Die Tiermagierin – Scherbenthron - Maxym M. Martineau - E-Book
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Die Tiermagierin – Scherbenthron E-Book

Maxym M. Martineau

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Beschreibung

Ihre Geschichte begann mit einem Mordauftrag. Sie endet mit einem Krieg. Das epische Finale der Tiermagier-Trilogie. DAS FEUER DES DRACHEN Tiermagierin Leena wollte nie einen Krieg. Doch ihre Feinde drohen, ein uraltes Tierwesen, den Drachen der Göttin, zu entfesseln und das ganze Land mit Feuer und Blut zu überziehen. DER WEG DER KÖNIGIN Wird der Drache erweckt, ist alle Hoffnung verloren. Der Gruppe um Leena bleibt nur eine einzige Chance: angreifen, bevor das Ritual durchgeführt werden kann.   DIE SCHLACHT DES SCHICKSALS Leena und ihr Geliebter Noc wissen, dass ihnen die Zeit davonrennt. Die letzte Schlacht naht. Und nicht alle werden sie überleben …     Magische Tierwesen, atemberaubende Spannung und grenzenlose Liebe – für alle Romance- und Fantasy-Fans!

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Maxym M. Martineau

Die Tiermagierin – Scherbenthron

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

 

Über dieses Buch

DAS FEUER DES DRACHEN

Tiermagierin Leena wollte nie einen Krieg. Doch ihre Feinde drohen, ein uraltes Tierwesen, den Drachen der Göttin, zu entfesseln und das ganze Land mit Feuer und Blut zu überziehen.

 

DER WEG DER KÖNIGIN

Wird der Drache erweckt, ist alle Hoffnung verloren. Der Gruppe um Leena bleibt nur eine einzige Chance: angreifen, bevor das Ritual durchgeführt werden kann.

 

DIE SCHLACHT DES SCHICKSALS

Leena und ihr Geliebter Noc wissen, dass ihnen die Zeit davonrennt. Die letzte Schlacht naht. Und nicht alle werden sie überleben

 

Magische Tierwesen, atemberaubende Spannung und grenzenlose Liebe: das epische Finale der Tiermagier-Trilogie!

Vita

Maxym M. Martineau hat einen Abschluss in Englischer Literatur von der Arizona State University und arbeitet als Texterin, Redakteurin und Autorin. Wenn zwischen Familie und Schreiben noch Zeit übrig bleibt, liest sie, spielt Videospiele, schaut sich zu viele Serienfolgen hintereinander an oder macht Sport. Die drei Romane Schattentanz, Sturmseele und Scherbenthron sind romantische Fantasy-Geschichten und bilden zusammen die Tiermagier-Trilogie, die an Assassin’s Creed und das Harry-Potter-Spin-off Fantastic Beasts erinnert. Der erste Band wurde von Publishers Weekly als eines der besten Bücher des Jahres ausgezeichnet, und die New York Times schrieb: Eine beeindruckende Liebesgeschichte voller Magie und Abenteuer. Mehr Informationen über die Autorin sind auf ihrer Homepage zu finden: www.maxymmartineau.com.

 

Anita Nirschl träumte als Kind davon, alle Sprachen der Welt zu lernen, um jedes Buch lesen zu können, das es gibt. Später studierte sie Englische, Amerikanische und Spanische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat zahlreiche Romane ins Deutsche übertragen.

Für meine Kinder Remmy und Ronin. Möge euer Leben voller Abenteuer, Wunder und Liebe sein.

Eine Prophezeiung der Flammen

«Erweckt aus Ruinen und Blut, Den Himmel zu beherrschen und die Erde zu versengen,

Wird auf dem Hauch seiner Schwingen Friede zurückkehren,

Wenn eine liebende Hand mit der Gabe zu brechen

Ihr Herz darbringt.»

Kapitel 1Leena

Duftender dunkelgrauer Rauch kräuselte sich in den Vormittagshimmel empor, fort von den knisternden Flammen des Scheiterhaufens aus Weißeichenholz. Ein Tribut an die Opfer von Yazmins unerwartetem Angriff. Die zahlreichen kleineren Begräbnisfeuer waren schon vor Tagen zu Asche verbrannt, aber dieses hier würde bleiben, bis die Krone des Rates beschloss, dass die Flammen gelöscht wurden.

Bis ich beschloss, dass sie gelöscht wurden.

Krone des Rates. Es kam mir immer noch unwirklich vor.

Mit einem leisen Seufzer riss ich den Blick von den Flammen los und ließ ihn über die weite Lichtung schweifen.

Eiskristalle zierten die schlafenden Grashalme unter meinen Füßen, und funkelnde Eiszapfen hingen von den Bäumen, die Hireath umgaben. Der Winter war gekommen, aber er würde nicht lange bleiben. Ich hatte den ersten Frost versäumt ebenso wie die Feierlichkeiten, die mit ihm einhergingen. Doch in gewisser Weise galt das für uns alle.

War es wirklich erst eine Woche her, seit Yazmin sich gegen ihr eigenes Volk gewendet hatte? Seit sie Tierwesen befohlen hatte, Tiermagier zu töten, um ihren wahnwitzigen, unbegreiflichen Plan in die Tat umzusetzen? Die, die an jenem Tag gestorben waren, waren bereits ins Reich der Götter übergegangen, doch die schmerzhaften Erinnerungen blieben, und die Stille war ihr lautestes Mahnmal. Keine munteren Rufe von Tierwesen, die mit dem Donnern des Wasserfalls wetteiferten. Keine gemurmelten Unterhaltungen von Tiermagiern, die durch ihre einst friedliche Stadt spazierten.

Stiefel knirschten auf dem Gras hinter mir, und ich drehte mich um. Von der Burg her näherte sich mir ein einzelner Mann. «Gaige.»

«Krone.» Mit einer höflichen Verbeugung neigte er den Kopf.

Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen. «Noch nicht.»

«In wenigen Stunden wirst du es sein.» Seine stahlblauen Augen funkelten, und er strich mit ruhigen Händen über den silbernen Umhang, der Ratsmitgliedern vorbehalten war. Er hatte sich herausgeputzt, um sich – oder vielmehr die neue Krone – zu präsentieren. «Bist du bereit?»

«Ja.»

Noch vor einer Woche wäre ich vor der bloßen Vorstellung zu regieren zurückgeschreckt. Aber jetzt … Ich starrte auf die vielen Häuser in den Baumkronen, auf die Burg, die hoch vor der Bergwand aufragte, und etwas Warmes, Aufregendes und Wahres sammelte sich in meinem Bauch. Das hier war mein Zuhause, und ich war entschlossen, es zu beschützen, mit allem, was ich hatte.

«Gut.» Gaige schenkte mir ein wissendes Grinsen, bevor er sich abwandte. «Die anderen warten schon. Wir müssen einige Angelegenheiten regeln, bevor die Zeremonie beginnt.»

Ich folgte an seiner Seite. «Sie sind wieder zurück?»

«Vor wenigen Minuten angekommen.» Mit einem Nicken wies er zu dem gewaltigen Baum in unserer Nähe. Ein Torbogen, der groß genug war, dass sechs Personen nebeneinander hindurchschreiten konnten, kennzeichnete den Eingang zu unserer Bibliothek. Buntglasfenster waren zwischen den Ästen in die Rinde eingelassen, um das ausgehöhlte Innere in Sonnenlicht zu baden.

Ich hatte noch nie an einer Versammlung der Ratsmitglieder teilgenommen. Abgesehen von meiner Aufnahme in ihre Reihen hatte ich dazu nie Gelegenheit gehabt. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass diese Versammlung anders sein würde als alle bisherigen.

Das Gras unter unseren Füßen ging in Moos über, als wir über die Schwelle in die Bibliothek traten. Im Erdgeschoss standen schwere Holztische dicht an dicht, und Regale schmiegten sich in einem ausladenden Kreis an den Baumstamm, alle bis oben hin vollgestopft mit Büchern. Eine Wendeltreppe schraubte sich in die oberen Stockwerke, und von einem Treppenabsatz einige Etagen höher drang eine gedämpfte Unterhaltung herab. Mein Herz krampfte sich zusammen, als sich eine Stimme ruhig und gefasst über die anderen erhob.

Noc.

Er war zusammen mit Calem, Kost und Oz aufgebrochen, kurz nachdem ich mich von Yazmins Angriff wieder erholt hatte. Sie hatten Cruor in die fähigen Händen von Emelia, einer von Nocs zuverlässigsten Assassinen, gegeben, aber da Yazmin noch immer auf freiem Fuß war, konnte man unmöglich sagen, ob die Gilde sicher war. Für Yazmin wäre es ein Leichtes gewesen, sie auf ihrer Flucht durch den Kitskaforst ebenfalls anzugreifen. Schließlich hatte sie nicht einmal vor ihrem eigenen Volk haltgemacht. Ganz abgesehen davon stellte Darrien ebenfalls eine erhebliche Gefahr dar.

Während ich wenige Schritte hinter Gaige die Treppe hochstieg, ballten sich meine Hände beim Gedanken daran unwillkürlich zu Fäusten.

Darrien. Er war keinen Deut besser als Yazmin. Denn auch er hatte für seine persönlichen Ziele seine Familie verraten. Es war ihm nicht gelungen, mich zu entführen und Noc dadurch dazu zu bringen, seinen Titel als Gildenmeister abzugeben – und die damit einhergehende Macht, die Toten wiederaufzuerwecken –, aber ich bezweifelte stark, dass er seinen Wunsch nach Rache aufgegeben hatte.

