Die dunkle Spur - Jenny Blackhurst - E-Book

Die dunkle Spur E-Book

Jenny Blackhurst

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Beschreibung

Eine Insel mit dunklen Geheimnissen ...

Der atemberaubende neue Thriller der Bestsellerautorin

Martha`s Vineyard im Sommer - traumhafte Sandstrände, Luxusvillen mit Meerblick, ein Hafen mit eleganten Segeljachten. Die junge Engländerin Claire ist fast ein wenig neidisch, als ihre Schwester Holly einen Ferienjob auf der Insel der Reichen und Schönen ergattert. Doch dann hört Claire plötzlich nichts mehr von ihr. Alarmiert reist sie nach Martha`s Vineyard, um ihre Schwester zu suchen. Aber Holly ist spurlos verschwunden. Als Claire erfährt, dass auf der Insel vor fünf Jahren eine junge Frau unter rätselhaften Umständen ums Leben kam, befürchtet sie das Schlimmste. Verzweifelt beginnt sie, die letzten Tage vor Hollys Verschwinden zu rekonstruieren - und kommt dabei einer elitären Gesellschaft auf die Spur, hinter deren glänzender Fassade dunkle Abgründe lauern ...

»Fesselnd von der ersten Seite an« CLAIRE DOUGLAS

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Seitenzahl: 425

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Inhalt

Cover

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

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Epilog

Über das Buch

Martha`s Vineyard im Sommer – traumhafte Sandstrände, Luxusvillen mit Meerblick, ein Hafen mit eleganten Segeljachten. Die junge Engländerin Claire ist fast ein wenig neidisch, als ihre Schwester Holly einen Ferienjob auf der Insel der Reichen und Schönen ergattert. Doch dann hört Claire plötzlich nichts mehr von ihr. Alarmiert reist sie nach Martha`s Vineyard, um ihre Schwester zu suchen. Aber Holly ist spurlos verschwunden. Als Claire erfährt, dass auf der Insel vor fünf Jahren eine junge Frau unter rätselhaften Umständen ums Leben kam, befürchtet sie das Schlimmste. Verzweifelt beginnt sie, die letzten Tage vor Hollys Verschwinden zu rekonstruieren – und kommt dabei einer elitären Gesellschaft auf die Spur, hinter deren glänzender Fassade dunkle Abgründe lauern …

»Fesselnd von der ersten Seite an« CLAIRE DOUGLAS

Über die Autorin

Jenny Blackhurst ist seit frühester Jugend ein großer Fan von Spannungsliteratur. Die Idee für einen eigenen Roman entwickelte sie nach der Geburt ihres ersten Kindes; inzwischen ist sie eine erfolgreiche Autorin, deren Thriller in mehreren Sprachen erscheinen und alle zu SPIEGEL-Bestsellern wurden. Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in Shropshire, England.

Weitere Titel der Autorin:

Die stille Kammer

Das Mädchen im Dunkeln

Das Böse in deinen Augen

Mein Herz so schwarz

Das Gift deiner Lügen

Dein dunkelstes Geheimnis

Der finstere Pfad

Jenny Blackhurst

DIEDUNKLESPUR

Eine traumhafte Insel. Zwei junge Frauen. Ein tödliches Geheimnis

THRILLER

Übersetzung aus dem Englischen von Anke Angela Grube

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe: Copyright © 2023 by Jenny Blackhurst Titel der englischen Originalausgabe: »The Summer Girl« Originalverlag: Canelo, London

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln Textredaktion: Dr. Arno Hoven, Düsseldorf Covergestaltung: Kirstin Osenau Covermotiv: © Mark Owen / Trevillion Images; © OlgaKraemer / Shutterstock, Silas Manhood / Trevillion Images, Ruslan Suseynov / Shutterstock, LaFifa / Shutterstock; © Silas Manhood / Trevillion Images E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-4295-5

luebbe.delesejury.de

Prolog

Sie hat das Gefühl, dass er wieder über das Feuer hinweg zu ihr schaut. Er hat ihr schon den ganzen Abend Blicke zugeworfen, ganz unverhohlen, als sei es ihm egal, wer es mitbekommt. Die anderen jungen Leute stehen ums Lagerfeuer herum, trinken, tanzen und lachen, aber sie hat nur Augen für ihn. Den ganzen Sommer über hat er mit ihr geflirtet, sie geneckt, und heute Abend kommt der Höhepunkt – die letzte große Party, bevor sie ihre Sommerhäuser verlassen und wieder in ihr normales Leben zurückkehren.

Ihr Haar glänzt golden im Feuerschein, ihre gebräunte Haut riecht nach Wärme und Sonnencreme. Sie lächelt. Seine Aufmerksamkeit macht sie befangen, aber sie genießt sie auch. Sie ist die Verkörperung der Jugend: jung, schön und voller Leben. Und bald wird sie mit dem Gesicht nach unten leblos im Yachthafen treiben.

Sie beobachtet ihn, wie er um das Feuer herumschlendert und dabei jeden begrüßt, an dem er vorbeikommt. Alle hier wissen, wer er ist. Er ist älter als sie, aber das scheint ihm nicht wichtig zu sein, und sie findet, dass es alles nur noch aufregender macht. Sie weiß, wie die anderen Mädchen ihn ansehen, und das macht sie nervös. Es fühlt sich wie die Last einer besonderen Verantwortung an: Sie muss cooler sein als die anderen, witziger und super-sexy, denn warum sonst sollte er mit ihr zusammen sein wollen? Sie fragt sich, ob er sie heute Abend wohl küssen wird. So unschuldig, wie sie ist, hat sie keine Ahnung, dass er mehr erwarten – nein, fordern – wird als einen Kuss, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist. Noch gäbe es einen Ausweg für sie. Noch könnte sie ihren Drink abstellen, anrufen, sich nach Hause fahren lassen, ihre Schwester um Rat fragen. Aber ihre Schwester würde sie vor Jungs wie ihm warnen, und sie will keine Warnungen hören. Er kommt ihr immer näher, begrüßt weiterhin locker die Partygäste, verteilt Wangenküsschen, und sie weiß, dass sie sein eigentliches Ziel ist. Bei dem Gedanken werden ihre Handflächen feucht, und sie wischt sie an ihren Jeans-Shorts ab. Der Abstand zwischen ihnen wird geringer, bis er schließlich bei ihr ist, und sie spürt die prickelnde Spannung zwischen ihnen.

Noch könnte ihr Schicksal anders verlaufen … Wenn sie sich beispielsweise selbst noch etwas zu trinken holte, anstatt den Drink zu nehmen, den er ihr reicht, wenn einer der Umstehenden die Zeichen richtig deuten und jemanden anrufen würde, der sie abholen kommt. Wenn es ein anderer Junge wäre, den sie sich in den Kopf gesetzt hätte, wenn ihm jemand beigebracht hätte, dass Macht und Einfluss einem nicht das Recht geben, sich einfach zu nehmen, was man will. Oder wenn auch nur eines der Mädchen, die erfahren mussten, wie er in Wirklichkeit ist, nicht so effektiv zum Schweigen gebracht worden wäre. Sie ist nicht das erste Sommermädchen, dessen Leben ein für alle Mal einen vollkommen anderen Verlauf nehmen wird, weil eine Aneinanderreihung vieler kleiner Handlungen sie beide auf einer Party zusammengeführt hat. Und so tragisch es ist, sie wird nicht die Letzte bleiben. Vielleicht wird das nächste Sommermädchen mehr Glück haben als sie; vielleicht wird die Wahrheit aufgedeckt werden, bevor noch ein Mädchen sein Leben verliert …

Vielleicht aber auch nicht.

1

Claire

Die Musik wummerte, und der Alkohol, den ich den ganzen Abend getrunken hatte, perlte in meinen Adern und machte es mir schwer, mich zu konzentrieren. Mein letzter Whiskey on the Rocks hatte mich endgültig davon überzeugt, dass der Mann, der mir gegenübersaß, doch der Richtige war. Und daher war ich entschlossen, ihn heute Abend nicht davonkommen zu lassen, auch wenn er keine großen Anstrengungen in der Richtung zu unternehmen schien.

