Die dunklen Tiermagier – Klingen und Rosen - Maxym M. Martineau - E-Book

Die dunklen Tiermagier – Klingen und Rosen E-Book

Maxym M. Martineau

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Beschreibung

«Früher war ich ein Tiermagier. Jetzt bin ich etwas anderes. Etwas Dunkleres ...» Die Verbindung zu magischen Wesen ist für einen Tiermagier so selbstverständlich wie das Atmen. Sie endet erst mit dem Tod ... oder wenn man wie Gaige von den Toten auferweckt wird, um als unsterblicher Assassine zurückzukehren. Gaige weiß nicht, ob er sich an dieses neue Leben gewöhnen kann. Oder ob er Kost je verzeihen kann, dass er es ihm auferzwungen hat. Als Anführer der Assassinen ist es Kosts Pflicht, dafür zu sorgen, dass es seinen Leuten gut geht. Aber als derjenige, der für Gaiges Qualen verantwortlich ist, kann er nur dabei zusehen, wie der ehemalige Tiermagier mit seinen neuen Fähigkeiten und dem Verlust seiner Tierwesen kämpft. Gaige schafft es einfach nicht, die Schattenmagie der Assassinen zu bändigen. Aber unkontrollierte Magie ist gefährlich. Sehr gefährlich … Verzweiflung und Sehnsucht. Angst und Liebe. Kost und Gaige. Epische New Adult Fantasy mit zwei queeren Protagonisten. Ein Spin-off zur beliebten «Tiermagier-Trilogie». Unabhängig lesbar.

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Seitenzahl: 578

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Maxym M. Martineau

Die dunklen Tiermagier – Klingen und Rosen

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

 

Über dieses Buch

«Früher war ich ein Tiermagier. Jetzt bin ich etwas anderes. Etwas Dunkleres …»

 

Die Verbindung zu magischen Wesen ist für einen Tiermagier so selbstverständlich wie das Atmen. Sie endet erst mit dem Tod ... oder wenn man wie Gaige von den Toten auferweckt wird, um als unsterblicher Assassine zurückzukehren. Gaige wollte dieses neue Leben nie. Und er weiß nicht, ob er Kost, dem attraktiven Anführer der Assassinengilde, je verzeihen kann, dass er es ihm auferzwungen hat.

 

 

«Entweder akzeptierst du die Dunkelheit. Oder sie zerstört dich …»

 

Kost konnte Gaige nicht sterben lassen. Nicht wenn er die Macht hat, ihn zurückzuholen. Dass er jetzt den Hass des ehemaligen Tiermagiers ertragen muss, ist ein kleiner Preis für dessen Leben. Doch noch ist Gaige nicht außer Gefahr. Denn er schafft es einfach nicht, die Schattenmagie der Assassinen zu bändigen. Und wer die Schatten nicht kontrolliert, den verschlingen sie …

 

 

Verzweiflung und Sehnsucht. Angst und Liebe. Kost und Gaige. Epische New-Adult-Fantasy mit zwei queeren Protagonisten.

Ein Spin-off zur beliebten «Tiermagier-Trilogie». Unabhängig lesbar.

Vita

Maxym M. Martineau hat einen Abschluss in Englischer Literatur von der Arizona State University und arbeitet als Texterin, Redakteurin und Autorin. Wenn zwischen Familie und Schreiben noch Zeit übrig bleibt, liest sie, spielt Videospiele, schaut sich zu viele Serienfolgen hintereinander an oder macht Sport. Ihr Debüt «Die Tiermagierin – Schattentanz» wurde von Publishers Weekly als eines der besten Bücher des Jahres ausgezeichnet, und die New York Times schrieb: «Eine beeindruckende Liebesgeschichte voller Magie und Abenteuer.» Das Buch stellt den Auftakt zu einer Trilogie dar, mit «Die dunklen Tiermagier – Klingen und Rosen» legt Maxym nun ein Spin-off vor, in dem sie ihre fantastische, von magischen Tierwesen bevölkerte Welt weiter ausbaut.

 

Anita Nirschl träumte als Kind davon, alle Sprachen der Welt zu lernen, um jedes Buch lesen zu können, das es gibt. Später studierte sie Englische, Amerikanische und Spanische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat zahlreiche Romane ins Deutsche übertragen.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Shadows of the Lost. The Beast Charmer» bei Sourcebooks Casablanca, Naperville, Illinois.

www.sourcebooks.com

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Shadows of the Lost» Copyright © 2023 by Maxym M. Martineau

Karte von Lendria von Markus Weber, Guter Punkt

Illustration «Historie von Lendria» von Laura Boren/Sourcebooks

Porträts von Therese Andreasen

Bestiarium-llustrationen von Aud Koch und Stock Image © Daria Ustiugova/Shutterstock

Redaktion Hendrik Lambertus

Covergestaltung Alexander Kopainski

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01993-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für jene von uns, die sich nicht wohlfühlen in ihrer Haut – ihr werdet geliebt.

Kapitel 1KOST

Ich konnte es nicht ertragen, ihn anzusehen. Jedenfalls nicht für lange.[1]

Schatten ringelten sich um Gaige, glitten zwischen die Polster und wanden sich nachlässig um seine Beine. Er legte keinen Wert darauf, sie zu kontrollieren. Seine neu gewonnene Macht als untoter Assassine zu nutzen und Waffen aus der Dunkelheit zu formen. Stattdessen ließ er ihnen freien Lauf, als wären sie Tierwesen, die er nicht zu zähmen vermochte. Deswegen war ich in diesen stillen Alkoven gekommen. Kein anderer Assassine ließ sich sehen – ungewöhnlich, wenn man die Größe unseres Anwesens und die Anzahl der Bewohner bedachte. Auf meinem Weg zur Bibliothek war ich nur an einer Gruppe vorbeigekommen, die sich im Salon um den Couchtisch gedrängt hatte, um sich mit einer Partie Klimkota abzulenken. Doch sosehr sie sich auch bemühten – die leuchtenden juwelenfarbenen Spielsteine und das mehrstöckige Spielbrett konnten ihre Aufmerksamkeit nur begrenzt fesseln. Gaiges Schatten, die sich um den Durchgang zur Bibliothek rankten, waren unmöglich zu ignorieren.

Das galt auch für die geflüsterten Sorgen der Gildenangehörigen.

«Was wird nur mit ihm geschehen?»

«Ich habe gehört, er weigert sich zu trainieren.»

«Vielleicht sollte er nach Hireath zurückgehen. Er will nicht hier sein, nicht wirklich.»

Hireath. Ocnolog, ein Drachenwesen aus den alten Legenden, hatte sich aus seiner unterirdischen Grabkammer erhoben und die friedliche Stadt der Tiermagier zerstört. Fort waren die kunstvollen Häuser, die hoch in den Baumwipfeln erbaut worden waren. Die atemberaubend schöne Burg neben den Wasserfällen, gehauen aus einem Alabasterfelsen, lag in Trümmern. Der gewaltige Baum, der die Bibliothek beherbergt hatte – zu Asche verbrannt. Ocnolog hatte alles dem Erdboden gleichgemacht. Es in Brand gesteckt, ohne ihm einen zweiten Blick zu gönnen. Nichts war mehr übrig außer Schutt, verkohlten Bäumen und versengtem Gras. Zum Glück hatten wir alle evakuieren können, bevor er erwacht war. Durch den neu geschlossenen Frieden zwischen Wilheim, der Hauptstadt Lendrias, und den Tiermagiern konnten sich viele an anderen Orten niederlassen. Doch Hireath blieb eine heilige Stätte. Der Rat der Tiermagier würde nicht ruhen, bis seine frühere Pracht wiederhergestellt war.

Jedenfalls die meisten im Rat der Tiermagier.

«Was willst du?» Gaiges Frage riss mich aus meinen Gedanken.

Niemals zuvor hatte ich solch eine aufgeladene Frage gehört. Es gab so einiges, das ich von Gaige wollte, aber in diesem Moment kam mir nur ein einziger Wunsch in den Sinn: Kontrolle. Nein, Sicherheit. Ich wollte, dass er sicher ist.

«Warum trainierst du nicht?» Mein Blick wanderte zum Fenster in seinem Rücken, das auf die Rasenfläche hinter dem Herrenhaus von Cruor hinausblickte. Dort leiteten mein Stellvertreter Ozias und zweiter Stellvertreter Calem Übungen für ein paar neuere Rekruten an. Gaige hatte noch kein einziges Mal trainiert, seit er vom Lebenden zum Untoten geworden war, vom Tiermagier zum Assassinen. Das war nun über einen Monat her. Ich war zunächst nachsichtig mit ihm, damit er um sein früheres Leben trauern konnte, doch langsam war es an der Zeit, dass er ernsthaft zu trainieren anfing.

«Weil ich nicht will.» Gaige machte sich nicht die Mühe, von seinem Buch aufzublicken. Stattdessen blätterte er aufreizend langsam eine Seite um, als genieße er das sanfte Kratzen von Pergament auf Pergament.

«Das ist wohl kaum ein Grund.» Ich wischte mir die Hände an meiner Weste ab und verschränkte die Arme. «Du musst trainieren.»

«Ich muss gar nichts.»

Ich biss die Zähne zusammen, um ein genervtes Schnauben zu unterdrücken. «Gaige. Das ist nicht verhandelbar. Du hast deine Kräfte nicht unter Kontrolle.»

