Tochter des dunklen Waldes - Katharina Seck - E-Book

Tochter des dunklen Waldes E-Book

Katharina Seck

4,7
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Morgenwald ist verboten. Er ist Nacht. Er ist gefährlich. Seit sie denken kann, weiß die junge Lilah um die finsteren Legenden über den Morgenwald. Doch außerhalb der Geschichten gab es nie eine echte Bedrohung - bis am Waldrand die Leiche einer unbekannten Frau gefunden wird. Zur gleichen Zeit verschwindet Dorean, der Mann, den Lilah heimlich liebt. Und alle Spuren weisen in den Morgenwald. Lilah folgt ihm - und entdeckt die Geheimnisse des Waldes, die so viel größer sind, als sie je hätte ahnen können ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 567

Bewertungen
4,7 (26 Bewertungen)
21
3
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1. Zehn Jahre später

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

Epilog

Nachwort und Danksagung

KATHARINA SECK

ROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Originalausgabe

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: © Anke Koopmann unter Verwendung eines Motivsvon iStockphoto/StudioThreeDotsUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook production: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4003-7

www.bastei-entertainment.com

Für Pete.

Prolog

Das Märchen vom träumenden Mädchen und dem Eichenherz

Es dämmerte über Grünweite, einem Dorf, das angesichts des riesigen Waldes, an den es grenzte, so seltsam winzig wirkte wie ein achtlos gesetzter Tintenklecks neben einer großen dunkelgrünen Fläche auf einer Landkarte. Die Dämmerung warf lange Schatten über das Dorf, ein Schleier des Verborgenen schwebte über ihm und hielt Neugierde und Fragen ab wie das Dach über dem Wirtshaus den prasselnden Regen, der den frühen Sommertag erschütterte.

Das Wirtshaus Schwarze Eiche war der Mittelpunkt des Dorfes, ein Ort, an dem die Menschen sich zum Essen, Trinken, Lachen und Leben trafen. Dort war man beinander und formte die Dorfgemeinschaft, zu der man über die Jahrzehnte zusammengewachsen war. Die traditionsreiche Schenke wurde von Ben, einem rotbärtigen, sanften Hünen, und seiner Frau Marta geführt, die für ihre Kochkünste nicht nur in Grünweite geschätzt und verehrt wurde. Zu ihnen gehörte ihre gerade zu einer jungen Frau heranwachsende Nichte Lilah, die sie nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufgenommen und aufgezogen hatten.

Die knarzende Tür aus uraltem Holz öffnete sich. Einige Dorfbewohner schritten über die Schwelle und brachten feuchte, kalte Luft in das Gasthaus, das mit herb duftendem Feuerholz geheizt wurde. Stimmengewirr erfüllte die Luft mit einer Lautstärke, welche die Menschen enger zusammenrücken ließ, damit sie einander verstehen konnten. Die Männer kamen von der Arbeit; die meisten von den Feldern, andere aus der Schmiede, aus Läden und aus den ungefährlichen Wäldern im Osten, hinter denen die Nachbardörfer lagen. Alle waren erschöpft von der harten, körperlichen Arbeit, hatten Hunger und vor allem Durst auf einen guten Schluck selbstgemachtes Bier. Oft kamen auch die Frauen dazu, deren Kinder alt genug waren, um allein daheimzubleiben.

Unter dem riesigen Wirtsraum gab es noch einen alten Keller, in dem die Vorräte für das kommende Jahr sowie alte, reparaturbedürftige Möbel aufbewahrt wurden, die der Hausherr für die Gästezimmer benutzen wollte, die er nach einem Brand im Dachgeschoss neu aufbaute.

Grünweite lag am Rande eines Waldes und war nicht sehr groß. Etwa hundert Menschen lebten hier. Bis zur nächsten größeren Stadt musste man vier oder fünf Tagesmärsche einberechnen. Der Anspruch der Einwohner war nicht hoch. Sie lebten von dem, was die Natur ihnen gab und was sie mit ihren Händen anbauen konnten. In den letzten Jahrzehnten hatte die Natur es so gut mit ihnen gemeint, dass sie von der Ernte und der überschaubaren Viehzucht leben konnten.

Obwohl das Dorf abgelegen war, gab es immer wieder Gäste, die auf der Durchreise waren und eine Weile bei ihnen rasteten, ehe sie weiterzogen. Meistens, ohne ihr Ziel zu verraten.

Lilah war besonders neugierig auf die Reisenden, die von weit her kamen; neugierig, was es draußen in der Welt wohl noch so geben mochte, abseits des Dorfes und der Gaststätte, abseits der Nachbardörfer, die noch winziger waren als Grünweite. Sie fühlte sich schon lange eingesperrt zwischen Alltag und Gewohnheit, die keine Veränderung und erst recht nichts Aufregendes brachten. Außerdem war das Dorf von zwei Seiten vom undurchdringlichen Morgenwald umschlossen, der das Erkunden der Welt deutlich erschwerte. Denn das Betreten des Morgenwaldes, das lernte jeder Dorfbewohner von Kindesbeinen an, war streng verboten.

Das Wirtshaus füllte sich weiter, bis schließlich jeder Platz mit Männern und Frauen besetzt war. Die Männer kamen an den Tresen, um Bier und verdünnten Wein zu holen und an ihre Tische zu bringen. Die Stube war erfüllt mit dem deftigen Geruch von Fleisch und von Erzählungen über die Ereignisse des Tages, von Tratsch aus den Nachbardörfern und dem Lachen der jungen Männer über derbe Scherze.

Auch an diesem Abend holte der junge Knabe Simmon, Enkel des Bürgermeisters Gerard und ein begabter Musiker, nach dem Essen seine Fidel heraus und spielte ein schnelles Lied, dessen Rhythmus den Raum einnahm und die versammelten Menschen sich unbewusst im gleichen Takt wiegen ließ.

Die Menschen liebten diese Augenblicke, in denen die wachsende Heiterkeit, aufgestaut durch das Zusammensein und Bens gutes Bier, sie dazu brachten, die harte Arbeit und die Sorgen des Tages für eine Weile zu vergessen, in denen sie erhitzt und ausgelassen waren, in denen Lachen und heiße Freude die Lasten auf den Schultern vertrieb. Das musste ein gutes Wirtshaus erreichen: Die Menschen vergessen lassen, was hinter der Schwelle lag, sodass sie ihre Bürden zumindest für einige Stunden draußen stehen ließen.

Irgendwann ließen sich die Frauen von der Musik hinreißen und tanzten in der Mitte des Raumes. Die wadenlangen Röcke drehten sich bei der Bewegung, blähten sich auf, wenn die Tür geöffnet wurde, und draußen konnte man den Lichtschein in der Nacht leuchten sehen, der das Zentrum des Dorfes erhellte.

Unter dem Licht des Mondes thronte, in schlafender Schönheit und ganz in Schwarz gehüllt, der gewaltige Morgenwald wie ein angsteinflößender Wächter. Die Umrisse des dunklen Waldes erschienen einem bereits am Tage furchterregend, doch nichts konnte die Bedrohung beschreiben, die er bei Nacht ausstrahlte, wenn ihm die Sonne nichts von seiner Bedrohlichkeit nehmen konnte und er sich in seiner ganzen Finsternis erheben konnte.

Simmon spielte zwei, drei weitere Lieder, ehe er seine Fidel für eine Pause zur Seite legte. Seine Finger waren wund, und sein Instrument war alt und abgegriffen, und es zu spielen, wurde zunehmend schwerer.

»Wenn ich doch nur in den Wald gehen und mir ein gutes, feines Holzstück für eine neue Fidel besorgen könnte«, seufzte er und strich über den mitgenommen aussehenden Korpus des Streichinstruments.

Die ausgelassene Stimmung verschwand so schnell, als hätte ein eisiger Windhauch sie ausgelöscht, sie aufgesaugt und in etwas Hässliches verwandelt. Alle schwiegen betroffen, denn wenn die Bewohner von Grünweite von einem Wald sprachen, dann meinten sie nur den einen: den Morgenwald.

Es gab noch einen anderen Wald im Westen, der zu den nächsten Dörfern und schließlich zur Stadtstraße führte, aber zum Großteil waren die Menschen von Grünweite vom Morgenwald umringt, der sie Nacht für Nacht mit seiner Anwesenheit in einen unruhigen Schlaf wiegte und sie damit zu erdrücken schien.

»Dann geh zum nächsten Markt und kauf’ dir eine neue«, rief Hawer, ein ungemütlicher Genosse, der stets eine grimmige Miene zur Schau trug.

»Das kann ich mir kaum leisten«, murmelte Simmon. »Ich müsste mir selbst eine bauen. Aus gutem Holz. Aus richtigem Holz. Ach, wenn ich doch nur …« Er verstummte, denn jeder konnte ihm den Gedanken, der in seinem Kopf reifen wollte, ablesen. Es war viel zu gefährlich, im Morgenwald nach Holz für ein Instrument zu suchen. Es war zu gefährlich, überhaupt daran zu denken.

