Die dunkle Loge: Brennendes Eis - Mina Miller - E-Book

Die dunkle Loge: Brennendes Eis E-Book

Mina Miller

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Beschreibung

Das Leben hat es mit Rebecca nicht immer gut gemeint: Mit ihrem aufreibenden Job als Assistentin des charismatischen Oberstaatsanwalts Patrick Belter hält sie sich, ihre kranke Mutter und ihren geliebten Hund über Wasser. Ihre Schwärmerei für Patrick ist Rebeccas süßes Geheimnis. Eines Tages wirft ein auf Patrick verübter Bombenanschlag Rebeccas geordnetes Leben aus den Bahnen. Sie wird nicht nur in den Kampf gegen die geheimnisvolle Dunkle Loge verwickelt, sondern sie wird auch aus ihrer Komfortzone katapultiert. Gezwungen, zusammen mit Patrick in einem Safe House unterzutauchen, wird ihre Sehnsucht nach ihm immer größer. Der Dominus Patrick fühlt sich ebenfalls zu seiner Assistentin hingezogen, zögert aufgrund schlechter Erfahrungen aber, sie in seine Welt der Dominanz und Unterwerfung einzuführen. Kann Rebecca den Eispanzer um Patricks Herz zum Schmelzen bringen? Die Ruhe vor dem Sturm ist beinahe greifbar. Als Rebecca endlich dem Boss der Dunklen Loge gegenübersteht, muss sie ihren ganzen Mut zusammennehmen, denn Patricks und ihr Leben stehen auf dem Spiel. Abschlussband der romantischen BDSM-Reihe rund um "Die dunkle Loge".

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Mina Miller

Die dunkle Loge 4: Brennendes Eis

© 2022 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

Covergestaltung: © Mia Schulte / Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)

ISBN Taschenbuch:978-3-86495-568-6

ISBN eBook: 978-3-86495-569-3

Alle Rechte vorbehalten. Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Darsteller, Orte und Handlung entspringen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv eingesetzt. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Vorkommnissen, Schauplätzen oder Personen, lebend oder verstorben, ist rein zufällig.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Danksagung

Autorin

Kapitel 1

Die Aufzugtür öffnete sich und Rebecca schob die Aktenordner, die sie auf ihrer Hüfte abstützte, höher. Sie ging eilig den langen Flur entlang, blieb vor einer gläsernen Tür mit der Aufschrift Staatsanwaltschaft stehen und versuchte, die Türklinke zu ergreifen. Dabei balancierte sie die Akten auf ihrem Knie, und als plötzlich die Tür geöffnet wurde, rutschten ihr die Ordner aus der Hand. Die Dokumente fielen auf den Boden und verteilten sich dort in einem wilden Muster. Sie sah zu Paul, einem der Staatsanwälte aus ihrer Abteilung für Kapitalverbrechen, der nun vor ihr stand.

„Oh, das tut mir leid. Warte, ich helfe dir.“

Rebecca spürte, wie ihre Wangen und Nase rot anliefen. Schnell senkte sie den Blick und hockte sich hin, um die Blätter einzusammeln. Wie gerne hätte sie in diesem Moment ihre langen Haare offen getragen, um sich hinter deren Schleier zu verstecken. Wenn sie eine Sache an sich ändern könnte, wäre es, bei jeder peinlichen Situation auszusehen wie Rudolf das Rentier. Ein Spitzname, der sie seit der Schulzeit begleitete und den sie zu hassen gelernt hatte.

Paul hockte sich vor sie und half ihr beim Einsammeln der Akten. Rebecca riskierte einen Blick auf ihn und zuckte zusammen, als sie von seinem strahlenden Lächeln geblendet wurde. Es war nicht verwunderlich, dass sich Frauen Hals über Kopf in ihn verliebten. Mit den blonden Haaren und dem spitzbübischen Aussehen konnte er so manchen Gesprächspartner um den kleinen Finger wickeln. Doch im Gerichtssaal zeigte er sich ernst und konzentriert. Kein Wunder, schließlich arbeiteten nur die besten Leute für Patrick Belter, dem Oberstaatsanwalt der Abteilung für Kapitalverbrechen.

Hätte sie damals nicht ihr Jura-Studium aufgegeben, wäre sie heute ebenfalls Staatsanwältin. Sie schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihr? Sie schwelgte doch sonst nicht in Erinnerungen.

Paul und sie erhoben sich gleichzeitig und er überreichte ihr die eingesammelten Papiere.

„Danke“, sagte sie, und bevor er etwas erwidern konnte, war sie durch die offenstehende Glastür getreten. Schnell ging sie durch den großen Raum, an dessen Seiten sich die Büros der Staatsanwälte reihten. In der Mitte des riesigen Raumes umrundete sie eine Couchlandschaft und Designermöbel, auf denen grüne Zimmerpflanzen standen. Zielsicher steuerte sie die nächste Glastür an und ihr Blick glitt kurz auf das silberfarbene Schild neben der Tür.

Büro Oberstaatsanwalt Herr Belter,

Assistentin Frau Kunz.

Entschlossen trat sie durch die Tür und schloss sie hinter sich. Ihr Blick wanderte durch ihr kleines Königreich und schon fühlte sie sich besser. Ihr modern eingerichteter Arbeitsplatz ließ keine Wünsche offen. Sie liebte es, den Schreibtisch per Knopfdruck hochfahren zu lassen, um nach Stunden des Sitzens im Stehen arbeiten zu können. Ihr Schreibtisch und der Laptop waren nagelneu und normalerweise würde sie um diese Uhrzeit bereits dort sitzen und arbeiten.

Doch dieser Morgen schien wie verhext zu sein. Erst hatte sich Pirat, ihr Jack Russel Terrier, auf der Gassirunde losgerissen, um einem Kaninchen hinterherzujagen, dann hatte sich noch jede Ampel auf dem Weg zur Arbeit gegen sie verschworen und sie mit einer roten Welle gestraft.

Rebecca ging zum Tisch und legte die Akten ab. Der Job als Assistentin eines Oberstaatsanwaltes war kein Zuckerschlecken, doch sie hatte keine Probleme, sich durch den Haufen von Aktenordnern und Terminplanungen durchzubeißen. Ihre Neugierde und ihr Wissen, das sie sich während der kurzen Zeit ihres Jurastudiums angeeignet hatte, machten sich dabei bezahlt. Sie passte jedoch auf, ihre Nase nicht zu tief in juristische Fälle zu stecken, die sie als Assistentin nichts angingen.

Ihr Chef, Herr Belter, für den sie seit zwei Jahren arbeitete, würde ihre Einmischung nicht tolerieren. Er gab sich seinen Mitarbeitern gegenüber stets distanziert. Mit seinen 34 Jahren war er eine Koryphäe in seinem Beruf. Bisher war es ihm immer gelungen, anhand von Beweisen die Täter verurteilen zu lassen, und sie war stolz darauf, für einen solch ambitionierten Mann zu arbeiten.

Sie trat an das Fenster, schob die Lamellen des Rollos zur Seite und sah hinaus. Mittlerweile war es Juli und der Sommer zeigte sich mit einer Hitzewelle nach der anderen. Sie fuhr sich mit einer Hand durch das hochgesteckte braune Haar. Seit sie als Assistentin arbeitete, wollte sie professionell aussehen und trotz ihrer 29 Jahre ernst genommen werden. Heute Morgen hatte sie sich für den kurzärmeligen Hosenanzug entschieden, in den sie sich beim Einkaufen vom ersten Augenblick an verliebt und lange dafür gespart hatte.