Er klappte sein Buch zu und schleuderte es quer durch die Bibliothek. Es flog an Regalen voller abgegriffener Bände vorbei und direkt auf die brennenden Kerzen des Kronleuchters zu, der tief über einem der schweren Holztische hing. Kurz bevor es sein Ziel traf, schnellten Schatten aus den Tiefen des Raums hervor und fingen das Buch ab.

«Für mich sieht das nach Kontrolle aus.» In seinem vollen Bariton klang Groll mit – und etwas Schneidendes. Mir war bewusst, dass diese namenlose Emotion mir galt, die sich so sehr nach Hass und Abscheu anfühlte.

Ich öffnete den Mund zu einer Antwort, als seine Schatten plötzlich zitterten wie elektrisiert. Sie verwandelten sich in bedrohliche Spitzen, spießten das Buch auf und durchschnitten glatt die Seiten samt Buchrücken. Seine Macht wirbelte ein Chaos aus zerrissenem Pergament auf, bis sich die Schattenfäden endlich auflösten und einen Haufen zerfetzter Seiten zurückließen.

Mein Magen verknotete sich mehrfach. «Wie ich sehe, haben wir unterschiedliche Definitionen von Kontrolle.»

Gaiges Kiefer verspannte sich, und er wandte den Blick ab.

Es war unumgänglich, den Umgang mit den Schatten zu erlernen. Wenn sie ungehindert wucherten, zügellos und gierig, würden sie ihren Herrn schließlich verschlingen und ihn auf Nimmerwiedersehen tief ins Schattenreich reißen. Ich war erst ein einziges Mal Zeuge geworden, wie jemanden ein solches Schicksal ereilte. Und selbst da hatte Talmage, ein ehemaliger Gildenmeister von Cruor, den Assassinen getötet, bevor die Dunkelheit ihn vollständig verschlingen konnte. Eine anderweltliche Macht hatte hinter diesen zerstörerischen tintenschwarzen Ranken gelauert.

Und Gaiges Schatten waren fast genauso wild.

«Du kannst das nicht länger hinausschieben. Du bist untot. Du wandelst mit den Schatten. Das ist jetzt dein Leben, ob du es dir so ausgesucht hast oder nicht. Es wird Zeit, dass du es in die Hand nimmst.»

Er sprang von seinem Stuhl auf, die Fäuste an seinen Seiten geballt.Die behandschuhten Fäuste. «Ich habe mir dieses Leben nicht ausgesucht, Kost! Mir wurde ein elendes Blatt zugeteilt, und ich werde es ausspielen, wie ich es verdammt noch mal will.»

Meine Augenbrauen schnellten hoch, und ich trat einen Schritt vor. Drohend baute ich mich vor dem Mann auf, von dem ich einst gedacht hatte, dass ich ihn vielleicht lieben könnte. «Elend? Das denkst du also von diesem Ort hier? Von deinen Brüdern? Von Calem? Ozias? Mir?»

Seine Nasenflügel bebten, und die hitzige Wut ließ seine Augen wie Stahl blitzen. Er hob seine rechte Hand und riss sich den Handschuh herunter. Ich zuckte innerlich zusammen. Sein verblasstes Tiermagier-Symbol quälte mich stets mit Schuldgefühlen. Früher war dieses Mal ein strahlender, zitrinfarbener Baum voller Leben gewesen. Jetzt aber … war es nichts weiter als eine verschmierte, dunkelgraue Tätowierung. Eine beständige Erinnerung an das Reich der Tierwesen und all die geliebten Kreaturen, zu denen er keinen Zugang mehr hatte.

Alles wegen mir.

«Wie oft noch, Kost?» Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch in ihr klang so viel Wut mit, dass es sich wie ein Brüllen anfühlte. «Wie oft müssen wir diese Unterhaltung noch führen? Du wirst nie begreifen, was ich an dem Tag verloren habe, an dem ich starb.»

Er starrte mich mehrere Augenblicke lang an, wartete darauf, dass ich zusammenbrach. Und beinahe tat ich es. Beinahe hätte ich mich auf die Bank unter dem Erkerfenster sinken lassen und den Kopf in den Händen vergraben. Ich wünschte mir so verzweifelt, diese Qual für uns beide beenden zu können! Ich wollte aufhören zu streiten. Wollte, dass alles ausnahmsweise einmal einfach wäre. Dass alles wieder so wurde wie früher, bevor er im Kitskaforst den Tod gefunden hatte. Dennoch schämte ich mich dafür, das auch nur zu denken. Denn es war genau das gewesen, was man zu mir gesagt hatte, nachdem ich als Untoter erweckt worden war – und ich daraufhin von jemandem, den ich liebte, verlassen wurde.

Langsam atmete ich aus und verdrängte meinen Frust. Das würde ich Gaige nicht antun. Ich würde ihn nicht verlassen, damit er sich seinem Schicksal allein stellte. Ich hatte gewusst, dass es Konsequenzen haben würde, als ich Noc, den damaligen Gildenmeister von Cruor, anflehte, Gaige zu erwecken. Hatte gewusst, dass es ihm dadurch wahrscheinlich unmöglich sein würde, jemals wieder seine Magie zu rufen. Und trotzdem hatte ich darauf gedrängt, hatte mir selbstsüchtig gewünscht, dass er lebt. Ich war für sein Schicksal verantwortlich.

Also durfte ich nicht zusammenbrechen; ich musste für ihn stark sein. Sogar kalt zu ihm sein, wenn es das war, was er brauchte, um seinen Weg zu finden.

«Ich bin nicht hier, um darüber zu diskutieren, was du verloren hast, Gaige. Ich bin hier, um dir zu helfen, dir einen neuen Weg vorwärts zu bahnen. Auch wenn du das eigentlich nicht willst.» Ich trat um ihn herum zum Fenster und blickte hinaus auf die Umrisse der trainierenden Assassinen im heidekrautvioletten Licht der Dämmerung. Schließlich schluckte ich schwer und zupfte am Saum meiner Weste herum. «Ich kann dich privat ausbilden, wenn dir das lieber ist. Ich stehe zu deiner Verfügung.»

Gaige blinzelte, und einen Moment lang war da ein Funke des Mannes, den ich einmal gekannt hatte. Ein überraschtes Kräuseln seiner Lippen. Ein schelmisches Funkeln in seinen Augen. Doch er schien seine unwillkürliche Reaktion bemerkt zu haben und unterdrückte sie sofort wieder.

«Früher einmal hätte ich dieses Angebot angenommen. Für etwas anderes, natürlich», sagte er. Meine Ohren brannten bei seiner Andeutung – welch ein Widerspruch zu der erstickenden Last der Verzweiflung auf meiner Brust! Langsam streifte er seinen Handschuh wieder über. «Aber das ist vorbei.»

«Dann also jemand anderes.» Ich hasste es, wie zittrig und schwach sich meine Stimme anhörte. «Es ist mir gleich, wer dich ausbildet. Aber kümmere dich darum. Das ist ein Befehl deines Gildenmeisters.»

Er lachte – ein dunkler, hässlicher Laut. «Und wie genau willst du das erzwingen? Du bist nur dem Namen nach mein Gildenmeister. Ich werde nicht nach deiner Pfeife tanzen.»

«Meine Geduld hat Grenzen, Gaige. Wenn du mich weiter reizt …»

«Ach, komm schon.» Gaige drängte sich an mir vorbei, eingehüllt in einen Wirbel aus Schatten. «Hast du nichts Besseres zu tun? Geh und führe deine Gilde. Ich verspreche, beim nächsten Mal werde ich … was weiß ich … kein Buch kaputt machen.» Demonstrativ stieß er mit der Fußspitze gegen den zerfetzten Haufen Pergament und ließ sich dann von den wirbelnden Ranken vollständig verschlingen. So dunkel und alles verzehrend waren seine Schatten, dass ich seinen Bewegungen nicht einmal folgen konnte. Eben war er noch da gewesen, und im nächsten Augenblick war er fort. Nur die Götter wussten, wohin.

Ich stürmte an den Regalen entlang, bis ich eine mit Büchern vollgestellte Wand im hinteren Teil der Bibliothek erreichte. Mit deutlich mehr Gewalt als nötig zog ich am Rücken eines vergilbten Buchs, und die versteckte Tür zum privaten Arbeitszimmer des Gildenmeisters schwang auf. Ich trat ein und schlug sie hinter mir zu. Das dumpfe Poltern von herunterfallenden Büchern war die Folge. Aber ich machte mir nicht die Mühe, die Geheimtür noch einmal zu öffnen, um den Schlamassel zu beseitigen, den ich angerichtet hatte.

Mit den Büchern oder mit Gaige?

Ich atmete angespannt aus, verdrängte den Gedanken und ließ mich in den verzierten Polstersessel hinter dem Schreibtisch sinken. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit, die hier stets auf mich wartete. Ich überflog ein paar Schriftstücke aus Pergament. Mögliche Aufträge. Ein dumpfer Schmerz schwelte hinter meinen Augen, und ich rieb mir die Schläfen. Ich hatte damit gerechnet, der neue Gildenmeister von Cruor zu werden. Noc konnte unmöglich König und Gildenmeister zugleich sein, und als sein Stellvertreter war es nur logisch, dass ich die Position übernehmen würde.