»Erinnerst du dich nicht mehr, mein Enkel?«, fragte Gerard leise. »An all die Sagen um Menschen, die in den Morgenwald gegangen und nie mehr zurückgekehrt sind? An Stimmen und Wispern und Wehklagen?«

Natürlich kannte Simmon die Sagen. Alle kannten sie. Die Sagen um verlorene Kinder, um verschwundene Reisende, um Tote und Lebende, um seltsame Geräusche und schwebende Lichter wurden zu jedem Anlass erzählt, zu jeder Sommerwende, zu jedem Winteranbruch, zu jeder Hochzeit, kurz immer, wenn die Grünweiter zusammenkamen. Der Morgenwald und dessen Geheimnisse beherrschten das Dorf, seit sie denken konnten.

Die Ältesten an Gerards Tisch gaben besorgtes Murmeln von sich. Ihre Gesichter waren zu verschreckten Mienen verzogen und ihre Augen blickten verängstigt, als wären sie gerade um Jahre in die Vergangenheit gereist und sähen wieder Männer vor sich, die heute nur noch Geister und längst zu Staub zerfallen waren.

»Erzähl es uns noch einmal, Großvater«, bat Simmon in diese bedeutsame Stille.

»Was möchtest du hören, mein Kind?«, fragte Gerard, obwohl Simmon längst kein Kind mehr war.

»Die Geschichte, mit welcher alles begann. Mit welcher der Morgenwald selbst begann …«

»Du meinst, das Märchen vom träumenden Mädchen und dem Eichenherz?«

Simmon nickte, und den Anwesenden lief ein Schauer über den Rücken. Sie alle kannten das Märchen. Aber es zu kennen und es zu hören, waren zwei unterschiedliche Dinge. Alle Menschen, die jemals in der Nähe des uralten Morgenwaldes gelebt hatten, waren mit dem Märchen aufgewachsen, das einen bis ins Grab verfolgte.

Gerard holte tief Luft. Sein Gesicht war fahl. Er hatte das Märchen schon oft erzählt: Jedem Reisenden, der durch das Dorf gekommen war, denn er wollte sie vor dem gefährlichen Wald warnen. Und jedes Erzählen schien dem alten Mann mehr Kraft zu rauben, sowie jeden Zuhörer mehr und mehr das Fürchten zu lehren.

Gerard räusperte sich, trotzdem klang seine Stimme alt und gebrechlich, wie jene Bäume des kurzen Waldstücks, das sich im Westen in Richtung der nächsten Dörfer auftat und kaum genügend Feuerholz für das Dorf bot.

»Es war einmal«, begann er, »ein junges Mädchen, das in seinem Heimatdorf für seine Neugier bekannt war. Es wollte ausziehen und Länder und Städte entdecken, jeden Stein umdrehen und an jedem Fluss entlangwandern, den diese Welt zu bieten hatte. Die anderen lachten nur über das Mädchen, denn sie hielten seine Träume für kühn und fern. Der harte Alltag, so dachten sie, würde ihr die Träume schon austreiben und sie mit den anderen auf die Felder hinausschicken, wo sie Getreide ernten musste, um zu überleben und keinen Hunger zu leiden. Träumen, so dachten die einfachen Menschen, Träumen war nicht mehr als ein Hirngespinst, das vom wahren Leben abhielt.

Doch das Mädchen dachte gar nicht daran, auf jene Menschen zu hören. Sie bewahrte sich ihre Träume wie einen Schatz, und während sie heranwuchs, betrachtete sie mit zunehmender Sorge den riesigen Wald, der mit jedem Tag wuchs und wuchs und wuchs und sie alsbald von dem Rest der Welt, die sie doch zu erkunden suchte, trennte.

Wie nur, fragte sie sich, sollte sie dieses blickdichte Gehölz jemals durchkämmen? Wie sollte sie einen Weg durch etwas finden, das undurchdringlich schien?

Bald wuchs die Verzweiflung mit dem Fernweh, und sie flehte die höchsten Mächte an, ihr doch einen Weg durch den Wald zu ermöglichen, koste es, was es wollte. Sie wollte die Träume leben, mit denen sie die Nächte und manchmal auch die Tage verbrachte.«

»Koste es, was es wolle?«, fragte jemand, und es war so still, dass man leises Wehklagen und ängstliches Stöhnen hören konnte.

»Was es wolle«, bestätigte Gerard, ehe er fortfuhr. »Bald war der Wunsch des Mädchens, in die Welt hinauszuziehen, so drängend, dass eine arglistige Hexe darauf aufmerksam wurde. Nichts birgt so viel Magie wie die Sehnsucht eines unstillbaren Wunsches oder wie Träume, die noch nicht gelebt waren. Die Hexe gierte so sehr nach diesem Zauber, dass sie als alte Frau verkleidet ins Dorf kam, um dem Mädchen ein Angebot zu unterbreiten. Sie versprach ihr einen zielgenauen Weg durch das Dickicht des Waldes, wenn sie ihr etwas mitbringen würde, eine Kleinigkeit nur, kaum der Rede wert.«

»Was für eine Kleinigkeit?«, rief ein Jüngling, der kaum zwei Hand voll Lebensjahre zählte und das Märchen zum ersten Mal hörte. Seine Miene war ängstlich, und er klammerte sich an den Arm seines Vaters.

»Das Herz der schwarzen Eiche«, antwortete Gerard geduldig. »Die Hexe glaubte, das Herz verliehe ihr Jugendlichkeit und Schönheit und zudem mehr Magie, als sie je besessen hatte. Doch sie hatte gehört, dass ein dunkler Zauber über dem Wald lag, und sie wagte es nicht, ihn zu betreten.

Das träumende Mädchen hingegen wusste von all dem nichts. Sie kannte keine Furcht und keine Magie, sie wollte nur endlich in die Welt hinausziehen und Trott und Eintönigkeit hinter sich lassen. Sie wollte neue Sprachen und Menschen und Lieder kennenlernen. Ein wenig Baumharz im Tausch für eine sichere Reise durch den Wald und ihre Freiheit erschien dem träumenden Mädchen nur gerecht zu sein. Also packte sie ihre wenigen Habseligkeiten in eine Tasche, verabschiedete sich frohen Mutes von ihrer Familie und traf die Hexe an der Waldgrenze. Dort gab die Hexe ihr eine Phiole, in die sie das Herz des Waldes füllen, und eine Wünschelrute, die ihr den Weg durch den undurchsichtigen Wald weisen sollte. ›Folge einfach der Astspitze, und sie wird dir den rechten Weg zeigen‹, sagte die Hexe.

Tatsächlich wusste die Wünschelrute sehr genau, wohin das träumende Mädchen gehen sollte. Es führte sie durch den Wald, der noch dunkler war, als sie es erwartet hatte, und bald schon bekam das träumende Mädchen es mit der Angst zu tun. Je tiefer sie in den Wald vordrang, desto finsterer schien er zu werden. Das träumende Mädchen kämpfte die wachsende Angst nieder, denn immer wieder sagte es sich, dass die Eiche ganz nahe sein musste, und wenn es nur das Harz hatte, dann war es endlich frei. Dann durfte sie leben, was sie träumte.

Bald hatte sie die Eiche erreicht, und sie erschrak fürchterlich, als sie an deren Fuß auf die Knie sank. Die Eiche war schwarz wie die Nacht selbst und der Mittelpunkt des Waldes, und von ihr, dachte das träumende Mädchen, breitete sich die Dunkelheit langsam über den Wald aus.

Obwohl ihre Hände vor Angst zitterten, holte sie die Phiole hervor und streckte die Arme aus, um etwas Harz aus der Rinde der Eiche für die Hexe abzuschöpfen und dann endlich, endlich aus dem Wald in die helle Freiheit hinauslaufen zu können, die dort mit geöffneten Armen auf sie wartete. Das träumende Mädchen konnte den exotischen Duft von fernen Blumen bereits riechen, konnte mächtige Bauwerke und Paläste vor seinem inneren Auge sehen, konnte den Laut fremder Sprachen hören. Vorsichtig zog sie einige Harzfäden aus der Rinde. Im selben Augenblick vernahm sie einen ohrenbetäubenden Schmerzensschrei in ihrem Kopf. Das träumende Mädchen blinzelte, wusste es doch nicht, woher diese Stimme in seinem Kopf kam, und dann sah es, dass die Eiche weinte, sie weinte schwarze Tränen.

›Wie kannst du es wagen, das Herz des Waldes zu stehlen?‹, fragte eine zornige, schmerzerfüllte Stimme. ›Weißt du denn nicht, dass der Wald stirbt, wenn ich sterbe?‹

Wurzeln schossen aus dem erdigen Untergrund und umschlangen erst die Füße des Mädchens, dann seine Beine, seine Hüften und seinen Oberkörper, bis sie auch seine Arme und seinen Hals eisern umfingen und es sich nicht länger rühren konnte. Selbst ihr Mund wurde von einer Wurzel verschlossen, und kein Ton entwich je wieder ihren Lippen. Abseits des Waldes wartete die Hexe vergeblich auf ihre Rückkehr und die Welt ebenso vergeblich auf ihre Erkundungen.

Dort lebt das Mädchen noch immer, dazu verdammt, den Ort niemals verlassen zu können, gebunden an die Eiche, die seinen Körper mit Wurzeln umschließt und gefangen hält und es quält, um es für den Diebstahl zu bestrafen.