Als ich die letzte Stufe erreichte, riss mich Calems schallendes Lachen aus meinen Gedanken. Er lehnte an einem Bücherregal, und bei meinem Anblick breitete sich ein Schmunzeln auf seinem Gesicht aus. Kaori stand schweigend neben ihm. Ihr glänzendes schwarzes Haar war mit Hilfe einer Nadel in Form eines Blattes zu einem kunstvollen Knoten frisiert. Dieselbe Nadel, mit der sie sich in die Hand gestochen hatte, um Calem ihr Blut zu geben. Dadurch hatte sie ihm das Leben gerettet.

Gaige hatte bereits neben Kost an dem runden Tisch Platz genommen. Felicks, Kosts fuchsähliches Tierwesen, saß pflichtbewusst an der Seite seines Meisters, doch beim Anblick von Gaiges freiem Schoß – und den Falten seines silbernen Umhangs, die sich phantastisch zum Einkuscheln eigneten – sprang er auf Gaiges Oberschenkel und drehte sich ein paarmal im Kreis, bevor er sich fallen ließ und die Augen schloss. Gaige lachte, als Kost sein Tierwesen mit hochgezogener Braue ansah. Doch dann streckte er die Hand aus und kraulte Felicks unterm Kinn. Gaige und Kost wechselten leise Worte, und ein fremdartiges Lächeln – entspannt und warm – eroberte Kosts Gesicht. Gaige schien es ebenfalls zu bemerken, und er neigte den Kopf näher zu ihm. Dann, als er nur noch eine Haaresbreite von Kosts Ohr entfernt war, rückte er die Falte seines Kragens zurecht und flüsterte etwas, das Kosts Wangen rot färbte.

Mit einem sichtbaren Schlucken zog Kost sich zurück, räusperte sich und wandte sich zu Oz und Raven an seiner anderen Seite um. Sofort vertiefte er sich in eine Unterhaltung mit Oz, aber mein Blick blieb auf Gaiges zufriedenes Schmunzeln geheftet. Als er es bemerkte, wurde sein Grinsen noch breiter.

Während Oz und Kost leise miteinander plauderten, ließ Kosts Verlegenheit langsam nach. Raven dagegen … Die Leichtigkeit, die ich beim Anblick meiner Familie empfunden hatte, verblasste. Normalerweise wirkte sie beinahe gelangweilt – entspannte Schultern, einen Arm über die Rückenlehne ihres Stuhls drapiert, geschürzte Lippen. Aber in ihrem Blick erkannte ich Wut und Schmerz. Sie hatte gerade erst ihr Glück mit Eilan gefunden, doch dann war er von Yazmin während des Angriffs auf Hireath getötet worden. Wir hatten in den letzten Tagen kaum miteinander gesprochen, da sie in ihren Gemächern geblieben war, um für sich zu trauern.

Oz sah auf und folgte meinem Blick zu Raven. Seine Miene erwärmte sich, und er wandte seine breiten Schultern in ihre Richtung. Mit leiser Stimme fragte er sie etwas, das ich nicht hören konnte. Sie blinzelte, die Wut in ihren Augen verblasste kaum merklich, dann antwortete sie.

Kost nickte ihr zu, und Oz warf mir einen wissenden Blick zu, bevor er sich wieder ihrer Unterhaltung widmete.

Oz, der stets auf andere achtete. Mir wurde erneut die Brust eng. Gerade als ich zu ihnen gehen wollte, legte sich sanft eine in dünne Schatten gehüllte Hand um meine Taille. «Hast du mich vermisst?»

Prickelnde Wärme durchströmte meine Glieder, und ich drehte mich um und schlang die Arme um meinen Anam-cara. Der letzte seiner dunklen Schattenfäden verschwand, und ich schmiegte mein Gesicht an seine Brust. Dann hob ich das Kinn, um ihm in die Augen zu sehen. Sein neues Äußeres ließ mich immer noch stutzen, im positivsten Sinne. Schneeweißes Haar. Leuchtend kristallblaue Augen, die mich regelrecht durchbohrten. Sogar der kantige Schnitt seines Kiefers. Alles an ihm war schärfer, definierter, seit der Zauber, der seine Identität verschleiert hatte, aufgehoben war.

«Natürlich hab ich das. Was ist denn das für eine Frage?» Ich biss mir auf die Unterlippe, um mir ein Lachen zu verkneifen.

Sanft strich er mir mit den Fingerknöcheln über die Wange. «Eine dumme Frage.» Mit dem Finger unter meinem Kinn hob er mein Gesicht leicht an, um mich zu küssen. Meine Knie wurden unter der Berührung seiner Lippen weich.

Neben uns räusperte sich Gaige. «Sollen wir dann anfangen?» Bei seinen Worten spitzte Felicks die Ohren und sprang ihm vom Schoß, um erneut seinen Platz an Kosts Seite einzunehmen.

Widerwillig löste ich mich von Noc, blieb aber weiter in seinen Armen. «Schätze schon.»

Noc grinste, neigte den Kopf zu meinem Ohr und streifte mit den Lippen zart über meine Haut. «Du kannst mich später angemessen willkommen heißen, in der Privatsphäre deines Schlafzimmers.»

Mein Bauch zog sich zusammen, und Hitze kroch an meinem Nacken empor. Wir waren nur ein paar Tage getrennt gewesen, dennoch sehnte ich das Ende der Versammlung herbei, noch bevor sie überhaupt angefangen hatte. So dringend wollte ich Nocs Vorschlag in die Tat umsetzen.

Bevor mein Körper mich verraten konnte, trat ich an den Tisch. Wir hatten wichtige Dinge zu besprechen, zum Beispiel meine Krönung. Und die Pläne, die ich für unser Volk hatte. Pläne, denen der Rat erst einmal zustimmen musste.

Wir alle nahmen unsere Plätze ein, und einen Moment lang verharrte ich reglos. Tiermagier und Assassinen gemeinsam bei einer Ratsversammlung, bereit, Schulter an Schulter unser Volk zu beschützen. Trotz unserer unterschiedlichen Herkunft zögerte niemand. Denn nur gemeinsam hatten wir eine Chance, Yazmin zu besiegen. Hier, an meinem Platz neben Noc, erfüllte mich auf einmal Hoffnung, beständig und warm.

Vielleicht hatten meine Pläne Erfolg. Vielleicht konnte ich – mit Cruor auf unserer Seite – die Tiermagier überzeugen.

Gaige schob die losen Blätter vor sich zusammen. «Hiermit eröffne ich die erste Ratsversammlung unter unserer neuen Krone, Leena Edenfrell.»

Ich zog eine Augenbraue hoch. «Der baldigen neuen Krone.»

«Wortklauberei.» Er winkte ab, bevor er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und mich mit seinem stählernen Blick anvisierte. «Erster Punkt der Tagesordnung: die Erweiterung unseres Rats, um Noc, Kost, Ozias und Calem aufzunehmen. Zumindest vorübergehend, solange wir es mit der gegenwärtigen Bedrohung zu tun haben.»

Alle richteten sich auf ihren Stühlen auf, und neugierige Blicke wanderten von einem zum andern.

Calem fand als Erster seine Stimme wieder. «Moment mal, was?»

«Ist das wirklich das Beste? Ich möchte keine Aufregung verursachen», fügte Oz hinzu und stützte die Unterarme auf den Tisch.

Ich schüttelte den Kopf. «Im Moment ist es ein wichtiges Signal für unser Volk. Es soll erkennen, dass wir nicht allein sind. Vom Anbeginn der Zeit, hieß es Wir gegen den Rest von Lendria. Wir müssen ihnen zeigen, dass das nicht der Fall ist.»

«Ich sehe kein Problem», sagte Kaori. Ihre sanfte Stimme war voll ruhiger Autorität.

«Ich auch nicht.» Raven trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Mit jedem entschiedenen Tippen strahlte ihre Haltung Anspannung aus.

«Wenn Leena denkt, dass es die beste Vorgehensweise ist», sagte Noc und zog damit meine Aufmerksamkeit auf sich, «sind wir einverstanden.» Er legte eine Hand auf mein Bein und drückte es.

«Dann ist es beschlossen.» Gaige tauchte seinen Federkiel in ein Tintenfass und schrieb etwas auf ein Stück Pergament. Ein leiser Eulenruf erklang von der Decke, doch Gaige schrieb ungerührt weiter. Zwischen den Ästen und Blättern, die wie Deckenbalken miteinander verflochten waren, saß eine Eule mit rindenartigen Hörnern auf einem tiefhängenden Zweig. Actarius. Obwohl Celestes ehemaliges Tierwesen mit seiner Macht dafür sorgte, dass dieser Moment dauerhaft festgehalten wurde, war Gaige nicht mehr derselbe, seit er herausgefunden hatte, dass seine Erinnerung gelöscht worden war. Er machte sich nun ständig Notizen, trug sogar lose Zettel in seinen Taschen mit sich herum, für den Fall, dass er unterwegs etwas aufschreiben musste. Es war, als würde er seinem eigenen Gedächtnis nicht mehr trauen. Als könnte das Aufschreiben den Moment festigen und seine Anspannung lindern.

«Was bedeutet das für Cruor?» Kost verschränkte die Finger und sah zuerst Noc an, bevor er langsam den Blick wieder zurück zu Gaige schweifen ließ.

«Vor den Augen des Rats sind wir alle gleichberechtigt. Unsere Bedrohungen sind eure Bedrohungen und umgekehrt. Was bedeutet», Gaige tippte mit seinem Federkiel auf Pergament, «der Rat wird nicht zögern, euch zu Hilfe zu kommen, und von euch wird dasselbe erwartet.»

«Das gilt jedoch nicht für unser Volk», warf Kaori ein.

«Also kämpfen wir für sie, aber sie kämpfen nicht für uns?», fragte Calem.

«Tiermagier waren seit dem Ersten Krieg an keinerlei größerem Konflikt mehr beteiligt», erklärte ich. «Gebt ihnen Zeit. Sie müssen sehen, dass ihr vertrauenswürdig seid, dass ihr jetzt Teil unserer Gemeinschaft seid. Dann werden sie sich uns anschließen.»