Doch sowohl Noc als auch Leena – Krone des Rates der Tiermagier, Königin von Lendria und wie eine Schwester für mich, trotz unseres holprigen Starts – hatten sich ein wenig gegen diese Idee gesträubt. Sie wollten, dass ich bei ihnen in Wilheim blieb, als ihr Ratgeber. Die Vorstellung, politische Pläne zu analysieren und gemeinsam Strategien für das Wohlergehen einer ganzen Nation zu entwerfen, hatte ihren Reiz. Doch hier gab es Angelegenheiten, die ich genau im Auge behalten musste. Eine Angelegenheit – eine Person – ganz besonders, auch wenn es nicht gerade einfach war, ihn zu beobachten. Einstweilen stellte die Arbeit, die das Amt des Gildenmeisters mit sich brachte, eine wunderbare Ablenkung dar. Aber trotz aller Aufgaben und Verantwortlichkeiten vor mir konnte ich mich einfach nicht auf meine Pflichten konzentrieren.

Ein Hauch von Schatten wirbelte in der Ecke, und ich erstarrte. Schattenranken kamen aus jedem versteckten Winkel des Arbeitszimmers gekrochen und verwoben sich zu verschwommenen Mustern, bis sie sich zu der Gestalt eines Mannes verdichteten. Noc. Er reckte seinen Hals von einer Seite zur anderen, dann steckte er die Hände in die Taschen seiner eng anliegenden Hose. Er trug keine Krone, aber auf seine Tunika war das königliche Wappen gestickt, ein Greif. Es hätte in leuchtendem Silber glänzen müssen, doch die Schatten ließen jede Farbe verblassen. Selbst das strahlende Blau seiner Augen.

«Eure Majestät», sagte ich und begrub meinen Frust über Gaige unter einem Lächeln. Zumindest war es ein ehrliches Lächeln. Ich würde mich immer freuen, meinen Freund zu sehen. Das Schattenwandeln erlaubte es uns, dass wir einander nach Belieben besuchen konnten, trotz der Entfernung zwischen Cruor und Wilheim. Eine kleine Gnade in einer ansonsten misslichen Lage. Ich hätte nie erwartet, dass sich die Gilde ohne ihn so leer anfühlen würde.

Er schnaubte, was die Schatten an seinem Kinn flattern ließ. «Nicht du auch noch! Das sagt Calem schon bei jeder sich bietenden Gelegenheit.»

«Genau deswegen macht er es: weil es dich ärgert.» Ich lehnte mich in die abgewetzten Polster des Sessels zurück. Seit der Hochzeit von Noc und Leena und der darauffolgenden Krönungszeremonie war erst eine Woche vergangen. Und Calem, der zweifellos gerade irgendwo in der Gilde für Unruhe sorgte, hatte es sich zum Prinzip gemacht, Noc so oft wie irgend möglich als ‹König› zu betiteln.

«Ja, nun …» Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen, als nehme er die vertraute Umgebung seines ehemaligen Arbeitszimmers in sich auf. «Ich werde mir etwas genauso Nerviges einfallen lassen müssen, wie ich ihn nennen kann.»

«Viel Glück damit.» Ich stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch. «Wie läuft es so bei euch?»

«Wir machen Fortschritte. Der Handel mit Rhyne wurde offiziell wiederaufgenommen, also sollten wir in den kommenden Wochen eine Zunahme an Warenlieferungen sehen.»

«Das ist gut. Braucht Rhyne irgendwelche Unterstützung an seinen Grenzen? Wir könnten gewiss ein paar Gildenangehörige erübrigen, falls es nötig ist.» Ich blätterte in den Pergamenten vor mir, überflog die Anfragen und die Einzelheiten der Kopfgeldaufträge.

«Nicht nötig.» Noc streifte mit der Hand an den Bücherregalen entlang, während er zum Schreibtisch ging. Schatten verschwanden und formten sich neu bei jeder subtilen Bewegung, als seine Finger über die Buchrücken spielten. «Wenn überhaupt, brauchen wir die Hilfe in Hireath.»

Ein quälendes Gefühl kroch mir den Rücken herunter, und ich schürzte die Lippen. «Gaige war noch nicht wieder dort.»

«Ich weiß.» Noc blieb vor mir stehen, den Blick gesenkt. «Kaori und Raven haben nach ihm gefragt. Sie kommen mit der Organisation des Wiederaufbaus gut zurecht, aber sie machen sich Sorgen. Wir alle tun das.» Natürlich fragten die Mitglieder des Rats der Tiermagier nach Gaige. Er war jahrzehntelang ein festes Mitglied gewesen. Kaori und Raven waren seine engsten Freundinnen. Trotzdem hatte er den Kontakt zu ihnen abgebrochen und weigerte sich komplett, über sein altes Zuhause zu sprechen.

«Er will nicht trainieren. Weder mit mir noch mit Ozias oder irgendjemandem sonst.» Ich stand auf und fing an, auf und ab zu gehen, während die Wände des Arbeitszimmers immer näher zu rücken schienen. Ozias war ein Experte darin, die Gildenangehörigen von Cruor in der Kontrolle ihrer Schatten zu unterrichten. Trotzdem konnte er Gaige nicht dazu bringen, diese Kunst zu erlernen.

Und das war eine gefährliche Sache.

«Ich weiß nicht, was ich noch tun soll», sagte ich.

«Wie nah dran ist er?» Nocs Frage war kaum hörbar, aber sie hallte mit der Wucht eines Gongschlags durch meinen Kopf.

«Viel zu nah.» Ich blieb stehen und nahm meine Brille ab, um mir in den Nasenrücken zu kneifen. Dann holte ich ein kleines Tuch aus Maulbeerseide aus der Brusttasche und polierte die Gläser. «Ich glaube nicht, dass ihm noch viel Zeit bleibt.»

Noc kam zu mir und legte mir die Hände auf die Schultern. Ich spürte überdeutlich, dass er mich nicht wirklich körperlich berührte. Doch die eisige Vertrautheit seiner Schattenranken beruhigte meine angespannten Nerven. «Er wird schon noch einlenken. Das muss er einfach.»

Oder er tut es nicht, und dann werden wir ihn an die Schatten verlieren. Die unausgesprochene Wahrheit über Gaiges Zukunft hing schwer in der Luft, und ich biss die Zähne zusammen.

Noc ließ die Hände wieder sinken. «Leena und ich brechen morgen nach Rhyne auf. Wenn wir zurückkommen, werden wir auf unserem Weg nach Hireath in Cruor haltmachen. Falls er es bis dahin noch nicht kapiert hat, dann wird sie ihm ein bisschen Vernunft einbläuen.»

Mit einem leisen Seufzen setzte ich meine Brille wieder auf. «Ich hoffe, das gelingt ihr.»

«Das wird es.» Noc neigte kaum merklich das Kinn und musterte mich einen langen Moment. Dann runzelte er die Stirn. «Ich breche nur ungern so abrupt wieder auf, aber …»

«Geh nur», winkte ich ihn fort, während ich zum Schreibtisch zurückkehrte. Ich schlüpfte in den Sessel und griff nach dem nächstbesten Federkiel und dem Tintenfass. «Ich muss diese Anfragen durchgehen und entscheiden, wer am besten für die Aufträge geeignet ist.»

«Vielleicht braucht Gaige einen Auftrag. Ein konkretes Ziel zu haben, wird ihm helfen.» Schatten sammelten sich um Noc und verdunkelten vorübergehend den Raum. Er zögerte für einen Moment, eine Hälfte seines Körpers schon im Schattenreich, die andere immer noch fest in meinem Arbeitszimmer verankert.

«Wir werden ihn nicht verlieren, Kost.»

Doch während ich als Antwort nickte und Noc verschwand, wurde ich das Gefühl nicht los, dass wir Gaige bereits verloren hatten. Der Mann, den wir kannten, war gestorben. Und diese neue Person war in unheimliche Dunkelheit gehüllt. Sosehr ich diesen Schleier auch durchdringen wollte – ich war mir nicht sicher, ob er das zulassen würde.

Nur eins war sicher: Die Schatten würden schließlich kommen und ihn rufen. Und die einzige Person, die sie aufhalten konnte, war Gaige selbst.

Fußnoten

[1]

Anmerkung des Verlags: Am Ende des Buchs befinden sich umfangreiche Zusatzinformationen wie ein Bestiarium, eine Personenübersicht und eine Zusammenfassung der Ereignisse der Tiermagier-Trilogie.

Kapitel 2GAIGE

Der Kitskaforst fühlte sich an wie zu Hause. Das sollte er nicht, aber er tat es.

Ich hielt mich am Waldrand und beobachtete, wie Calem und Ozias ihre Gildenbrüder durch eine Reihe von Übungen scheuchten. Der Tod hatte meine Sinne geschärft, und ich vernahm mit Leichtigkeit das Ächzen und Schnaufen der Assassinen, die sich heftig attackierten. Calem trug kein Hemd – er trug während des Trainings anscheinend nie ein Hemd –, und seine gebräunte Haut schien irgendwie zu leuchten, obwohl die Sonne nicht direkt darauf fiel. Sein dichtes blondes Haar war zu einem lockeren Knoten gebunden. Er löste sich fast auf, als Calem sich mit einem raschen Wirbel aus Ozias’ Griff wand.

Ozias lachte – ein tiefer Laut, der unglaublich angenehm für die Ohren war. Er dehnte seinen Nacken von links nach rechts, während er sich vor Calem neu positionierte. Sein weißes Arbeitshemd klebte vor Schweiß auf der dunklen Haut, und er ließ seine dicken Oberarmmuskeln spielen, als wollte er Calem daran erinnern, dass er ihn jederzeit pulverisieren könnte.