Die größte Strafe aber ist das Wissen, dass die Träume ihre Gedanken fortan nie verlassen werden. Die Strafe ist so groß, dass das träumende Mädchen, das nun niemals wieder träumen, sondern nur noch auf der Stelle verharren kann, wahnsinnig wurde, und ihr Wahnsinn ist so gewaltig, dass er fortan jeden Wanderer, der sich in den Wald verirrt, ansteckt und mit in ihre Finsternis zieht, auf dass sie den Wald nimmermehr verlassen können, sondern fortan als dunkle Gestalten durch den Schatten der Bäume spuken.«

Im Saal hätte man eine Stecknadel fallen hören können, nachdem Gerard geendet hatte. Obwohl das alles Stoff aus einer vergangenen Zeit zu sein schien, war es eben das nicht: Es war nicht vorbei. Es war immer noch da, immer noch gegenwärtig, und niemandem schien es zu gelingen, das gesichtslose Dunkle, das im Morgenwald lauern sollte, zu benennen, ebenso wenig es zu vergessen. Es blieb wie ein Dieb in der Nacht. Es blieb in Gestalt des träumenden Mädchens, das seine Träume verloren hatte.

Nur langsam kamen die abgebrochenen Gespräche wieder in Gang, und bald war die gewohnte Lautstärke wieder erreicht.

Und doch, etwas war anders … Der Schatten des Morgenwaldes schien an jenem Abend etwas näher an die Dorfbewohner herangerückt zu sein.

Und ihre Träume … Die versteckten die Menschen sorgsam in ihren Herzen und den geheimsten Winkeln ihrer Gedanken, auf dass sie niemals in Versuchung geraten sollten, dem Wald auch nur einen einzigen, waghalsigen Schritt zu nahe zu kommen.

1.Zehn Jahre später

Lange bevor ich sie das erste Mal von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, kannte ich ihren Geruch. Ohne ihn richtig benennen zu können, wusste ich, dass er mich an ein blaues Feld erinnerte, an Lavendel kurz vor seinem Blütehöhepunkt. Ich konnte darin die verlockende Süße riechen, das Versprechen von Sonne und Licht.

Und ich wusste, dass ich diesen Duft nie wieder vergessen würde. Er hatte sich in mir eingebrannt, eine Spur aus Feuer, für immer und ewig.

Lilah war an diesem Morgen früh unterwegs. Sie mochte es, schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen zu sein, sie mochte den nassen Morgentau an ihren Knöcheln, wenn sie durch die Wiesen streifen und auf Erkundungsjagd gehen konnte. Das war die Zeit des Tages, die nur ihr allein gehörte, bevor die Vorbereitungen für das Öffnen des Wirtshauses sie ab dem Mittag in Beschlag nahmen und die Abend- und Nachtstunden schließlich für das Bewirten der Gäste gebraucht wurden. Es war die Zeit der Stille, die nur durch ihre Gedanken gebrochen wurde, nur durch Gespräche, die sie sich in ihrem Kopf zurechtlegte und die sie vielleicht nie führen würde.

Ein leiser Windhauch strich über die Wiesen, und die wilden Blumen beugten sich unter seinem sanften Ansturm. Die Sonne stieg höher, kletterte über die hohen, eng beieinander stehenden Bäume, die das Dorf größtenteils umschlossen und eine dichte Mauer bildeten. Der Schatten des Waldes wanderte mit dem Aufstieg der Sonne, bis sie es schließlich in gleißendes Licht tauchte und die morgendliche Kühle vertrieb.

Hinter den Blumenwiesen begann eine schier endlose Reihe Felder. Felder, die seit Jahrzehnten von einem derart reichhaltigen Boden bedeckt waren, dass die Bewohner von Grünweite Getreide und Gemüse auf ihnen anpflanzen konnten. Sie waren für ihre reiche Ausbeute und das schmackhafte Gemüse so bekannt, dass einige Männer der benachbarten Dörfer in den Sommermonaten zum Arbeiten und Ernten kamen.

Als Lilah über die Wiesen schlenderte, dachte sie, wie nahe der Sommer doch plötzlich war. Vorgestern hatte es sich noch nach Winter angefühlt, nach Kälte, Eis, Schnee und Kaminfeuer, und gestern waren die ersten Blütenköpfe aus dem Boden geschossen. Heute roch es plötzlich nach Sommer, nach heißen, versengenden Tagen und langen Abenden, nach sternenklaren Nächten und Regen, der schwer und gewaltig duftete und vielleicht die ersehnte Abkühlung brachte.

Und Lilah dachte auch, dass die Zeit mit jedem Jahr immer schneller verstrich und mit ihnen die Jahreszeiten. Und plötzlich war dann der Sommer da, nach dem sie sich immer am meisten sehnte, wie ein lang erwarteter Gast, der mit einem vernehmbaren Klopfen an der Türschwelle stand.

Auf dem Arm trug Lilah einen geflochtenen Korb, in dem sie Lavendel sammelte, der auf einer der Wiesen jenseits der beackerten Felder wuchs. Die Wiese war wie ein Meer, jedenfalls stellte Lilah sich den Ozean so vor: blau und weit und sich im Wind wiegend. Nur der Geruch war nicht salzig und sehnsüchtig machend, sondern süß und beruhigend und verlockend zugleich. Für Lilah gab es keine andere Pflanze, deren Geruch es vermochte, sie so sehr zu verzaubern wie Lavendel.

Sie schlug einen ausgetretenen Pfad ein, der nur von Stiefeln, Menschenfüßen und vielleicht dem ein oder anderen Pfotenabdruck eingetreten war, und folgte ihm, bis sie den Rand der Lavendelwiese erreicht hatte. Sie ergoss sich wie ein Wellenmeer vor ihr, tanzte sachte mit der Brise, während die Sonne über ihrem Kopf höher und höher stieg. Wenn sie hier draußen war, unter dem bloßen Himmel, mit den nackten Füßen im weichen Gras, dann war Lilah sie selbst, und es gab nichts, das sie erschüttern konnte. Sie konnte frei sein und ihren Gedanken erlauben, jeden Ort dieser Welt zu betreten, wie sie es sich so oft wünschte, fernab des beengenden Dorflebens und den oft einseitigen Gesprächen der hier lebenden Menschen.

Lilah blieb stehen und ließ den Korb zu Boden gleiten, ehe sie selbst in die Knie ging und mit den Fingern vorsichtig über den Lavendel strich. Der Blumenduft grub sich in sie ein, fühlte sich vertraut und heimisch an. Der Duft würde noch stundenlang an ihren Fingern kleben und sie wie der Hauch eines Parfüms verfolgen.

Der Wind wehte stärker und bog die Lavendelzweige zur Seite. Eine weitere Duftwolke blies intensiv über die Wiese, und … Neben dem Geruch der blauen Blüte war dort noch etwas anders. Ein weiterer Duft, der durchdringend und verführerisch war, und vertraut dazu.

Dorean.

Es war der Duft einer Sommernacht, von Blumen, die einen heißen Tag überstanden hatten, und von dem Versprechen einer lauen, sternenklaren Nacht, nachdem die sengende Sonne endlich hinter dem Horizont untergegangen war. Der Duft von der frischen Windbrise, die die erhitzte Haut kühlte. Dieser Geruch war beruhigend und verlockend, aber es lag auch eine unterschwellige Dunkelheit darin, die Lilah nicht recht beschreiben konnte.

Lilah kannte Dorean seit fast zehn Jahren. Er lebte in einem der Nachbardörfer, auch wenn er noch nie verraten hatte, in welchem. Über die Sommermonate kam er, wie einige der anderen Männer aus den ärmeren Dörfern auch, nach Grünweite, um auf den Feldern zu arbeiten. Bens Gasthaus Schwarze Eiche war in dieser Zeit immer gut gefüllt, und meistens nahm auch Dorean sich dort ein Zimmer.

Lilahs Herz schlug bis zum Hals, denn der bekannte Geruch weckte Erinnerungen, die über den Winter halb vergessen und unter Schnee und Eis verdeckt gewesen waren; Erinnerungen an einen langen Sommer, an Nächte unter dem Sternenhimmel, der die ganze Welt widerzuspiegeln schien, vor allem aber Lilah und Dorean selbst.

Es war ein Sommer voller geflüsterter Gedanken gewesen, ein Sommer, in dem sie beinahe jeden Abend nach Schließen der Schenke dazu genutzt hatten, Wiesen und Wälder zu durchstreifen, dicht an den Grenzen des Morgenwaldes entlang, um sich die schrecklichen Geheimnisse auszumalen, die in seinem Inneren verborgen waren. Auch Dorean kannte das Märchen vom träumenden Mädchen und dem Eichenherz, denn auch wenn sein Dorf nicht so dicht am Morgenwald lag, war er ihm doch nahe genug, um seinen Bewohnern Furcht einzujagen.