»Ich weiß gar nicht mehr genau, warum wir uns eigentlich getrennt haben«, sagte ich und wedelte mit dem Zeigefinger vor seinem Gesicht herum, was ich für eine unglaublich erotische, neckische Geste hielt. Wäre sie jedenfalls gewesen, wenn ich ihm dabei nicht fast sein Bier in den Schoß gekippt hätte.

»Weil du meintest, eher kriegt Katie Hopkins den Friedensnobelpreis, als dass ich was auf die Reihe bekomme«, erinnerte er mich zuvorkommend.

Ich runzelte die Stirn. Das klang ganz nach mir. Woraufhin ich behauptete: »Klingt überhaupt nicht nach etwas, was ich sagen würde.«

»Und weil er außerdem deine Schwester angebaggert hat«, bemerkte eine Stimme hinter mir über die dröhnenden Bässe hinweg.

Eine Stimme, die ich sehr gut kannte. Mit einem Aufstöhnen drehte ich mich zu meiner Cousine und besten Freundin Jess um und setzte ein falsches Lächeln auf. Sie stand da, eine Hand in die Hüfte gestemmt, und musterte mich missbilligend. Jess war drei Monate jünger als ich, aber in letzter Zeit führte sie sich auf, als wäre sie meine Mutter und ich ein launischer Teenie, der über die Stränge schlägt. Dabei war ich dreißig Jahre alt und hatte jedes Recht, mich zu betrinken und mit einem Ex zu schlafen, wenn ich das wollte. Und heute Abend wollte ich.

»Was machst du hier?«, fragte ich, ohne mir die Mühe zu geben, meine Irritation zu verbergen.

Jess runzelte die Stirn. Wenn sie das tat, sah sie sogar noch jünger aus. Jess war fast dreißig, wirkte aber wie die Jugend in Person. Sie gehörte zu diesen irritierenden natürlichen Schönheiten, die selten Make-up auflegten und tragen konnten, was auch immer sie wollten. Sie war sogar von Natur aus blond. »Die entscheidende Frage ist doch wohl, was du hier treibst«, entgegnete sie.

»Wonach sieht es denn aus?«

Sie warf Chris einen vernichtenden Blick zu. »Offenbar gießt du Alkohol auf eine alte Flamme.«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Jess«, sagte er. Die beiden waren noch nie gut miteinander ausgekommen. Wahrscheinlich, weil eher Katie Hopkins, die rechte Provokateurin und meistgehasste Frau Englands, den Friedensnobelpreis kriegen würde, als dass er was auf die Reihe bekam, und er sich an meine Schwester rangemacht hatte.

Ich hob die Augenbrauen. »Bist du nur gekommen, um zu stänkern?«

»Wann hast du zuletzt mit deiner Schwester gesprochen?« Jess ignorierte meinen Tonfall.

Ich seufzte. Ich beugte mich vor und flüsterte Chris zu, dass ich ihn anrufen würde, wenn es mir gelungen war, meine liebe Cousine loszuwerden. Das war gelogen. Sie hatte schon recht: Er war noch genauso ein Loser wie damals, als ich ihn rausgeworfen hatte, weil er versucht hatte, meine Schwester anzubaggern. Chris nickte und ging, nachdem er Jess einen finsteren Blick zugeworfen hatte.

»Mit welcher?«, fragte ich.

Jess runzelte erneut die Stirn. Ich bekam den Eindruck, dass ich ihr auf die Nerven ging. »Du hast nur eine Schwester«, stellte sie fest.

»Ja«, stimmte ich ihr zu. »Aber sie hat mehrere Persönlichkeiten.« Ich kippte den letzten Schluck Whiskey herunter und signalisierte dem Barmann, dass ich noch einen wollte, aber Jess ergriff meine Hand und drückte sie wieder nach unten.

»Nun sei nicht blöd. Ich weiß, du bist wütend auf sie, weil sie weggegangen ist, aber du bist nicht die Einzige, die eine schwere Zeit durchgemacht hat. Das ist eben ihre Art, damit fertigzuwerden.«

Ich entriss ihr mein Handgelenk und machte dem Barmann ein Zeichen. »Und das ist meine Art, damit umzugehen.«

»Noch mal dasselbe?«, fragte er.

Ich nickte und wies auf Jess. »Und eine Virgin Mary für meine tugendhafte beste Freundin.«

Jess biss die Zähne zusammen. »Holly ruft mich nicht zurück.«

»Vielleicht ist das ihre Art, damit umzugehen.«

Jess knallte ihre Hand auf den Tresen. »Tu nicht so, als wäre es dir egal. Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Ich habe mehrmals versucht, sie zu erreichen, aber sie meldet sich nicht. Wann hast du zuletzt mit ihr gesprochen?«

Ich überlegte. Wann war das gewesen? Konnte ich mich wirklich nicht erinnern, wann ich zuletzt mit meiner Schwester telefoniert hatte? Jedenfalls hatte das Gespräch im Streit geendet. Ich erinnerte mich an Hollys Stimme, die mich, ihre große Schwester, fast anflehte, sich für sie zu freuen, weil sie das Leben auf ihrer mehr als dreitausend Meilen entfernten Insel liebte. Und an den Schmerz und die Wut, die ich empfand, weil wir so weit voneinander entfernt waren, sie Spaß hatte und wieder nach vorn blickte, und das ohne mich. Ich hatte danach noch mal versucht, sie anzurufen – heute Morgen, wenn ich mich richtig erinnerte. Aber sie war nicht rangegangen. Das war kaum erstaunlich, denn in Massachusetts musste es gegen fünf Uhr morgens gewesen sein, und ich war wirklich gemein zu ihr gewesen.

»Ich weiß nicht … Donnerstag vielleicht?«

Jess holte tief Luft, als müsse sie um Geduld ringen. »Ich habe Freitagmorgen mit ihr telefoniert. Seitdem habe ich jeden Tag versucht, sie anzurufen. Und heute schaltete sich sofort die Mailbox ein.«

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte nachzudenken. Die letzte Whiskey-Cola war wahrscheinlich doch keine so gute Idee gewesen. Heute war Dienstag, halb zehn abends hier in Hampshire, also müsste es in Massachusetts – ich rechnete mit den Fingern nach – halb vier nachmittags sein. Ich holte mein Handy heraus, tippte auf Hollys Namen und stellte auf Lautsprecher, damit Jess es hören konnte, wenn meine Schwester sich meldete. Es klingelte nicht einmal. Sofort meldete sich die Mobilbox von T-Mobile. »Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.«

Jess’ Miene wurde noch besorgter. »Ich habe dir doch gesagt, dass sofort die Mailbox anspringt. Was könnte da los sein?«

»Herrje, Jess, wahrscheinlich hat sie mich geblockt«, erwiderte ich. Ich war dieses Gespräch leid. Ich wollte nicht an meine Schwester denken. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich wütend auf sie war. Aber ich war eben wütend auf sie, obwohl ich wusste, wie unvernünftig ich mich verhielt. Mein Kopf tat mir weh. Ich wollte nur trinken und vergessen. »Unser letztes Gespräch lief nicht gerade besonders gut. Versuch du es noch mal.«

Jess wählte Hollys Nummer, aber wir hatten nur wieder die Mobilbox am Apparat. Meine Cousine biss die Zähne zusammen und sah mich böse an.

»Ihr Handy ist abgeschaltet. Ich sag dir, da stimmt etwas nicht. Holly lässt meine Nachrichten sonst nie so lange unbeantwortet.«

»Schön für dich.« Ich merkte selbst, dass ich mich anhörte wie eine beleidigte Leberwurst.

Der Barkeeper kam mit einer neuen Whiskey-Cola für mich und einer Virgin Mary für Jess. Oje. Offensichtlich hatte er nicht begriffen, dass meine Bemerkung vorhin nur sarkastisch gemeint war. Jess sah aus, als hätte sie mir den Tomatensaft am liebsten ins Gesicht geschüttet.