Sie sah auf die Stadtmitte Berlins hinunter, der Hauptstadt, in der arm und reich so nah beieinanderlagen und doch so weit voneinander entfernt waren, dass man glauben könnte, die einzelnen Stadtteile würden sich in verschiedenen Sphären befinden. Hier wetteiferten Firmen um Macht und Einfluss. Das Gebäude, in dem sie arbeitete, war ein moderner Komplex mit großen Fenstern und einer bepflanzten Dachterrasse.

Rebecca stellte das Rollo so ein, dass die Sonne nur leicht hindurchschien, denn sonst würde es zum Mittag hin brütend heiß werden. Sie ging gerade zum Schreibtisch zurück, als es an der Tür klopfte. Im nächsten Moment trat Amelie Weber ein. Sie arbeitete, wie Paul, als Staatsanwältin für Herrn Belter.

„Guten Morgen, ich wollte die Akten abholen, da ich sie noch nicht auf meinem Schreibtisch liegen habe. Geht es dir nicht gut? Du bist doch sonst immer so früh da.“

Rebecca setzte ein gespieltes Lächeln auf und ging zu den Akten auf dem Tisch. „Es geht mir gut, danke der Nachfrage.“ Sie nahm einen der Ordner und reichte ihn an Amelie weiter. Diese nahm ihn entgegen und wollte gerade etwas sagen, als Rebecca ihr zuvorkam. „Ich bin wirklich spät dran und muss noch die Termine von Herrn Belter für heute durchgehen.“

Amelie nickte, wandte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ den Raum. Rebecca atmete laut aus. Wie gerne würde sie die Zeit zurückspulen bis zurück zu ihrer gemeinsamen Studienzeit an der Universität, bevor sie ihr Studium abbrach, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern. Doch das war genauso unmöglich, wie der Wunsch, dass ihre Mutter wieder genesen würde.

Rebecca seufzte und setzte sich auf ihren Bürostuhl, als ihr Telefon klingelte. Erschrocken richtete sie sich auf. Herr Belters Name erschien auf dem Display und sie nahm das Gespräch schnell entgegen. „Guten Morgen, Herr Belter. Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie.

„Guten Morgen, Frau Kunz.“

Die gewohnte, ruhige Stimme nahm ihr sofort einen Teil der inneren Anspannung, die sich ohne ersichtlichen Grund seit heute Morgen wie ein Bienenschwarm in ihr aufgestaut hatte. Seltsamerweise hatte seine Stimme von Anfang an eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt.

„Frau Kunz? Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte er.

Rebecca holte tief Luft und rutschte näher ans Telefon heran. „Ja. Verzeihen Sie. Was kann ich für Sie tun?“

„Sagen Sie bitte Paul Bescheid, dass er mich zu meinem Termin um fünfzehn Uhr zu Herrn Seidler begleiten soll, und holen Sie mir bitte meinen Kaffee.“

Sie hörte es knacken, als er auflegte. Mit schnellen Handgriffen hatte sie die Akten geordnet und verteilte sie an die Staatsanwälte. Paul arbeitete in seinem Büro, als sie ihm die Dokumente und Herrn Belters Nachricht überbrachte. Er war es, der mit ihrem Chef normalerweise die wichtigsten Fälle übernahm. Aber seit einigen Monaten schien dieser an einer großen Sache dran zu sein, in die selbst Paul nicht eingeweiht wurde. Es wurde gemunkelt, es habe mit dem Fall eines Mafiabosses zu tun.

Nachdem sie alle Akten verteilt hatte, ging sie wie jeden Morgen in den Pausenraum, der auch eine Küche beherbergte, und ließ an der teuren Kaffeemaschine den noch teureren schwarzen Kaffee in eine Tasse fließen. Sie sah sich um. Alles hier war neu und modern eingerichtet. Vom dunkelbraunen Parkettboden bis hin zu den weißen Wänden, die mit knalligen, bunten Bildern behangen waren. Überall waren Pflanzen aufgestellt, die dem Raum seinen Wohlfühlcharakter gaben. Ihr persönlich gefielen die teuren Designermöbel, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, diese in ihrem Haus stehen zu haben. Dort bevorzugte sie ihr altes Sofa, das sie erst abgeben würde, wenn es durchgesessen war und ihr Hintern den Boden küsste.

Sie betätigte den Knopf an der Maschine erneut für ihren eigenen Kaffee, als ihre Gedanken zu Herrn Belter wanderten. Er war ein guter Chef, immer höflich, wurde niemals laut und machte einen strengen und unnahbaren Eindruck. Niemand im Büro hatte das Gefühl, ihn wirklich zu kennen. Er war für alle ein Rätsel.

Rebecca stellte beide Kaffeetassen auf ein Tablett und legte ein paar dieser zuckerlastigen Cookies dazu, welche Herr Belter so mochte. Man konnte schon neidisch sein, dass er den Zucker in sich reinschaufeln konnte, ohne ein überschüssiges Gramm Fett am Körper zu haben. Soweit sie das sagen konnte, schließlich trug er immer seine teuren Anzüge und es war ja nicht so, dass sie seine Muskeln unter dem Hemd beobachtete, wenn er im Konferenzraum sein Jackett auszog.

Schnell schüttelte sie den Kopf. Sie fühlte sich so zerstreut wie die Streusel eines Streuselkuchens. Zuerst hatte sich Pirat beim Morgenspaziergang losgerissen, um einem Kaninchen hinterherzulaufen, dann die vielen roten Ampeln auf dem Weg zur Arbeit und nun die Gedanken über ihren Chef.

Zurück in ihrem Büro stellte sie das Tablett auf ihrem Schreibtisch ab und sah den heutigen Poststapel darauf liegen, den jemand in der Zwischenzeit dort abgelegt hatte. Innerlich aufstöhnend begutachtete sie die Briefe, die auf einem schuhkartongroßen Paket lagen. Schnell las sie die Absender, um zu sehen, ob etwas von Priorität dabei war, dann legte sie die Briefe zur Seite und zog den Karton zu sich. Er fühlte sich leicht an. Seltsam, dachte sie, als sie nirgendwo einen Absender oder Poststempel erkennen konnte. Obendrauf war die computergeschriebene Adresse ihrer Kanzlei, mit dem Hinweis Vertraulich Herrn Belter, aufgeklebt.

Rebecca kaute auf ihrer Unterlippe herum. Irgendwas störte sie an dem Karton. Sie beugte sich hinunter und schnupperte an dem braunen Papier, in das das Paket eingewickelt war. Irgendetwas roch seltsam oder bildete sie sich das nur ein?

Plötzlich ging die Tür zu Herrn Belters Büro auf und erschrocken stellte sie das Paket auf ihren Schreibtisch zurück. Sie drehte sich zu Herrn Belter um, der gerade aus seinem Büro kam.

„Frau Kunz, ich warte auf meinen Kaffee und das morgendliche Briefing.“ Er stand in der Tür und an den zusammengezogenen Augenbrauen erkannte sie, dass er heute nicht bester Laune war. Eine Eigenart, die sie schnell an ihm beobachtet hatte. Genauso, wie er seine Brille hochschob, wenn er sich auf etwas konzentrierte. Sie nahm seine Tasse in die Hand, stand auf und ging zu ihm. Er wartete im Türrahmen, überragte sie um eine Kopflänge und trug wie immer einen Anzug, der wie angegossen saß. Die dunkelblonden Haare waren akkurat nach hinten gekämmt und der Dreitagebart verursachte ein Kribbeln in ihrem Magen.