Sie beide hatten sich ausgemalt, dass das träumende Mädchen noch immer dort spukte und mit seinen Tränen den verfluchten Wald vergiftete und jeden in den Wahnsinn trieb, der sich darin verirrte. Und trotz der Angst, mit der Lilah und Dorean aufgewachsen waren, empfanden sie beide doch eine starke Faszination für den dunklen Wald, seine Pflanzenwelt und seine Geheimnisse, von denen sie sich schworen, sie eines Tages zu lüften.

Dann hatten sie darüber gelacht, und die Dunkelheit schien fern zu sein, wie hinter einem Vorhang verborgen. Lilah war glücklich gewesen, ihr Herz hatte bei Doreans Anblick und wenn er sie zum Lachen brachte oder ihr Blumen zeigte, die sie noch nicht kannte, schneller geschlagen.

Aber dann war er, kurz bevor der Sommer zu Ende gewesen war und die Männer in ihre Heimatdörfer zurückkehren konnten, verschwunden. In der Nacht noch hatte er sie während Donner und Blitz geküsst, sodass sie seinen Duft nach Sommernacht so tief einatmen konnte, dass sie ihn nie mehr vergaß, und dann war er mit dem Morgengrauen gegangen. Der Herbst und schlussendlich der Winter waren ins Land gezogen, ohne dass Lilah ein Wort von ihm gehört hatte. Kein Besuch, kein Brief, keine wenigen Zeilen mit einer Erklärung, nichts. Es war, als hätte der erste gemeinsame Sommer und die flüchtigen Begegnungen in den Sommern davor nie stattgefunden.

Nun war er wieder da, sein Duft noch derselbe wie vor einem Jahr, und Lilah hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Sie konnte seine Umrisse in der Ferne ausmachen, wo er mit einer Gruppe Männer zu den Feldern unterwegs war, auf denen die Bauern des Dorfes wie Gerard, Hawer und einige andere bereits arbeiteten. Er ging ein Stück hinter ihnen her, deutlich abgegrenzt; etwas, das sich über die Jahre nicht verändert hatte.

Sie senkte den Kopf und schnitt fein säuberlich einige Lavendelzweige ab, band sie mit stabilen Gräsern zusammen und stapelte sie in ihrem Korb vorsichtig aufeinander. Sie arbeitete sich den Pfad entlang, der an die Lavendelwiese grenzte, und nahm immer nur hier und da einige Zweige, denn sie wollte keine Lücken im Lavendelmeer hinterlassen.

Als der Korb gut gefüllt war, hob sie ihn auf den Arm und trug ihn den Rest des Weges hinunter, der an den Feldern, auf denen sich die Bauern und Arbeiter gerade versammelten, vorbeiführte.

Beinahe unendlich weit schienen die Felder mit der goldenen Gerste zu sein, die sich vor Lilahs Auge erstreckten. Dahinter befanden sich weitere Felder mit Kohlgemüsesorten, bereits geernteten Frühlingskartoffeln, und bald würde die Sonne auch die Tomaten zur Reife gebracht haben. Schon oft hatten sich die Dörfler gefragt, was es war, das den Boden so nährreich machte. War es die Nähe zum Morgenwald, der sich dunkel und bedrohlich direkt hinter den Feldern emporhob? Selbst Lilah, die die Natur liebte, war sich nicht sicher, ob der Morgenwald nicht mehr ein Fluch als ein Segen war. War es Magie, die Gemüse und Getreide aus dem Boden sprießen ließ? Die durch die Zäune floss, welche die Dorfbewohner zu ihrem Schutz gebaut hatten, damit die dunklen Schatten, die in den Tiefen des Waldes lauerten, fernblieben?

Das Fell der dunkelbraunen Pferde, die zur Feldarbeit eingesetzt wurden, glänzte im morgendlichen Schein der Sonne, die den Morgentau langsam vertrieb. Die Nässe des Taus versickerte im Boden, und die winzigen Wasserperlen, die auf den Gräsern und Pflanzen verweilt hatten, trockneten bei den steigenden Temperaturen. Lilah genoss die Tageszeit, die hier draußen in Stille getaucht war, während es im Dorf bereits von Umtriebigkeit wimmelte. Sie wollte noch nicht dorthin zurückkehren, wo Ben und Marta mit einem Haufen Arbeit auf sie warteten. Bettwäsche musste gewaschen und zum Trocknen im Hinterhof aufgehängt werden, das Abendessen, ein Wildeintopf mit frischem Brot, wollte vorbereitet werden, denn die Männer hatten Hunger, wenn sie von der harten Knochenarbeit auf den Feldern zurückkamen.

Aus der Gruppe von Arbeitern, die Lilah gerade in einigem Abstand passierte, löste sich eine Gestalt und bewegte sich auf sie zu. Lilah blieb stehen und hob schützend eine Hand vor die Augen, damit sie mehr als nur dunkle Umrisse erkennen konnte.

Wieder schlug ihr Herz schneller, denn allein seine Silhouette war ihr schmerzhaft vertraut. Alles an ihm war vertraut: sein forscher Gang, die vom Wind zerzausten, leicht welligen, braunen Haare, deren warmer Ton perfekt mit den ungewöhnlich hellen Bernsteinaugen harmonierte, der ernste Gesichtsausdruck, dem nur selten ein Lächeln zu entlocken war, und wenn dann nur, wenn er fernab von Menschen und draußen in der freien Natur war.

Bald waren sie nur noch wenige Meter voneinander getrennt, und die nächste Windbrise blies seinen Geruch, der bis dahin kaum mehr als eine Ahnung gewesen war, stärker in ihre Richtung.

»Lilah.«

Seine Stimme klang zögerlich, als wüsste er nicht recht, was er sagen sollte. Dieser Farbton war beruhigend und seltsam melodisch, und doch lag etwas Disharmonisches darin, wie eine fehlende Saite in einem Harfenspiel. Sie rührte etwas in Lilah, jedes verdammte Mal.

»Hallo Dorean«, antwortete sie, und obwohl ihre Finger zittern wollten, gab Lilah sich Mühe, ruhig und beherrscht zu sein. Sie wollte nicht, dass er spürte, was er mit seinem Auftauchen in ihr aufwühlte, wollte nicht an Sommernächte und Lachen und stundenlanges Reden bis zum Sonnenaufgang denken. Der Herbst hatte diese Erinnerungen verblassen lassen und der Winter sie schließlich begraben. Dachte sie …

Doreans Augen wanderten über ihr Gesicht, suchten nach einem Anzeichen dafür, was in Lilahs Kopf vor sich gehen mochte. Aber den Gefallen wollte sie ihm nicht tun. Sie drückte den Korb mit dem gepflückten Lavendel enger an ihren Körper.

Dorean verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Er schien unruhig zu sein, gehetzt, als wäre eine Meute Wölfe hinter ihm her. Unter seiner sonnengebräunten Haut war er blass, und die Ringe unter seinen Augen warfen deutliche Schatten. Er wirkte kränklich und müde.

Lilah unterdrückte das Mitleid, das sie für ihn empfinden wollte. Es war unpassend, hatten sie einander doch fast ein Jahr nicht gesehen. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet. Der Mann, den sie so gut zu kennen geglaubt hatte, wäre nicht einfach verschwunden, ohne sich je zu melden.

»Du bist also auch wieder da«, sagte sie, um die angespannte Stille zu überwinden. Obwohl im Hintergrund die Geräusche der Natur erklangen, war dieses peinliche Schweigen zwischen ihnen. Warum war er überhaupt zu ihr rübergekommen, anstatt sie einfach ins Dorf ziehen zu lassen?

Dorean trug die Arbeitskleidung, die Lilah noch vom Vorjahr kannte: eine abgewetzte Leinenhose, die er zwar immer wusch, aber aus der die Erdflecken doch nie ganz herausgingen, und ein beigefarbenes Leinenhemd, das er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte und das seine gebräunten Unterarme entblößte. Lilah hatte den Anblick seiner Hände stets geliebt, denn sie schienen ihr für mehr geformt zu sein als nur für Feldarbeit.

»Der Winter war lang genug. Ich bin froh, wieder hier zu sein«, antwortete Dorean schulterzuckend und mied ihren Blick, als sie die Stirn runzelte. »Im Winter gibt es zu wenig Arbeit«, ergänzte er. »Oder man muss bereit sein, in die Städte zu gehen, und wie du weißt, mag ich Städte nicht.«

Lilah nickte kaum merklich, während sie sich an ihren einzigen Ausflug in die nächste Stadt erinnerte, der schon Jahre zurücklag. Sie hatte Ben ewig in den Ohren gelegen, dass er sie mitnahm, denn er fuhr meistens nur zwei- oder dreimal im Jahr mit dem Pferdewagen in die Stadt, um Vorräte für die nächsten Monate einzukaufen. Durch seine reichhaltigen Ernten war Grünweite größtenteils in der Lage, sich selbst zu versorgen, aber auf einige seltene Güter wollten die Dorfbewohner dennoch nicht verzichten.