»Worum geht es hier in Wirklichkeit, Jess?«, fragte ich mit einem Seufzer. »Wenn Holly nur deine Anrufe ignoriert, hättest du mich angerufen oder mir geschrieben. Du wärst nicht hier reingestürmt, um mich fertigzumachen, weil ich mir nach einer Neun-Stunden-Schicht ein paar Drinks gönne. Warum sagst du mir nicht einfach, was los ist?«

Meine Cousine Jess und ich waren beste Freundinnen, solange ich denken konnte. Nur ihretwegen hatte ich früher hingenommen, dass meine jüngere Schwester mit uns spielte – Jess war ein Einzelkind und hatte einen Narren an Holly gefressen, die acht Jahre jünger war als wir. Junge, was war Hollys Geburt für ein Schock für mich gewesen. Ich war daran gewöhnt, die ganze Aufmerksamkeit meiner Eltern für mich zu haben, und plötzlich stand ich nicht mehr an erster Stelle. Als meine Eltern sich nicht lange nach Hollys Geburt trennten, war mir völlig klar, wessen Schuld das war: die meiner kleinen Schwester. Ich hatte meinen Groll so lange gepflegt, dass wir vermutlich gar keine richtige Geschwisterbeziehung hätten, wenn Jess nicht gewesen wäre. Erst in den letzten Jahren hatte sich eine normale schwesterliche Freundschaft zwischen uns entwickelt. Und jetzt waren wir weiter voneinander entfernt denn je, und zwar nicht nur räumlich.

Jess blickte sich um und seufzte. »Tom wartet im Auto. Können wir vielleicht zu mir fahren und darüber reden?«

Himmel, sie hatte die Kavallerie mitgebracht.

»Warum?«, fragte ich. »Sag’s mir einfach jetzt gleich. Sie ist durchgebrannt und hat geheiratet, stimmt’s? Oder ist sie schwanger? Was verschweigst du mir?«

Jess griff nach ihrem Handy, begann, darauf herumzutippen, und reichte es mir.

»Das hat sie mir heute geschickt.«

»Ich dachte, du hättest nichts mehr von ihr gehört, seit …« Ich verstummte, als mein Gehirn das Gelesene verarbeitete. Es war nur eine kurze Textnachricht, aber ich wusste jetzt, warum Jess mich in der Kneipe aufgesucht hatte. Und mir wurde klar, warum sie sich solche Sorgen machte.

Ich habe viel Spaß. Fahre für ein paar Tage weg, werde kein Netz haben. Ich melde mich bei Mama, wenn ich zurück bin. Sag ihr, es tut mir leid, dass ich ihren Anruf heute Morgen verpasst habe. Hab euch alle lieb. xx

»Verdammt«, murmelte ich. »Das hast du heute bekommen?«

»Direkt bevor sie ihr Handy abgeschaltet hat«, antwortete Jess.

»Oder sonst jemand es abgeschaltet hat.« Ich stand vom Barhocker auf und klammerte mich haltsuchend an den Tresen. Ich wusste nicht, ob meine Beine vom Alkohol oder vom Schock so wackelig waren. »Denn eins wissen wir beide: Es war nicht Holly, die diese Nachricht geschickt hat.«

2

Claire

Tom wartete tatsächlich im Auto. Der treue, loyale Tom, der tat, was immer Jess von ihm wollte, in der Hoffnung, sie würde eines Tages erkennen, wie sehr sie ihn liebte. Was durchaus möglich war, denn sie würden ein tolles Paar abgeben. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte erkennen, dass er sie liebte, seit er vor vier Jahren angefangen hatte, in ihrer veganen Bäckerei zu arbeiten. Die Bäckerei Au Natural (ich hatte für den Namen »No Beef« plädiert) war Jessicas Traum gewesen, solange ich denken konnte. Zwar bezahlte meine Tante Karen die Miete für den Laden und ihre Wohnung – und Jess hatte einen großen Kredit aufnehmen müssen –, aber sie verdiente immerhin so viel, dass sie Toms Lohn bezahlen konnte und ihr nicht der Strom abgestellt wurde. Ich war stolz auf sie. Während andere kleine Mädchen davon träumten, Astronautinnen zu werden (ich) oder Schauspielerinnen (Holly), hatte Jess sich einen funktionierenden Spielzeugbackofen zum Geburtstag gewünscht und beschlossen, später einmal ein eigenes Café mit veganen, zuckerarmen Leckereien zu eröffnen. Sie hatte nicht immer vegan gelebt – früher waren selbst Vegetarier in unserer Gegend selten gewesen, und von Veganern hatte noch nie jemand etwas gehört –, aber sie hatte schon immer fettige Kebabs und scharf gebratene Restepfannen gemieden. Da ich jahrelang das Privileg genossen hatte, Testesserin für ihre verschiedenen Kreationen zu sein, kam es für mich nicht überraschend, als sie verkündete, sie würde ihre eigene Bäckerei eröffnen. Trotzdem, es war schon eine Leistung für jemanden ihres Alters.

»Geht’s dir gut?«, erkundigte sich Tom mit hochgezogenen Augenbrauen, als ich einstieg. Ich funkelte ihn böse an, war mir aber nicht sicher, ob das in meinem gegenwärtigen Zustand die gewünschte Wirkung hatte.

Ich nannte Tom den »Instagram-Veganer«. Er war hochgewachsen und schlank, und etliche Tätowierungen mit buddhistischen Symbolen schmückten seine Arme und den sportgestählten Oberkörper. Das wusste ich, weil er auf Instagram selten ein Shirt trug. Er mochte dünn wie eine Weidengerte sein; aber Mann, er hatte Muskeln. Auf Social Media veröffentlichte er Fotos, auf denen er im Wald und auf Hügelkuppen Yoga praktizierte, seinen Männerdutt band und Smoothies zubereitete. Ich wusste, dass er und Jess gelegentlich miteinander schliefen und beiden viel aneinander lag. Doch Tom verbarg ein finsteres Geheimnis. Er wäre lieber gestorben, als es zu enthüllen, doch ich wusste Bescheid. Jeden Mittwoch ging er ins White Horse in Southampton, um ein Steak zu essen und ein Bier zu trinken.

Wortlos schloss ich die Augen und lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze. Während Tom uns zu Jessicas Wohnung fuhr, kämpfte ich gegen die Übelkeit an, die mich überkommen hatte. Wer hatte diese Textnachricht geschickt? Hatte Holly einfach einen Freund gebeten, Jess zu antworten, ohne sich bewusst zu machen, welchen Wirbel das auslösen würde? Oder steckte tatsächlich etwas Finsteres dahinter? Hatte jemand versucht, dafür zu sorgen, dass Jess sich nicht wunderte, wenn Holly sich ein paar Tage oder gar Wochen nicht meldete … Was glaubte derjenige, wie lange es dauern würde, bevor wir Verdacht schöpften?

Bevor Jess Verdacht schöpft, meinst du wohl, meldete sich eine anklagende Stimme in meinem Kopf. Sie hatte sich sofort Sorgen um Holly gemacht. Während ich vermutlich erst in ein paar Tagen erneut versucht hätte, sie anzurufen.

Ich kam mir vor wie eine ungezogene Schülerin, die von ihren Eltern nach Hause gebracht wurde. Jess billigte es nicht, dass ich in letzter Zeit ständig in der Kneipe rumhing, und auch nicht das, was ich danach tat – oder mit wem. Aber Tatsache war, ich war ein großes Mädchen. Und deshalb hatte sie kein Recht, mir vorzuschreiben, wie viel ich trank oder mit wem ich schlief. Während der Arbeit war ich immer nüchtern, meine Maske saß fest und tadellos. Tagsüber funktionierte ich bestens; ich wusste genau, wie viel ich vertrug und wann ich aufhören musste. Ich hatte kein Alkoholproblem. Es war allerdings verständlich, dass Jess ein wenig überfürsorglich war, wenn man bedachte, was ich durchgemacht hatte; und so ärgerlich es auch sein mochte, so war ich doch froh darüber, dass es jemanden gab, dem ich wichtig genug war, um mir Vorhaltungen zu machen. Vermutlich hatte ich gehofft, dass Holly ebenso empfinden würde; dass sie froh darüber war, eine nervige ältere Schwester zu haben, der sie wichtig war. Nicht, dass ich ihr in letzter Zeit oft gezeigt hätte, wie viel mir an ihr lag. Plötzlich hätte ich mich am liebsten bei ihr entschuldigt.