„Ist wirklich alles in Ordnung? Sie scheinen in Gedanken zu sein.“ Er kam einen Schritt auf sie zu und war ihr so nah, dass sie sein Parfüm riechen konnte. Sie musste schlucken als er unmittelbar vor ihr stand und ihr Herz schlug einen Takt schneller. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden, und ermahnte sich selbst, sich professionell zu verhalten.

„Nein es ist nichts. Ich meine, es geht mir gut. Ich bin nur etwas durcheinander, aber nicht krank.“ Rebecca presste die Lippen zusammen, um zu verhindern, dass noch mehr sinnloses Gestammel aus ihr herauskam.

Als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, drückte sie ihm reflexartig den Kaffee in die Hand. In dem Moment erklang ein Klingelton hinter ihr. Sie drehte sich um und sah zu ihrem Schreibtisch.

„Ist das Ihr Handy?“, fragte Herr Belter.

Rebecca schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, das kommt aus dem Paket, das für Sie angekommen ist.“

Mehr konnte sie nicht sagen, denn sofort spürte sie seinen Arm um ihre Hüfte, der sie an seinen Körper zog. Wie in Zeitlupe sah sie, wie die Tasse zu Boden fiel und zerbrach. Im nächsten Moment wurde sie herumgewirbelt. Ein ohrenbetäubender Lärm erklang und Hitze stieg auf, die sie zu versengen drohte. Sie landete hart auf dem Boden, als sie etwas Schweres auf den Teppich drückte und ihr die Luft aus den Lungen presste. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr Verstand konnte nicht mit der Geschwindigkeit an Ereignissen mithalten, denen sie ausgeliefert war.

Rebecca atmete flach durch die Nase, um dem aufsteigenden Geruch von Rauch und Staub zu entkommen. Ihr ganzer Körper war wie erstarrt, gleichzeitig aber so angespannt wie eine Bogensehne. Nach einer gefühlten Ewigkeit bewegte sich der Stein auf ihr und drehte sie auf die Seite. Tief holte sie Luft und musste sofort durch den Rauch, den sie einatmete, husten. Ein Arm half ihr, sich hinzusetzen, und stützte sie.

„Sind Sie verletzt?“ Sie wischte sich Staub aus dem Gesicht und öffnete blinzelnd die Augen. Ihr erster Blick galt dem Zimmer. Die Glastür zum Büro ihres Chefs lag in tausend Scherben auf dem Boden um sie herum verteilt und dunkler Qualm zog durch die zerbrochenen Fensterscheiben nach draußen. Nun saß sie neben ihrem Chef auf dem Boden. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Knie zitterten wie Espenlaub.

„Ich helfe Ihnen“, sagte er und half ihr hoch. Als ihre Beine wegknickten, hob er sie auf seine Arme. Keuchend schlang sie die Hände um seinen Nacken. Für den Bruchteil einer Sekunde befand sich sein Gesicht dicht vor ihrem und sie meinte, silberne Sprenkel in seinen Pupillen zu erkennen. Dann war der Moment vorbei und er trat mit ihr durch den Türrahmen.

Als Rebecca ihr Arbeitszimmer sah, stieg Übelkeit in ihr auf und voller Unglauben sah sie sich das völlig zerstörte Zimmer an. Ihre Möbel waren verschwunden, an deren Stelle lagen nur noch ein Haufen Holzstücke. Das Fenster hatte keine Scheibe mehr, das Rollo war verbrannt. Überall stiegen kleine Rauchschwaden auf. Rebecca nahm alles wie durch einen Schleier wahr. Sie musste unter Schock stehen. Patrick verließ mit ihr den Raum, doch ihr Blick klebte förmlich an der Stelle, wo ihr Schreibtisch mit dem Paket darauf gestanden hatte. Asche wurde durch den Luftzug aus dem Fenster aufgewirbelt und in der Ferne konnte man Sirenengeheul hören. Schritte und Rufe drangen an ihr Ohr und Paul kam hustend durch die Tür in das Zimmer gestolpert. „Gott sei Dank, ihr seid am Leben. Kommt raus hier. Wer weiß, ob noch was einstürzen wird.“

Gemeinsam stolperten sie durch den Trümmerhaufen, der einmal ihr Büro gewesen war. Im Eingangsbereich waren die Zimmerpflanzen über den Boden verstreut und sämtliche Glasscheiben zerbrochen. Eine kleine Menschenmenge hatte sich an der Eingangstür versammelt. Paul trat zu den Schaulustigen und bat sie, den Teil des Gebäudes zu verlassen, da in Kürze die Feuerwehr eintreffen würde.

Herr Belter trug Rebecca in den Pausenraum neben dem Eingang, und als die Tür hinter ihm zufiel, wurde der Lärm der Menschengruppe und der Sirenen zu einem leisen Gemurmel. Er setzte sie vorsichtig auf einem der Sofas ab und kniete sich vor sie hin. Sie erkannte ihren Chef nicht wieder. Sein Anzug war zerrissen, staubig und seine Brille wies mehrere Sprünge auf. Seltsam, dass ihr das kurz zuvor nicht aufgefallen war. Der intensive Blick aus seinen graublauen Augen ließ sie nervös auf dem Sofa hin und her rutschen. Oder war es nur das Adrenalin, das durch ihre Venen rauschte? Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf bestehe aus Watte. Dann sah sie das rote Rinnsal, das von der Schläfe ihres Chefs tropfte, und riss die Augen auf. „Sie sind verletzt!“, sagte sie und beugte sich zu ihm vor. Vorsichtig strich sie seine Haare aus der Stirn und erblickte eine blutende Wunde. „Sie müssen sofort zu einem Arzt.“ Ihre Kehle fühlte sich rau an, als wäre sie auf einem Rockkonzert gewesenen und hätte sich die Seele aus dem Leib geschrien. Ihr Blick wanderte zu seinem Mund und blieb daran hängen. Nur wenige Zentimeter trennten ihre Lippen voneinander. Rebecca musste schlucken. Herr Belter umfasste ihre Handgelenke und lenkte ihren Verstand von dem Bienenschwarm in ihrem Magen ab. Sie wusste nicht, ob es sein Blick oder der Hautkontakt war, der ihr Herz schneller schlagen ließ.

„Die Wunde ist nur oberflächlich, ich habe schon schlimmere Verletzungen gehabt“, sagte er.

Rebecca fragte sich, was er damit meinte. Wann hatte ihr Chef sich verletzt? Die Hitze seiner Hände drang unter ihre Haut und unbewusst biss sie sich auf die Lippe. Für einen Moment glaubte sie, seinen Blick auf ihrem Mund zu spüren, doch dann ließ er sie los und stand auf. Mit den Augen verfolgte sie, wie er durch den Raum ging. Wenn sie genau überlegte, kannte sie ihn gar nicht. Sie wusste, wie er seinen Kaffee am liebsten trank, wann er gute oder schlechte Laune hatte oder welche Fälle er gerne bearbeitete. Doch eigentlich war er ein Fremder. Warum tat der Gedanke in ihrer Brust weh? Schließlich war sie nur seine Assistentin.

„Haben Sie irgendwo Schmerzen?“, fragte er sie.

„Ich bin mir nicht sicher. Mein Körper tut überall weh und meine Kehle brennt. Aber sonst geht es mir gut, glaube ich.“

Er starrte sie noch eine Sekunde an, dann ging er zu einem der Tische, auf denen umgefallene Wasserflaschen lagen. Sie beobachtete, wie er eine davon öffnete, ein Glas füllte und damit zurückkam. Er reichte es ihr und sie nahm es entgegen.