Aber Calem war dafür zu schnell – und zu großspurig. Sie traten beide einen Schritt zurück, hinein in ein dunkles Nichts, und setzten ihren Kampf im Schattenreich fort: einem Schleier zwischen dieser Welt und dem Tod, den nur die Untoten sehen konnten. Der Rest der Gruppe hielt mit dem Training inne, um zuzuschauen, und ich konnte es ihnen kaum verübeln. Sosehr ich dieses neue Leben auch verachtete – die Kunstfertigkeit, die die beiden Kämpfenden zeigten, war trotzdem bewundernswert.

Dunkle Ranken wirbelten um mich herum; es war schwer zu sagen, ob sie mein eigenes Werk waren oder ein Resultat der eigenartigen Magie, die aus der Tiefe des Waldes zu pulsieren schien. In den Baumwipfeln raschelten Pinesco-Schoten mit ihrem unheimlichen, augenähnlichen Muster in der schwachen Brise. Das Geräusch ähnelte dem verstörenden, rasselnden Atem einer furchterregenden Bestie.

Aber ich kannte alle Monster an diesem Ort. Und ich war das schlimmste.

Welch ein Selbsthass. Seufzend verschränkte ich die Arme vor der Brust und lehnte mich an einen Baumstamm. Raue Rinde zerkratzte den entblößten Teil meines Arms, aber ich zuckte nicht zusammen. Das Einzige, was mich derzeit aufrütteln konnte, war der Gedanke, dass ich etwas mit diesen elenden Schatten anstellen sollte … und mit Kost.

Meine Kehle wurde eng. Er machte mich so verdammt wütend! Ja, wir hatten die Dinge bis zu einem gewissen Grad geklärt – aber das bedeutete nicht, dass ich es eilig hatte, ihm wieder überallhin nachzulaufen. Ich konnte ihn nicht ansehen, ohne dass sich Ärger in mir aufstaute. Ich wusste nicht, wie ich ihm verzeihen sollte. Und ich konnte noch nicht einmal genau sagen, warum. Nocs und Leenas Rolle bei meiner Erweckung hatte ich mehr oder weniger akzeptiert. Sie hatten beide von dem Risiko gewusst. Davon, was es für meine Magie bedeuten könnte. Aber Kost?

Ein brennender Phantomschmerz schoss durch meine behandschuhte Hand – dort, wo mein Tiermagier-Symbol gewesen war. Die Schatten um mich herum zuckten. Ein Tiermagier zu sein hatte mir alles bedeutet. Seltene Kreaturen zu entdecken, ihre einzigartigen Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu studieren, mich mit ihnen anzufreunden und ihre ewige Zuneigung zu genießen … All das hatte ich verloren. Tiermagie war mit der dunklen Magie der Untoten nicht kompatibel.

Vielleicht hatte ich Noc und Leena verziehen, weil es nicht ihre Idee gewesen war, mich zurückzuholen. Sondern die von Kost. Und vielleicht schmerzte es besonders, weil da immer noch ein kleiner Funken Hoffnung in mir war und verzweifelt um meine Aufmerksamkeit bettelte. Denn wenn meine Träume mir ganz selten einmal Ruhe gewährten, handelten sie immer von meinem alten Leben. Von ihm.

Dieses Bild verfolgte mich auch in meinen wachen Momenten, zusehends verdunkelt von aufziehender Finsternis. Da war es einfach unmöglich zu vergeben – oder es hinter mir zu lassen. Ich war immer noch so wütend, und das machte die Schatten nur noch schlimmer.

Das tiefe, seelenvolle Ächzen einer Tür, die sich zum Refugium, zum Reich der Tierwesen, öffnete, hallte durch den stillen Abend. Ich richtete mich auf, während meine Hand sofort zu dem Bronzeschlüssel fuhr, der um meinen Hals baumelte. Calem und Ozias hatten ihre Schattenübungen beendet und ihre eigenen Schlüssel gezückt, um die magischen Tierwesen zu rufen, die Leena ihnen geschenkt hatte, als sie einander kennengelernt hatten.

Ein saurer Beigeschmack trat mir auf die Zunge, und ich ließ die Hand von meinem Schlüssel fallen. Die Schlüssel waren für Nicht-Tiermagier gedacht, für den Fall, dass jemand von meiner Art – meiner ehemaligen Art – sie eines Tierwesens für würdig erachtete. Ich hätte Hunderte von Schlüsseln gebraucht, um all meine Tierwesen zu rufen, wie ich es früher getan hatte. Stattdessen hatte ich nur einen. Sosehr ich diese eine Kreatur auch liebte, die mir noch geblieben war – der Schlüssel stellte trotzdem eine Erinnerung an alles dar, was ich verloren hatte.

Jax, der Laharock von Ozias, erschien und rammte seinen dicken, drachenartigen Schädel gegen Ozias’ Brust, bevor er den langen Hals zum dunkler werdenden Himmel reckte. Sterne sprenkelten allmählich die hereinbrechende Nacht, und er blickte mit einem friedvollen Ausdruck zu ihnen empor. Ein Frieden, der rasch gestört wurde, als Calems ungestümes Tierwesen, ein Effreft namens Effie, durch die Luft herangesegelt kam und eine Reihe von schrillen, aber fröhlichen Zwitscherlauten ausstieß. Sie hatte den Körperbau eines kleinen Hundes und den Kopf eines Adlers. Heftig schlug sie mit den Flügeln und überzog dabei die Erde unter ihr mit einem feinen Staub, der diamantengleich glitzerte. Sofort blühten winzige weiße Blumen rund um die Füße der kleinen Gruppe auf, und sie quittierten es mit fröhlichem Gelächter.

Ich selbst hatte Okean seit Tagen nicht mehr gerufen. Mein geschmeidiges, türkisblaues Katzenwesen war ein wirklich beeindruckender Anblick. Seine Macht, Wasser zu beschwören und zu kontrollieren, wirkte stets belebend und beruhigend auf mich. Und dennoch zögerte ich, ihn zu rufen. Ich wusste instinktiv, dass er auf jeden Fall kommen würde. Doch ich befürchtete, meine Schatten könnten ihn erschrecken.

Er war nicht wie Effie und Jax. Okean lebte seit Jahrzehnten bei mir, und er hatte meinen Tod mitangesehen. Ich war nicht mehr dieselbe Person, die er zuvor geliebt hatte, und ich war mir nicht sicher, ob ich das je wieder sein würde. Was, wenn ihm das Wesen nicht gefiel, das aus mir geworden war? Mir gefiel es jedenfalls nicht. Und falls er mich ablehnte oder gar fürchtete … Das könnte ich nicht ertragen. Nein, es war besser für Okean, im Refugium zu bleiben und die Gesellschaft all der Tierwesen zu genießen, die ich so abrupt hatte zurücklassen müssen.

Nicht alle. Schwere Schritte ertönten hinter mir, während Zweige unter dem Gewicht mächtiger Pfoten knackten. Ich drehte leicht den Kopf und erblickte einen bärenartigen Umriss von der Größe eines Elefantenbullen. Boo tapste auf mich zu. Ein schwacher Nebel kräuselte sich aus seiner Schnauze, und er kommentierte meine Schatten mit einem leisen Prusten, bevor er neben mir stehen blieb.

«Hey, Boo.»

Ein warmes Grollen drang aus der Kehle des Gigloams. Genau wie ich war Boo untot. Fast alle Tierwesen, die vor Jahrhunderten ihren Tiermagiern während des Kriegs beigestanden hatten, der unseren Kontinent gespalten hatte, waren in der Schlacht gegen Wilheim gestorben. Damals waren die Assassinen zum ersten Mal wiederauferstanden – und ebenso die Tierwesen. Sie waren wild und unzähmbar, darum lebten sie im menschenleeren Kitskaforst und wurden als Monster betrachtet.

Bis ich dahergekommen war und eines gezähmt hatte. Mehr oder weniger jedenfalls.

Ich streichelte Boos dicken Hals und grub die Finger in seinen rauen, verfilzten Pelz. Eigentlich sollten Gigloams ein glänzendes, moosgrünes Fell besitzen. Das von Boo war stumpf und sah eher wie alter Seetang aus. Der Tod hatte seine charakteristischen Merkmale auf eine Weise verstärkt, die ihn schauerlicher und dämonischer wirken ließ, als er tatsächlich war. Der Knochenhelm, der seinen Schädel umgab, war vergilbt und wies an manchen Stellen Sprünge auf. Ein Mond war zu sehen, wie hineingraviert, er war zu drei Vierteln voll. Sein hirschartiges Geweih wirkte gezackt und scharfkantig, als wären die Spitzen gesplittert. Auf den ersten Blick schienen seine trüben roten Augen seelenlos zu sein. Doch das war sehr weit entfernt von der Wahrheit.

Schnaubend stupste mein Kitskawesen seine Schnauze gegen meine Schulter, und ich stolperte zur Seite.

«Was ist?», fragte ich und gab ihm einen sanften Klaps.

Boo ließ sich so schwer auf die Hinterbeine plumpsen, dass der Boden bebte. Grunzend schüttelte er den Kopf auf und ab, wobei die Spitzen seines Geweihs durch die tief hängenden Zweige fuhren.

«Das hilft mir auch nicht weiter», sagte ich und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Sein Blick wanderte zu der offenen Lichtung, wo Jax und Effie miteinander spielten. Jax hatte noch einen weiten Weg vor sich, bis sein drachenartiger Körper vollständig ausgewachsen war. Doch er war groß genug, um einem spielerischen Hieb von Boo standzuhalten, selbst falls er zu viel … Wumms haben sollte. Seine glänzend roten, goldgeränderten Schuppen waren nahezu undurchdringlich – sogar für Boos Krallen.