»Herr im Himmel«, stöhnte ich. »Ich habe ja gewusst, dass sie viel zu jung ist, um ganz allein loszuziehen. Ich hätte sie aufhalten sollen.«

»Claire.« Jess beugte sich zu mir nach hinten, legte ihre Hand auf mein Knie und drückte es. »Holly ist zweiundzwanzig. Sie mag deine kleine Schwester sein, aber sie ist erwachsen. Du hättest sie nicht daran hindern können, in die USA zu reisen. Wir wissen doch beide, wie sie ist.«

»Ich hätte mir mehr Mühe geben können.«

»Damit sie trotzdem fährt, aber wütend auf dich ist?«

»Sonderlich begeistert war sie auch so nicht von meiner Reaktion.« Als Holly mir erzählt hatte, dass sie plante, den Sommer auf Martha’s Vineyard zu verbringen, war meine erste Reaktion ein entschiedenes »Glaube ich kaum« gewesen. Sie hatte gelacht und mir ihr Flugticket gezeigt. Wenn die meisten Leute so etwas sagten wie: »Ich würde gern mal nach Massachusetts fahren«, dann meinten sie damit irgendeinen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft und wussten genau, dass vermutlich sowieso nie etwas daraus werden würde. Als meine Schwester das gesagt hatte, meinte sie, sie würde in drei Wochen dorthin aufbrechen, und sie hatte sich bereits einen Job in einem Yachthafen und eine Airbnb-Unterkunft gesucht. Holly war ebenso stur wie ich, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, und sie hatte sich eben in den Kopf gesetzt, den Sommer auf Martha’s Vineyard zu verbringen.

Tom hielt vor Jessicas Wohnung und ließ uns schon mal aussteigen, während er einen Parkplatz suchte.

»Er könnte noch Chauffeur und Parkservice in seinen Lebenslauf setzen«, ätzte ich.

Jess schüttelte den Kopf. »Manchmal kannst du so was von gemein sein. Er musste nicht mitkommen, um dich abzuholen.«

»Du auch nicht«, sagte ich. »Ich kann mich nicht erinnern, das Bat-Signal gesendet zu haben.«

Sie zeigte mir den Mittelfinger und schloss die Haustür auf. Ihre Wohnung lag über einem Friseursalon, und um dorthin zu gelangen, musste man eine schmale, gewundene Treppe hochsteigen und dann einen Korridor entlanggehen, der mehr an einen Tunnel erinnerte. Doch wenn man die kleine Wohnung betrat, wurde einem sofort klar, wie schön und gemütlich Jess sie eingerichtet hatte. Der Flur war hellgrau gestrichen, und über einem dekorativen Bord hing ein großer Spiegel. Im offenen Wohnbereich dominierte ein helles Blau mit dunkelblauen und goldenen Akzenten, während die Küche in Weiß gehalten war. Für Farbtupfer sorgten gerahmte Poster mit Sinnsprüchen wie »Zuhause ist, wo der Kühlschrank ist« oder »Wo die Liebe den Tisch deckt, schmeckt das Essen am besten«. Für Jess traf das zu: Sie liebte Essen, und wer auch immer an ihrem Tisch Platz nahm, gehörte in ihren Augen zur Familie. Leider war in ihrer Wohnung nicht genug Platz für einen Esstisch, aber ich hegte keinen Zweifel daran, dass sie irgendwann in ihre Traumküche ziehen würde – mit ein paar sich daran anschließenden Zimmern.

Tom musste nicht klingeln, um in die Wohnung zu kommen, und ich war nicht so betrunken, dass mir dieser Umstand entgangen wäre.

»Ich habe die Tür offen gelassen«, erklärte Jess sofort. Sie wusste genau, was ich dachte, obwohl ich weder eine Miene verzogen noch die Lippen bewegt hatte. »Er hat keinen Schlüssel. Also fang nicht wieder mit dieser Verschwörungstheorie an.«

Sie spielte damit auf meine Vorstellung an, nach der sie und Tom insgeheim zusammen waren, und zwar schon seit Jahren. Ich hing dieser Idee schon so lange an, dass sie eigentlich längst heimlich verheiratet sein und heimlich vier Kinder zusammen haben müssten. Mir war nie eine gute Erklärung dafür eingefallen, weshalb sie ihre Liebesbeziehung vor dem Rest der Welt geheim halten sollten. Aber so war das eben mit Verschwörungstheorien: Man ignorierte die Teile, die nicht passten.

»Wer kann diese Nachricht geschrieben haben?«, fragte ich, als Jess den Wasserkocher füllte. Durch die frische Luft und die Flasche Wasser, die Tom mir im Auto gegeben hatte, war ich schon ein wenig klarer im Kopf, und das verstärkte nur meine Sorge um Holly. Ich war schon fast wieder nüchtern. So gut wie.

»Wer immer es war, er kennt sie nicht sehr gut.« Jess sprach etwas lauter, um das Brodeln des kochenden Wassers zu übertönen.

Er kannte Holly nicht gut genug, um zu wissen, dass unsere Mutter vor acht Monaten gestorben war.

»Ich begreife nur nicht, warum da was von einem verpassten Anruf eurer Mutter steht«, fuhr Jess fort. »Warum etwas behaupten, was so klar gelogen ist? Da ist die Person ein Risiko eingegangen. Selbst wenn eure Mutter noch lebte – sie würde doch wissen, dass sie Holly heute Morgen nicht angerufen hat.«

»Nein, aber ich habe sie zu erreichen versucht«, erwiderte ich. Mir war klar, wo der Fehler des unbekannten Absenders lag. »Holly hat immer Witze über mein Verhalten ihr gegenüber gemacht. Sie hat gesagt, ich halte ihr so viele Strafpredigten, dass ich ebenso gut ihre Mutter sein könnte, also hat sie mich in ihrem Handy als ›nervige Mama‹ gespeichert. War als Scherz gedacht.«

Ich hatte nie begriffen, wie sie es nach dem Tod unserer Mutter ertragen konnte, dass »Mama« auf ihrem Display aufblitzte, und sei es nur im Scherz. Wenn ich sie darauf ansprach, pflegte sie zu sagen, so könnte sie jedes Mal, wenn ich anriefe, ein paar Sekunden lang glauben, dass Mama anriefe, und das sei schön. Ich wusste nicht, ob ich das süß, sadistisch oder traurig finden sollte. Wahrscheinlich ein bisschen von allem.

Nachdem unsere Mutter uns vor etwas mehr als zwölf Monaten gesagt hatte, dass sie an Lungenkrebs erkrankt war, waren Holly und ich uns nähergekommen als je zuvor. In der schweren Zeit, die dann folgte, hatten wir uns gegenseitig unterstützt. Abwechselnd begleiteten wir unsere Mutter zur Chemotherapie, und wenn sie operiert wurde, wachten wir nachts im Krankenhaus. Wir klammerten uns fest aneinander und weinten so leise, wie es ging, damit sie uns nicht hörte. Wir hatten Songs, die uns an Mama erinnerten, zu einer gemeinsamen Playlist hinzugefügt. Uns gegenseitig frisiert und an den Händen gehalten, als der Wagen des Bestatters vorfuhr. Und dann, vor acht Wochen, gerade mal sechs Monate nach dem Tod unserer Mutter, hatte die gerade mal zweiundzwanzigjährige Holly verkündet, dass sie weggehen würde.