Lilah jedenfalls war der Ausflug in die Stadt ein Grauen gewesen. Überall waren Menschen gewesen, es herrschte Rastlosigkeit und Unruhe. Jeder schien es eilig zu haben, und sie hatte den rauen, befremdlichen Umgangston der Einwohner nicht gemocht. Außerdem hatte sie schon in dem Augenblick, in dem sie das Stadttor passiert hatten, das Gefühl gehabt, von all den Häusern, Bauwerken und engen Gassen eingesperrt zu werden. Die hohen Wände schienen sich um sie zusammenzuziehen und sie einzuengen wie ein wildes Tier, das gefangen und gezähmt werden sollte. Alles war grau und trist, selbst der Himmel jenseits der Dächer.

Niemals wieder, hatte Lilah sich geschworen.

»Ich auch nicht«, murmelte sie geistesabwesend, noch in der Erinnerung gefangen.

»Ich weiß. Das habe ich nicht vergessen«, erwiderte Dorean leise, und die Vertrautheit, die er damit weckte, zupfte an Lilahs Herz und ließ sie frösteln. Oder vielleicht, vielleicht war es auch nur der Wind, der aus dem Morgenwald kam. Dieser Wind, der selbst im Hochsommer immer eisig war. Dann kam es ihr so vor, als wäre der Morgenwald nicht nur Kernpunkt von Fabelgeschichten, sondern sein eigener Erzähler mit einer dunklen, bedrohlichen Stimme.

Lilah presste die Lippen aufeinander. Sie wurde unruhig, weil sie schon viel zu lange auf der Stelle stand und Doreans Duft nach Sommernacht einatmete, der ihre Sinne benebelte. »Ich muss jetzt weiter. Es gibt noch so einiges in der Schwarzen Eiche zu erledigen, ehe der Abend anbricht«, sagte sie und trat wild entschlossen an ihm vorbei.

Doreans Finger zuckten, als ob er am liebsten nach ihrer Hand gegriffen hätte, als ob er sie festhalten und mit ihr da weitermachen wollte, wo sie aufgehört hatten, genau an jenem Punkt, an dem er verschwunden war.

Aber davon, dachte Lilah wehmütig, schienen sie im Augenblick weit entfernt zu sein.

2.

Wie soll man die Tür zur Vergangenheit schließen, wenn das Schloss zerbrochen ist, wenn es keine Möglichkeit gibt, die dunklen Erinnerungen hinter ihr zu verschließen? Wenn man dem, was man zu verbergen versucht, wehrlos ausgesetzt ist?

Wenn man so nahe am Wald lebte, sah man die Sonne selten in voller Gänze aufgehen. Man erahnte den Sonnenaufgang, weil das Schwarz der Nacht mit jedem Blick auf den Himmel ein wenig mehr verschwand, weil es an Intensität und Bedrohlichkeit verlor, weil die Sterne verblassten und sich die Farbpalette eines Malers langsam über dem Himmel ausbreitete, bis der Tag sich dann vollends entfaltete. Aber der Horizont, der Himmel und Erde teilte, blieb dem Betrachter immer verborgen. Die Sonne selbst bekam man erst zu sehen, wenn sie über dem Morgenwald aufgestiegen war und ihr Licht von keiner Baumkrone mehr abgefangen und zersplittert wurde.

Es war beinahe Mittag, als Lilah die Schenke Schwarze Eiche erreichte. Sie war nach der Begegnung mit Dorean nicht sofort nach Hause gegangen, weil ihr Kopf noch mit Gedanken gefüllt war, die nach Ordnung verlangten. Sie war über Wiesen gestreift und hatte Ausschau nach Kräutern gehalten, die in dieser Zeit wuchsen und mit denen sie ihren Vorratsschrank wieder auffüllen musste: Minze sowie Salbei, der bei Halsschmerzen und Husten, vor allem in Kombination mit Bienenhonig, Wunder wirkte.

Pflanzen und Kräuter sammeln und sie zu wirksamen Salben zu Arzneien verarbeiten, gehörte zu Lilahs größten Leidenschaften. Sie hatte sich im Laufe der Jahre einen hohen Wissensstand angeeignet, weil sie ihrer Mutter früher gern über die Schulter gesehen hatte. Außerdem liebte sie die Natur, und wenn man so viel Zeit damit verbrachte, sie zu beobachten, dann verstand man irgendwann ihre Eigenarten und ihre Wirkung.

Lilah stellte den Korb mit den gepflückten Lavendelzweigen auf den Tresen und holte einzelne Äste heraus, die sie mit Schnüren zu kleinen Bündeln zusammenband, um sie dann in Vasen mit frischem Wasser auf den Tischen zu verteilen. Die lilafarbenen Blüten verströmten ihren angenehmen Duft in den geräumigen Saal, bis er in jeden unebenen Winkel vorgedrungen war. Dann entfernte sie mit einem Tuch den abgefallenen Blütenstaub von dem blank polierten, dunklen Holz. Ben legte Wert darauf, dass das Mobiliar sorgsam gepflegt wurde – auch von seinen Gästen. Randale, Streitigkeiten und Gewalteskalation duldete er unter seinem Dach nicht.

Lilah faltete das lederne Tuch zusammen und legte es in ein Regal in der kleinen Abstellkammer, die sich neben dem Schankraum befand und in der einige alte Lumpen, ein Besen, Scheuermilch und einige Fässer Bier aufbewahrt wurden. Daneben gab es eine Küche, in der ihre Tante Marta gerade das Abendessen zubereitete. Köstlicher Geruch nach würzigem Fleisch drang durch den Türspalt in den Schankraum, bei dem Lilah das Wasser im Munde zusammenlief. Wenn ihre Tante etwas konnte, dann war es kochen. Dafür war sie im ganzen Dorf bekannt – und auch in den umliegenden.

Unter dem riesigen Wirtsraum gab es noch einen alten Keller, in dem sie die Vorräte für das kommende Jahr sowie alte, reparaturbedürftige Möbel aufbewahrten. Lilah war immer wieder erstaunt, dass es sich lohnte, Zimmer zum Übernachten anzubieten. Grünweite war nicht sehr groß, doch wuchs es allmählich, denn das Land, das sie bewirtschafteten, blieb ertragreich. Etwa über einhundert Einwohner lebten hier. Aber vor allem in den Monaten des Säens und später der Ernten war Hochzeit in der Schwarzen Eiche. Alle Zimmer waren belegt, und die Männer der angrenzenden Orte brachten Leben ins beschauliche Grünweite.

Nun aber herrschte angenehme Stille im Gasthaus. Einzig die Geräusche aus der Küche erklangen, und irgendwo aus dem Hinterhof tönte ein leises Fluchen, während Ben versuchte, ein gebrochenes Stuhlbein neu zu leimen.

Das, dachte Lilah, genau das, war Heimat: bekannte Geräusche, knarzende Dielen, vertraute Stimmen im Hintergrund, das Rauschen des Windes in den Fensterläden, der Duft nach Holz und Familie und Mahlzeiten, die Mägen und Herz wärmten – und das beruhigende Gefühl, nicht allein zu sein. Und doch hatte sie manchmal den nicht fassbaren Eindruck, dass da noch mehr sein musste, mehr Sehnsucht, irgendetwas in der Ferne, das diese Sehnsucht zu stillen vermochte.

Lilah räumte den Korb ebenfalls in die Abstellkammer, ehe sie sich an die Arbeiten machte, die zu erledigen waren, bevor die Männer von den Feldern kamen und sich über ihr Abendessen hermachen wollten. Sie wischte Tische und Stühle ab, klopfte die Polster auf den Bänken vor der Tür aus, kehrte den Dielenboden mit einem Besen, reinigte Geschirr und Gläser vom Vorabend, überprüfte die Biervorräte und half schließlich Marta bei den Vorbereitungen. Der Geruch von Wildeintopf und frischem Brot zog bald schon einladend durch die Schenke, bis Lilah das Wasser im Munde zusammenlief. Ben hatte den Stuhl mittlerweile wieder instand gesetzt und zu den übrigen gestellt. Die Sonne wanderte gemächlich über den Himmel und kündigte den frühen Abend an, der ihnen die Gäste in die Stube treiben würde. Lilah wischte die wenigen Staubkörner vom glänzenden Tresen, stellte Geschirr, Besteck und Bierkrüge auf die Platte dahinter, um die Gäste gleich zügig bedienen zu können.

Bald wurde die Tür von außen aufgestoßen und die ersten Männer kamen hinein. Sie brachten den Geruch von wilder, aufgerauter Erde und Pflanzen mit sich, den Geruch von körperlicher Arbeit. Die Männer setzten sich auf ihre gewohnten Plätze, und noch ehe Lilah reagieren konnte, hieb einer von ihnen die Faust auf die Tischplatte.

»Wird man hier nach einem anstrengenden Tag auch noch bedient?«, rief Hawer von einem Tisch in der hintersten Ecke laut. Die Männer, die bei ihm saßen, lachten dröhnend. Es waren grobschlächtige Männer mit ungepflegten Bärten, Schwielen an den Händen und fehlendem Gespür für unangebrachte Dinge. Lilah hatte keine Angst vor ihnen, denn sie kannte sie schon von klein auf, aber sie mochte sie auch nicht sonderlich. Sie hatten wenig Respekt für Frauen übrig. Sie verkniff sich eine spöttische Antwort, die ihr auf der Zunge lag, denn sie wollte ihrem Onkel keinen Ärger bereiten.