„Trinken Sie etwas, das hilft gegen das Kratzen im Hals. Die Sanitäter sind bestimmt schon auf dem Weg hierher. Wegen der Explosion werden die Aufzüge gesperrt worden sein, also müssen wir uns noch etwas gedulden, bis sie hier eintreffen.“

Mit einem Ächzen ließ er sich neben ihr auf das Sofa fallen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Rebecca beobachtete ihn und trank das Wasser in kleinen Schlucken. Er hatte recht, schon bald wurde das unangenehme Gefühl im Hals erträglicher. Erleichtert seufzte sie auf und stellte das leere Glas neben sich auf den Boden. Als sie sich aufsetzte, sah Herr Belter sie an. Der Ausdruck in seinem Gesicht verursachte ihr eine Gänsehaut.

„Es tut mir leid, dass ich Sie da mit reingezogen habe. Ich hätte nicht gedacht, dass sie jetzt schon zu solchen Mitteln greifen würden.“ Er wollte sich über die Stirn streichen, hielt aber inne, als er die Wunde berührte.

„Meinen Sie denjenigen, der die Bombe geschickt hat? Hat das mit Ihrem neuen Fall zu tun?“

Herr Belter sah sie an. „Es ist besser, wenn Sie nicht mehr wissen, als nötig ist. Sie bringen sich damit nur in Gefahr.“

Rebecca wusste nicht, welchen Nerv er genau bei ihr getroffen hatte, warum die Wut in ihr explodierte. Vielleicht lag es daran, dass seit dem Morgen alles schiefgelaufen war, was schieflaufen konnte. Sie zog die Schultern zurück und die Worte verließen wie von selbst ihren Mund. „Sie können sich Ihre Entschuldigung sonst wohin schieben! Die Bombe landete auf meinem Schreibtisch und hat mein verdammtes Zimmer zerstört. Man hat also nicht versucht, Sie zu töten, sondern Ihnen Angst einzujagen, und zufällig war ich es, die den Zorn dieser Leute abbekommen hat. Ich hätte draufgehen können, also speisen Sie mich nicht mit ‚Das ist zu gefährlich für Sie‘ ab.“

Heftig atmend sah sie ihn an. Plötzlich begannen sich seine Lippen zu kräuseln und er fing an zu lachen. Ihr Chef! Der humorlose Herr Belter lachte laut und das Ziehen, das sie dabei in ihrem Magen spürte, ließ sich nicht verleugnen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals privat so lange mit ihm unterhalten zu haben.

Er hörte auf zu lachen und sah sie an. „Ich hatte ganz vergessen, warum ich Sie eingestellt habe. Sie sind nicht nur eine Koryphäe in Ihrem Job, sondern auch noch erfrischend ehrlich.“

Rebecca spürte, wie ihre Wangen und ihre Nasenspitze heiß wurden. Schnell schob sie sich ein paar Strähnen, die sich durch die Explosion gelöst hatten, ins Gesicht. Doch die dünne Barriere reichte nicht aus, um sie vor seinem Blick zu schützen, der tiefer zu dringen schien, als sie es jemals erlebt hatte. Sie schluckte an dem Kloß in ihrem Hals und fuhr mit der anderen Hand über den Stoff ihrer Hose.

Plötzlich ging die Tür auf und zwei Sanitäter sowie ein Polizist und ein leger gekleideter Mann traten in den Raum. Herr Belter stand auf und wies die Sanitäter an, Rebecca zu untersuchen. Während der Arzt ihr Fragen zu ihrem Befinden stellte und ihren Blutdruck kontrollierte, beobachtete sie ihren Chef, der mit den beiden Männern sprach. Der Polizist machte sich Notizen und sah danach zu ihr. Der Blick der anderen folgte seinem. Unter der Aufmerksamkeit der Männer stellten sich die Haare auf ihren Armen auf. Dass der Sanitäter von einem erhöhten Puls sprach, wunderte sie in diesem Augenblick nicht. Ihr wurde das Blutdruckmessgerät abgenommen, wobei ihr der Sanitäter den Blick auf ihren Chef versperrte. Als er zur Seite trat, sah sie, dass der Polizist verschwunden war. Herr Belter kam mit dem anderen Mann auf sie zu.

„Frau Kunz, das ist Falco Brinkmann. Er ist ein enger Freund von mir und leitet eine Securityfirma. Ich habe ihn gebeten herzukommen. Er hat noch ein paar Fragen an Sie.“ Dann sah er die Sanitäter an. „Wie geht es ihr?“

Einer der Männer packte seinen Notfallkoffer ein, der andere stand auf und stellte sich neben Herrn Belter. „Sie hat einen leichten Schock, ein paar Schrammen und blaue Flecken, sonst scheint sie keine schwereren Verletzungen zu haben. Genaueres könnten wir im Krankenhaus sagen oder Sie warten die Nacht ab und fahren morgen zu Ihrem Hausarzt, falls es ihr schlechter gehen sollte. Aber jetzt sind Sie an der Reihe, verarztet zu werden.“ Herr Belter nickte und zeigte zum Tisch, der im Raum stand. Die Sanitäter folgten ihm dorthin und begannen, seine Stirnwunde zu verarzten.

Falco Brinkmann setzte sich neben Rebecca auf das Sofa und sie fragte sich, warum nicht der Polizist von eben ihr Fragen stellte, sondern dieser Sicherheitsmann. So, wie sie ihren Chef vorhin beobachten konnte, schienen die beiden sehr vertraut miteinander zu sein.

„Ich habe nur ein paar kurze Fragen, wenn das für Sie in Ordnung ist“, sagte er.

Rebecca nickte, fühlte, wie die Anspannung nachließ und sich eine bleierne Müdigkeit in ihr ausbreitete. Der Mann stellte ihr Fragen zu dem heutigen Tag und ihrem Tagesablauf. Ob sie etwas Ungewöhnliches bemerkt habe, seltsame Anrufe ankamen oder ob sie jemand bedroht habe, wie das Paket genau ausgesehen habe und was vor der Explosion passiert sei. Nach fünfzehn Minuten beendete er seine Befragung und bedankte sich bei ihr.

Sie sah auf, als Herr Belter wieder zu ihnen trat. Auf der Stirn hatte er ein großes Pflaster.

„Wir sind dann fertig. Haben Sie sich überlegt, ob Sie mit ins Krankenhaus fahren wollen?“, fragte sie der Arzt.

Rebecca schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich bin einfach nur müde und möchte nach Hause und mich ausruhen.“

Der Arzt nickte und reichte ihr eine Schachtel, die sie entgegennahm. „Sollten Sie Schmerzen bekommen, können Sie dreimal täglich eine Schmerztablette nehmen. Sollten die Schmerzen länger als zwei Tage andauern, melden Sie sich bitte bei Ihrem Hausarzt.“ Damit verabschiedeten sich der Arzt und der Sanitäter und verließen den Raum. Im nächsten Moment trat der Polizist wieder ein.

Rebecca stand vorsichtig auf. „Ich werde jetzt nach Hause fahren.“

Ihr Chef tauschte einen Blick mit Herrn Brinkmann, der ihr in irgendeiner Weise nicht gefiel.