»Wie lange?«, hatte ich gefragt. »Einen Monat? Ein Jahr? Für immer?«

Holly hatte die Achseln gezuckt. »Ich weiß nicht, wie lange ich wegbleiben werde, Claire. Aber ich muss das einfach machen. Das, was mit Mama passiert ist, könnte jedem passieren … jederzeit. Ich will nicht irgendwann bereuen müssen, dass ich so vieles im Leben versäumt habe.«

So wie es Mama empfunden haben muss, hatte ich gedacht. Samantha Matthews war erst siebenundfünfzig gewesen, als sie an Krebs starb. Sie hatte ihr Leben ganz uns, ihren Töchtern, gewidmet, damit wir nicht so sehr unter dem plötzlichen Weggang unseres Vaters litten. Daher hatte sie nie einen anderen Mann kennengelernt; jedenfalls war nie etwas Ernstes daraus geworden. Sie hatte immer behauptet, sie wolle keinen anderen Mann, aber jetzt war mir klar, wie einsam sie gewesen sein musste, als Holly und ich erwachsen wurden und auszogen. Ich konnte es Holly kaum vorwerfen, dass sie die Welt erkunden und ihr Leben auskosten wollte, schließlich hatte unsere Mutter uns gebeten, genau das zu tun: jeden Tag so zu leben, als wäre er der letzte, der einzige Tag, der uns versprochen war. Aber es gab einen kleinlichen, selbstsüchtigen Teil von mir, der sich nicht für Holly freuen konnte. Weil ich nicht wusste, was ich ohne sie anfangen sollte.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ihr etwas zugestoßen ist, oder?«, fragte ich nun, und Tränen drohten mir in die Augen zu steigen. Nein, dachte ich. Ich werde nicht weinen. Nachdem Mama von uns gegangen war, hatte ich genug geweint; ich würde jetzt nicht wieder damit anfangen. Ich hatte Angst, sonst nie wieder aufhören zu können.

»Bestimmt ist alles in Ordnung«, antwortete Jess, aber es klang eher hoffnungsvoll als sicher. »Bestimmt gibt es irgendeine rationale Erklärung für diese Textnachricht. Vielleicht dachte sie, ich weiß, dass sie dich als ›Mama‹ gespeichert hat, und der Teil der Nachricht war als eine witzige Anspielung gedacht. Bei Textnachrichten geht so vieles verloren.«

»Vielleicht hast du recht.« Durfte ich mir erlauben, mich an diesen Gedanken zu klammern? Doch, das musste die Erklärung sein. Holly hatte vermutlich die Augen verdreht, als sie die Nachricht schrieb. Ich melde mich bei Mama, wenn ich zurück bin. Ich würde dem Mädchen beibringen müssen, dass man gegebenenfalls Anführungszeichen setzen sollte – in dem Fall bei dem Wort »Mama« –, um schlimme Missverständnisse auszuschließen.

»Oder sie hat ihr Handy in irgendeinem trendigen Café in den Tiefen eines Sofas vergessen«, fuhr Jess fort. »Oder sie war drei Tage im Bett mit irgendeinem Cowboy und ruft uns in ein paar Wochen an, um uns mitzuteilen, dass sie in Las Vegas geheiratet hat.«

»Sie hat deine Anrufe noch nie ignoriert. Sie ignoriert nicht mal meine Anrufe, egal, wie wütend sie auf mich ist.« Ich holte mein Handy hervor und rief Hollys Social-Media-Seiten auf. Mit jedem Wischen vertiefte sich mein Stirnrunzeln. »Sie hat seit Tagen nirgends etwas gepostet. Nichts seit Freitag … Da hat sie ein paar Fotos von einer Feier in einem großen Haus und einem Lagerfeuer am Strand gemacht.«

»Sie hat von irgendeiner Party am Strand gesprochen, als ich mit ihr telefonierte. Offenbar hat irgendein Typ ihr davon erzählt, aber sie wusste nicht genau, ob sie hingehen sollte. Sie machte irgendeinen Witz über seine Absichten. Wie es aussieht, ist sie doch hingegangen. Vielleicht schläft sie bloß ihren Rausch aus.«

Ich warf Jess einen ärgerlichen Blick zu. »Soll das eine Art umgekehrte Psychologie sein? Erst überzeugst du mich, dass Holly in tödlicher Gefahr schwebt, und jetzt soll sie entweder heiraten wollen oder ihr Handy verloren haben oder verkatert sein. Was denn nun?«

»Ich weiß es doch auch nicht.« Jess sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Klasse. Emotionen waren nicht meine starke Seite.

Wieder wählte ich Hollys Nummer, wieder sprang direkt die Mobilbox an.

»Könnte sie bei der Arbeit sein?«, fragte Tom.

»Im Moment? Klar«, sagte ich. »Aber seit Freitag? Nein. Jess, bist du dir ganz sicher, dass du seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen hast?«

Sie warf mir einen Blick zu, der besagte, dass nicht sie diejenige war, die Probleme hatte, sich zu erinnern, welchen Wochentag wir hatten. Das war ein bisschen unfair. Ich hatte kein Alkoholproblem … Und ja, mir war bewusst, genau das behaupteten Leute, wenn sie eins hatten. Es war nur, dass mir bei meinem Lebensstil nicht immer klar war, welches Datum wir gerade hatten. Oder welchen Tag der Woche. Ich wusste, es war Wochenende, wenn die Bar voller war, ich mehr Trinkgeld bekam und gegen halb acht die Türsteher aufkreuzten. Ich war nicht unglücklich mit dem Leben, das ich führte; ich mochte meinen Tresenjob in der Bar. Und wenn ich in letzter Zeit häufiger nach der Arbeit noch auf ein paar Drinks blieb und manchmal im Pausenraum übernachtete, wenn ich zu viel getrunken hatte, um nach Hause zu fahren, und keine Mitfahrgelegenheit bekam, war das wohl nicht erstaunlich. Ich war in Trauer, falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte.

»Es war am Freitag«, bekräftigte Jess.

»Warum fragt du nicht mal an ihrem Arbeitsplatz nach?«, schlug Tom vor.

»Ich will sie nicht vor ihren neuen Kollegen blamieren.«

Tom zuckte die Achseln. »Dann mache ich es.« Er zog sein Handy hervor. »Wo genau arbeitet sie?«

»Im Yachthafen von Oak Bluffs.« Ich rief die Telefonnummer des Yachthafens auf, in dem meine Schwester ihren Sommerjob hatte. Obwohl ich stinkwütend darüber war, dass sie so kurz nach dem Tod unserer Mutter abgehauen war, hatte ich für den Notfall sämtliche Kontaktdaten in meinem Handy gespeichert. Ich wusste nur zu gut, dass mein Zorn auf Holly egoistisch war und bald verrauchen würde. Irgendwann würde ich zu Kreuze kriechen und mich entschuldigen, und das wiederum war ihr klar. Sie kannte mich besser als irgendjemand sonst und wusste, wie tief mein Schmerz war. Mein Pulsschlag beschleunigte sich, als Tom die Nummer eingab. Dies war der entscheidende Augenblick. Entweder würde man gleich Holly ans Telefon rufen, oder es gab doch keine harmlose Erklärung für ihr Schweigen.

»Hi, ich würde gern mit Holly Matthews sprechen. Sie hat Ihre Firma als Arbeitgeber angegeben … Ja. Ich bin von der Autovermietung, aber ich kann sie nicht erreichen … Okay, gut, ähm, okay.« Er warf mir einen Blick zu, aber ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. »Haben Sie eine Ahnung, wo ich sie erreichen könnte?«

Also war sie nicht da. Jess und ich standen wie angewurzelt da, als Tom das Gespräch beendete.

»Dort ist sie nicht.« Er sah besorgt aus. »Sie ist seit drei Tagen nicht mehr zur Arbeit gekommen.«

3

Claire

Offenbar war mir das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, denn Jess und Tom redeten gleichzeitig los.