«Ich kämpfe, wann immer ihr mich braucht.» Ravens Worte waren scharf. «Es ist mir egal gegen wen.»

Ich spürte einen Kloß im Bauch, gleichzeitig zuckte Oz zusammen. Wie sehr Raven gelitten haben musste. Ich war nicht sicher, ob es der richtige Weg war, der Wut nachzugeben, aber ihre Furchtlosigkeit war dringend nötig. Wenn die Tiermagier sahen, mit welcher Leidenschaft sie bereit war, Ungerechtigkeit offen entgegenzutreten, würden sie ihrem Beispiel vielleicht folgen.

Sanft legte ich ihr eine Hand auf die Schulter. «Raven …»

«Was ist mit Yazmin?», fragte sie und schüttelte meine Hand ab.

Doch mich verletzte ihre Ablehnung nicht. Schließlich hatte ich ihr bei meiner Suche nach der Wahrheit hinter dem Kopfgeldauftrag unrecht getan. Nicht sie hatte uns auf eine vergebliche Tierwesenjagd geschickt. Es war nicht ihr Gewebespinner gewesen, der Noc gefangen und verschleppt hatte, wodurch Cruors Eid von ihm Besitz ergreifen und ihn in den Wahnsinn treiben konnte. Aber damals hatte ich mir nicht vorstellen können, dass Yazmin, unsere einstige Krone, in der Lage war, etwas so … Falsches zu tun. Und in meiner Wut und Verwirrung war ich auf Raven losgegangen. Hatte eine gebrochene Frau einer Tat bezichtigt, mit der sie nichts zu tun gehabt hatte.

Noch nie im Leben hatte ich etwas so sehr wiedergutmachen wollen.

Gaige stieß einen langen Seufzer aus und nahm ein Stück Pergament von seinem Stapel, das eher wie ausgeleiertes, jahrzehntealtes Leder aussah. «Ich komme der Entschlüsselung ihrer Aufzeichnungen allmählich näher. Dieser Teil hier», er zeigte auf uralte, mit nachgedunkelter roter Tinte geschriebene Schriftzeichen, «ist ein Zähmungszauber. Glaube ich. Ich habe zwei der Zutaten übersetzt – Knochen eines befleckten Tiermagiers und Blut eines untoten Prinzen –, aber der dritte Teil entzieht sich mir noch.»

Ein dumpfes Klingeln dröhnte mir in den Ohren, und meine Nackenhärchen sträubten sich.

«Knochen eines befleckten Tiermagiers?»

Er nickte, dabei sah er mir fest in die Augen. «Ich schätze, das hat diesen ganzen Schlamassel in Gang gebracht. Sie hat ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt, um an deine Knochen zu kommen. Aber als der Myad dich für würdig erachtete und mit seiner Magie reinwusch, musste sie sich nach einer Alternative umsehen. Da kam Wynn ins Spiel.»

Ein Schauer lief mir über den Rücken. «Wynn?»

«Ja.» Er schluckte schwer. «Durch seine Verbrechen wurde er befleckt. Nachdem Noc ihn getötet hatte, brauchte Yazmin nur noch seine Überreste einzusammeln.»

«Weißt du das ganz sicher?», fragte Kost.

Kaori stützte das Kinn in die Hände. «Ja. Sie war diejenige, die Wynns Leichnam beseitigte, während ihr euch erholt habt.» Ihr Blick schnellte zu Calem. Es stimmte. Wir waren abgelenkt gewesen, sowohl von meinen Verletzungen als auch von seiner Nahtoderfahrung.

Kost runzelte die Stirn. «Teil des Kopfgeldauftrags war die Übergabe der Knochen innerhalb von sechs Stunden nach dem Tod. Nach all der Zeit können sie doch unmöglich noch verwendbar für einen Zauber sein.»

«Yasmins Tierwesensammlung übertrifft die von uns allen bei weitem», entgegnete Raven. Ein leichtes Beben lief durch ihren Kiefer. «Ich bin sicher, sie ist im Besitz eines Visavems. Sie sind in der Lage, ein Pulver zu produzieren, das die Essenz eines jeden Gegenstands konserviert. So kann sie auf den richtigen Augenblick warten und währenddessen die restlichen Zutaten zusammentragen.»

«Verflucht.» Calem rutschte tiefer auf seinen Stuhl.

«Und wir wissen, dass sie bereits Nocs Blut hat», sagte Oz und fuhr sich mit einer Hand über den Kopf.

Noc unterdrückte kaum sein Knurren. «Deswegen hat sie uns auf diese seltsame Tierwesenjagd geschickt.» Er stieß lang den Atem aus und schüttelte den Kopf. «Blut allein macht mich nicht zu einem Prinzen – ich musste von den Göttern als solcher anerkannt werden. Sie hat uns zu zwei Ruinen geschickt, damit ich die Kriterien für ihren Zauber erfülle.»

Calem fluchte erneut, und Oz ballte fest die Fäuste auf dem Tisch.

«Also bleibt die dritte Zutat», sagte Kost.

«Und ein Datum.» Gaiges leise Erklärung ließ uns alle verstummen.

Die Kehle schnürte sich mir zu, während ich nach Worten suchte. Wir brauchten Zeit. So viel Zeit. Zeit, die Tiermagier davon zu überzeugen zu kämpfen. Zeit, Yazmins Aufzeichnungen zu entschlüsseln, damit wir sie aufhalten konnten. Zeit, um herauszufinden, ob ihre Behauptungen wahr waren.

Die königliche Familie von Wilheim und ihre Schildwächter nehmen Tiermagier auf der Jagd gefangen und kerkern sie ein.

Noc und seine Familie sind verantwortlich für den Tod deiner Eltern.

Yazmins Worte ratterten durch meinen Kopf. Die Erinnerung erschütterte mich jedes Mal aufs Neue. Ich hatte Noc immer noch nicht mit ihren Vorwürfen konfrontiert. Er hätte etwas so Schreckliches nicht zugelassen. Aber er war nur ein Prinz gewesen, als er starb. Wie viel Macht hatte er besessen? Wie viel hatte er gewusst? Ich sah ihn an. Mit deutlicher Sorge in den Augen erwiderte er meinen Blick und griff nach meiner Hand.

Er verschränkte die Finger mit meinen und wandte sich wieder an Gaige. «Wie viel Zeit haben wir?»

«Der Zauber, um Ocnolog zu erwecken, wirkt nur am Jahrestag von Celestes Tod.»

Ich verengte meine Augen zu Schlitzen. Wir hatten also nur noch ein paar Wochen. Panik erfasste meine Eingeweide, aber ich verdrängte sie, zählte bis drei und öffnete die Augen. «Gaige. Kost. Verdoppelt eure Anstrengungen, ihre Aufzeichnungen zu entschlüsseln. Wir müssen wissen, ob wir sie aufhalten können.»

«Und wenn nicht?», fragte Oz.

Ich umklammerte fest Nocs Hand, wollte so viel Kraft aus unserer Verbindung ziehen wie nur möglich. Das hier war der Plan, der für mein Volk am schwersten zu akzeptieren sein würde. «Dann ziehen wir in den Krieg, denn es wird eine Armee brauchen, den König der Tierwesen zu besiegen.»

Niemand rührte sich. Nach einem Herzschlag Stille, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, ergriff Kaori das Wort. «Wie willst du die Tiermagier davon überzeugen?»

«Ich bin mir nicht sicher. Aber ich muss es versuchen. Vielleicht …» Ich neigte den Kopf, dabei hielt ich Nocs Blick fest. «Wenn sie sehen, dass Cruor an unserer Seite ist, schließen sie sich möglicherweise unserer Sache an.»

Noc runzelte die Stirn und fuhr sich angespannt durchs Haar. «Wir dürfen König Varek nicht vergessen. Er will meinen Tod. Wir kämpfen mit dir gegen Yazmin, weil sie eine Bedrohung für uns alle ist. Aber die Tiermagier Vareks Zorn auszusetzen …»

«Wie ich schon sagte, ich kämpfe, wann immer ihr mich braucht», verkündete Raven.

Mit gesenktem Blick schüttelte Gaige den Kopf. «Solange ihr Teil des Rates seid, werden wir euch Hilfe leisten. Dennoch ist Yazmin die unmittelbarere Bedrohung. Wir wissen nicht, wie lange Varek für seinen ersten Zug braucht, aber wir wissen, wann Yazmin zuschlagen wird. Kümmern wir uns zuerst um sie.»

«Einverstanden», sagte Kost. «In der Zwischenzeit sollten wir alle Assassinen von Cruor hierherholen.»

«Was?» Calem richtete sich in seinem Stuhl auf. «Warum?»

Kost nahm seine Brille ab und begann, sie zu polieren. «Weil es das Vernünftigste ist. Sowohl um Einheit zu demonstrieren als auch um die Unseren zu beschützen. Es ist zu aufwendig, beide Orte zu sichern. Wenn alle in Hireath sind, wird unsere Verteidigung effektiver, für den Fall, dass Yazmin zurückkehrt.»

«Aber Cruor ist unser Zuhause.» Ein Hauch von Angst zuckte durch Calems normalerweise amüsierten Blick, und der silberne Ring um seine Pupillen schien zu glühen. Er sah zwischen Noc und Kost hin und her, während seine Finger auf den Tisch trommelten. «Wir können es nicht aufgeben.»

Ein tiefer, vertrauter Schmerz durchzuckte meine Brust. Keiner meiner Assassinen sprach je über seine Vergangenheit, wo er herkam oder wie sein Leben gewesen war, bevor er starb. Aber ich erinnerte mich daran, wie Calem den Waisenkindern auf den Straßen von Ortega Mar geholfen hatte. Und ich erinnerte mich an die seltsame Mischung aus Schmerz und Dankbarkeit in seinen Augen, als ich ihm Effie geschenkt hatte.