„Das geht nicht. Sie sind, so leid es mir tut, zwischen die Fronten meines neuen Falls geraten und schweben eventuell weiterhin in Lebensgefahr. Sie werden also mit mir in ein Safe House der Polizei ziehen, bis sich die Lage beruhigt hat und ich die Täter fassen konnte.“

Rebecca öffnete und schloss ihren Mund wieder. Sie erinnerte sich dabei an den Fisch aus dem Kinderfilm Findet Nemo, den sie so sehr liebte. Hatte sie sich verhört? Sie sollte in einem Safe House wohnen, auf unbestimmte Zeit und das mit ihrem Chef? Sie wusste, dass sich ein schwieriger Fall mehrere Monate in die Länge ziehen konnte. Das kam überhaupt nicht infrage. Rebecca sah Herrn Brinkmann an. „Das kann ich nicht machen. Ich habe zu Hause Verpflichtungen, denen ich nachgehen muss, und wieso glauben Sie, ich wäre weiterhin in Gefahr? Mir scheint, ich bin versehentlich in diesen Anschlag verwickelt worden, schließlich war das Paket an Herrn Belter gerichtet.“

Der Polizist mit dem schütteren Haar sah sie mitleidig an, etwas, das Rebecca nicht ausstehen konnte. Schon im Studium hatte sie es gehasst, wenn die Kommilitonen sie voller Mitleid angesehen hatten. Sie konnte schließlich nichts für ihre Situation zu Hause und die Mitleidsbekundungen halfen ihr nicht dabei, genug Geld zu verdienen, um über die Runden zu kommen.

Der Polizist begann zu sprechen. „Frau Kunz, Sie sind die persönliche Assistentin von Herrn Belter und wissen über seine Termine und seine Arbeit bei der Staatsanwaltschaft besser Bescheid als jeder andere hier. Die Organisation, gegen die ihr Chef ermittelt, ist skrupellos und schreckt auch vor Mord nicht zurück. Daher müssen wir darauf bestehen, dass Sie unserem Rat folgen und eine Zeit lang untertauchen.“

Rebeccas Gedanken begannen zu rasen wie ein Auto auf der Überholspur. Nur nebenbei beobachtete sie, wie Herr Brinkmann ihrem Chef, ein neues Handy überreichte und dieser es einsteckte. Die Männer wollten ihr nur helfen, doch dass sie nicht mehr zu Hause wohnen sollte, war unmöglich. Es ging einfach nicht. Bevor sie etwas erwidern konnte, war Herr Belter neben sie getreten und hatte ihren Oberarm umfasst. „Ich werde mit ihr in das Safe House fahren. Zuvor begleite ich sie nach Hause und zu meiner Wohnung, damit wir ein paar Sachen holen können. Danach schickt ihr mir die Adresse auf dem Wegwerfhandy zu und ich sorge dafür, dass wir ungesehen das Auto wechseln.“ Er zog sie zur Tür.

Rebecca holte tief Luft. „Was soll das? Ich habe doch gesagt, ich kann das nicht machen. Ich muss nach Hause und ...“ Bei seinem Blick verstummte sie und biss sich auf die Lippen. Herr Belter öffnete die Tür und begleitete sie durch das Foyer in den angrenzenden Flur, aus dem sie heute Morgen gekommen war. Überall herrschte aufgeregtes Treiben. Sie erkannte Polizisten, die mit gelbem Absperrband hantierten, und Feuerwehrleute, die in Brandschutzmontur in Richtung ihres Büros liefen. Von den anderen Kollegen war keiner mehr zu sehen. Ihr Chef bog um eine Ecke und öffnete die Tür zum Treppenhaus. Er zog sie hinein und mit einem lauten Rumms schloss sich die Tür hinter ihnen.

Rebecca riss sich aus seinem Griff los und stolperte einen Schritt zurück. „Ich weiß Ihre Sorge um mich zu schätzen, aber ich kann wirklich nicht in das Safe House ziehen ... mit Ihnen“, kam ihr gerade noch über die Lippen. Ihr Chef drehte sich zu ihr um.

„Patrick.“

Rebecca starrte den Mann vor sich an. „Wie bitte?“

Er kam einen Schritt auf sie zu, während sie gleichzeitig einen zurückmachte und die kalte Betonwand in ihrem Rücken spürte.

„Mein Name ist Patrick. So werden Sie mich ab jetzt nennen. Wenn wir schon zusammenwohnen, werden wir auf Förmlichkeiten verzichten. Und Sie werden mit mir kommen, ob Sie wollen oder nicht. Sie sind wegen mir ins Kreuzfeuer geraten.“ Er stand jetzt so dicht vor ihr, dass ihr sein Parfüm erneut in die Nase stieg. Diesmal mischte sich jedoch ein leichtes Raucharoma in den frischen Duft.

„Aber Sie verstehen nicht. Ich kann nicht mit Ihnen kommen.“ Rebecca biss sich auf die Zunge. Wo zum Himmel war ihr entspannter Chef abgeblieben? Der Mann vor ihr erinnerte sie an ein Raubtier, dessen Geduld an einem seidenen Faden hing. Er machte mit der Hand eine wegwischende Bewegung. „Ich weiß von Ihrer Situation zu Hause und werde alles in die Wege leiten, damit Sie sich keine Sorgen um Ihre Mutter machen brauchen.“

Rebeccas Herz blieb eine Sekunde lang stehen und sie befeuchtete ihre trockenen Lippen. „Woher wissen Sie von meiner Mutter? Ich habe es keinem erzählt.“

Sein Blick fokussierte sie. „Ich informiere mich immer über meine Mitarbeiter, bevor ich sie einstelle. Also können wir jetzt? Wir haben heute noch einiges vor und ich muss einige Gespräche führen.“

Wie betäubt folgte sie ihm die Treppe hinunter. Sie war sich nicht sicher, was sie mehr schockierte: zu erkennen, dass sie ihren Chef kaum kannte oder dass er anscheinend alles über sie wusste. Wie viele Jahre waren es her, dass sie jemandem von ihrer Mutter erzählt hatte? Nachdem Rebecca nur Mitleid geerntet hatte, wenn sie das Thema ansprach, entschloss sie sich, nichts Privates mehr über sich zu erzählen.

Mit wackeligen Beinen ging sie neben Patrick in die Tiefgarage. „Ich habe meine Schwalbe hier geparkt. Die lasse ich nicht zurück, sie gehört meiner Mutter.“

Ihr Chef warf ihr einen Blick zu. „Sie wird hier stehen bleiben und auf Sie warten müssen. Ihr Mofa ist hier am besten aufgehoben.“

Rebecca traute ihren Ohren nicht. Hatte er ihre Schwalbe gerade wirklich ein Mofa genannt?

Wenn ihre Mutter oder ein anderer Liebhaber dieser Oldies seine Beleidigung gehört hätte, würde er sich bereits inmitten eines scharfen Wortgefechtes befinden. Doch er war ihr Chef und so schluckte sie die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, widerwillig herunter. Er hatte ja recht, denn so schwer es ihr fiel, ihre geliebte Schwalbe zurücklassen zu müssen, hier würde sie vor Diebstahl sicher sein.

Langsam folgte sie ihm zu einem schwarzen Audi. Ihn mit Vornamen anzusprechen, war ein komisches Gefühl und der Gedanke, mit ihm zusammenwohnen zu müssen, ließ ihr Herz schneller schlagen. Er öffnete ohne ein Wort die Beifahrertür und sie stieg ein. Im Auto roch es nach Desinfektionsmittel und Leder. Patrick beugte sich zu ihr ins Wageninnere und schlagartig bekam sie das Gefühl, in einer Sardinenbüchse zu sitzen.