»Vermutlich ist sie für ein paar Tage weggefahren –«

»Hat neue Freunde kennengelernt. Bisschen verantwortungslos, dieses Verhalten, aber nichts, wegen dem man sich Sorgen machen müsste –«

»Im Yachthafen hätte man sie doch als vermisst gemeldet, wenn sie sich Sorgen machen würden.«

Das brachte mein wildes Gedankenkarussell zum Stehen.

»Ja, warum haben die sie nicht als vermisst gemeldet?«, fragte ich mit erregter Stimme. »Was genau wurde gesagt? Mit wem hast du gesprochen?«

Tom hob beschwichtigend die Arme. »Beruhige dich«, sagte er und legte mir leicht die Hände auf die Schultern. »Ich habe mit einer Frau gesprochen, die sich als Stacy vorstellte. Ich bat darum, mit Holly sprechen zu dürfen, und bekam zur Antwort, sie sei schon seit ein paar Tagen nicht mehr zur Arbeit erschienen. Ich wollte wissen, wie lange genau, und die Frau antwortete, seit drei Tagen.«

»Und seit genau drei Tagen ruft sie dich nicht mehr zurück«, sagte ich zu Jess.

Mein Herz raste, und ich steckte den Kopf zwischen die Knie, strich mir die Haare aus dem Gesicht und versuchte nachzudenken. Atme! Das sagte Jess immer. Sie versuchte seit Jahren, mir verschiedene Atemübungen beizubringen, und jetzt wünschte ich, ich hätte ihr zugehört, anstatt schnippische Bemerkungen von der Art zu machen, dass es nur eine Art Atmung geben würde, die zählte, nämlich die Ein-und-Aus-Variante.

»Hier.« Jess stellte einen Becher mit starkem, schwarzem Kaffee neben mir ab, und ich sog den Duft tief ein. Seht her, ich praktizierte Kaffee-Atmung.

»Wo kann sie nur sein?«, flüsterte ich. Ich begann nicht zu schluchzen; dafür war ich nicht der Typ. Irgendwie hatte ich das Gefühl, seit dem Tod meiner Mutter alle Tränen aufgebraucht zu haben – mein Quantum an Melodrama war erfüllt. Vielleicht hatte mein kaltes schwarzes Herz auch gelernt, keine Schwäche mehr zu zeigen.

Tom legte tröstend seine Hand auf meine Hand und drückte sie leicht. Dann riss er ein Blatt von einem großen bedruckten Notizblock ab, der auf dem Tisch lag, gab mir einen Stift und deutete auf den Zettel.

»Was soll ich tun?«, fragte ich.

»Schreib alles auf, was du weißt«, wies Tom mich an. »Alles, was Holly dir erzählt hat – wo sie wohnt, welche Leute sie eventuell kennengelernt hat, wie ihr Chef heißt, was für einen Mietwagen sie fährt. Dann rufst du die Polizei auf Martha’s Vineyard an und gibst ihr diese Informationen. Die Polizei wird sie suchen, und dann wird man dich anrufen und dir mitteilen, dass sie gerade leidenschaftlichen Sex mit einem Mann hatte, der aussieht wie Jason Mamoa, und du wirst ihr eine WhatsApp schicken und dich für die Störung entschuldigen. Und wenn sie dann endlich anruft, gibst du mir das Telefon, und ich mache ihr die Hölle heiß.«

Ich brachte ein kleines Lächeln zustande. »Darf ich ihr auch die Hölle heißmachen?«

»Nur ein bisschen.« Er verdeutlichte mit Zeigefinger und Daumen, dass er wirklich nur ein klein wenig meinte. Vielleicht würde ich doch zulassen, dass der falsche Veganer meine beste Freundin heiratete.

Die Liste war schnell aufgeschrieben. Für eine Frau, die so entschlossen war, ihre kleine Schwester zu beschützen, hatte ich nur sehr wenige Fragen gestellt, wie ich feststellte, und zugehört hatte ich noch weniger. Aber ich fischte das Wesentliche aus ihren Textnachrichten und Mails heraus: ihre Adresse, ihren Arbeitsplatz, den Namen ihres Chefs. In einer Nachricht erwähnte sie eine junge Frau, Emmy, mit der sie etwas trinken gegangen war, also setzte ich auch die auf die Liste. Dann suchte ich die Nummer der Polizeiwache von Edgartown heraus und rief an. Ein Mann meldete sich; er sprach bedächtig und träge.

»Polizeiwache Martha’s Vineyard. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Oh, hallo.« Es war mir ein bisschen peinlich, ich kam mir ziemlich dumm vor, und mehr als leicht beschwipst war ich zudem immer noch. »Oh, äh, ich rufe wegen meiner Schwester an. Holly, ihr Name ist Holly. Sie verbringt den Sommer in Edgartown, und ich habe seit Tagen keinen Kontakt mehr mit ihr, was sehr ungewöhnlich ist. Ich habe an ihrem Arbeitsplatz angerufen, und man sagte mir, dass sie dort auch nicht aufgetaucht ist. Dabei ist sie ein sehr verantwortungsbewusster Mensch.«

»Alter?«

Die unvermittelte Frage brachte mich aus dem Konzept. »Wie bitte?«

Ein Seufzer am anderen Ende der Leitung. »Wie alt ist Ihre Schwester?«

»Oh, natürlich, klar. Ich dachte schon, Sie fragten nach meinem … Ach, egal. Sie ist zweiundzwanzig. Vor ein paar Monaten ist sie zweiundzwanzig geworden. Also, vor fünf Monaten.«

»Zweiundzwanzig?«

An seinem Ton merkte ich sofort, dass er die Sache nicht ernst nehmen würde.

»Ja«, seufzte ich. »Aber bis vor drei Tagen hatten wir ständig Kontakt. Und bei der Arbeit haben sie gesagt, dass sie einfach nicht mehr erschienen ist, was ihr überhaupt nicht ähnlich sieht; sie wollte diesen Job unbedingt haben. Und sie hat einer Freundin eine höchst merkwürdige Textnachricht geschickt: Sie lässt unsere Mutter grüßen, obwohl sie … obwohl unsere Mutter von uns gegangen ist.«

»Kennen Sie die Anschrift Ihrer Schwester?«, fragte der Polizist.

»Oh.« Ich hatte damit gerechnet, mehr Überzeugungsarbeit leisten zu müssen. Ich ratterte die Adresse herunter, die Holly mir gegeben hatte. »Werden Sie nun meine Vermisstenanzeige aufnehmen?«

»Ich schicke jemanden vorbei, der mal nach ihr sieht, und dann rufe ich Sie zurück«, versprach er. »Wahrscheinlich schläft sie nur einen Riesenkater aus. Während der Sommersaison ist hier auf der Insel immer ziemlich viel los. Wo hat sie gejobbt?«

»Im Yachthafen«, antwortete ich. »Nicht in Edgartown direkt, sondern in Oak Bluffs.«

»Okay, klar. Ich glaube, ich weiß sogar, wen Sie meinen. Die Insel ist ziemlich klein, und sie sticht heraus, oder? Weil sie Engländerin ist. Ich kenne den Chef Ihrer Schwester. Ich überprüfe das für Sie.«

»Vielen Dank«, sagte ich erleichtert.

Hoffentlich würde sich bald jemand davon überzeugen können, dass es meiner Schwester gutging. Tom sah mich erwartungsvoll an, als ich das Telefon weglegte.

»Die Polizei wird nach ihr suchen«, berichtete ich. »Er wusste, wer sie war. Er klang echt nett.« Ich war gleichzeitig erleichtert und voller Ungeduld.

»Sofort?«, fragte Jess mit ebenso großer Ungeduld.

»Keine Ahnung. Vermutlich. Wie beschäftigt kann die Polizei im Paradies schon sein?«

Jess verschwand im Nebenzimmer und kehrte mit einer Decke, einem Kopfkissen und einem langen T-Shirt zurück.

»Du kannst hier übernachten.« Sie machte sich nicht die Mühe, es als Frage zu formulieren. »Tom, hilf mir mal, das Sofa auszuziehen.«

»Ich werde nicht schlafen, bevor ich mit meiner Schwester gesprochen habe«, sagte ich.