Aber vielleicht nicht für seine Zähne. Ich warf meinem Gigloam einen Seitenblick zu, während ich überlegte, ob ich ihn zum Mitspielen ermutigen sollte oder nicht. Da ließ ein ohrenbetäubender Schrei auf der anderen Seite der Lichtung die Bäume erzittern. Alles um uns herum verstummte. Die Assassinen auf dem Feld erstarrten, und ihre Tierwesen drängten sich an sie, während sie eine unbestimmte Stelle im dunkler werdenden Wald fixierten. Selbst der Wind erstarb, zurück blieb nur ein unheimlicher Lufthauch, der nach Tod und Verwesung stank. Boo wurde stocksteif, sein dickes Nackenfell sträubte sich, und er zog mit einem drohenden Knurren die Lefzen zurück. Dann erhob er sich langsam und begann, Mondlicht zwischen den Enden seines Geweihs zu sammeln.

«Ganz ruhig.» Ich packte seine Schnauze und zog seinen Kopf nach unten. Der Dreiviertelmond erlaubte es ihm, eine gefährliche Menge an Energie zu erzeugen. «Nicht nötig, einen deiner Brüder ins Nichts zu pusten. Komm.»

Bereitwillig ließ er sich auf ein Knie sinken, und ich kletterte auf seinen Rücken. Sobald ich oben saß, galoppierte er über die Lichtung voran, während Calem und Ozias gerade Schatten aus den Tiefen des Waldes riefen. Innerhalb eines Atemzugs hatten sie diese flüchtigen Ranken in glitzernde Klingen verwandelt, die so real und solide waren wie die Erde unter meinen Füßen. Jeder Assassine trainierte hart, um dieses Maß an Kontrolle zu erreichen.

«Wartet!», schrie ich, während ich Boo vorwärtstrieb. Als wir die Gruppe erreichten, kam er abrupt zum Stehen, und ich rutschte von seinem Rücken, um auf meine neu gefundenen Brüder zuzuhalten. «Es ist wahrscheinlich nur verwirrt. Lasst mich das regeln.»

«Hast du es gerufen? Ist es eines von deinen?» Calem blickte zwischen Boo und mir hin und her. Obwohl sein Arm locker an seiner Seite herabhing, schwebten die Klingen, die er gerufen hatte, weiter auf Taillenhöhe neben ihm in der Luft. Ein quecksilberfarbener Ring umgab seine rötlich braunen Augen, und diese gefährliche Färbung verbreiterte sich um einen Hauch. Eine falsche Bewegung, und Calem würde sich in eine monströse Bestie verwandeln, die sogar den untoten Kreaturen im Kitskaforst Konkurrenz machte. Dieser Zustand war eine Nebenwirkung davon, dass er fast gestorben wäre und von einem legendären Katzenwesen gerettet worden war. Es war unglaublich schwer unter Kontrolle zu halten.

«Nein», antwortete ich. Ein weiterer haarsträubender Schrei ließ die Baumwipfel erbeben.

Ozias wandte sich der kleinen Gruppe von Gildenangehörigen zu, die sie trainiert hatten. «Geht ins Haus. Jemand soll Kost Bescheid geben.» Sie nickten allesamt, und als sie bereitwillig zurück zum Herrenhaus rannten, hingen schwache Schatten an ihren Fersen.

Gereiztheit regte sich in meinem Bauch. «Ist schon gut. Nicht nötig, ihn mit hineinzuziehen.»

«Er ist unser Gildenmeister. Es ist absolut nötig, ihn mit hineinzuziehen.» Calem winkte Effie, und sie kreiste einmal um seinen Kopf, ehe sie sich schließlich auf seiner Schulter niederließ. Jax kam ebenfalls näher heran. Er besaß die Fähigkeit, auf einen Wink hin augenblicklich eine Wand aus Vulkangestein herbeizurufen, um uns vor jedem Monster zu schützen, welches auch immer im Wald sein Unwesen treiben mochte.

«Das ist doch nur ein Kitskawesen. Damit werde ich schon fertig.» Mit steifem Schritt ging ich voran, und Boo folgte mir. Einen Moment später stieß Calem einen genervten Seufzer aus, dann schlossen er und Ozias sich mir mit ihren eigenen, sehr lebendigen Tierwesen an.

«Wie können wir helfen?», fragte Ozias, während wir uns dem Waldrand näherten.

«Das weiß ich noch nicht. Ich …» Ein ohrenbetäubendes Heulen schnitt mir das Wort ab, gefolgt von einer markerschütternden Reihe kreischender Schreie. Nicht eine, sondern gleich drei Kreaturen lösten sich aus der Dunkelheit. Sie hatten die Größe stattlicher Wölfe mit buckligen Rücken und knochigen, hervorstehenden Wirbelsäulen. Ihre Schwänze endeten in pfeilspitzenartigen Verdickungen. Die fledermausähnlichen Köpfe der Kreaturen saßen in merkwürdigen Winkeln am Körper, aus ihren spitzen Ohren sprossen Tasthaare und zogen sich wie dünne Finger an ihrem ganzen Leib entlang.

«Was zur ewigen Hölle ist das?» Calem nahm Effie von seiner Schulter und setzte sie auf Jax’ Rücken. Dann duckte er sich zum Angriff. Die schwebenden Klingen an seiner Hüfte erzitterten.

Eines der Wesen gab als Antwort ein Knurren von sich und tat ein paar raubtierhafte Schritte vorwärts. Das struppige graue Fell, das seinen Körper bedeckte, ging an seinen Beinen in schwarze Alligatorenschuppen über, und seine mächtigen Krallen hinterließen Furchen im weichen Gras unter seinen Füßen.

«Mizofledermäuse.» Zumindest waren sie das gewesen, bevor ihr Tod und der Kitskaforst sie verändert hatten und sie für jeden normalen Tiermagier unzähmbar geworden waren. Ein Schaudern fuhr mir durch die Knochen. «Keiner macht irgendwelche schnellen Bewegungen!»

Sogar Boo beherzigte meine Warnung. Sein Atem war nur ein flacher Hauch an meinem Hals. Die Mizofledermäuse tauschten einige zirpende Laute aus. Es klang wie Insekten, die mit ihren Mundwerkzeugen klackerten. Alle zugleich sogen sie witternd die Luft ein. Ihre milchig trüben Augen waren fast völlig blind. Doch ihr Geruchssinn und ihr übernatürlich scharfes Gehör, gepaart mit den tentakelartigen Tasthaaren, die sogar die kleinste Veränderung in der Luft wahrnehmen konnten, machten sie zu geschickten Jägern.

«Gaige?» Ozias hatte kaum die Lippen geöffnet, aber für die Mizofledermäuse ertönte seine Frage laut wie ein Nebelhorn. Alarmiert spitzten sie die Ohren. Eine nach der anderen fletschten sie die Zähne zu einem bedrohlichen Knurren.

Langsam bewegte ich mich vorwärts, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. «Schön ruhig bleiben.» Schatten sammelten sich um meine Fingerspitzen. Die flüchtigen Ranken wanden sich um meine Handgelenke und schlängelten sich durch die Luft auf die Kitskawesen zu. Meine neu entwickelte Macht hätte niemals eine lebende Kreatur beruhigen können. Doch die untoten Monster des Waldes waren mit der Dunkelheit viel vertrauter.

Wenigstens war das bei Boo und einer Handvoll anderer Wesen der Fall gewesen, denen ich begegnet war.

«Wir werden euch nichts tun.» Behutsam rückte ich noch näher und hielt der Mizofledermaus, die mir am nächsten war, meinen Handrücken hin. «Ihr seid in Sicherheit.»

Vorsichtig näherte sich der Anführer mit gerümpfter Nase meinen Fingerknöcheln. Die Mizofledermaus atmete tief ein, um meinen Geruch ein paar Sekunden lang auf sich wirken zu lassen, ehe sie wieder ausatmete. Ich gab ihr einen Augenblick Zeit, mich – und uns alle – einzuschätzen, ohne mich zu bewegen. Ich konnte Ozias oder Calem hinter mir nicht sehen. Doch der Tod hatte meine Sinne in einem beinahe unerträglichen Ausmaß geschärft. So konnte ich ihre hektischen Herzschläge und flachen Atemzüge hören.

Die anderen Mizofledermäuse entspannten sich leicht und kamen ebenfalls näher, um mich ausgiebig zu beschnuppern.

«Seht ihr?» Ich drehte meine Handfläche nach oben. Schatten zogen sich zu einer kleinen Kugel zusammen, die einen Moment lang über meiner Hand schwebte, bevor sie wieder in sich zusammenfiel und zwischen meinen Fingern zerrann. «Wir sind wie ihr.»

Die Tierwesen ließen sich auf ihre Hinterläufe sinken, um neugierig die Schattenranken zu mustern. Sie waren schon so gut wie gezähmt – als plötzlich überall um uns herum Schatten explodierten. Sie türmten sich auf, um den Himmel zu verdunkeln, ehe sie uns in einem Mahlstrom wilder Finsternis erstickten. Bei dieser plötzlichen Zurschaustellung von Macht setzte mein Verstand aus. Ich hatte niemand anderen gespürt, und trotzdem waren wir umzingelt. Wie? Warum? Eben noch hatte ich Kontrolle über meine Schatten ausgeübt, um die Kitskawesen anzulocken – und nun das.