Ich war mir nicht sicher, ob Calem je ein Zuhause gehabt hatte – vor Cruor. Und ich wusste genau, wie weh es tat, wenn es einem genommen wurde.

«Nur vorübergehend. Versprochen», sagte ich. Er nickte, aber seine Finger trommelten weiter aufs Holz.

Oz musterte seinen Bruder einen langen Moment, bevor er seine Aufmerksamkeit auf Noc richtete. «Und was ist mit Darrien? Sein sehnlichster Wunsch ist es, Cruor anzuführen. Wenn er herausfindet, dass unser Heim unbewacht ist, greift er an.»

«Ich werde es verschließen.» Nocs Stimme war leise. «Niemand rein, niemand raus.»

«Das kannst du?», fragte ich.

Er nickte mit harter Miene. «Ja. Das wurde erst wenige Male gemacht. Der Zauber ist anstrengend und nur dann sinnvoll, wenn Cruor belagert wird und sich alle sicher in seinem Innern befinden. Oder, wie in diesem Fall, wenn alle evakuiert wurden.»

«Auf diese Weise sind sowohl Cruor als auch unsere Brüder geschützt. Das ist die beste Vorgehensweise», stimmte Kost zu. «Wir brechen sofort auf.»

«Vielleicht sollte ich mich euch anschließen», meinte Gaige, während er seine Papiere ordnete und den Federkiel weglegte. «Ich möchte noch einmal einen Blick in eure Bibliothek werfen, um zu sehen, ob es irgendetwas gibt, das uns bei Yazmins Zauber helfen kann.»

«Gute Idee», sagte ich.

«Nimm, was immer du brauchst. Sobald ich Cruor abgeriegelt habe, dauert es eine Weile, bis ich es wieder öffnen kann.» Noc sah zuerst Calem an, dann Oz und Kost. «Wir werden zurückkehren.»

Calems Schultern sanken herab, aber er und Oz nickten wortlos.

Die Sicherheit unserer Leute war wichtiger als Cruor, aber ich würde ihre Sorge nicht abtun. Weder jetzt noch in Zukunft. «Cruor und Hireath werden zusammenstehen.»

Kaori nickte. «Zusammen.»

«Einverstanden.» Raven stand auf, die Schultern gestrafft. «Wollen wir?»

Alle Augen richteten sich auf mich. Wir hatten zwar keine konkreten Pläne – noch nicht. Aber wir hatten Hoffnung. Familie. Als ich die Blicke meiner neuen Ratsmitglieder erwiderte, wurde mir warm ums Herz. Uns stand ein harter Kampf bevor, doch ich hatte Vertrauen in meine Freunde, in die alten wie die neuen. Ich betrachtete Raven. Das harte Glitzern in ihren Augen stärkte meine Entschlossenheit. Gaige und Kost konnten mit ihrem raschen Verstand Strategien entwerfen, die ich nicht einmal ansatzweise in der Lage war zu verstehen. Calems und Oz’ Treue war unerschütterlich, Kaoris Autorität beruhigend. Ihre Gegenwart allein würde viele Tiermagier dazu bewegen, auf unsere Seite zu kommen.

Und Noc.

Er hatte einmal gesagt, wir wären die größte Schwäche des anderen. Aber wir waren auch unsere größte Stärke.

Ich drückte seine Hand und stand auf. «Lasst uns Geschichte schreiben.»

Er lächelte, aufrichtig und echt, und gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn. «Was auch immer du sagst, Krone des Rates.»

Kapitel 2Noc

Der Thronsaal hatte schon bessere Zeiten gesehen, aber Leena bestand darauf, dass die Zeremonie dort abgehalten wurde, damit alle Zeuge des Schadens werden konnten, den Yazmin angerichtet hatte. Und damit auch des Schadens, den ich angerichtet hatte. Ich kniff die Lippen zusammen, während ich vergeblich versuchte, die Ereignisse dieses Tages noch einmal Revue passieren zu lassen. Aber Yazmins Kontrolle war zu stark gewesen, und die Erinnerungen an das, was ich getan hatte, waren verschwommen. Die Folgen jedoch waren es nicht. Ein bitterer Geschmack lag mir auf der Zunge, als ich mich umsah. Helfer hatten ihr Bestes gegeben, den Saal zu säubern, aber da waren immer noch verkohlte Stellen, wo die Blitze des Vrees den Boden versengt hatten. Seine Krallen hatten tiefe Furchen hinterlassen. Säulen waren umgestürzt, und aus der Decke gebrochene Äste waren nur notdürftig zur Seite geräumt worden. Wenigstens war das Blut beseitigt worden.

Trotz alledem strahlte der Saal eine allumfassende Schönheit aus.

Die Mittagssonne spähte zwischen den kahlen Ästen über unseren Köpfen hindurch, und schneeweiße Vögel mit smaragdgrünem Brustgefieder zwitscherten leise von den Zweigen. Erfrorenes Laub war zu Boden gefallen und bedeckte ihn in einem Muster aus Umbrabraun und Gold. Die Tiermagier standen in ruhigen Reihen, ungefähr genauso wie an dem Tag, an dem Yazmin sie zusammengerufen hatte, um ihre Lügen über den Rat zu verbreiten. Sie starrten uns mit einem ähnlichen Gefühl von Besorgnis an. Noch nie zuvor hatten Nichttiermagier auf dem erhobenen Podium vor ihnen gestanden, das ihren Anführern vorbehalten war.

Gaige, Raven und Kaori hatten sich vor uns postiert, um die uns unbekannte Zeremonie zu leiten. In ihren silbernen Roben waren sie etwas Vertrautes, an dem sich ihr Volk nach Yazmins Angriff festhalten konnten.

«Es gibt keine Worte, die unseren Schmerz lindern können.» Gaiges tiefe Stimme tönte über die Menge hinweg und brachte das leise Murmeln zum Schweigen. «Genau genommen bewirken Reden in Zeiten großen Leids wenig, Taten jedoch geben uns einen Zweck. Taten ebnen den Weg zur Heilung.» Er verstummte kurz, um seine Worte wirken zu lassen. Halb erwartete ich einen sofortigen Aufschrei von den Tiermagiern. Ein Ablehnen der Notwendigkeit zu handeln, besonders wenn das bedeutete, in den Krieg zu ziehen. Aber der Saal blieb stumm. Still. Einstweilen war das ein Sieg.

«Und darum müssen wir weitermachen. Gemeinsam, unter einer neuen Krone, werden wir einen Weg finden, an dieser Tragödie zu wachsen, ja über sie hinauszuwachsen.» Mit einer ausladenden Geste lenkte er die Aufmerksamkeit aller auf die andere Seite des Saals, wo Leena stand. Es war, als verbeuge sich die Natur selbst anerkennend vor ihr. Ein Windhauch strich über die vom Frost geküssten Felder, deren Grashalme in der Sonne glitzerten, und trug den Dunst der tosenden Wasserfälle mit sich. Er hüllte Leenas Gestalt ein, bevor er sich über uns alle legte. «Ich präsentiere euch Leena Edenfrell, Krone des Rates der Tiermagier.»

Ihr Kinn war hocherhoben, ihr Lächeln blieb jedoch weich und warm. Der offene silberne Umhang brachte ihr cremefarbenes, bodenlanges Kleid zur Geltung, und mit jedem Schritt glitt die Schleppe hinter ihr her. Sie war mehr als atemberaubend – sie war königlich. Als sie vor Gaige stehen blieb, schweifte ihr Blick in meine Richtung und hielt meinen einen Moment lang fest. Ihre Entschlossenheit war greifbar, und beinahe wäre ich als Zeichen meiner Loyalität vor ihr auf die Knie gefallen.

Raven nahm ein violettes Samtkissen von einem der Thronstühle. In der Mitte des Kissens lag ein zierliches roségoldenes Diadem aus Hunderten verschlungenen Zweigen und unzähligen Blättern, übersät mit Diamanten. Es war nicht die Krone, die Yazmin mitgenommen hatte, und irgendwie machte sie das nur noch besonderer. Dieses Diadem signalisierte einen Neuanfang. Leenas Krone.

Leena kniete vor ihr nieder, und Raven räusperte sich. «Wirst du uns beschützen, vor Bedrohungen von nah und fern?»

«Ja», antwortete Leena, ohne zu zögern. Sogar mit zur Brust gesenktem Kinn und niedergeschlagenem Blick tönte ihre Stimme laut und klar.

«Wirst du uns führen in Zeiten des Zweifelns? Uns deine Weisheit zuteilwerden lassen und dich auf unseren Rat stützen, wenn du ihn brauchst?»

«Ja.»

Ravens Augen bohrten sich in sie. «Wirst du Celeste im Herzen bewahren und das Leben aller Tierwesen wertschätzen?»

Einen kurzen Moment lang hob Leena den Kopf, um an Raven vorbeizusehen. Ich folgte ihrem Blick zu der Statue von Celeste und Ocnolog, die in die Wand hinter den Thronstühlen gehauen war. Er schien an den uralten Symbolen hängenzubleiben, die daneben eingraviert waren, als lese Leena die Worte, die sie bereits auswendig kennen musste. Nach einem Moment schloss sie ehrfürchtig die Augen und senkte erneut das Kinn, bevor sie Raven antwortete.

«Immer.»

Nun übernahm Gaige, indem er behutsam das Diadem hoch in die Luft hob, bevor er es auf Leenas Haupt setzte. «Im Namen unserer Göttin nehmen wir dich als unsere Krone an. Du darfst dich nun an dein Volk wenden.»

