet. Viele – hauptsächlich ärmere – Menschen hatten es sich auf der Grünfläche bequem gemacht und sich an den äußeren Rändern in Gruppen hingesetzt, aber die meisten drängten zur Mitte hin, um möglichst nahe am Geschehen zu sein.

Um ihn zu sehen, ihm nahe zu sein, vielleicht ein wenig von seinem Schein einzufangen.

Schon jetzt konnte ich die Grenze, von der die Blenderin gesprochen hatte, sehen. Wie eine schmale, schwarz flirrende Mauer erstreckte sie sich rings um die Bühne und umschloss zugleich die vordersten Stuhlreihen für die Wohlhabenden. Erstaunlicherweise ähnelte sie jenen unsichtbaren Türen in der Bibliothek, die ich während meiner Zeit an der Universität erkundet hatte. Einige Meter hinter der Bühne gab es außerdem ein Zelt aus dicken, weichen Teppichen und schwarz-goldenen Stoffbahnen, in die das königliche Emblem in Form einer Dunkeldornblüte eingestickt war. Wer sich hinter den Zeltwänden verbarg, ließ sich nur erahnen, aber die hohe Zahl an Uniformierten ließ mich zu dem Schluss kommen, dass der Königsgleiche sich dorthin zurückgezogen hatte und sich auf seinen Auftritt vorbereitete.

Aber auf was für einen Auftritt?

Ich wusste, dass er ein Betrüger war, er hatte es mir höchstpersönlich gesagt. Dass er die Legende, die Prophezeiung an sich gerissen hatte, dass er mit ihr spielte und sich selbst als der Auserwählte inszenierte, obwohl er nicht einmal ansatzweise die Macht der Dunkeldornmagie beherrschte. Was also wollte er hier vorführen? Würde er mit der Hilfe verbündeter Dunkeldornmagier ein Spektakel ertricksen, das aus faulen Zaubern bestand?

»Wir müssen dichter heran«, wisperte die Blenderin in mein Ohr, als ich ihr gezeigt hatte, wo sich in etwa die Grenze befand. Sie hatte mich immer noch nicht losgelassen, im Gegenteil. Bisher war sie die Souveränität in Person gewesen, doch an der Heftigkeit, mit der sie meinen Arm umklammerte, spürte ich, dass auch ihre Nervosität zugenommen hatte.

»Wie soll das gehen?«, fragte ich leise zurück. »Da sind überall Uniformierte.«

Statt mir eine Antwort zu geben, zerrte sie mich weiter durch die sich immer enger aneinanderdrängenden Menschen. Eine seltsam elektrisierende Stimmung lag in der Luft. Das Gerede war trotz der offenen Anlage unter freiem Himmel so laut, dass die Blenderin und ich unsere Gesichter zusammenstecken mussten, wenn wir einander verstehen wollten.

Je weiter wir uns nach vorne drängelten, desto lauter wurde das Rauschen in meinen Ohren. Die Riege der Dunkeldornmagier wurde nicht nur durch die flirrende Mauer aus Magie von uns abgetrennt, die ich mit jedem Schritt besser erkennen konnte, sondern auch durch unzählige Uniformierte, die sich in gleichmäßigen Abständen zwischen den Besuchern aufgestellt hatten. Nur noch wenige Schritte, und wir würden vor einem der Bewaffneten stehen, hinter dem drei Armlängen weiter die magische Grenze flimmerte.

Die Blenderin versuchte, uns an dem Uniformierten vorbeizulotsen, indem sie ihn zunächst ignorierte. Der Mann aber streckte den Arm aus und hinderte uns am Weitergehen.

Jetzt, dachte ich. Jetzt ist es vorbei. Jeden Moment fliegt meine Tarnung auf.

»Erst durchsuchen«, sagte er überraschend freundlich. »Für die Menschen in den vorderen Reihen gelten leider verschärfte Sicherheitsregeln. Wir müssen Euch auf Waffen und spitze Gegenstände hin kontrollieren.«

Die Blenderin widersprach nicht, sondern bedeutete ihren Begleitern, zurückzubleiben, und streckte die Arme ein Stück nach oben, damit er ihre Kleidung nach Messern, Pistolen oder sonstigen Waffen absuchen konnte. Ich tat es ihr gleich, und natürlich fand er nichts.