»Das ist eine ziemlich dämliche Entscheidung – aber wie du willst«, erwiderte Jess. »Wenn du die ganze Nacht hier sitzen und darauf warten willst, dass dieser Dorfpolizist dich zurückruft, dann mach es dir wenigstens bequem. Ich an deiner Stelle würde ja dafür sorgen, dass ich etwas Schlaf bekomme, für den Fall, dass ich morgen zu einhundert Prozent für meine Schwester da sein muss. Aber das liegt ganz bei dir.«

»Sei nicht immer so verdammt selbstgerecht! Und so schnippisch brauchst du auch nicht zu werden«, grummelte ich, aber ich wusste nur allzu gut, dass sie recht hatte. Ich war überzeugt, dass ich keinen Schlaf finden würde, aber nach elf Uhr fielen mir dann doch die Augen zu. Tom war mit dem Versprechen gegangen, die Bäckerei am Morgen zu öffnen, und Jess hatte mir noch einen Kamillentee aufgezwungen. Ich hörte noch, wie Jess Alexa bat, beruhigende Klänge zu spielen, und dämmerte mit dem Rauschen der Brandung im Ohr weg. Hoffentlich geht es Holly gut, dachte ich, wo immer sie stecken mag, und hoffentlich kann auch sie hören, wie die Wellen an den Strand schlagen.

Das Klingeln meines Handys riss mich aus dem Schlaf.

»Holly?« Ich griff nach dem Telefon und rechnete damit, die Stimme meiner Schwester zu hören. Ein dumpfer Schmerz pochte in meinem Kopf. Das T-Shirt, das Jess mir geliehen hatte, war bis zu den Achselhöhlen hochgerutscht. Ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren.

»Nein, Ma’am, hier ist Officer Waylans von der Polizeiwache Martha’s Vineyard«, verkündete eine amerikanisch klingende Stimme. »Ich war vor einer Stunde bei der Unterkunft Ihrer Schwester. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendwas nicht stimmt.«

»Oh, Gott sei Dank«, stieß ich mit einem Seufzer aus. Erleichterung durchströmte mich. Ich stand auf und ging in die Küche, um mir ein Glas Wasser und zwei Schmerztabletten zu holen, bevor Jess aufwachte und mir irgendein ekelhaftes Ingwergebräu aufzwang, das die Giftstoffe in mir ausspülen sollte. Soweit mir bekannt war, waren für die Entgiftung meine Nieren zuständig. »Hat sie gesagt, warum sie nicht ans Telefon geht?« Ich wappnete mich für die peinliche Enthüllung, dass Holly einfach nicht mit uns sprechen wollte. Aber das war mir gleich. Hauptsache, sie war in Sicherheit.

»Ich habe nicht direkt mit ihr gesprochen«, räumte er ein, und mein Herz begann wieder zu hämmern. »Aber es steht ein Auto in der Einfahrt, und durch das Küchenfenster konnte ich ihren Koffer sehen. Ohne ihr Auto und ihr Gepäck kann sie wohl kaum weit sein, oder? Alles wirkt völlig normal, und es gibt keine Anzeichen eines Kampfes oder eines Einbruchs. Wahrscheinlich ist sie bei irgendeinem Bekannten über Nacht geblieben.«

Die Erleichterung wich kaltem Entsetzen. Ich ging noch einmal durch, was ich eben von ihm erfahren hatte. Er war bei Hollys Haus gewesen, hatte durch das Fenster ihren Koffer gesehen und festgestellt, dass es keine zerbrochenen Scheiben gab – und daraus schloss er, dass alles in Ordnung war? Und der Mann wollte Polizist sein?

»Ich bin auch bei ihrer Arbeitsstelle vorbeigefahren«, fuhr er fort, ohne auf mein bestürztes Schweigen zu achten. »Laut Carl traf sie sich mit einem der Sommergäste. Offenbar hat sie vor ein paar Tagen gekündigt.«

»Mir hat man gesagt, sie sei nicht mehr aufgetaucht – das ist ja wohl kaum dasselbe wie ›kündigen‹.«

»Für mich hat sich das aber so angehört, als hätte sie gekündigt.« Seine Stimme klang gelangweilt, und ich sah ihn praktisch vor mir – wie er dasaß, die Füße auf den Schreibtisch gelegt, und einen Apfel an seiner Uniformjacke polierte.

»Wenn jemand seit Tagen nicht mehr bei der Arbeit war und keiner etwas von ihm gehört hat, heißt das, dass diese Person verschwunden ist.«

»Ihre Schwester ist eine Rucksackreisende, richtig?«

»Falsch.« Meine Stimme wurde mit jeder dämlichen Äußerung lauter, die dieser Mann von sich gab. »Ja, sie wollte etwas von der Welt sehen, aber sie hatte nicht vor, weiterzureisen, nachdem sie auf Martha’s Vineyard angekommen war. Sie hat sich von hier aus einen Job und eine Unterkunft besorgt. Meine Schwester ist keine jugendliche Backpackerin, die in einem Hippie-VW-Bus mit Traumfänger im Fenster herumzieht und ihre Pläne ändert, sobald der Wind umschlägt.«

»Hören Sie«, sagte er, und die beiden Worte machten mehr als deutlich, dass er mit seiner Geduld am Ende war. »Warten Sie einfach noch ein paar Tage ab. Ich bin mir sicher, Ihre Schwester wird sich bald melden. Wenn Sie bis Ende der Woche nichts von ihr gehört haben, fahre ich noch mal bei ihrem Haus vorbei. Wahrscheinlich ist sie bei irgendeinem Mann und genießt ihre Freiheit.« Die Art, wie er »Freiheit« betonte, machte klar, von wem sie sich seiner Ansicht nach befreien musste – von mir.

»Ein paar Tage?« Mir blieb fast die Luft weg. »Ich soll abwarten, bis meine Schwester über eine Woche vermisst wird, bevor Sie bereit sind, auch nur noch mal bei ihr vorbeizufahren? Was für ein Polizist sind Sie eigentlich?«

»Also, Miss, es gibt keinen Grund, ausfallend zu werden. Wir erleben so etwas häufiger als Sie, und in neun von zehn Fällen stellt sich heraus, dass die vermisste Person nur mal ein bisschen Dampf ablässt.«

»Und im zehnten Fall?«

»Wie bitte?«

»Sie sagten, in neun von zehn Fällen«, schnauzte ich ihn an. »Was ist mit dem zehnten Fall? Was ist dann?«

»Also, das ist nur so eine Redewendung. Das, was Sie da andeuten, kann hier nicht passieren. Auf Martha’s Vineyard ist es sehr sicher. Ihrer Schwester geht es bestimmt gut.«

Ich kam einfach nicht weiter. Tränen der Frustration drohten meine Schutzmauern zum Schmelzen zu bringen. »Danke für Ihre Hilfe, Officer.« Ich zischte das letzte Wort und beendete das Gespräch, bevor mir etwas noch Schlimmeres herausrutschte.

Als ich aufblickte, den Schock noch in allen Gliedern, stand Jess in der Tür.

»Du musst hin und nach ihr suchen«, stellte sie fest, als wäre Holly nur in irgendeinem Pub unserer Stadt versackt und hätte sich zum Tee verspätet.

»Und wie soll ich das bitte anstellen?«, fuhr ich sie an. »Sie ist mehr als dreitausend Meilen weit weg.«

»Was sonst könntest du tun? Aus deiner empörten Miene und deinem Ton diesem Polizisten gegenüber schließe ich, dass er Holly nicht gefunden hat.«

»Nein, das hat er nicht. Er hat nicht mal richtig nach ihr gesucht. Erstaunlich, dass er genug Energie aufgebracht hat, um die Hand zu heben und an ihrer Tür zu klingeln.« Ich merkte, wie verkatert ich war, und geriet langsam in Panik bei dem Gedanken, dass meine Schwester so weit entfernt war und es absolut nichts gab, was ich tun konnte. Und dass es niemanden gab, an den ich mich wenden konnte.