Es war, als würden die tintenschwarzen Ranken direkt unter unseren Füßen aus der Erde sprießen. Als habe meine Schattenkugel sie angelockt und nicht etwa die Kreaturen. Sie gebärdeten sich wild und bösartig – und mir war bewusst, dass meine Schatten dazu neigten, um sich zu schlagen –, aber sie fühlten sich nicht wie meine Schatten an. Das konnten sie einfach nicht sein. Vielleicht hatte einer der neueren Assassinen die Kontrolle verloren. Vielleicht …

Ein scharfer, klagender Laut riss meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich wirbelte herum. «Ozias! Calem!»

Sie antworteten nicht.

«Boo!», versuchte ich es erneut.

In dem nackten Chaos hörte ich einen panischen Schrei von Effie und ein unbehagliches Kollern von Jax. Ozias und Calem schrien ebenfalls, aber das Pfeifen der Schatten übertönte alles – eine kreischende Leere, die alle Geräusche in sich aufsaugte.

Plötzlich zerriss weißes Licht für einen Sekundenbruchteil die Dunkelheit, und ich erblickte Boo. Doch als der Strahl Mondlicht zwischen den Enden seines Geweihs verblasste, bildeten sich die Schattenranken so schnell neu, wie sie sich aufgelöst hatten, und verbargen ihn vor meinem Blick.

Ich biss die Zähne zusammen und wagte es, ein paar Schritte in den Sturm zu tun. Schatten zerfetzten meine Kleider und schlitzten meine Haut auf, entblößten rohes Fleisch und Blut. Sie schnitten mit der Effizienz einer frisch geschärften Klinge durch meinen Körper. Eine Ranke schlitzte mein Gesicht von der Stirn bis zum Kinn auf, verfehlte nur knapp mein Auge. Zusammengekrümmt sank ich zu Boden. Ich schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht, betete, bettelte, dass die Schatten aufhörten.

Und das taten sie.

Sie verschwanden so abrupt, als hätte ich sie mir nur eingebildet. Wenn da nicht das heftige Klingeln in meinen Ohren gewesen wäre und das Blut, das mir aus zahllosen Wunden quoll.

Blinzelnd ließ ich die Hände sinken. Meine Augen brannten, und ich sog scharf den Atem ein, als ich mich umdrehte, um nach Calem und Ozias zu sehen.

«Effie!», schrie Calem. So wie ich war er von Kopf bis Fuß von Schnittwunden überzogen. Doch er achtete nicht auf seine Verletzungen. Seine zitternden Hände lagen auf seinem schlimm zugerichteten Tierwesen, und es wimmerte als Antwort. Effies minzgrüne Federn waren rot gefärbt, doch sie atmete noch, wenn auch unregelmäßig.

«Bring sie ins Refugium! Und Jax auch», rief ich mit einem Blick auf Ozias’ Tierwesen. Seinem Laharock war es insgesamt noch am besten von uns ergangen. Der glänzend rote Panzer hatte ihn vor der Wucht des Angriffs geschützt. Doch es gab ein paar Stellen, an denen die Schuppenplatten beinahe vollständig abgerissen waren. Trotzdem – im Refugium würden sowohl Effie als auch Jax bald wieder vollständig genesen.

Ozias wischte sich Blut aus einer tiefen Wunde an der Lippe fort und nickte. Die beiden umfassten fest ihre Bronzeschlüssel, und das typische Ächzen der sich öffnenden Refugiumstür hallte über die nun stille Lichtung. Mit dem Blick suchte ich die Umgebung ab, um denjenigen zu finden, der für den Angriff der Schatten verantwortlich war. Eine Schattenranke zog sich in den Wald zurück und hielt nur einen Moment lang an seinem Saum inne. Sie zögerte, als würde sie uns beobachten. Dann war sie plötzlich fort. Bevor ich der Sache nachgehen konnte, ließ mich ein gequältes Schnauben wie angewurzelt stehen bleiben.

Boo saß zusammengesunken und heftig blutend auf den Hinterläufen. Anders als Calems und Ozias’ Tierwesen konnte er sich nicht ins Refugium zurückziehen. Darum mussten die Schnittwunden, die seinen Brustkorb überzogen, sofort medizinisch versorgt werden! Zum Glück würde es im Krankenflügel das richtige Material geben, um seine Wunden zu behandeln. Er würde überleben.

«Den Göttern sei Dank», murmelte ich und erlaubte mir endlich einen Seufzer der Erleichterung. Aber gerade als wir uns wieder gesammelt hatten, taten die Mizofledermäuse das ebenfalls. Irgendwie hatten die Schatten sie nur flüchtig gestreift. Sie wiesen lediglich ein paar Schrammen in ihrem Fell auf. Nichts besonders Ernstes – doch gewiss genug, um sie glauben zu lassen, wir hätten sie angegriffen. Und ihre herausfordernden, raubtierhaften Schreie und die bebenden Tasthaare zeigten deutlich, dass sie kein Interesse mehr daran hatten, gezähmt zu werden.

«Zurück!», schrie ich Calem und Ozias zu, während ich mich hastig aufrappelte. «ZURÜCK ZUM HAUS!»

Die Mizofledermäuse sprangen vorwärts! Zwei stürzten sich direkt auf Boo, während der Anführer auf mich zustürmte. Calem und Ozias schrien, beide immer noch damit beschäftigt, ihr Tierwesen sicher nach Hause zu geleiten. Boo heulte wütend auf, als die zwei Mizofledermäuse ihre Fänge in seinen Hinterlauf schlugen.

Einen Schutzschild. Forme einen Schutzschild! Ich kreuzte die Arme vor der Brust und wappnete mich gegen den Angriff, während ich meine Macht rief. Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Versuchte, Dunkelheit aus der Nacht um mich herum zu ziehen und sie meinem Willen zu unterwerfen. Versuchte …

Eine Masse aus dunkelgrauen Schatten manifestierte sich vor meinen Augen – gerade noch rechtzeitig, dass die mächtigen Krallen der Mizofledermaus auf eine tiefschwarze Klinge trafen.

Auf eine Klinge? Oh. Oh! Erleichterung, Frust und Wut vermischten sich in mir, als sich die Ranken zurückzogen wie ein zu Boden fallender Umhang und den Blick auf einen Mann freigaben. Kost. Die Muskeln seiner nackten Unterarme traten hervor, während er seine Waffe gegen den Angriff des Kitskawesens stemmte. Sein Kiefer war angespannt, seine eisgrünen Augen hart und wild. Die Sehnen an seinem Hals pochten, doch er gab nicht nach, während die Mizofledermaus versuchte, ihn unter ihrem Gewicht zu begraben.

Ohne mich anzusehen, bellte er einen Befehl. «Geh ins Haus. Sofort.» Dann, ein bisschen lauter: «Calem, Ozias – kümmert euch um die beiden bei Boo.» Effie und Jax waren inzwischen in Sicherheit, also sprangen sie zur Tat und riefen ihre eigenen Schatten, um die Monster zurückzutreiben, die meinen Gigloam umschwärmten.

«Ich werde nicht ins Haus gehen. Ich kann helfen.»

Kost vollführte eine beeindruckende, schwungvolle Bewegung, um die Krallen der Bestie von seiner Klinge zu lösen. Dann richtete er die Spitze direkt auf die Halsschlagader der Kreatur. Die Mizofledermaus fauchte und duckte sich tief. Ihre tentakelartigen Tasthaare peitschten wild um uns herum, während sie darauf lauerte, wo und wie sie angreifen sollte.

«Geh ins Haus!», blaffte Kost, während er mit einem raschen Schritt vor mich trat und mir die Sicht auf die Mizofledermaus versperrte.

Mein Magen zog sich zusammen, und ich kämpfte mich auf die Füße. Die Schatten, die ich nicht zu meinem Schutz hatte rufen können, sammelten sich nun um meine Hände, und das Kitskawesen brüllte als Reaktion darauf.

«Gaige!», schrie Kost, während sein Blick von mir zu dem wütenden Monster schnellte. «Du hast schon genug getan.»

Ich zuckte zusammen, und die brodelnde Wut in mir erstarb. Stattdessen legte sich ein kaltes, resigniertes Gefühl über mich. Mein Gesicht wurde ausdruckslos. Natürlich gab er mir die Schuld. Ich könnte widersprechen und ihm zu erklären versuchen, dass ich das hier nicht gewesen war. Ich hatte nur versucht, die Mizofledermäuse mit einer Schattenkugel anzulocken und zu zähmen – etwas, das ich gezielt perfektioniert hatte, um diesen armen Monstern zu helfen. Diese gewalttätigen Ranken, die aus der Erde selbst entsprungen waren? Das war ich nicht gewesen. Ich könnte gar nicht …

Meine Finger zitterten. Zumindest hatte ich es nicht gewollt. Es fühlte sich nicht so an, als wäre ich es gewesen. Trotzdem – die Art, wie Kost mich gerade ansah, sagte mir alles, was ich wissen musste. Er glaubte, dass ich diesen Vorfall verursacht hatte. Nicht, dass ich irgendetwas anderes von ihm erwartet hätte. Ich wusste, dass ich allen eine Last war. Ich bekam alles mit, was die Gildenangehörigen über mich sagten. Eigentlich hätte es nicht so wehtun dürfen, herauszufinden, dass Kost ebenso dachte.

«Boo braucht dich. Niemand sonst hier weiß, wie man ein Tierwesen behandelt. Und jetzt geh.»