Als die Blenderin weitergehen wollte, hielt er uns abermals auf. »Entschuldigt. Menschen mit Körben oder Tragetaschen können wir leider nicht vorlassen«, erklärte er bedauernd. »Den müsst Ihr leider hierlassen.«

Die Blenderin riss die Augen auf. »Oh nein, verzeiht mir, guter Mann, das wusste ich nicht.« Sie schüttelte den Korb kaum merklich, sodass das Tuch sich direkt wieder bewegte. Ich fragte mich, was genau sie vorhatte, weil ich ihr Handeln nicht durchschaute.

Sie hob das wollene Tuch ein wenig an, bis sich eine neugierig schnüffelnde Nase ans Tageslicht schob. Beinahe hätte ich gelacht, riss mich aber rechtzeitig zusammen.

»Seht, ich wollte meinem kleinen Bert auch einmal den Königsgleichen zeigen«, sagte die Blenderin mit einem weinerlichen Unterton. »Ich wusste ja nicht, dass es verboten ist, einen Korb mitzubringen. Aber bei all den Menschen hätte ich ihn nicht an der Leine führen können, er würde doch zertrampelt werden, da er noch so klein ist. Jetzt habe ich ihn ganz umsonst mit auf den weiten Weg genommen, nur dass wir so kurz vor dem Ziel scheitern.« Sie stieß einen Klagelaut aus, um den sie jede Schauspielerin beneidet hätte.

Ich konnte dem Uniformierten an der Nasenspitze ansehen, wie unwohl er sich fühlte. Er trat von einem Fuß auf den anderen und kratzte sich an der Stirn, als wüsste er nicht, wie er mit der wehklagenden Frau vor sich umgehen sollte.

Die Blenderin schüttelte kaum merklich das Körbchen, sodass der Hund darin jaulte. »Oh, armer Berti!«, rief sie laut aus. »Jetzt kannst du den Königsgleichen gar nicht sehen, obwohl ich es dir versprochen habe. Bitte sei nicht böse auf dein Frauchen. Ich wusste es doch nicht besser.« Sie schniefte vernehmlich.

Der Uniformierte blickte über die Schulter, als wollte er sich vergewissern, dass ihn keiner seiner Kollegen hören konnte. »Geht schnell voran, Madame. Ich möchte ausnahmsweise ein Auge zudrücken. Aber sagt nicht, dass ich derjenige war, der Euch übersehen hat.« Er zwinkerte verschwörerisch, und die Blenderin strahlte ihn an. »Oh, danke«, zischte sie begeistert. »Berti und ich danken Euch vielmals!«

Bevor der Uniformierte es sich anders überlegen konnte, hatte sie sich bei mir untergehakt und zerrte mich weiter.

»Einen Hund habe ich nicht erwartet«, wisperte ich mit einer Mischung aus Staunen und Anerkennung. »Was genau habt Ihr unter dem armen Tier versteckt?«

Die Blenderin schenkte mir ein strahlendes, selbstgefälliges Lächeln. »Man geht niemals ohne Waffen auf eine solche Mission, Opal. Lass dir das gesagt sein.«

Es war nicht leicht, bis in die vordersten Reihen vorzudringen. Die beiden Untergebenen der Blenderin konnten uns mit ihrer bedrohlichen Ausstrahlung nicht mehr helfen, und die Zuschauer, die sich bereits einen Platz ergattert hatten, waren bereit, ihn bissig und bis aufs Blut zu verteidigen. Einen Königsgleichen, murrten einige, sah man schließlich nicht alle Tage.

Aber die Blenderin wäre nicht die Blenderin gewesen, wenn sie nicht eine gewisse Ellenbogenfähigkeit besessen hätte, um uns durch die Menge zu schleusen. Wir landeten schließlich unmittelbar vor der magischen Mauer, nicht ganz mittig vor der Bühne, weil wir das Risiko nicht eingehen wollten, in direkter Sichtweite des Königsgleichen zu enden, sondern am linken Rand. Die Blenderin streckte vorsichtig die Hand aus, die nur ein paar Zentimeter vor uns in der Luft hängen blieb. Sie konnte die Grenze im Gegensatz zu mir, die ich schon in der Magie der Verschleierung geübt war, nicht sehen, aber durchaus spüren.