Leena erhob sich und wandte sich zu ihrer Gemeinschaft um. «Es ist mir eine Ehre, jetzt vor euch zu stehen. Obwohl ich nicht um diese Rolle gebeten habe, werde ich euch dienen.» Sie faltete die Hände und atmete tief ein. «Wie Gaige schon sagte, es gibt keine Worte, um unseren Schmerz zu lindern. Wir können den Schaden, den Yazmin angerichtet hat, nicht ungeschehen machen. Sie hat uns tiefe Wunden zugefügt, so tief, wie wir es nie für möglich gehalten hätten. Aber ohne es zu wissen, hat sie auch etwas entfacht: Mut. Stärke. Unabhängigkeit. Ich weiß, wir wollten nie wieder einen Krieg erleben.» Sie trat vom Podium herunter und begann, den Gang entlangzuschreiten. «Aber wir können uns nicht verstecken. Wir dürfen nicht zulassen, dass Yazmin unser Zuhause bedroht. Wenn sie einen Krieg will, dann müssen wir uns ihr entgegenstellen.»

Stille erfüllte den Thronsaal, bis eine junge Frau das Wort ergriff. «Du klingst genau wie sie. Woher wissen wir, dass wir dir vertrauen können?»

Tiermagier schnappten nach Luft. Ein älterer Herr, wahrscheinlich der Vater der Frau, fasste sie fest am Arm und bat sie mit strengem Blick, ruhig zu sein.

Leena blieb auf halbem Weg den Gang entlang stehen. Mit gerunzelter Stirn sah sie die beiden an. «Habt ihr Angst vor mir?»

«Nein.» Sein Leugnen kam zu schnell. «Bitte, verzeiht meiner Tochter. Sie wollte Euch nicht beleidigen.»

Die Frau schürzte die Lippen, sagte aber nichts.

Leena umfasste das Bestiarium, das an einer Kette um ihren Hals baumelte. Ich sehnte mich danach, an ihre Seite zu treten, ihr Trost zu spenden angesichts der Unsicherheit. Aber ein anderer Teil von mir, der Prinz, der ich einmal gewesen war, erkannte, dass sie das Vertrauen ihres Volks ohne meine Hilfe gewinnen musste.

Sie warf einen kurzen Blick in meine Richtung, und ich nickte. Zu regieren war ihr vollkommen neu. Und obwohl es für mich wie eine ferne Erinnerung war, schien es in diesem Moment, als stünde mein Vater neben mir.

«Sieh deinen Untertanen in die Augen, wenn sie sprechen. Nimm ihre Sorgen ernst. Sei ihnen eine Stütze, wenn sie es brauchen.»

Seine Worte rasten durch meinen Verstand, und ich versuchte mit purer Willenskraft, sie Leena zu übermitteln. Natürlich vergeblich, trotzdem straffte sie den Rücken und richtete ihren Blick wieder auf die Frau. Und dann streckte sie sanft die Hand aus. Rosenholzfarbenes Licht blitzte auf, und das schwere Ächzen der sich öffnenden Tür des Refugiums wogte über uns hinweg. Erschrockenes Aufkeuchen wurde rasch vom tiefen Brüllen eines Katzenwesen übertönt. Onyx erschien neben ihr. Geschmeidige Muskeln spielten unter seinem glänzend schwarzen Fell. Mit einem Ausdruck reiner mütterlicher Liebe drehte Leena sich um und fuhr mit den Fingern durch seine gefiederte Mähne, bevor sie den Blick wieder zurückwandte.

«Darf ich?» Sie hielt der Frau ihre Hand hin.

Zögernd nickte sie.

Und dann, mit den Händen der Frau in ihren, kniete Leena nieder. «Bitte fürchte mich nicht. Hör meine Wahrheit – ich werde unser Zuhause beschützen. Unsere Tierwesen. Unser Volk. Und ich werde niemanden zwingen, sich mir anzuschließen.»

Die Aufrichtigkeit in Leenas Worten war unverkennbar, aber sie wusste, wie wichtig die Bestätigung durch ein Tierwesen für ihr Volk war. Onyx entfachte seine Macht, und obwohl wir die unsichtbaren Flammen, die Leena einhüllten, nicht sehen konnten, konnten wir ihre wohltuende, beruhigende Wärme spüren. Er blickte mit seiner Magie in ihre Gedanken und erachtete sie erneut für würdig. Hätte sie gelogen, würde Onyx ihren Geist zu Asche verbrennen. Aber sie blieb unbeschadet, Entschlossenheit leuchtete in ihren Augen, und wir alle wussten – sie würde niemanden verraten, so wie Yazmin es getan hatte. Weder jetzt noch in Zukunft.

Der Blick der Frau glänzte vor ungeweinten Tränen, und sie zog Leena auf die Füße. «Ich werde Euch folgen», sagte sie, und ihre Stimme war rau, aber voller Hoffnung. Als sie nun im Gegenzug vor Leena auf die Knie fiel, vor der Krone des Tiermagierrates, folgte der Rest des Saals ihrem Beispiel.

Blinzelnd presste Leena eine Hand auf ihre Brust. Sie drehte sich langsam im Kreis, und ihr Lächeln wuchs mit jedem Atemzug, während sie ihr Volk betrachtete. Ich warf einen Blick zu meinen Brüdern, und wir alle sanken auf die Knie, genau wie Gaige, Kaori und Raven.

Keine einzige Person im Thronsaal blieb stehen.

«Finde jemanden, der würdig ist, an deiner Seite zu stehen. Jemanden, der dich inspiriert, und noch wichtiger, der dein Volk inspiriert.»

Die Brust wurde mir eng. Mein Vater hatte sich so viel für mich gewünscht. So viel für unser Königreich. Er hätte Leena gemocht, daran hatte ich keinen Zweifel. Er hätte ihr natürliches Talent, Menschen anzuführen, gesehen, die Tiefe ihrer Güte, und ihr seinen Thron übergeben.

Das kann noch immer geschehen.

Der flüchtige Gedanke schlug mit aller Gewalt in meinem Bewusstsein ein. Nicht weil er völlig neu war. Während ich unter dem Einfluss von Cruors Eid gestanden hatte, in den Wahnsinn getrieben durch Yazmins Wünsche, hatten mich Visionen von einer tintenschwarzen Schlange heimgesucht. Zane. Als Viper Wilheims bekannt war er der Erbe des Throns gewesen, bevor aus ihm der erste untote Assassine geworden war. Seine Präsenz hatte mich dazu getrieben, zu den Ruinen zu reisen, meinen Titel zurückzufordern. Aber als der Eid sich erfüllt hatte, war er gemeinsam mit dem Nebel, unter dem Yazmins Macht mich gehalten hatte, verflogen.

Dieser Gedanke war nun also ganz allein meiner, auch wenn ich ihn mir nicht eingestehen wollte. Der Gedanke, den Thron zu besteigen, damit Leena regieren konnte.

Ich biss die Zähne zusammen und begrub diese Vorstellung tief in mir. Ich wollte nicht herrschen. Die einzige Krone, an der ich festhalten wollte, war Leenas. Und sie war hier in Hireath.

«Ich verspreche, stets offen und ehrlich zu euch zu sein», hallte Leenas feste Stimme durch den Saal und fesselte erneut meine Aufmerksamkeit. «Yazmin plant, Ocnolog wiederaufzuerwecken. Sie ist bereits im Besitz von zwei der drei nötigen Zutaten. Mein Ziel ist es, sie aufzuhalten, bevor das geschieht. Ich will keinen Krieg. Aber falls es ihr gelingt …» Sie brach ab und sah an uns vorbei, um die Statue hinter mir zu mustern. «Ocnolog ist unkontrollierbar, und wir wären gezwungen zu kämpfen.»

«Wie können wir ihr die Stirn bieten?», fragte dieselbe Frau wie eben.

«Raven wird unsere Streitkräfte organisieren.» Leena nickte ihrer Ratskollegin zu. «Es ist keine Frage von Stärke – wir haben unsere Tierwesen –, aber wir müssen lernen, uns besser zu verteidigen.»

Ravens Brauen schnellten zu ihrem Haaransatz hoch, aber sie weigerte sich nicht. «Ich kann sofort damit anfangen, jeden zu trainieren, der Interesse hat.»

«Ich auch», sagte Ozias mit einem Räuspern. Alle Augenpaare richteten sich auf ihn. Manche dankbar, manche unsicher, die meisten ängstlich. «Ich trainiere seit Jahrzehnten neue Rekruten für Cruor.»

«Danke, Oz.» Leena schenkte ihm ein warmes Lächeln, dann wandte sie sich wieder an ihr Volk. «Cruor wird sich uns in diesem Kampf anschließen. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten sind wir nicht allein.» Sie legte eine ruhige Hand auf Onyx’ Fell. «Mein Tierwesen vertraut ihnen und ich ebenfalls. Gemeinsam sind wir stärker. Gemeinsam werden wir euch beschützen.»

Ein gewaltiges Brüllen von Onyx unterstrich Leenas Versprechen, und aufgeschreckt flatterten die Vögel über uns von ihren Zweigen hoch. Eine Litanei von Rufen erklang aus ihren Schnäbeln. Nur ein einziger Vogel hatte sich nicht bewegt. Ich erstarrte. Es war ein spatzenähnliches Tierwesen. Seine stahlgrauen Federn und das violette Brustgefieder unterschieden es von der übrigen Schar. Es hatte den Kopf in Leenas Richtung geneigt und visierte sie mit drei schwarzen Augen an, über die sich ein gelber Film legte.

Die Zeit kam jäh zum Stillstand. Ich kannte dieses Tierwesen. Zum ersten Mal hatte ich eines seiner Art im Nächtlichen Narren gesehen, der Schwarzmarkttaverne in der Nähe von Cruor, wo ich mich mit Wynn getroffen hatte, um Leenas Kopfgeld zu besprechen. Er hatte dieses Geschöpf herbeigerufen und geschworen, jede unserer Bewegungen zu beobachten. Und er hatte sein Wort gehalten.