Wenigstens einer brauchte mich. Ich wandte mich von Kost ab und ignorierte den kleinen, drängenden Teil von mir, der mich anflehte, zu bleiben. Nicht weil ich mich ihm trotzig widersetzen wollte – sondern weil ich sichergehen wollte, dass ihm nichts passierte. Aber die lautere, dominantere Stimme siegte, die Stimme voller Groll und Wut. Also kehrte ich Kost den Rücken. Wieder einmal.

Ozias und Calem hatten es geschafft, die anderen Mizofledermäuse zu vertreiben. Sie hatten Boo zu der Veranda gebracht, die sich um das Herrenhaus von Cruor zog. Ich eilte zu meinem verwundeten Tierwesen und strich mit den Fingern über sein Fell, um die Verletzungen zu zählen und ihre Tiefe einzuschätzen. Sobald ich mit meiner Untersuchung begann, entfernten Ozias und Calem sich wortlos, um Kost zu helfen.

Er würde zurechtkommen. Er würde immer ohne mich zurechtkommen.

Also schlüpfte ich ins Haus, um Material aus dem Krankenflügel zu holen und die eine Sache zu tun, die ich nicht vermasseln konnte: für ein Tierwesen zu sorgen.

Kapitel 3KOST

«Berichtet mir genau, was passiert ist.»

Ozias, Calem, Gaige und ich standen unter dem behelfsmäßigen Sonnenschutz, den Ozias neben der Veranda für Boo aufgestellt hatte. Er kauerte vor Boos Kopf und streichelte sanft seine Schnauze, während Gaige die Wunden an seinem Brustkorb versorgte. Dafür hatte er zunächst eine chirurgische Nadel eingefädelt und war nun dabei, Boos Oberkörper methodisch wieder zusammenzuflicken. Calem lehnte sich mit gekreuzten Beinen ans Geländer der Veranda. Für einen Moment begegnete er meinem harten Blick, dann sah er schnell zu Ozias.

«Nun?», drängte ich.

Die beiden wechselten einen weiteren Blick, ehe sich endlich Ozias räusperte. «Es war keine große Sache.» Gaige stutzte kurz, als hätte ihn die Antwort überrascht. Doch er fing sich schnell wieder und arbeitete schweigend weiter. Meine Augen wurden schmal.

«Du solltest dir wirklich nicht so viele Gedanken machen.» Calem rollte den Kopf hin und her. «Ehrlich, das ist nicht das erste Mal, dass ein Kitskamonster zufällig auf unseren Rasen gestolpert ist.»

«Es ist das erste Mal, dass das hier passiert ist.» Mit einer ausladenden Geste zeigte ich auf sie alle. Calem war blutüberströmt, und ein Geflecht von Schnittwunden überzog Ozias’ Arme und Gaiges Rücken. Von Boos ernsten Verletzungen gar nicht erst zu reden. Meine Familie würde schnell genug wieder heilen. Die Untoten vermochten fast alles zu überstehen. Ich konnte bereits erkennen, wie sich unter der schmierigen roten Schicht auf Calems Brust innerhalb von Minuten Sehnen wieder zusammenfügten und Haut neu bildete. Aber Boo? Mein Blick wanderte zu dem Kitskawesen, dann zu Gaige.

«Du hattest Glück», sagte ich. «Das hätte viel schlimmer ausgehen können.»

«Was hätte schlimmer ausgehen können? Boos Verletzungen?» Gaiges Antwort klang angespannt. Er legte die Nadel beiseite und fuhr mit den Fingern in einen Tontopf, um eine großzügige Menge Salbe herauszuholen. Behutsam verstrich er sie auf der Haut seines Tierwesens. Boo gab einen erleichterten Seufzer von sich und ließ den Kopf in Ozias’ Hand sinken. Seine Augen fielen zu, und wenige Momente später schnarchte er bereits. Gaige wischte sich die letzten Salbenreste an den Hosenbeinen ab. «Oder hast du vielleicht mich damit gemeint?»

Für einen Moment antwortete ich nicht. Ich hatte nichts andeuten wollen, doch die Wahrheit ließ sich nicht bestreiten. Gaige hatte keine Kontrolle. Ich war in meinem Arbeitszimmer gewesen, als dieses ganze Debakel anfing, und ich hatte geglaubt, dass alles in Ordnung wäre. Von meinem Fenster aus hatte ich zugesehen, wie Gaige sich so selbstsicher und ruhig den Kitskamonstern genähert hatte. Und sie hatten wunderbar darauf reagiert – bis das zarte Vertrauen, das er aufgebaut hatte, durch die plötzlich hereinbrechenden Schatten wieder zerstört wurde.

Ozias stand auf. «Ich glaube nicht, dass es das ist, was er …»

«Du fängst morgen früh mit dem Training an. Das ist ein Befehl», sagte ich und ignorierte Ozias’ Versuch, die Wogen zu glätten. Ich konnte keine Rücksicht darauf nehmen, ob ich Gaige mit meiner Einschätzung kränkte oder nicht. Es ging einzig darum, sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passierte.

Wütend starrte Gaige mich an. «Die gibst du in letzter Zeit nur allzu gern.»

«Es ist zu deiner eigenen Sicherheit», sagte ich. Die Brust wurde mir eng, während ich darum rang, meine Stimme ausdruckslos zu halten. Ich begriff nicht, wie er sich mir in dieser Sache weiter so widersetzen konnte. Es war völlig sinnlos, noch länger zu verleugnen, was er war. Aber jedes Mal, wenn ich mich von meinen Emotionen überwältigen ließ, sagte ich am Ende etwas, das ich nicht so meinte. Tatsachen waren da einfacher zu händeln, selbst die kalten und harten. Sie waren sicherer. «Mach so weiter, und du wirst sterben. Niemand hier kann dich retten – nur du selbst.»

Gaige sprang auf die Füße und sah mir fest in die Augen. «Wenn ich sterbe, kannst du mich diesmal wenigstens nicht zurückholen.»

«Darum geht es dir also bei alledem?» Schatten umringelten mich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, bis schließlich eine schlanke Klinge in meiner Hand Gestalt annahm. Ich umfasste sie fest und hob sie zwischen uns. «Ich habe dir versprochen, deinem Leben jederzeit ein Ende zu setzen, wenn du mich darum bittest. Bist du bereit dafür?»

Seine stahlblauen Augen flimmerten hitzig, und die Muskeln an seinem Kiefer zuckten. Sachte kam er näher heran, bis seine Wange an meiner Klinge lag. Und dann trat eine schmerzhaft vertraute Emotion in seinen Blick: Qual. Ich konnte die Schwere seiner Pein kaum ermessen, und sie traf mich mit solcher Wucht, dass mir die Luft wegblieb. Etwas zerbrach in meiner Brust, und ich ließ meine Waffe wieder verschwinden, während meine Schultern herabsanken. Gerade erst hatte ich entschieden, ihm beizustehen – und nun drohte ich ihm. Obwohl es um einen Schwur ging, den zu halten ich versprochen hatte.

Obwohl ich wusste, dass ich dieses Versprechen nie wahr machen könnte.

Seine Lippen bebten, und er kniff die Augen zu. Tief atmete er ein. Als er mir wieder in die Augen sah, war jeglicher Ausdruck aus seinem Gesicht fortgewischt.

Wortlos drehte Gaige sich um und ging davon. Die Tür schloss sich leise hinter ihm, und ich sackte vollständig in mich zusammen. Wie konnte mich das nur weiterhin so mitnehmen? Zwischen uns gab es nicht mehr die geringste Zuneigung, so viel war offensichtlich. Doch jeder harte Blick von ihm war wie ein Messerstich in meine Eingeweide, der sich immer tiefer hineinbohrte, mich beständig daran erinnerte, warum genau es so wehtat. Und das alles, weil ich ihn hinter meine Fassade hatte blicken lassen, die lächerliche Vorstellung gehegt hatte, dass tatsächlich … mehr aus uns hätte werden können.

Ich schob die Finger unter meine Brille, um mich in den Nasenrücken zu kneifen. «Erzählt mir, was wirklich passiert ist.»

«Na ja, was wir dir erzählt haben, war es im Wesentlichen.» Calem stieß sich vom Geländer ab und umrundete Boo leise. «Eben war alles noch bestens – und im nächsten Moment nicht mehr. Da gibt es nicht viel zu erzählen.»

«Hat er diese Schatten gerufen?» Ich ließ meine Hand sinken und ging langsam zur Veranda. Meine Brüder schlossen sich mir an, mit Sorgenfalten um die Augen. Gaige war uns allen wichtig, nicht nur mir.

«Ich glaube nicht, dass er es absichtlich tun würde.» Ozias rieb sich den Nacken.

«Lasst mich das umformulieren: Hat einer von euch diese Schatten gerufen?» Sie antworteten nicht, und das war Antwort genug. Seufzend stieg ich die Stufen zur Hintertür hinauf und blieb dann einen Moment lang stehen. Ich hatte gehofft, es würde alles leichter machen, mit Gaige unter demselben Dach zu leben. Hatte gehofft, er würde zur Vernunft kommen und einsehen, dass unser Leben, mein Leben, kein solcher Fluch war, wie er dachte. Bisher hatte das nur dazu geführt, dass wir uns beständig gegenseitig verletzten. «Die neuen Rekruten waren zu dem Zeitpunkt schon wieder ins Haus zurückgekehrt. Wenn ihr die Schatten nicht gerufen habt, muss er es naheliegenderweise gewesen sein.» Ich hob den Kopf und musterte die Fensterreihen, bis ich Gaiges Fenster im ersten Stock entdeckte. «Und wenn er unwillentlich so gewalttätige Schatten herbeiruft …» Ich brauchte diesen Gedanken nicht zu Ende zu führen. «Tut, was ihr könnt, damit er mit seiner Ausbildung anfängt.»