Die magische Grenze wurde auch auf der anderen Seite bewacht. Ich hatte noch nie so viele Dunkeldornmagier auf einem Haufen gesehen wie am heutigen Tag. Viele der in schwarze Umhänge mit goldenen Stickereien eingekleideten Männer und Frauen waren an der Grenze positioniert. Ein leichter Schatten umgab sie – das Dunkeldornpulver entfaltete seine Macht und hüllte sie in ihre Magie ein, mit der sie die Mauer errichtet hatten.

Die Furcht, die ich über dem Ablenkungsmanöver der Blenderin kurz vergessen hatte, war mit einem Schlag wieder da. Was, wenn eine Art Alarmsystem in der Magie eingewoben war? Wenn die anwesenden Dunkeldornmagier es sofort spüren würden, sollte sich jemand an der Grenze zu schaffen machen?

»Alles in Ordnung?«, flüsterte die Blenderin in mein Ohr. »Du siehst aus, als würdest du jeden Moment in Ohnmacht fallen. Untersteh dich!«

»Ich bin nervös«, gab ich zu, auch wenn ich mich noch im selben Augenblick darüber ärgerte, Schwäche zu zeigen.

Doch die Blenderin nickte zufrieden. »Das ist gut. Wer nervös ist, wird nicht unvorsichtig oder zu waghalsig. Eine gesunde Prise Angst schadet nie, pflege ich zu sagen. Sie darf einen nur nicht übermannen. Aber das wird bei dir nicht passieren, Opal.« Ihre Stimme triefte vor Optimismus.

Danke für den Druck.

Noch brauchte ich mir keine Gedanken darüber zu machen, wie ich unbemerkt ein Schlupfloch in die Mauer aus schimmernder Dunkeldornmagie brechen konnte. Das sollte ich erst dann tun, wenn die Menschen so gebannt von der Darbietung des Königsgleichen waren, dass niemand – nicht das gewöhnliche Volk und auch nicht die Dunkeldornmagier – auf mich achten würde.

Wir warteten einige Minuten, während sich immer mehr Menschen in den Park treiben ließen und sich Körper an Körper reihte. Verirrte Hände berührten fremde Haut, hier versehentlich, da aus Absicht, manche raunten einander etwas zu, andere lachten, wieder andere schwiegen, als wären sie bereits von einer feierlichen Laune ergriffen, nur weil der Königsgleiche über denselben grünen Rasen wandelte wie sie alle.

Wenn sie nur wüssten, dass sogar dasselbe gewöhnliche Blut in seinen Adern floss. Menschliches, nichtdunkeldornmagisches Blut. Nichts Außergewöhnliches, nichts Prophezeites.

Aber mir blieb keine Zeit, mir weiter Gedanken über die schuldlose Unwissenheit des Publikums zu machen. Es war so weit. Die wallende Tür des schwarz-goldenen Zelts wurde von einem Uniformierten zurückgeschlagen, und jemand trat in Begleitung von zwei weiteren Uniformierten hinaus.

Nein.

Nicht jemand.

Er.

Der Königsgleiche.

Mir stockte unweigerlich der Atem, obgleich ich mich für diese Reaktion hasste. Der Königsgleiche war nicht königsgleich, und genau aus dem Grund, dass er mich – und alle anderen – belogen und betrogen hatte, hatte er meinen Respekt und meine Faszination nicht verdient.

Dennoch stockte mir der Atem, und ich konnte nichts, aber auch gar nichts dagegen tun. Vielleicht, weil er trotz allem doch königsgleich daherkam, weil er aufrecht und stolz über das Gras schritt, weil das Schwarz, das er trug, ihn majestätisch, weil das angedeutete, kühle Lächeln auf seinen Lippen sein Gesicht schöner und ferner und schrecklicher machte.

In diesem Augenblick war er alles, aber nicht gewöhnlich. Ich hatte nur nicht sofort erkannt, wieso das so war, wieso er heute anders wirkte als bei jenen Malen, in denen wir manchmal nur handbreit voneinander entfernt gewesen waren.

Ihn umgab ein Schatten, der ihn größer machte, der aus ihm mehr formte, als er normalerweise war.

Ihn umgab der Schatten der Dunkeldornmagie.

Ich biss mir auf die Lippen, um keinen Laut der Überraschung auszustoßen, der mich womöglich verraten hätte.

Wie zur Hölle war das möglich? Er hatte mir ins Gesicht gesagt, dass er alle nur an der Nase herumführte. Ich wusste, dass er keine Macht über die Dunkeldornmagie besaß, also wie verdammt noch mal war das möglich?