»Aber natürlich«, rief sie süßlich und öffnete ein Fass, um Bier in die bereitstehenden Krüge laufen zu lassen. Die Tür öffnete sich wieder, und ein weiterer Schwung Feldarbeiter trat mit dem Schmied des Dorfes ein und suchte sich einen Platz. Unter ihnen war auch Dorean. Lilah nickte betont gleichgültig zu den Männern, ohne Dorean besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Er setzte sich mit Simmon in eine ruhige Ecke, fernab von Hawer und seinen Leuten. Sein Blick war auf die Männer gerichtet, die so laut waren, dass sie den ganzen Schankraum mit Lärm füllten. Sein Gesicht war im Schatten verborgen und auf eine seltsame, aber nicht beunruhigende Weise starr, sodass Lilah nicht erkennen konnte, was er von den Männern hielt. Trotz seiner Regungslosigkeit strahlte Dorean eine Gegenwärtigkeit aus, der Lilah sich nie ganz entziehen konnte. Er war wie ein sanft schimmerndes Licht in einer dunklen Straße für sie, all die Jahre schon.

Die Tür schwang ein weiteres Mal auf, und eine Handvoll älterer Männer kam mit dem Abendwind herein. Es waren die Dorfältesten, darunter auch Bürgermeister Gerard, die sich an den größten Tisch in der Mitte des Raumes setzten, nachdem sie Hawer und die anderen Männer mit einem Nicken begrüßt hatten.

Ihr Onkel trat an Lilahs Seite und bedeutete ihr, sich um Dorean zu kümmern. Er sah es nicht gern, wenn sie Hawer und den anderen zu nahe kam, dazu waren sie zu ungehobelt. Doch viel lieber hätte Lilah genau das getan und den rauen Männern die Stirn geboten. Stattdessen strich sie nun ihr Leinenhemd glatt und kam hinter dem Tresen hervor, um zu Dorean zu gehen. Dabei erschien es ihr, als würden ihre Stiefelabsätze ungewöhnlich laut auf den Holzdielen widerhallen. Vor seinem Tisch blieb sie stehen, doch er schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Er schien sogar seinen Blick abzuwenden, als hätte er Angst, dem ihren zu begegnen.

»Was kann ich dir bringen, Dorean?« Sein Name kam ihr ungelenk über die Zunge und fühlte sich doch vertraut an, weil in ihr noch der Nachhall des letzten Sommers tobte.

Erst als Lilah unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, wandte er den Blick von Hawer und den anderen ab und schaute ihr ins Gesicht. Seine leuchtenden Augen mit den goldfarbenen Sprenkeln erinnerten sie an einen Bernstein, in dem sich ein Wald in seiner sommerlichen Hochblüte spiegelte. Doch hinter der vermeintlichen Leichtigkeit lauerte etwas Verletzliches, etwas Ungreifbares, das ihn noch geheimnisvoller, aber auch unzugänglicher machte. Etwas, das ihr Herz schon immer berührt hatte, seit dem letzten Sommer aber ganz besonders.

»Was magst du essen?«, fragte sie schließlich, als er nicht antwortete.

»Was gibt es denn heute?«, wollte er wissen.

Lilah strich sich eine Haarsträhne zurück. Sie wusste, dass sie selbstsicher klang, dennoch war sie ein wenig angespannt. Hier war sie Schankmagd, und sie musste mit ihm reden, auch wenn ihr der Sinn mehr nach Flucht stand.

»Wir haben heute Eintopf mit Wild, dazu frisch gebackenes Brot, oder eine Suppe mit Rindfleisch und Kartoffeln. Und zum Nachtisch gibt es frische Beeren, wer möchte.«

»Ich nehme den Eintopf.« Dorean erwiderte ihren Blick für ein, zwei Atemzüge wortlos, dann nickte er langsam und wandte das Gesicht wieder von ihr ab. Er sah erschöpft aus, seine Wangen glühten, als wäre der Tag auf dem Feld zu viel für ihn gewesen.

Lilah versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als sie sich zum nächsten Tisch begab. Dorean war wie eine Feder im Wind, in dem einen Augenblick greifbar und deutlich sichtbar in der Luft schwebend, im nächsten bereits wieder vom Sturm davongetragen. Sie hatte es ja am eigenen Leib erlebt.

Lilah nahm die restlichen Bestellungen auf, während sich das Wirtshaus weiter füllte, bis jeder Platz mit Männern und Frauen besetzt war. Die Männer kamen an den Tresen, um Bier und verdünnten Wein zu holen und an ihre Tische zu bringen.

Die Stube war erfüllt mit dem deftigen Geruch von Fleisch und von Erzählungen über die Ereignisse des Tages, von Tratsch aus den Nachbardörfern und dem Lachen der jungen Männer über derbe Scherze.

Lilah säuberte die leeren Krüge mit klarem Wasser, ehe sie neues Bier einfüllte und diese über den Tresen zu denjenigen, die nach Nachschub verlangten, schob. Simmon, der sein Talent für Lilahs Geschmack hier in Grünweite vergeudete, statt damit in die Welt hinauszuziehen, hatte nach dem Essen seine Fidel hervorgeholt und spielte ein schnelles Lied.

Dorean saß währenddessen allein in seiner Ecke, und obwohl er wie viele andere Männer jeden Sommer kam, fragte sich Lilah, warum er immer noch so isoliert zu sein schien. Bis auf Simmon hatte er hier keine Freunde, und er schien sich auch keine Mühe zu geben, an diesem Umstand etwas zu ändern. Doch als ihr Blick zu Hawer und seinen grölenden Freunden wanderte, fragte sie sich, ob sie das an seiner Stelle wollen würde.

Ihre Gedankengänge wurden unterbrochen, als Gerard an den Tresen kam und ein Wasser bestellte. Er trank bei Weitem nicht so viel wie die anderen Feldarbeiter, denn er war der Ansicht, dass das Bier nur seinen Verstand trübte. Immerhin war er nicht umsonst seit Jahrzehnten Bürgermeister, dachte Lilah belustigt.

»Wie läuft die Ernte?«, fragte Lilah, während sie ihm Wasser aus einem Krug einschenkte.

»Können nicht klagen«, brummte Gerard.

Etwas in Gerards Ton ließ Lilah innehalten. Gerard wirkte abgespannt und erschöpft. Ob er allmählich zu alt für die harte, körperliche Arbeit wurde?

»Aber?«, hakte sie leise nach, obwohl sie ihre Stimme kaum senken musste. Der Lärm aus Fidelklängen und Stimmengewirr um sie herum war erdrückend.

Gerard fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Sein Haar war bereits seit vielen Jahren ergraut, aber nun verschwanden auch die letzten Strähnen des einstmals rabenschwarzen Haares.

»Ach, irgendwie …«, begann er und stockte dann.

»Irgendwie?«, wiederholte Lilah fragend.

Gerard schüttelte den Kopf und griff nach seinem Becher. Er nahm einen kräftigen Schluck und atmete tief durch. Dann lehnte er sich nach vorne, noch dichter zu Lilah, als hätte er Angst, dass jemand anders ein Wort von dem, was er sagen wollte, aufschnappen könnte.

»Dieser Wald bereitet mir zunehmend eine Gänsehaut«, gab er leise zu.

»Der Morgenwald?«

Gerard nickte. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir für alle diese Ernten noch einen hohen Preis zahlen müssen. Dieser verdammte Wald gibt nichts umsonst.«

Lilah starrte nachdenklich aus dem Fenster, das in Richtung Morgenwald zeigte. Dunkel und majestätisch lag er in der untergehenden Abendsonne, eine Ahnung der Finsternis selbst. Der Wald war mehr als nur eine Reihe hoher, uralter Bäume, er war so dicht, dass er wie ein undurchdringliches Labyrinth aus grauen Stämmen und Schatten wirkte, wie ein Sammelsurium aus sich kaum merklich bewegenden Schatten, flimmerndem Zwielicht, das einen kaum mehr als wenige Meter in den Wald hineinsehen ließ, und Vogelgesang, der seltsam dumpf schien, als befände sich zwischen Morgenwald und Außenwelt eine unsichtbare Barriere.

Ein- oder zweimal hatte Lilah es gewagt, bis zur Grenze zu gehen und einen Blick in das Innere des bedrohlichen Waldes zu werfen, und nie hatte sie mehr gesehen als Bäume in dämmriger Dunkelheit, selbst am helllichten Tag nicht. Die Dunkelheit hatte sie nicht so sehr erschreckt wie das Flüstern, das der Wind aus dem Wald zu ihr getragen hatte. Doch schnell hatte sie sich gesagt, dass es vermutlich nur einer der Jungen aus dem Dorf gewesen war, der sich zum Spielen mit den anderen irgendwo im hohen Gras verborgen hatte.

»Ich glaube nicht, dass der Wald Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit unserer Felder hat«, sagte Lilah überzeugter, als sie war. In der Tat war es merkwürdig, dass Grünweite im Umkreis von vielen Tagesmärschen das mit Abstand ertragreichste Dorf war, das wachsen, gedeihen und Handel betreiben konnte wie kein anderes Dorf in seiner Größenordnung.