Beim Hineingehen ließ ich die Tür leise hinter mir ins Schloss fallen. Meine mürrische Stimmung war noch greifbarer als die Gefahr durch Gaiges Schatten, und die anderen Assassinen verflüchtigten sich regelrecht, während ich durch die Flure ging. Als ich schließlich meine Gemächer erreichte, verriegelte ich rasch die Tür – nutzlos, wenn man bedenkt, wer hier wohnte, aber irgendwie dennoch beruhigend. Dann stieß ich einen schweren Seufzer aus. Das mächtige, mit Bronze beschlagene Mahagonibett beherrschte mein Blickfeld. Ich glaubte nicht recht daran, dass Schlaf gegen meine tiefe Erschöpfung helfen könnte, aber zumindest würde er mich die Ereignisse des Tages vorübergehend vergessen lassen. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und stellte sie ordentlich neben den geölten Kleiderschrank. Dann knöpfte ich meine ebenholzschwarze Weste auf und entledigte mich schließlich meiner langärmeligen Tunika.

Ein Phantomschmerz strahlte von der jahrzehntealten Narbe auf meiner Brust aus. Instinktiv zeichneten meine Finger ihren gewundenen Pfad nach, als wäre die tödliche Verletzung die verschlungene Maserung eines Holztischs. Jude. Ein brackiger Geschmack legte sich mir auf die Zunge, und ich riss meine Hand fort. Es war Jahre her, seit ich zuletzt auch nur an meinen ehemaligen Geliebten gedacht hatte. Doch die Erinnerungen an ihn – an den Schmerz, den er verursacht hatte – wurden drängender. Es war, als hätte Gaiges Anwesenheit sie wieder an die Oberfläche steigen lassen, als müsste ich diesen Schmerz noch einmal durchleben, um ihn besser verstehen zu können.

«Mach dich nicht lächerlich», murmelte ich. Während ich mich auf das Mahagonibett sinken ließ, berührte ich den Bronzeschlüssel, der auf meinem Brustbein lag. Ich redete mir ein, dass ich meinen Schlüssel bewusst aus Sicherheitsgründen um den Hals trug. Kaori, Calems Mentorin und ein Mitglied des Rats der Tiermagier, hatte uns allen unzerstörbare Halsketten für die Schlüssel unserer Tierwesen geschenkt, geschaffen durch Zauberei. Es war praktisch so. Sicher. Und es hatte absolut nichts mit dem absurden Gedanken zu tun, dass Gaige seinen Schlüssel auch um den Hals trug. Ich wickelte meine Finger um die Kette, nahm den Schlüssel in die Hand und dachte nur an Felicks, meinen Poi.

Wärme ergoss sich aus dem Anhänger und floss durch meine Gliedmaßen, während das Ächzen schwerer Türangeln den Raum erfüllte. Keinen Moment später erschien das fuchsartige Tierwesen. Felicks sprang auf meinen Schoß, legte seine Pfote auf meine Brust und leckte mir einmal über jede meiner Wangen.

«Hallo, Felicks.» Ich streichelte ihm lang über den Rücken und bewunderte dabei die schneeweiße Farbe seines Fells und den zobelbraunen Streifen, der von der Krone seines Kopfs bis zur Schwanzspitze verlief. Die amethystfarbene Kugel zwischen seinen großen Ohren trübte sich für einen Moment, und als der Nebel sich wieder lichtete, füllte eine Reihe unbewegter Bilder meinen Geist. Felicks’ Gabe, bis zu zwei Minuten in die Zukunft zu sehen und diese Vision dann mit mir zu teilen, war ein Vorteil von unschätzbarem Wert. Einstweilen jedoch sah er nur ausgiebiges Kraulen unter seinem Kinn voraus, gefolgt von einem Nickerchen an meiner Brust.

Mit einem leisen Lachen tat ich ihm den Gefallen und streichelte seinen Hals. «Wann wirst du mir etwas zeigen, das ich noch nicht weiß?»

Natürlich war es ziemlich offensichtlich, dass meine sanfte Kreatur es genießen würde, ausgiebig gekrault zu werden. Und dennoch – je mehr Zeit ich mit Felicks verbrachte, desto mehr kam ich in Einklang mit seiner Macht. Manchmal empfand ich sogar eigenartige Momente der Vorahnung, wenn er gar nicht in der Nähe war. Beinahe, als verlangsame sich meine Umgebung, während meine Wahrnehmung und mein Handeln in Echtzeit weiterliefen. So hatte ich es bei dem Angriff der Kitskamonster geschafft, rechtzeitig einzugreifen. Es war, als hätte ich gewusst, dass sie angreifen würden, noch bevor sich die Kreaturen selbst darüber im Klaren waren.

Ich seufzte leise und schaute auf mein Tierwesen hinunter. Vom ersten Tag an hatte ich Felicks regelmäßig gerufen, wodurch er nun für eine beachtliche Zeit in unserer Welt bleiben konnte. Tagelang sogar. Zweifellos vertiefte das unsere Bindung zusätzlich und machte es leichter für ihn, Visionen mit mir zu teilen. Ich fragte mich, ob er mir irgendwie aus dem Refugium heraus Visionen zeigte, so gut er es eben konnte.

Felicks neigte den Kopf, um sich in einem passenderen Winkel zu positionieren, nur um dann meiner Hand auszuweichen und zur Mitte des Betts zu stolzieren. Er drehte sich einmal im Kreis und setzte sich prompt auf die Bettdecke. Sein Schwanz zuckte über den silbergrauen Damast, während er mich mit einem festen, fordernden Blick durchbohrte.

«Tss. Du bist heute Abend aber ungeduldig.» Ich legte meine Brille auf den Nachttisch und schlüpfte zu ihm ins Bett. Felicks stieß ein leises, aber glückliches Bellen aus, während er sich in meine Armbeuge schmiegte und den Kopf auf meine Brust legte. Seinen Augen fielen zu.

«Kannst du mir noch etwas zeigen?», murmelte ich. «Etwas mehr als die unmittelbare Zukunft. Ich …» Sanft kraulte ich seine Ohren und an seiner Kugel entlang, und seine Atmung vertiefte sich. «Ich weiß nicht, was ich tun soll, Felicks. Weiß nicht, wie ich die Dinge besser machen kann.»

Aber während die Minuten verstrichen und mein Tierwesen in einen tiefen Schlummer fiel, verebbten die Visionen ganz. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sich seine Macht plötzlich auf eine solche nie dagewesene Weise erweitern würde. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass ich mich niedergeschlagen fühlte. Ich hatte unzähligen Assassinen dabei geholfen, sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Dabei war ich das Ziel so vieler Emotionen gewesen – Wut, Kummer, Gleichgültigkeit. Das alles hatte ich überstanden, und dennoch war es bei Gaige irgendwie anders. Es überforderte mich, und ich konnte der Situation nicht entkommen.

Vielleicht fand ich mich in dieser Lage so schlecht zurecht, weil ich der Gildenmeister war. Ich war so lange der Stellvertreter gewesen, dass ich geglaubt hatte, auf die Rolle des Anführers vorbereitet zu sein. Doch als ich nun so dalag, gedankenverloren Felicks streichelte und an die Decke starrte, wurde mir eins klar: Die Verantwortung, die ich empfand, die Schuldgefühle, das ging über meinen Posten hier in Cruor hinaus.

Nein, es betraf einzig und allein Gaige. Genau darum hatte ich mich entschieden, mich nie wieder zu verlieben. Nicht dass ich mich in ihn verliebt hätte, natürlich nicht. Aber dieses Brennen war dem Schmerz so ähnlich, den ich wegen Jude empfunden hatte, und es fiel mir schwer, meine früheren Erfahrungen nicht damit zu vergleichen.

Dieses Dilemma hier hatte ich selbst verursacht, und ich musste es wieder in Ordnung bringen. Welche Folgen auch immer daraus erwachsen mochten.

Kapitel 4GAIGE

Ich verabscheute mein Zimmer von Herzen. Alles in Cruor war viel zu … schwer. Tische aus massivem Holz, auf präzise, effiziente Weise ausgerichtet – und dunkle Lasuren, so weit das Auge reichte. Es gab so viele schmiedeeiserne Beschläge, dass ein Anführer der Gilde gewiss irgendwann einmal in der Vergangenheit Anteile an einer Eisenmine besessen haben musste. Als ich zum ersten Mal einen Blick auf diesen Ort werfen durfte, hatte er einen faszinierenden Hauch des Geheimnisvollen ausgestrahlt, und ich war von der gedämpften Beleuchtung und den dunklen Farben angetan gewesen. Wenn ein Gebäude auf düstere Art sinnlich sein konnte, dann Cruor. Aber jetzt … vermisste ich einfach mein Zuhause.

Ich rollte mich in dem Himmelbett auf die Seite und zog die gewebten Laken eng um mich. Es war unmöglich, das verdammte Paar Handschuhe nicht anzustarren, das auf dem Nachttisch bereitlag. Ich legte sie jeden Abend dort ab, und ich streifte sie sofort wieder über, sobald ich aufwachte. Ich war noch nicht so weit gegangen, sie beim Schlafen anzulassen, aber ich konnte es jederzeit tun.

Fahles, elfenbeinfarbenes Licht fiel schräg durch die dicken Falten der Vorhänge herein. Für einen Moment konnte