„Ich muss noch kurz telefonieren.“ Damit schloss er die Tür und Rebecca war mit dem Chaos in ihrem Inneren alleine. Sie beobachtete, wie er um die Motorhaube herumging und sein Handy aus der Jackentasche holte. Er begann zu reden, wobei er ihr ab und zu einen Blick zukommen ließ, der sie jedes Mal aufs Neue elektrisierte. Rebecca war wie erstarrt. Wie konnte das alles nur passieren? War der schiefgelaufene Morgen etwa ein Vorbote auf das Unheil gewesen, das sie heute noch erwartete? Sie umfasste ihre Hände, als ihr plötzlich siedend heiß einfiel, dass ihre Handtasche, in der sich ihr Handy und alle wichtigen Papiere befunden hatten, nun pulverisiert war.

Sie zuckte zusammen, als die Fahrerseite sich öffnete und ihr Chef einstieg. Er machte die Tür hinter sich zu und schnallte sich an.

„Meine Handtasche war im Büro.“

Patrick startete den Motor, sah sie aber nicht an. „Die Polizei wird alles, was sie findet, einsammeln. Sie sollten jedoch wenig Hoffnung haben, dass noch was übrig geblieben ist. Ich werde Ihnen alles ersetzen, keine Sorge.“

Nun sah er doch zu ihr und automatisch drückte sie sich tiefer in den Sitz hinein. Die silbernen Wirbel in seinen Augen schienen seinen unterdrückten Ärger widerzuspiegeln. „Das Wichtigste ist, dass wir nicht ernsthaft verletzt worden sind.“ Damit legte er den Gang ein und fuhr los. Schnell schnappte Rebecca nach dem Gurt und schnallte sich an. Alles war ihr lieber, als noch länger in seine Augen zu sehen, denn das prickelnde Gefühl, das sie dabei empfand, behagte ihr ganz und gar nicht.

Die Fahrt zu seinem Penthouse verlief still. Ein Schweigen hatte sich im Auto ausgebreitet und sich wie eine Decke, unter der man in seinen eigenen Gedanken versunken war, über sie gelegt. Rebecca sah aus dem Beifahrerfenster, fuhr sich mit den Händen über das Ende ihres Zopfes, den sie aus dem gelösten Dutt befreit hatte. Eine Geste, die er schon öfter an ihr beobachtet hatte. Er überlegte fieberhaft, wie er ein Gespräch beginnen konnte, aber ihm fiel nichts ein. Normalerweise hätte er sie nach dem nächsten Termin oder einer Besprechung gefragt, doch unter den gegebenen Umständen warf er die Idee wieder über Bord.

Er umklammerte das Lenkrad fester. Als der Klingelton aus dem Paket auf dem Schreibtisch ertönt war, hatten bei ihm alle Alarmglocken geschrillt. Nur durch sein schnelles Handeln hatte er sie beide aus der Reichweite der Explosion bringen können. Nicht auszudenken, was mit ihr passiert wäre, hätte sie bei der Explosion noch an ihrem Tisch gesessen. Er atmete ein paar Mal tief durch und versuchte die Wut, die in ihm hochkochte, zu unterdrücken. Er musste rational denken und Wut war dabei immer ein schlechter Partner. War man zu emotional, konnten einem Details entgehen, die für die Aufklärung eines Falles ausschlaggebend waren. Doch er musste zugeben, dass er innerlich erschüttert war. Der Anschlag sollte eine Drohung sein. Eine Drohung an ihn, das Verfahren gegen die Loge fallen zu lassen. Doch das kam für ihn nicht infrage. Er war nicht Oberstaatsanwalt, weil er bei der kleinsten Androhung den Schwanz einzog. Nein, er hatte den Ruf, nicht zurückzuschrecken und jeden Fall zu Ende zu bringen. Dass er dabei einen ganzen Schrank voller Drohungen gegen seine Person aufbieten konnte, war ein Nebeneffekt seiner Arbeit, mit der immer mehr Politiker, Polizisten und Staatsanwälte konfrontiert wurden. Vor allem das Internet machte es den Menschen leicht, ihre Meinung offen zu äußern, schließlich war man dort anonym und traute sich Sachen zu sagen, die man in der Öffentlichkeit niemals aussprechen würde.

Er seufzte auf, setzte den Blinker und fuhr am Schloss Charlottenburg vorbei. Nicht dass er ein großer Fan dieses historischen Gebäudes war, er verweilte lieber mit seinem Verstand in der Gegenwart. Er musste jedoch zugeben, dass die künstlerische Vergangenheit etwas an sich hatte, das ihn faszinierte. Wenige Meter weiter auf dem Spandauer Damm hielt er rechts vor einem modernen Neubau an. Mit einem Tippen auf den Schlüssel an seinem Schlüsselbund begann sich das weiße Garagentor zu heben und er fuhr langsam in die Tiefgarage des Hauses hinein.

Rebecca hatte sich in ihrem Sitz aufgerichtet und starrte durch die Windschutzscheibe. Das Tor schloss sich hinter ihnen und die Deckenlampen schalteten sich automatisch an. Er war sich sicher, dass sie nicht damit gerechnet hatte, dass er in diesem Teil von Berlin wohnte. Doch auch wenn die Hauptstraße von Autos und Menschen nur so wimmelte, war seine Wohnung ein Zufluchtsort für ihn, sein Ruhepol, an dem er in Ruhe nachdenken konnte, ohne weit weg von seinem Arbeitsplatz zu sein. Dass sich das Schloss gleich neben seiner Wohnung befinden würde, war aber nicht ausschlaggebend für seine Wahl gewesen, sondern der freie Blick über Berlin, den er von seiner Dachterrasse aus hatte. Patrick lenkte den Audi auf seinen festen Parkplatz und stellte den Motor aus. Rebecca drehte sich zu ihm um.

„Hier wohnen Sie, Herr Belter? Direkt neben dem Schloss?“

Er schnallte sich ab und musste sich ein Lächeln verkneifen. Sie sah ihn mit großen Augen an. Wenn er so nachdachte, war es sicherlich der Traum einer jeden Frau, in oder an einem Schloss zu wohnen. Er sah sie an. „Ich bin vor ein paar Jahren hier eingezogen, doch das Schloss war nicht ausschlaggebend dafür. Ich habe es nicht so damit, in der Vergangenheit zu leben, und halte daher nicht so viel von alten Gemäuern.“

Rebecca schnallte sich ebenfalls ab, hielt aber inne, als er zu Ende geredet hatte. „Wollen Sie mir etwa sagen, Sie wären noch nie im Schloss gewesen?“

Hatte er gedacht, ihre Augen könnten nicht größer werden, wurde er nun eines Besseren belehrt. Sie sah ihn an, als stamme er von einem anderen Planeten.

„Herr Belter, Sie wohnen in Berlin und wollen mir weismachen, Sie hätten noch nie die Charlottenburg besucht? Das müssen Sie unbedingt ändern.“

Sie begann, ihm mit roten Wangen zu erzählen, wie prunkvoll die Zimmer eingerichtet waren. Seit sie ein Kind war, hatte sie sieben Mal das Schloss besucht. Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen mit Zöpfen und Zahnlücke durch die Zimmer gelaufen war und davon geträumt hatte, selbst mal eine Prinzessin zu werden.

Im nächsten Augenblick war der Gedanke wieder verschwunden, wo immer er auch hergekommen war. Sichtlich unwohl drehte sie sich zur Tür um und öffnete sie. Sie sprach so leise, dass er sie beinahe nicht verstanden hätte.