Bis ich eine Blutklinge herbeigerufen und seinem Spionieren ein Ende gemacht hatte.

Dünne, nahezu unsichtbare Schatten schwärten um meine Finger. Jemand beobachtete uns. Zweifellos war es Yazmin. Eine einzelne eisige Schattenranke nahm Gestalt an, um als kleine Nadel über meiner Hand zu schweben. Sollte ich das Leben dieses Tierwesens jetzt beenden, hier, vor all diesen Tiermagiern? Mein Assassinenverstand sagte mir, dass es das Richtige war. Wir konnten nicht zulassen, dass unser Feind uns ausspionierte. Und dennoch … Mein Blick huschte über das gebannte Publikum. Die Tiermagier hatten meine schlanke Waffe noch nicht bemerkt. Wenn sie unmittelbar nach Leenas Versprechen von Einheit sahen, wie ich ein Tierwesen tötete, würden wir alles, was sie gerade an Boden gewonnen hatte, wieder verlieren.

Meine Finger zuckten. Könnte ich das Wesen stattdessen einfangen? Die Klinge löste sich auf, nur um sich mit weiteren Schatten zu einem kleinen Netz zu verflechten.

«Noc?», fragte Kost flüsternd mit einem Blick auf die Schattenranken. Durch ihre geschärften Sinne hörten Calem und Ozias ihn ebenfalls. Sie vermieden auffällige Bewegungen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und drehten die Köpfe leicht in meine Richtung.

Sekunden verstrichen. Mein Blick flog zuerst zu Leenas lächelndem Gesicht, dann zu der Menge. Das Ausmaß an Vertrauen, das sie gewonnen hatte, war regelrecht greifbar, aber es war auch noch frisch. Wenn wir es jetzt beschädigten, wie sollte sie es wieder zurückzugewinnen?

Sosehr es mich auch schmerzte, ich ließ die Schatten sich auflösen und nickte knapp in Richtung des Tierwesens. «Spion.» Als habe der Vogel meine kaum wahrnehmbaren Worte gehört, fuhr sein Kopf zu mir herum. Und dann flog er in wildem Zickzackkurs davon, um dem Rest der Schar zu folgen.

«Yazmin?», fragte Calem. Der silberne Rand um seine rötlich braune Iris loderte auf. Er war schon besser darin geworden, seine innere Bestie zu kontrollieren, aber niemand konnte sagen, wann er das nächste Mal explodieren würde.

«Wahrscheinlich.» Mit schmalen Augen spähte ich durch die Zweige. Leena sprach weiter und brachte die Zeremonie zu einem Abschluss. Tiermagier erhoben sich aus ihrer knienden Haltung und strömten zum Ausgang. Dabei blieben einige vor ihr stehen, um sich zu verbeugen oder Worte der Hoffnung zu flüstern. Gaige und Raven traten zu ihr und mischten sich unter die Menge, um den Leuten Bestätigung zu geben.

Kaori schlenderte auf uns zu. Sie starrte Calem an, wahrscheinlich um diesen gefährlichen silbernen Ring um seine Augen zu mustern. «Ist irgendwas passiert?»

«Noc sagt, wir wurden beobachtet.» Ein Muskel zuckte an Calems Hals. Kaori streifte mit dem leichtesten Hauch einer Berührung seinen Arm, dann faltete sie die Hände. Langsam atmete er aus, rollte den Nacken von einer Seite zur anderen und ließ ein verlegenes Lächeln aufblitzen.

Kaori sah wieder zu mir. «Sag mir, was du gesehen hast.»

«Ein Vogelwesen. Das mit drei Augen und einem gelben Film darüber. Wynn hatte so eines.»

Ohne etwas zu sagen, drehte sie sich um und winkte Gaige, Raven und Leena herbei. Sie entschuldigten sich und kamen zu uns herüber. Bis die letzten Tiermagier den Saal verlassen hatten, warteten wir einige Minuten schweigend. Leena kam an meine Seite, mit leuchtenden Augen und rosigen Wangen. Sie strahlte regelrecht. Ich hasste es, sie so schnell wieder in die Realität zurückholen zu müssen. Aber das hier war Krieg. Das Glück war stets nur von kurzer Dauer.

«Noc hat einen Femsy entdeckt. Wir müssen vorsichtiger sein», sagte Kaori.

Leenas Lächeln versiegte. «Yazmin.»

Mit einem frustrierten Stöhnen rieb Gaige sich das Kinn. «Wir können Tierwesen nicht von Hireath fernhalten. Dieser Ort ist für sie ebenso eine Zuflucht wie für uns.»

«Wir werden eine Möglichkeit finden, im Geheimen zu planen, wenn wir von Cruor zurück sind.» Kost rückte seine Brille zurecht und verschränkte die Arme vor der Brust. «Wenn sie noch mehr Asse aus dem Ärmel zieht, sehen wir nicht nur einem Krieg entgegen. Sondern dem sicheren Tod.»

«Er hat recht.» Seufzend sah ich zu Leena hinab. Ich war gerade erst zurückgekommen. Meine Nächte fern von ihr zu verbringen, war hart gewesen. Nicht so schlimm wie die Nächte, in denen die Grenze zwischen Realität und Einbildung verschwommen war und die Geister jener, die mein Fluch getötet hatte, mich in meinen Träumen heimgesucht hatten. Aber dennoch unangenehm. Doch wir hatten keine Zeit zu verlieren. Wir mussten den Rest von Yazmins Zauber entschlüsseln, um ihn zu verhindern, und wir mussten Cruor hierherverlegen. Behutsam strich ich Leena eine verirrte Haarlocke hinters Ohr. «Sieht so aus, als würde dieses Willkommen, das du mir versprochen hast, noch warten müssen.»

«Ich komme mit euch.» Sie neigte den Kopf, um mir einen Kuss auf die Finger zu geben. «Ich kann Gaige und Kost bei der Suche nach Informationen helfen, während Oz und du die Assassinen auf den Umzug nach Hireath vorbereitet.»

«Und was ist mit mir? Ich bin nicht völlig nutzlos», schnaubte Calem entrüstet.

«Nur so gut wie», lachte Oz. «Du kannst unsere Taschen tragen.»

«Ich bin doch kein verdammter Packesel.»

Ein amüsiertes Lächeln umspielte meine Lippen. «Entweder das, oder du bleibst hier. Such es dir aus.»

«Das ist nicht dein Ernst.» Mordlust blitzte in seinen Augen auf. «Wenn du denkst, dass ich anderer Leute Habseligkeiten herumschleppe, dann hast du den Verstand verloren.»

«Ach wirklich?», fragte ich.

Er stieß leise Flüche zwischen den gebleckten Zähnen hervor und ballte die Fäuste.

«Das reicht.» Kaori versetzte ihm so schnell einen Klaps auf den Hinterkopf, dass ich es kaum sah. Calem zuckte zusammen und riss den Blick zu ihr herum. «Die ziehen dich nur auf.»

Er blinzelte verdutzt. «Das weiß ich doch.»

«Außerdem», sie verschränkte die Arme vor der Brust, «würde deine innere Bestie wirklich einen guten Packesel abgeben. Wenn du dich zur Abwechslung mal beherrschen könntest.»

Calem fiel die Kinnlade runter, Oz brach in polterndes Gelächter aus. Leena sog scharf den Atem ein und erstickte ihr eigenes Kichern hinter vorgehaltener Hand.

«Nun, da jeder weiß, was er zu tun hat …», murmelte Gaige, während er sich zu Leena umwandte. Abwesend strich er mit der Hand über sein zitringelbes Tiermagiersymbol. «Sind Reines Kräfte schon wiederhergestellt?»

Leena runzelte die Stirn. «Wir haben sie völlig erschöpft, als sie drei von uns von Silvis’ Ruinen nach Cruor tragen musste. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie sich wieder weiter als ein paar Schritte teleportieren kann. Warum?»

Er seufzte. «Ich dachte in Sachen Transport. Wir könnten ein paar deiner Tierwesen gebrauchen, um die Assassinen schneller zu befördern. Wir wissen nicht, wann Yazmin wieder zuschlagen wird.»

Nachdenklich rieb sie sich das Kinn. «Selbst wenn Reine vollständig wiederhergestellt wäre, könnte sie immer nur wenige Leute auf einmal tragen. Nach nicht einmal einem Viertel der Assassinen wäre sie völlig verausgabt.»

Meine Gedanken rasten, während ich die Gesichter meiner Brüder und Schwestern in Cruor vor mir sah. «Nicht alle von uns sind Kämpfer. Das Beste wäre es, wenn wir diejenigen sicher und schnell herbringen könnten, die über wenig Kampferfahrung verfügen. Der Rest kann den Kitskaforst zu Fuß durchqueren.»

«Wie sieht es mit einem fliegenden Tierwesen aus?», fragte Oz.

«Ich habe nur Onyx», antwortete Leena. Dann sah sie jeden ihrer Ratskollegen an. Sie alle schüttelten die Köpfe und verzogen die Gesichter. Leena hatte mir einmal gesagt, wie selten fliegende Tierwesen waren. Schwer aufzuspüren, schwer zu zähmen. Es gab einfach nicht so viele von ihnen. Zumindest nicht in Lendria, und nur wenige Tiermagier wagten sich je über unsere Landesgrenzen hinaus.

«Die Alternative wäre ein Telesávra», sagte Raven langsam, als denke sie über jedes Wort nach. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. «Damit werdet ihr nicht alle transportieren können, aber es ist besser als nichts. Ich habe einen übrig, der sich noch nicht an mich gebunden hat, den kann Leena haben.»