»Also, was wird er unternehmen? Nichts?« Jess ging in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein, und zu meiner Erleichterung griff sie nach dem Instant-Kaffee, anstatt etwas aus ihrem Gewürzregal herauszusuchen.

»Ich soll wieder anrufen, wenn sie sich bis Ende der Woche nicht gemeldet hat. Bis Ende der Woche«, wiederholte ich nachdrücklich. »Sie wird seit drei Tagen vermisst. Ende der Woche könnte sie bereits am anderen Ende des Landes sein, wenn sie gefesselt hinten in irgendeinem Kleinlaster sitzt.«

»Also musst du hinfliegen«, stellte Jess fest, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Ich leerte mein Glas Wasser und füllte es wieder. Mein Mund fühlte sich vollkommen ausgedörrt an.

»Willst du etwas Ingwer-Tee?«, fragte Jess, als sie mich gierig trinken sah.

»Gott, nein.« Ich erschauderte bei dem bloßen Gedanken. »Ich nehme einen Wodka mit Orangensaft, wenn du einen da hast … Was denn?«, fragte ich, als sie die Augenbrauen hob. »Da ist Vitamin C drin, oder? Außerdem bin nicht ich es, die sich hier besoffen anhört. Findest du, an die Ostküste der USA zu fliegen, nur weil meine Schwester nicht ans Telefon geht, ist eine vernünftige Reaktion?«

»Es ist nicht nur das, und das weißt du genau. Du hast die Textnachricht gesehen. Und die Polizei kann sie nicht finden. Außerdem kannst du dich sicherlich noch daran erinnern, wie begeistert sie war, als sie diesen Job bekam. Auf keinen Fall hätte sie da einfach aufgehört, ohne anzurufen und sich abzumelden. Und wenn alles in Ordnung ist und sie heil und in Sicherheit ist, verbringst du eben ein paar Tage am Strand mit deiner Schwester. Nur Vorteile.«

Ich zögerte und dachte darüber nach. Noch nie im Leben hatte ich etwas so Spontanes getan, aber ich hatte auch noch nie so mütterliche, beschützende Gefühle für jemanden gehegt wie für Holly. Ganz zu schweigen von meinen heftigen Schuldgefühlen. Schließlich hatte meine Cousine mich erst aus einer Kneipe entführen müssen, damit ich erkannte, dass irgendwas nicht stimmte. Ohne Jess wäre ich heute Morgen neben Chris aufgewacht. Ich schauderte erneut.

»Wenn ich sie finde, sage ich ihr, dass du mich geschickt hast«, drohte ich. Ich konnte kaum glauben, dass ich wirklich in Erwägung zog, nach Massachusetts zu fliegen.

Jess zuckte die Achseln. »Ich würde nichts anderes von dir erwarten. Komm schon.« Sie strich mir über den Arm. »Fahr nach Hause, und pack deine Sachen. Ich gehe in die Bäckerei und sage Tom, er soll dir einen Flug buchen.«

»Du bist klasse«, sagte ich und hoffte, dass sie merkte, wie dankbar ich ihr war. »Und Tom auch.«

Tom hatte beruflich schon alles Mögliche probiert, aber noch nie etwas gehabt, was ich als richtigen Job bezeichnen würde, bevor er bei Jess anfing. Für einen Mann von fast dreißig war das bemerkenswert. Er hatte Coaching und Online-Assistenz für Geschäftskunden angeboten und nacheinander etliche Kleinunternehmen gegründet: eine Yoga-Schule, eine Firma für Bio-Shots, für Keto-Ernährungspläne, für ganzheitliche Ernährung, für Marketing, für Social-Media-Management – und zudem, besonders wichtig in meiner derzeitigen Situation, ein Reisebüro.

Ich nahm mir ein Taxi zurück zur Bar, wo ich mein Auto gestern Abend zurückgelassen hatte, und machte mich von dort auf den Weg nach Hause. Die Promillegrenze würde ich wohl nicht mehr überschreiten, aber besonders toll fühlte ich mich immer noch nicht. Normalerweise vertrug ich Alkohol ziemlich gut, aber der Stress und die Panik verstärkten noch meine hämmernden Kopfschmerzen, und ich hatte entsetzliche Angst um Holly. Glücklicherweise war nicht viel Verkehr. So musste ich mich nicht damit herumschlagen, dass vor mir jemand plötzlich ausscherte, und ich stand auch nicht im Stau.

Ich wohnte in einem Endreihenhaus mit drei Schlafzimmern, das unsere Mutter meiner Schwester und mir hinterlassen hatte. Normalerweise war Holly früher immer bei der Arbeit gewesen, wenn ich mich zwischen meinen Schichten nach Hause schleppte. Aber in der Zeit vor ihrer Abreise in die USA war ich immer direkt von der Arbeit nach Hause gekommen und nie in der Bar versackt. Es hatte jemanden gegeben, zu dem ich heimkehren konnte. Holly wartete immer, bis ich sicher nach Hause gekommen war, egal, welche Schicht ich hatte, und obwohl sie selbst morgens zur Arbeit musste. Sie saß gemütlich mit einer Kuscheldecke auf dem Sofa und wollte stets wissen, wie mein Abend so gewesen war. Danach erzählte sie von ihren Erlebnissen in dem Grußkartenladen, in dem sie arbeitete – welche Stammgäste vorbeigekommen waren, wer »Ich entschuldige mich«-Karten oder Karten mit Genesungswünschen gekauft hatte. Holly kannte praktisch jeden in Hampshire, so kam es mir jedenfalls vor.

Doch seit sie weg war, erschien mir das Haus kalt und leer. Die Abwesenheit meiner Mutter war deutlicher spürbar als je zuvor in den acht Monaten nach ihrem Tod. Holly und ich hatten beide in Mietwohnungen gelebt, aber als unsere Mutter krank wurde, waren wir wieder nach Hause gezogen, um sie abwechselnd pflegen zu können. Jetzt hatte ich niemanden mehr, um den ich mich kümmern musste, und mir graute davor, in das leere Haus zurückkehren zu müssen.

Ich holte meinen altgedienten Koffer herunter und warf ihn aufs Bett. Ich öffnete Schubladen und entschied, Unterwäsche und Socken für vier Tage mitzunehmen. Das reichte sicher, um Holly zu finden und noch ein paar Tage am Strand mit ihr zu verbringen. Jess hatte recht: Wenn ich schon so weit flog, konnte ich ebenso gut ein paar schöne Tage mit meiner Schwester verbringen. Ich griff nach meinem Lieblings-T-Shirt, das ich auf einen Stuhl geworfen hatte, und schnüffelte daran. Ging noch.

Als ich das T-Shirt in den Koffer legte, musste ich daran denken, wie Holly für ihre Reise gepackt hatte. Sie hatte praktisch den ganzen Inhalt ihres Kleiderschranks auf dem Bett ausgebreitet und jedes Teil – meist nicht größer als ein Taschentuch – prüfend hochgehalten. Die quälende Entscheidung, ob ein einzelnes Kleidungsstück mitgenommen werden sollte oder nicht, hatte bei ihr länger gedauert als meine gesamte Kofferpack-Aktion. Ihr Reisefieber war so spürbar gewesen, dass ich fast vergessen hatte, krank vor Sorge zu sein. Aber nur fast.

Jetzt allerdings fühlte ich mich schlecht, richtig elend, und mit jeder Minute, die verging, wurde es schlimmer. Ich überprüfte, ob ich das Handy-Ladegerät und den Laptop auch wirklich eingesteckt hatte, und warf noch ein Notizbuch und ein paar Stifte in den Rucksack, dazu den Roman, der auf meinem Nachttisch lag: Rose Madder von Stephen King. Auch wenn ich bezweifelte, dass ich es schaffen würde, auch nur eine Seite zu lesen.

Mein Handy klingelte, und ich war enttäuscht, als ich sah, dass nicht Holly dran war, sondern Tom.

»Hi, wie geht’s dir?«