„Tut mir leid. Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist. Ich habe Ihnen nicht vorzuschreiben, wo Sie hingehen und was Sie tun sollen.“

Bevor Patrick antworten konnte, war sie ausgestiegen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Er starrte ihr fünf Sekunden lang nach, nicht sicher, was er gerade fühlte oder was er überhaupt hatte sagen wollen. Doch ihre funkelnden Augen gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg ebenfalls aus. Es war wohl besser, das eben stattgefundene Gespräch zu vergessen. Er ging um die Motorhaube herum, vor der Rebecca stand und auf ihn wartete.

„Der Fahrstuhl befindet sich gleich da vorne.“ Er zeigte geradeaus und zusammen machten sie sich auf den Weg. Im Aufzug angekommen drückte er auf die Anzeige mit der obersten Etage, Nummer sechs. Die Türen schlossen sich und eine bedrückende Stille senkte sich auf sie beide herab.

Er räusperte sich. „Ich möchte dich noch einmal daran erinnern, mich ab jetzt Patrick zu nennen.“

Sie stand seitlich neben ihm und strich über ihren Zopf. „In Ordnung, Patrick“, sagte sie und er sah, wie ihre Nasenspitze rot wurde. Bei dem Anblick ihrer vor Verlegenheit rot gewordenen Nase, als sie seinen Namen aussprach, wurde ihm schlagartig heiß. Schnell wandte er den Blick der Schalttafel zu. „Ich werde nicht lange brauchen. Ich benötige nur etwas Neues anzuziehen und packe ein paar Sachen ein.“

Rebecca sah ihn nicht an. Sie stand im Aufzug so weit wie möglich von ihm entfernt. Seltsam, dachte er, so kannte er sie gar nicht. Sie wirkte plötzlich so verschlossen und in sich gekehrt, wobei das nach dem Anschlag wahrscheinlich kein Wunder war.

„Wenn es dir nicht gut geht oder du doch Schmerzen bekommst, sag mir sofort Bescheid.“

Nun hob sie den Kopf, sah ihn aus ihren rehbraunen Augen an und nickte. In dem Moment erklang ein Ping und die Türen des Fahrstuhls öffneten sich. Er stieg nach ihr aus dem Aufzug und gab ihr zu verstehen, nach rechts den Gang entlangzugehen. Der Boden war mit dunklem Parkett belegt und an den Wänden hingen schwarz-weiße Naturfotografien. Es gab nur drei Wohnungen in diesem Stockwerk und somit wenige Nachbarn, mit denen er sich herumschlagen musste. Wie abgesprochen stand sein langjähriger Freund Falco vor der Tür und wartete auf sie. Er drehte sich zu ihnen um. „Ich habe mich in der Wohnung umgesehen, scheint alles in Ordnung zu sein. Soll ich auf euch warten oder weiterfahren?“

Patrick nahm ihm die hingehaltene Schlüsselkarte, die er seinem Freund im Büro übergeben hatte, aus der Hand. „Nein danke. Fahr du weiter. Wir treffen uns dann in einer halben Stunde bei Rebeccas Haus.“

Sein Freund nickte und lächelte Rebecca, für seinen Geschmack etwas zu lange, an. Danach machte er sich auf den Weg zum Aufzug.

Als Patrick mit der Schlüsselkarte seine Haustür öffnete, wurde ihm auf einmal klar, dass er noch keine Frau in diese Wohnung mitgenommen hatte. Vor sieben Jahren hatte er den Stadtteil gewechselt und war hierhin gezogen, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Seitdem hatte er keine Beziehungen mehr und somit keinen Grund, eine Frau mitzubringen. Er ignorierte das ungute Gefühl in seinem Magen, eine Frau in seine Wohnung zu lassen, und gab Rebecca ein Zeichen, einzutreten. Er folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Wie schon in der Tiefgarage schaltete sich die Deckenbeleuchtung in der Diele ebenfalls per Bewegungsmelder an. Sie gingen weiter in den Wohnbereich hinein. „Ich bin gleich wieder bei dir“, sagte er, ging durch den Wohnraum in einen kleinen Flur und öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer. Er blieb kurz stehen und sah zu Rebecca zurück. „Wenn du dich frisch machen möchtest, nimm die Tür zu deiner linken. Geh in das Zimmer, dann findest du eine weitere Tür, die zu einem Gäste-WC führt. Ich bin gleich wieder da.“

Damit trat er in das Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Er würde nicht viel brauchen, am wichtigsten war sein Laptop mit den aktuellen Fallakten. Er ging zum Kleiderschrank und holte Unterwäsche, Schuhe, Jeans, Pullover und T-Shirts heraus. Er achtete nicht genau darauf, was er in die Tasche legte, denn seine Gedanken kehrten immer wieder zu Rebecca zurück. Warum war sie nach ihrer Erzählung über ihre Kindheit so geknickt gewesen? Und wieso war ihm dieses Gefühl, das er empfand, als er sie so niedergeschlagen gesehen hatte, unangenehm? Als sie so verlassen in seiner Wohnung stand, hatte er das dringende Bedürfnis gespürt, sie in den Arm zu nehmen. Er schüttelte den Kopf, ging ins Bad und stopfte alles Wichtige in einen Kulturbeutel. Er war oft der Arbeit wegen unterwegs und hatte immer seine Reisetaschen in Reichweite stehen. Er zog den dreckigen Anzug aus und entschied sich für eine dunkelblaue Jeans und ein kariertes Hemd. Danach nahm er seine Ersatzbrille und seine neue Smartwatch aus seiner Schrankschublade und tauschte die durch die Explosion zerstörten Dinge aus. Er schloss den Koffer und begann, die Knöpfe an seinem Oberteil zuzuknöpfen, als ihm siedend heiß einfiel, dass er einen Raum nicht abgeschlossen hatte. Fahrig hantierte er an den Knöpfen seines Hemdes herum und gab schließlich fluchend auf. Dann griff er nach dem Koffer und verließ das Schlafzimmer.

Von Rebecca war weder in der Diele noch im Wohnbereich etwas zu sehen. Vielleicht hielt sie sich in dem anderen Badezimmer auf. Mit einem unguten Gefühl im Magen stellte er das Gepäck ab und drehte sich nach links zu seinem Büro um. Die Tür stand, wie befürchtet, sperrangelweit offen. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Mit schnellen Schritten trat er in das Zimmer und erstarrte. Er hatte es gewusst. Schweiß sammelte sich in seinem Nacken und er musste schlucken. Rebecca stand vor der Vitrinenwand. Sein gut gehütetes Geheimnis war nun keins mehr.

Sie hörte ihn und drehte sich zu ihm um. In ihren Augen erkannte er Unglauben und Verblüffung aufflackern. Doch das Lächeln, das auf ihr Gesicht trat, linderte seine Angst ein wenig, obwohl er seinen Puls bis zum Hals schlagen fühlte. Sie zeigte auf die Vitrine vor sich und ihr Blick fiel auf seine Comicsammlung. Vor ihr stand die deutsche Erstausgabe des Supermancomics aus dem Jahre 1966, die mehrere Tausend Euro wert war und die er nach langer Suche im Internet ersteigert hatte. Er hielt die Luft an, als sie sich der menschengroßen Pappfigur von Superman zuwandte, die links vor der Vitrine stand. Er sah, wie sie die Lippen zusammenpresste und eindeutig versuchte, einen Lachanfall zu unterdrücken. „Ich wusste gar nicht, dass du ein Comicfan bist“, sagte sie und drehte sich wieder zu ihm um. „Aber ich muss sagen, dass es mir gefällt. Ich hätte dich aber eher für einen Spiderman- oder Batmanfan  gehalten.“

Patrick stieß hart die Luft aus und lehnte sich gegen den Türrahmen. Sein Geheimnis war nun gelüftet, dabei hatte er es so lange geheim halten können. Sein Blick fiel auf Rebecca, dann zog er die Schultern hoch und ging auf sie zu. Sie musste spüren, dass sich etwas verändert hatte, denn sie wich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken an die Vitrine stieß.