«Raven …» Leenas Stimme brach ab.

«Es ist notwendig. Wir müssen unsere Kräfte vereinen.» Sie sah Leena nicht an, doch da war etwas hinter diesem harten, abwesenden Blick. Etwas, das über die Pflicht ihrer Krone gegenüber hinausging. «Wenn es sein muss, betrachte ihn als ein Zeichen der Dankbarkeit dafür, dass du mich mit dem Training der Tiermagier betraut hast.»

Oz schenkte ihr ein breites Grinsen. «Sag den Tiermagiern, sie sind herzlich willkommen, beim Drill unserer neuen Rekruten mitzumachen, wenn wir zurückkommen. Deine Nahkampfkunst ist toll, aber meine ist besser.»

Ihr Gesicht verfinsterte sich. «Träum weiter. Aber es könnte tatsächlich hilfreich sein, wenn die Tiermagier sehen, wie ich dich in die Tasche stecke.»

Ich zog die Augenbrauen hoch, doch Ozias lachte leise. Er und Raven hatten Zeit zusammen verbracht, während Leena sich von Yazmins Angriff erholt hatte, aber das Ausmaß ihrer Freundschaft war immer noch eine Überraschung für mich. Ozias konnte außerhalb des Trainings nicht mal richtig mit einigen unserer Brüder und Schwestern reden, geschweige denn mit ihnen scherzen. Zu sehen, wie er mit Raven so schnell eine Verbindung aufbaute, erinnerte mich daran, wie er Leena kennengelernt hatte. Er war für sie da gewesen, als sie allein gewesen war. Und in gewisser Weise galt das nun auch für Raven.

«Was immer du sagst», meinte Ozias.

«Das ist die richtige Einstellung», erwiderte sie. Dann streckte sie ihre Hand aus und hüllte die Luft in ein schwaches rötliches Glühen. «Ich bin gleich mit dem Telesávra wieder zurück.»

«Danke, Raven», sagte Leena.

«Keine Ursache.» Und damit verschwand sie ins Refugium.

«Freut mich zu sehen, dass es ihr allmählich besser geht», sinnierte Gaige. Dann machte er Anstalten, den Thronsaal durch einen der Korridore zu verlassen, und rief über seine Schulter: «Ich bin auch gleich wieder bei euch. Ich muss nur ein paar Dinge holen.»

Kaori bedachte Leena mit einem vielsagenden Blick. «Bitte pass auf dich auf. Ich werde mich um alle Fragen kümmern, die sich ergeben, während du fort bist.» Sie senkte den Kopf zu einer leichten Verbeugung, dann folgte sie Gaige.

Calems Blick blieb einen Bruchteil zu lange an ihr hängen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder zurück auf uns richtete. «Ist mir egal, was sie sagt, ich werde trotzdem keine Taschen tragen.»

Ozias Lachen übertönte den Klang von Kosts übertriebenem Seufzen. Ich schmunzelte, als Leena näher zu Calem trat und betont seinen Rücken musterte, wie um abzuschätzen, wie viele Taschen er wohl tragen konnte. Ihr fröhliches Scherzen und sein spielerisches Meckern erfüllten mich mit Wärme, aber als ich über ihre Köpfe hinweg zu Celestes Statue blickte, kroch mir ein Schauer über den Nacken.

Der Jahrestag ihres Todes war nicht mehr weit. Wir suchten schon seit einer Woche unermüdlich nach einer Möglichkeit, diese Katastrophe abzuwenden. Und immer noch hatten wir nichts vorzuweisen. Yazmin hatte bereits die Oberhand, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zuschlagen würde.

Kapitel 3Yazmin

Es gab nur einen einzigen Ort in Wilheims Schloss, an dem ich Gefallen fand: die Königinnenkammer.

Anfangs hatte man mir nicht erlaubt, diesen verborgenen Rückzugsort zu betreten. Jedes Mal wenn ich es versuchte, schickten mich die am Eingang postierten Schildwächter wieder fort. Ihre eiserne Zurückweisung bestätigte nur, was ich vermutete: Irgendetwas verbarg sich dort. Und nachdem ich tagelang erfolglos nach irgendwelchen Hinweisen auf die vermissten Tiermagier gesucht hatte – von denen mein Volk törichterweise annahm, sie wären tot –, wusste ich, dass ich einen Blick in die Kammer werfen musste.

Selbst wenn das bedeutete, König Varek ein Tierwesen zu übergeben, um Einlass gewährt zu bekommen. Bezüglich seiner Macht hatte ich womöglich ein wenig übertrieben, schließlich war es ein Tierwesen von niedrigem Rang mit unbedeutenden Fähigkeiten. Natürlich tat er mir den Gefallen, wenn auch mit der Einschränkung, zu jeder Zeit unter Beobachtung zu stehen. Das erschwerte meine Mission, aber natürlich konnte ich nichts anderes als Dankbarkeit für sein großmütiges Arrangement zeigen.

Hier stand ich nun also, umgeben von vier Schildwächtern, die reglos wie Statuen an den Wänden postiert waren. Vor mir befand sich ein einzelner Baum mit weißer Rinde und blassrosa Blättern. Umringt von Säulen aus demselben Elfenbein, aus dem das Schloss bestand, strömte Sonnenlicht durch eine runde Öffnung in der Decke auf ihn herab. Moos wuchs bis an den Rand der kühlen Fliesen, auf denen ich stand. Die Magie, die von ihm ausging, war stark. Das spürte ich bis tief in mein Innerstes. Als Prinzessin Mavis während des Ersten Krieges gestorben war, hatte ihre Mutter diesen Baum gepflanzt. Das Königinnenherz. Überall in der ganzen Stadt waren daraufhin weitere erblüht, aber dieser hier war der erste gewesen. Der Ursprung. Hier hatte Mavis’ Mutter um ihre Tochter getrauert.

Und sie hatte diese Kammer nie verlassen. Ihr Herzblut, ihre Knochen, ihr Leib, hatten diesem Baum Nahrung gegeben. Es war das Einzige, was ich schützen wollte, wenn ich Ocnologs Feuer über diese elende Stadt brachte. Ich wusste nicht genau, warum, aber irgendetwas an diesem Ort rief mich immer wieder zu sich zurück. Ein tiefes, nagendes Gefühl in meinen Eingeweiden, das ich nicht ignorieren konnte. Ich suchte nach den Tiermagiern, von denen Wynn behauptet hatte, sie würden in der Hauptstadt gefangen gehalten. Jede Stunde – jede Minute –, die ich nicht mit den Vorbereitungen für Ocnolog oder den Plänen gegen Leena verbrachte, war ihnen gewidmet. Und dennoch, nichts. Wenn ich nach stundenlanger Detektivarbeit erschöpft und mit leeren Händen dastand, trugen mich meine Füße stets hierher. Jedes Mal. Hier konnte ich atmen. Denken. Ausruhen.

Aber Ruhe war etwas für die Toten. Ich hatte Arbeit zu erledigen.

Mit einem Finger zeichnete ich das Tiermagiersymbol auf meinem Handrücken nach und fand den Zweig meines Femsy-Weibchens. Verstohlen warf ich einen Blick zu den Schildwächtern. Sie merkten nicht, dass ich gleich eine Verbindung zu meinem Tierwesen herstellen würde, aber ich ermahnte mich dennoch, mich zu beeilen. Die Welt begann, sich um mich zu drehen, ich zapfte die Sicht meiner Femsy an, und ein Meer aus spitzen Baumwipfeln und verschlungenen violetten Kletterranken tauchte vor mir auf. Der Kitskaforst war von oben betrachtet genauso unheilvoll wie von innen. Meine Femsy flog dicht über den Ästen, um Leenas Bewegungen seit ihrer Krönung zu verfolgen. Obwohl ich die Sicht meines Tierwesens nur dreimal anzapfen konnte, bevor ich es wieder zurück ins Refugium schicken musste, um sich zu erholen, kostete mich seine bloße Anwesenheit in unserer Welt kaum etwas von meiner Macht. Meine Feinde im Auge zu behalten, war notwendig, und selbst wenn sie die Femsy entdeckten und ausschalteten … Ein Tierwesen war verzichtbar.

Wenn dieser Feigling doch nur zugeschlagen hätte. Ich unterdrückte ein Zischen, als ich an Nocs Schatten dachte. Er hätte das Leben meiner Femsy dort im Thronsaal beenden können. Fast wünschte ich mir, er hätte es getan. Und wenn auch nur, um meinem Volk zu beweisen, wie gefährlich er war.

Ich verdrängte den Gedanken und beobachtete, wie sie durch den Wald wanderten. Ich hatte fast zwei Tage gewartet, erneut nachzusehen, um die Macht meiner Femsy nicht zu verschwenden. Celeste sei gepriesen, sie hatten Hireath verlassen und befanden sich wahrscheinlich auf dem Weg nach Cruor. Sie waren nicht im Besitz eines fliegenden Tierwesens, und ihre Kreaturen waren vom Kampf gegen den Vrees wahrscheinlich noch geschwächt. Jetzt war die beste Zeit zuzuschlagen.

Ich brach die visuelle Verbindung zwischen mir und meinem Tierwesen ab, schob die Hand in die Falten meines Kleides und konzentrierte mich auf die Tür des Refugiums. Dunkelrotes Licht sickerte durch den Stoff, aber es war schwach genug, die Aufmerksamkeit der Schildwächter nicht auf sich zu lenken. Mit Sicherheit würden sie mir nicht glauben, dass ich lediglich meine Femsy nach Hause schickte. Man würde mir unterstellen, eine Kreatur rufen zu wollen, um sie anzugreifen. Denn ich hatte zwar Vareks Aufmerksamkeit errungen, aber gewiss nicht sein Vertrauen. So war es besser, einstweilen auf Nummer sicher zu gehen.