»Das ist keine Frage des Glaubens, Kind«, brummte Gerard. »Ich spüre diese Magie förmlich, die wie Blütenstaub aus dem Wald über unsere Felder weht. Wie ein kühler Wind an einem Sommertag. Und ich sage dir: Wir werden einen Preis zahlen. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem der Wald oder die Gestalten, die in ihm leben, ein Opfer von uns fordern. Und ich bete zu den Göttern, dass ich dann längst unter der Erde liege.«

»Aber vielleicht«, antwortete Lilah zögerlich, »vielleicht sind die Sagen gar nicht wahr. Vielleicht glauben wir das nur, weil es schon seit Jahrzehnten so überliefert wird, dass etwas im Wald lauert. Vielleicht …«

Doch Gerard schnitt ihr das Wort ab. »Schweig«, sagte er scharf. »Der Wind trägt deine Worte mit sich, und wir wollen keine schlafenden Hunde wecken.«

Beinahe panisch umfasste er seinen Becher, als befürchtete er, dass eine dunkle Gestalt am Fenster stehen und ihrem Gespräch folgen würde, dann trug er ihn an seinen Tisch zurück. Sein Blick wanderte zum Fenster hinaus und blieb irgendwo in der Ferne hängen, ohne sich um die Gespräche zu scheren, die um ihn herum geführt wurden.

Lilah fragte sich, ob er recht hatte, ob irgendwann der Tag kommen würde, an dem das Dorf für seinen Wohlstand zahlen musste, ob der Wald seine Dunkelheit lüften und offenbaren würde, was wirklich in ihm lebte …

3.

Die Dunkelheit der Verwandlung war wie ein tödlicher Nebel, der, sobald er mich nur berührte, alles lahmlegte, der mir die Fähigkeit zu fühlen, zu schmecken und zu riechen stahl.

Es war, als besäße ich nicht länger ein Herz, weil die Dunkelheit alles aus mir heraussaugte, was mich noch ausmachte.

Der Mond schien in dieser Nacht so nah zu sein. Er stand hoch am Himmel und schwebte in seiner gesamten Pracht am Horizont, übersät von schwarzen Flecken, die man nur mit zusammengekniffenen Augen und viel Fantasie erkennen konnte, und umrahmt von winzigen Sternen, die wie wahllos gesetzte, weiße Pinselkleckse am nachtschwarzen Himmel klebten. Dieser Himmel ließ ihn unbedeckt, und so konnte sich sein Licht entfalten und strahlen und Grünweite und die anderen Dörfer und Städte und Wälder dieser Welt auch in der Nacht zu einem Ort werden lassen, an dem die Finsternis nicht völlig Einzug halten konnte. Ein wenig Mondlicht drang auch in die letzten Ecken, in den hintersten Winkel und an den schwärzesten Ort.

Es war eine dieser seltsamen Nächte, in denen die Zeit stillzustehen schien, in denen eine friedliche Ruhe über dem Dorf lag, das nur vom Mond und den wenigen Kerzen in den Fenstern der Häuser beleuchtet wurde, in denen schon längst jeder im Bett lag und vielleicht von einem fremden Leben in einem fremden Land träumte.

Lilah war auf eine der alten Eichen geklettert, welche das Gasthaus umringten und von denen aus sie einen guten Blick über das Dorf hatte. Der mystische Morgenwald schien nun, da Sonne und weichzeichnendes Tageslicht hinter dem Horizont verschwunden waren, an Bedrohlichkeit gewonnen zu haben. Wie ein schwarzer Schlund ruhte er da, die Bäume bewegten sich auch im Nachtwind nicht, zumindest kam es Lilah so vor, als hüllte sich der Morgenwald in eine unnatürliche Reglosigkeit.

Die Stille, die friedlich über dem Dorf lag, war nach dem Lärm, nach dem Stimmengewirr und der Musik in der Schenke eine willkommene Abwechslung, auch wenn sie die Gedanken, die Lilah durch den Kopf schwirrten, nicht recht zum Schweigen bringen konnte.

Er war wieder da. Er war wirklich wieder da. Und hinter dem Groll, den sie gegen Dorean hegte, lauerte noch etwas anderes, mehr: Die alte Vertrautheit war zurück, und dieses unbändige Gefühl, dass sie etwas miteinander teilten, das Gefühl, zuhause in der Fremde zu sein, zwei Verbündete in einem fernen Land, vereint durch eine Sprache, die nur sie beide beherrschten. Lilah war immer wieder davon schockiert, dass ihr erst in Doreans Gegenwart bewusst wurde, wie eingeengt und verloren sie sich manchmal in Grünweite fühlte, auch, oder gerade weil, sie ihre Heimat nur selten verlassen hatte. Bei Dorean spürte sie diese sonst nur leise pochende Sehnsucht nach Orten, die sie noch nicht kannte, nach Wurzeln, die woanders vergraben waren, nach Gerüchen, die sie noch nie gerochen hatte.

Am meisten aber war Lilah von der Selbstverständlichkeit erschrocken, mit der die Vertrautheit wieder Einzug in ihr Innenleben hielt, denn gleichzeitig konnte sie es ihm nicht verzeihen, ihr kein Wort und keinen Brief zum Abschied geschenkt zu haben.

Vielleicht hat er ein Geheimnis, dieser seltsame, junge Mann mit den Bernsteinaugen … Vielleicht verbirgt er etwas, wenn er Abend für Abend nach seinem Mahl in seinem Zimmer verschwindet und nur zum Arbeiten oder zu seinen ausgedehnten Spaziergängen in die Einsamkeit aus den vier Wänden seines Gasthauszimmers kommt.

Lilah kannte jene wispernden Gerüchte. Seit jeher umgab Dorean eine schweigende, fast schon beunruhigende Melancholie, die ihn trotz der Sommer, die er nun schon in Grünweite zum Arbeiten verweilte, immer noch zum Einzelgänger machte. Er mied Gesellschaft, Lärm und Menschenansammlungen. Fast, so konnte man annehmen, mied er das Leben selbst.

Lilah hingegen hatte schnell einen Draht zu ihm gefunden, denn es gab etwas, das sie miteinander verband: ihre Liebe zur Natur, zu Streifgängen durch hochgewachsene Wiesen, an den Wäldern vorbei. Dorean kannte, ähnlich wie sie, jede Pflanze, jede Blume und jeden Baum beim Namen, wusste, wann ihre Blütezeiten waren und welche Heilkräfte sie besaßen, ganz gleich, wie unscheinbar sie aussahen. Lilah kannte niemanden sonst, der selbst kleinste Lebewesen und Insekten mit so viel Sanftmut und Vorsicht behandelte, als wären sie so fragil wie Figuren aus Glas. Jemand, der dem Teil der Natur, der keine laute Sprache besaß, mit so viel Liebe begegnete, konnte kein schlechtes Herz haben, hatte Lilah gedacht, und ihre Zuneigung zu ihm war ganz langsam, ohne dass es ihr bewusst gewesen war, jeden Sommer ein wenig mehr gewachsen.

Und im letzten Sommer …

Ein leises Rascheln riss Lilah aus ihren Gedanken. Sie lehnte sich ein wenig nach vorne, um über den Hof des Gasthauses blicken zu können.

»So weit über dem Erdboden«, tönte eine vertraute Stimme leise und doch laut genug, dass Lilah keine Nuance überhören konnte.

»Was machst du hier?«, wollte sie wissen, zwischen Erleichterung und Wut schwankend.

»Dich irgendwo treffen, wo du nicht davonlaufen kannst.« Doreans Stimme schien näher zu kommen, und Lilah versteifte sich, da der Baum kaum merklich unter seinem Gewicht zitterte, als er den gleichen Weg in die Höhe nahm, den auch sie benutzt hatte: Ast für Ast, bis in die mächtigen Kronen herauf, die sie sorgsam vor neugierigen Blicken verbargen.

»Ich könnte immer noch springen«, murmelte Lilah, als Doreans Gesicht vor ihr auftauchte.

»Das könntest du«, erwiderte er belustigt. »Und du würdest dir alle Knochen brechen.«

Lilah presste die Lippen aufeinander, doch sie wusste, dass er recht hatte. Der Baum war zu hoch, um von diesem Ast in die Tiefe zu springen.

Mit einer letzten Bewegung hangelte Dorean sich auf den breiten Ast neben sie und ließ dann die Beine entspannt im Wind schaukeln.

»Nun?«, fragte Lilah, als er kein Wort sagte. Wieder nicht.

»Nun was?«, wiederholte Dorean und zog eine Augenbraue hoch.

»Du wolltest, dass ich nicht weglaufen kann. Jetzt sind wir hier, und ich laufe nicht weg. Ich tue das nicht.«

Das Mondlicht nahm Dorean gefangen und war so leuchtendhell, dass es jedes Detail seines Gesichts erhellte. Es offenbarte, was in ihm vorging. Es zeigte die dunklen Augenringe und die Falten um Augen und Mund, die sich in nur einem Jahr so sehr vertieft hatten. Es offenbarte eine Erschöpfung, die Lilah an Dorean nicht kannte, die sie verblüffte, denn auch wenn er still und oft unerreichbar zu sein schien, hatte er auf Lilah doch einen beruhigenden Einfluss gehabt. Es war, als erdete er sie.