„Frau Kunz ... ich meine, Rebecca. Ich bin dein Chef und ich befehle dir, hierüber kein Sterbenswort zu irgendjemandem zu sagen.“

Er sah, wie ihre Miene von erschrocken zu überrascht wechselte. Und funkelte da etwa so was wie Belustigung in ihren Augen?

„Es ist mir sehr ernst damit. Ich möchte, dass dies unter uns bleibt. Niemand wird von diesem Zimmer erfahren, verstanden?“

Sie biss sich auf die Unterlippe und sah ihn an. Sein Blick fiel auf ihren Mund und er bemerkte, wie ihr Atem schneller ging und sich ihre Lippen ein wenig öffneten. Patrick schluckte und trat einen Schritt zurück. Mit der Hand schob er seine Brille höher.

„Ich weiß, ich kann mich auf deine Verschwiegenheit verlassen. Jetzt fahren wir zu dir und danach auf direktem Weg in unser Safe House. Die Adresse bekommen wir, sobald wir bei dir losgefahren sind.“

Er beobachtete, wie ihr Lächeln erstarb, und mit schärferem Ton als beabsichtigt sagte er: „Lass uns gehen. Ich muss mich so schnell wie möglich wieder an die Arbeit machen.“

Rebecca hob eine Augenbraue, nickte und ging an ihm vorbei. Sie drehte sich noch einmal zu ihm um und zeigte grinsend auf sein Hemd.

„Ich glaube, bevor wir gehen, solltest du dein Hemd richtig knöpfen.“

Patrick sah an sich herunter und spürte, wie ihm warm wurde. Sein Hemd war an mehreren Stellen falsch zugeknöpft. Er war sonst immer die Ruhe in Person, es sei denn, jemand Fremdes hielt sich in seiner Wohnung auf und brachte ihn aus dem Konzept.

Kapitel 2

Rebecca versuchte, ihr Schmunzeln zu verstecken, doch es gelang ihr nicht. Auf dem Weg zum Auto presste sie die Lippen aufeinander, um dem androhenden Lachanfall nicht nachzugeben. Patricks Anblick, als sie seine Comicsammlung in dem Zimmer entdeckt hatte, war ein Bild für die Götter gewesen. Das erste Mal, seit sie ihn kannte, war ihm sein sonst so verschlossener Gesichtsausdruck entglitten und hatte Panik und Verwirrung Platz gemacht. Doch der Blick, den er ihr danach zugeworfen hatte, bohrte sich wie ein messerscharfer Dolch direkt in ihre Brust und gab ihr damit schnell zu verstehen, dass er ihre Belustigung nicht teilte. Wer käme schon auf den Gedanken, dass ihr Chef einen Raum voller ordentlich sortierter Comichefte besaß, die er in einer Vitrine aufbewahrte? Und zu allem Überfluss hatte er auch noch eine lebensgroße Superman-Pappfigur. Patrick Belter war ein waschechter Supermanfan. Wer hätte das gedacht?

Es hatte sie große Mühe gekostet, eine ernste Miene aufzusetzen und nicht über sein Hobby zu lachen.

Sie verließen die Wohnung und fuhren mit dem Aufzug in die Tiefgarage hinunter und sie stieg in seinen Audi ein, während er sein Gepäck im Kofferraum verstaute. Schnell kniff sie sich in beide Wangen. Sie musste den Drang zu lachen unbedingt unterdrücken. Patrick öffnete die Fahrertür und stieg zu ihr ins Auto. Er schnallte sich an und startete den Motor. Danach gab er ihre Adresse in das Navi ein und Rebecca biss sich auf die Zunge, um nicht nachzufragen, warum er ihre Anschrift auswendig kannte.

Die Fahrt verlief wie zuvor in Stille. Gerne hätte sie ihn nach dem Grund gefragt, warum er so besessen von Comics war und wieso er sein, ihm anscheinend sehr wichtiges, Hobby verheimlichte. Doch ein Seitenblick auf ihn und seine grimmige Miene hielt sie davon ab.

Seufzend strich sie sich durch den Zopf, den sie sich in seiner Wohnung geflochten hatte. Sie sah aus dem Fenster und dachte daran, wie modern sein Penthouse eingerichtet war und wie groß es war. Ihr eigenes Zimmer würde allein achtmal in das Wohnzimmer passen.

Nachdem er sie in der Diele hatte stehen lassen, war sie seiner Beschreibung gefolgt. Zum Vorschein kam ein heller Raum, der, außer einem Boxsack, der an der Decke hing, einem Laufband und einem Speedbike, leer war. Anscheinend legte ihr Chef Wert auf körperliche Fitness.

Mit gemischten Gefühlen durchquerte sie den Fitnessraum und fand eine weitere Tür. Sie öffnete diese und trat in ein schickes kleines Gästebad. Schwarze Fliesen auf dem Boden und weiße, rechteckige Kacheln an den Wänden verliehen dem Raum Größe. Eine Toilette und ein Waschbecken in Steinoptik blitzten sie sauber an. Daneben stand ein offenes Regal, in dem weiße Handtücher gestapelt waren.

Danach begann sie, ihre Haare zu entknoten und mit den Händen durchzukämmen. Ihre braunen Haare reichten ihr bis zum Po, etwas, worauf sie stolz war. Sie liebte ihre langen Haare, auch wenn es gefühlte Stunden dauerte, sie zu waschen und zu föhnen. Nachdem sie die wenigen Knoten notdürftig gelöst hatte, flocht sie sich einen neuen Zopf. Zum Glück fand sie noch ein Haargummi in der Hosentasche, das sich nicht in Rauch aufgelöst hatte.

Sie trat in den Flur zurück und sah sich um. Die Diele ging direkt in den offenen Wohnbereich über. Es war seltsam still in der Wohnung, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Kurz entschlossen trat sie an der Sofaecke vorbei und blieb vor einer gläsernen Terrassentür stehen. Dahinter erstreckte sich der ungehinderte Blick über ein grünes Berlin. Rechts konnte sie den Park von Charlottenburg erkennen.

Sie drehte sich einmal im Kreis und besah sich die Einrichtung. Alles war schlicht, aber modern eingerichtet. Die Wände waren weiß und die schwarzen und grauen Möbel setzten Akzente. Diese Wohnung hätte auch aus einem Maklerkatalog stammen können. Es fehlte Persönlichkeit, wurde ihr mit einem Mal klar. Nirgendwo gab es Anzeichen dafür, dass ein Mensch hier wohnte. Alles war blitzblank geputzt und aufgeräumt. Sie näherte sich einer offenstehenden Tür und schaute hinein. Der unordentliche Papierstapel auf einem großen Schreibtisch nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Das Zimmer schien nicht zu der, sonst aufgeräumten, Wohnung zu passen. Mit klopfendem Herzen trat sie in den Raum ein und erstarrte.