Ich drehte mich auf dem Absatz um und stolzierte aus dem verborgenen Heiligtum hinaus und zurück in den Hauptteil des Schlosses. Die Schildwächter folgten mir ein Stück, um sicherzugehen, dass ich mich an die erlaubten Flure und Korridore hielt, bevor sie schließlich abzogen und auf ihre Posten zurückkehrten. Varek war damit beschäftigt, die Verteidigung Wilheims zu überwachen. Er hatte darauf bestanden, sie zu verstärken, für den Fall, dass die Tiermagier oder Noc ihm einen Besuch abstatteten. Es war unnötig, aber da ich etwas zu erledigen hatte, kam es mir gelegen, dass er abgelenkt war.

Meine Absätze klapperten auf den glänzenden Fliesen des großen Saals. Da erspähte ich genau den Mann, den ich brauchte. Er saß mit seinen Brüdern an einem Tisch und tat sich an gebratenem Fleisch und frischem Obst gütlich. Als er einen kräftigen Schluck von seinem juwelenbesetzten Kelch nahm, trafen mich seine bernsteinfarbenen Augen, und seine Miene verhärtete sich. Varek mochte unfähig sein, meine Nettigkeiten zu durchschauen, aber Darrien war weit weniger vertrauensselig. Er stellte seinen Kelch ab und spielte mit dem Messer neben seinem Teller.

Ich unterdrückte den Drang zu lachen. Hätte ich es auf sein Leben abgesehen, würde sein abgetrennter Kopf bereits draußen auf einem Spieß stecken. «Darrien, komm mit. Und deine Männer ebenfalls.» Ich machte mir nicht einmal die Mühe, stehen zu bleiben, sondern ging einfach weiter. Er würde mir folgen. Das taten die Leute immer.

Er zögerte nur einen Augenblick, bevor Holz über Fliesen scharrte. Ich spürte einen jähen kalten Hauch, hörte das Flüstern von Schatten. Er benutzte seine Macht, um mich einzuholen. Weitere Schatten jagten um uns herum über den Boden – der Rest seiner Assassinen hatte sich uns angeschlossen.

«Ich bin kein Soldat, den Ihr herumkommandieren könnt.»

«Bist du das nicht?» Einer seiner Brüder schnappte nach Luft, doch ich ignorierte ihn und nahm den nächstgelegenen Korridor.

Darriens Augenbraue zuckte, aber er hielt Schritt. «Was gibt es?»

«Ich habe einen Auftrag für dich.»

«Wie ich schon sagte, ich bin kein Soldat –»

«Ich weiß, wohin Noc unterwegs ist, und ich kann dich zu ihm schicken. Jetzt gleich.»

Er geriet neben mir ins Stolpern, und alle Spuren von Abscheu waren von seinem Gesicht verschwunden. «Fahrt fort.»

Wir bogen um eine Ecke und erreichten zwei Flügeltüren. Ich stieß sie auf. Meine Gemächer waren nicht annähernd so ansprechend, wie ich es aus Hireath gewohnt war, aber das war unwichtig. Ich ging zum Sitzbereich und ließ mich auf ein gepolstertes himmelblaues Sofa neben dem Kamin sinken. Wärme strömte von dem knisternden Feuer aus. Darrien nahm auf dem Sessel mir gegenüber Platz und lehnte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Mit einem schlichten Nicken befahl er seinen Männern, sich im Hintergrund zu halten. Wenigstens waren sie loyal, anders als meine eigenen Leute.

«Noc und seine fröhliche Schurkenbande sind just in diesem Moment unterwegs nach Cruor.»

Darrien bewegte sich nicht. «Woher wisst Ihr das?»

Ich verzog das Gesicht. «Ich habe ein Tierwesen als Spion auf sie angesetzt, seit ich Hireath verlassen habe.»

«Selbst wenn, es wäre reiner Irrsinn, ihn anzugreifen, während er in Cruor ist.»

Meine Finger zuckten. «Du denkst zu klein.»

Seine Lippen verzogen sich zu einer unattraktiven Grimasse. «Ich habe es nicht nötig, hier zu sitzen und mir Euren Mist anzuhören.»

«Wenn du aufhörst, voreilige Schlüsse zu ziehen, werde ich aufhören, auf das Offensichtliche hinzuweisen.» Ich schlug die Beine übereinander. Er schluckte schwer, machte aber nicht noch einmal den Mund auf. Den Göttern sei Dank. «Im Moment reisen sie durch den Kitskaforst. Ich will sie dort angreifen. Du und deine Männer seid geschickt mit Pfeil und Bogen, nehme ich an? Ihr könnt von den Baumwipfeln aus zuschlagen und wieder verschwinden, bevor sie es überhaupt merken. So werden sie voneinander getrennt, und ihr könnt sie aus dem Hinterhalt angreifen. Ausreichend Männer haben wir.»

Ein boshaftes Lächeln umspielte seine Lippen. «Das klingt machbar. Wir könnten sie einen nach dem anderen ausschalten. Götter, wenn ich mir Nocs Gesicht vorstelle, wenn er sieht, wie seine Familie erledigt wird …» Sein Blick schweifte ins Leere, und er streichelte sich das Kinn. Sein Lächeln wurde immer breiter. Nach einigen Momenten ließ er die Hand sinken und durchbohrte mich mit einem fragenden Blick. Der Eifer in seinen Augen geriet ins Wanken. «Aber warum jetzt? Hier kommen sie nicht an uns heran. Und da Varek seine Streitmächte ausbaut und Ihr kurz davor seid, Ocnolog wiederaufzuerwecken … Ist es da überhaupt noch nötig?»

Hitze brodelte durch meine Adern. Natürlich hatte ich an all das gedacht. Ich wusste, dass es taktisch gesehen keinen Grund gab anzugreifen, selbst wenn sie schwach waren. Cruor und Hireath allein waren nicht stark genug, um es mit der Hauptstadt Wilheim aufzunehmen, geschweige denn mit Ocnolog. Aber die Tiermagier …

Ich ballte die Faust. Warum hatten sie auf sie gehört und nicht auf mich? Warum vertrauten sie ihr? Ich wurde das Bild vor meinem inneren Auge nicht mehr los, wie sie im Thronsaal vor ihr gekniet hatten, selbst nachdem sie eröffnet hatte, in den Krieg ziehen zu wollen. Dabei hatte ich sie genau darum gebeten! Der Anblick verfolgte mich, während ich daran arbeitete, König Vareks Geheimnisse über die gefangenen Tiermagier zu lüften. Ich wollte Leena verletzen, wie mein Volk mich verletzt hatte. Ich wollte ihr die Familie entreißen, ihr die Verbündeten rauben, damit sie genauso allein war wie ich. Dann würden sie begreifen, dass ich die Einzige war, die unser Volk führen konnte. Ich würde siegen.

Ich werde es ihnen zeigen. Ich werde es allen zeigen.

«Wenn wir Leenas Verbündete aus dem Spiel nehmen, bricht sie zusammen. Und einer schwachen Anführerin werden die Tiermagier nicht folgen. Sie werden sich ergeben. Sie wollen keinen Krieg. Was Noc betrifft, nun, wenn du Cruor nicht zurückerobern willst, dann soll es eben so sein.»

Darrien starrte mich finster an. «Das habe ich nicht gesagt.»

«Freut mich, dass wir einer Meinung sind. Wir müssen sofort aufbrechen, wenn du dich in eine gute Position bringen willst, bevor sie Cruor erreichen.» Mit einer Drehung aus dem Handgelenk rief ich meine Macht in das Symbol auf meinem Handrücken. Die Tür des Refugiums schwang auf, und mein Telesávra erschien. Er riss sein Maul auf, um ein funkelndes weißes Portal zu erzeugen. «Bei meiner Flucht habe ich den Heimatpunkt meines Tierwesens auf den Nächtlichen Narren geändert. Nah genug an Hireath und Cruor, aber nicht nah genug, um irgendeiner Wachpatrouille aufzufallen.»

Darrien musterte mein Tierwesen. «Wie leicht ist es, Heimatpunkte zu ändern?»

«Das ist nicht besonders schwierig», antwortete ich, während ich meine Kreatur betrachtete. «Aber sowohl ich als auch mein Telesávra müssen am gewünschten Ort anwesend sein, um den Teleportationspunkt festzulegen. Ich kann nicht einfach auf einen Punkt auf der Karte zeigen. Deshalb habe ich die Gelegenheit beim Nächtlichen Narren genutzt, bevor ich hierherkam.»

«Und meine Brüder? Wie viele von uns können mitkommen?» Er deutete auf die Assassinen, die schweigend im Raum warteten. Ein paar waren vorsichtig etwas näher gekommen und zeigten offensichtliches Interesse an unserer Mission.

Ich stand auf und streckte die Arme aus. «So viele, wie wir unterbringen können, ohne den Kontakt abbrechen zu lassen. Sie müssen mich berühren, um das Portal zu benutzen.»

Darrien zögerte nicht, sondern legte die Finger um meine und trat einen Schritt näher zu meinem Tierwesen. Er gab einer Handvoll Assassinen ein Zeichen, und sie strömten an unsere Seite, um meine Arme zu greifen, meinen Rücken, meine Taille. Ich hätte die ganze verdammte Truppe transportiert, wäre es möglich gewesen. Aber sollte einer von ihnen während der Reise versehentlich loslassen, würden wir ihn nie wiedersehen. Nicht dass mich das besonders kümmerte, aber um unseren Vorteil auszuspielen, brauchten wir jeden Einzelnen.

Vorfreude leuchtete in Darriens Augen. «Das dürfte spaßig werden.»

«Ja. Aber überlasst Leena mir.» Ich machte mir nicht die Mühe, meine Abscheu zu verbergen.