»Ja«, stimmte er ihr schließlich zu. »Das tust du nicht. Das sähe dir auch nicht ähnlich.«

Lilah runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, was er mit seinen Anspielungen sagen wollte. »Dir sah das auch nicht ähnlich, dennoch hast du es getan«, antwortete sie und wandte den Blick von ihm ab. Zurück zum Morgenwald, der längere Schatten warf, je weiter der Mond wanderte und dabei kaum merklich seine Richtung änderte. Das war das Faszinierendste an den Gestirnen: Man spürte den Wechsel ihrer Positionen kaum an ihren Orten am Himmel, sondern an den Schattengebilden, die sie auf die Erde warfen.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, das nur der Wind mit seinem leisen Rauschen hin und wieder überbrückte.

»Also?«

»Also was?«, wiederholte Dorean, ohne sie anzusehen. Und doch schien er genau zu wissen, was sie hören wollte.

»Warum bist du einfach verschwunden? Warum hast du dich nicht ein einziges Mal gemeldet? Du wohnst nicht am anderen Ende der Welt.«

»Bist du dir da sicher?«, fragte Dorean leise, und Lilah hielt kurz den Atem an. Er hatte recht. Sie war sich nicht sicher, denn eigentlich wusste sie nichts über ihn. Gar nichts. Sie wusste nicht, wo er lebte, wenn der Sommer vorbei war und er Grünweite verließ. Sie kannte seine Familie nicht. Hatte er überhaupt eine? War er auch zuhause ein Einzelgänger?

»Nein, bin ich nicht«, gestand sie, und das Blätterrauschen übertönte ihr Flüstern.

Eine Weile sagte keiner der beiden etwas, und sie starrten über die dunkle Silhouette des Morgenwaldes.

»Weißt du eigentlich, dass die Bewohner der anderen Dörfer Angst vor euch haben?«, fragte Dorean unvermittelt.

»Angst?« Lilah schüttelte verständnislos den Kopf. Mit den Gedanken war sie noch weit fort. »Warum sollten sie Angst vor uns haben? Wir sind doch nur normale Leute wie alle anderen auch.«

»Normal?« Dorean wurde leiser. »Fühlst du dich denn normal?«

Lilah zuckte mit den Schultern und schwieg, denn sie wusste nicht, ob sich ihr Gespräch noch um die Dorfbewohner drehte.

»Ist dir bewusst, wie gut ihr lebt?«, fragte er in einem Ton, als erwartete er keine Antwort von ihr. »Wie reich eure Ernten sind, wie stetig euer einstmals winziges Dorf wächst und gedeiht? Und doch lebt ihr am Fuße dieses Waldes, um den sich alle möglichen Sagen und Geschichten ranken. Der verzaubert und verflucht sein soll … Und somit, so denken viele Menschen, auch ihr.«

»Das ist doch Unsinn«, widersprach Lilah, doch im selben Augenblick kamen ihr Gerards Worte vom Vorabend in den Sinn: Wir werden einen Preis zahlen. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem der Wald oder die Gestalten, die in ihm leben, ein Opfer von uns fordern. Und ich bete zu den Göttern, dass ich dann längst unter der Erde liege.

»Ist es das?«, wollte Dorean wissen. »Ist es Unsinn? Ist es ein Geschenk? Oder ist es ein Fluch …?«

»Dorean, bitte«, unterbrach sie ihn harsch. »Niemand weiß, was in dem Wald lebt. Ob überhaupt etwas darin lebt …«

Eine kühle Brise strich über ihre nackte Haut, zauberte eine Gänsehaut, obwohl sie nicht fror. Es war fast, als bildete sie sich den Wind nur ein, denn alles andere blieb still und reglos, selbst die dünnen Blätter des Baumes, die sonst bei jeder Bewegung und jedem Hauch erzitterten. Es war nicht das erste Mal, dass Lilah glaubte, der Morgenwald triebe einen dunklen, erdigen Geruch oder Blätterwispern zu ihr, wenn sie an der Grenze entlangspazierte, oder den Wind, wenn sie über ihn sprach oder bloß an ihn dachte. Manchmal kam es ihr vor, als steckte Leben in dem Morgenwald, als bewegten sich Schatten hinter dem Dickicht der Waldgrenze, wenn sie blinzelte und nur verschwommen sah.

Lilah schob das unangenehme Gefühl in ihrer Magengegend zur Seite. Sie wollte nicht ständig über den Morgenwald sprechen oder an ihn denken. Das ganze Dorf tat es ständig, und sie glaubte, dass sie sich noch alle mit ihrer permanenten Angst verrückt machten. Dazu brauchte es keinen schaurigen Wald.

»Du schuldest mir noch eine Antwort, Dorean«, sagte sie, fest entschlossen, sich nicht erneut abweisen zu lassen. »Warum bist du gegangen? Einfach so?«

Dorean schaute an ihr vorbei, sein Blick war im Mondlicht seltsam fern. »Ich glaube, der Wald hat mich krank gemacht, Lilah. Verrückt.«

»Der Wald?«, fragte Lilah. »Der Morgenwald?« Ein Frösteln schien ihr Herz mit einer eisernen Faust zu umklammern.

Dorean strich mit den Fingern über die unebene, raue Rinde. »Ich glaube … Ich glaube, er hat nach mir gerufen. Das ist verrückt, nicht wahr? Aber es fühlte sich an wie ein unwiderstehlicher, gefährlicher Sog.« Doreans Bernsteinaugen, die im Schatten lagen, begegneten Lilahs Blick für einen Moment und wanderten dann unruhig wieder zum Morgenwald. Der Wald war wie ein stiller Mittelpunkt, majestätisch und stolz, weil er wusste, dass er nicht um Aufmerksamkeit buhlen musste. Er bekam sie von ganz allein, bekam Herzklopfen und Zittern, feuchte Hände und angehaltene Atem, wenn man an seine Grenzen streifte.

Lilah schluckte, als auch ihr Blick magnetisch vom Morgenwald angezogen wurde. Doreans Worte hatten Erinnerungen in ihr wachgerufen, die sie lieber vergessen wollte, die tief begraben bleiben sollten. Flüsternde Stimmen, die der Wind zwischen den Bäumen des Morgenwalds hinaustrug, die über ihre Haut strichen, verlangend, verlockend und Furcht erregend zugleich. Sie entfachten eine ungeheure Sehnsucht, zerrten an ihren geheimsten Träumen und entfachten einen Zauber wie jener Harfenspieler aus den Märchen, der mit seiner Musik den Kindern den Verstand raubte. Lilah hatte nie jemandem von den Stimmen erzählt. Was würden die Menschen von ihr denken, wenn sie erfuhren, dass sie ein Wispern aus dem dunklen Wald vernehmen konnte? Würden sie nicht glauben, sie wäre seiner schwarzen Magie längst verfallen und sie fortjagen?

Vielleicht können sie die Stimmen auch hören, dachte Lilah. Vielleicht ist das der Preis, von dem Gerard sprach. Dass wir langsam um den Verstand gebracht, dass wir rasend vor Angst werden, ohne es zu bemerken.

»Der Wald ruft niemanden«, antwortete sie, aber ihre Stimme zitterte verdächtig.

Dorean wandte seinen Kopf in ihre Richtung. Zum ersten Mal in dieser Nacht schaute er sie offen an, die Stirn leicht in Falten gelegt. Dann lächelte er, und die Eisenfaust um Lilahs Herz löste sich ein wenig.

»Glaubst du das wirklich?« Sein Blick war durchdringend, legte die erste Schicht ihrer Schutzmauer frei. »Erinnerst du dich nicht mehr an das Versprechen, das wir uns gegeben haben? Dass wir die Wahrheit herausfinden?«

»Es fühlt sich an, als wäre das vor langer Zeit gewesen«, erwiderte Lilah.

Einen Augenblick kam es ihr so vor, als wollte Dorean noch etwas sagen. Er rang nach Worten, öffnete den Mund, schloss ihn aber dann doch und zuckte die Schultern. »Ich werde jetzt ins Bett gehen. Die Sonne geht in wenigen Stunden auf, und dann ruft die Arbeit auf den Feldern.« Er stützte sich am Baumstamm neben Lilah ab und machte Anstalten, nach unten zu klettern.

»Warte«, sagte sie ohne nachzudenken und griff nach seinem Arm, um ihn, wenigstens für einen Augenblick noch, daran zu hindern, den Baum hinunterzuklettern, und vielleicht endlich eine Erklärung zu bekommen.

Es war das erste Mal, dass sie ihn wieder berührte. Das erste Mal seit fast einem Jahr, dass sie die Wärme seiner gebräunten Haut spürte. Seine Haut und das Muskelspiel darunter, das seine Anspannung verriet, waren fremd und vertraut zugleich, sodass Lilah nicht wusste, ob sie ihn festhalten oder sogleich wieder loslassen sollte.

Und dann, einen Wimpernschlag später, hielt Lilah den Atem an, als ihr bewusst wurde, dass etwas nicht stimmte, dass etwas ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte.

Doreans Haut glühte wie aufglimmende Kohle.

4.