Die Eifel und die Milch der Unschuld - Angelika Koch - E-Book

Die Eifel und die Milch der Unschuld E-Book

Angelika Koch

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Dirk Dernhof liegt tot auf dem Rücken einer Bronzekuh. Der begehrte Junggeselle und Chef der Privatmolkerei „Eifel Sahnehäubchen“ war der Star der Kuppelshow „Pott sucht Deckel“. Bei seinen Ermittlungen erfährt Kommissar Werner Baltes, dass mit Dernhofs Milch nichts so unschuldig und rein ist, wie es sein sollte. Aber auch sein Liebesleben entpuppt sich als verhängnisvoll. Dann gibt es einen zweiten Toten. Die Tätersuche wird für den Gemütsmenschen Baltes zu einem echten Kulturschock.

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Angelika Koch

Die Eifel und die Milch der Unschuld

Kriminalroman

Zum Buch

Allererste Sahne Dirk Dernhof, junger und fescher Bauernfunktionär sowie Chef der Privatmolkerei „Eifel Sahnehäubchen“, liegt erschlagen auf dem Rücken einer Bronzekuh. Der begehrte Junggeselle war Star der Kuppelshow „Pott sucht Deckel“. Bei seinen Ermittlungen erfährt Kommissar Werner Baltes, dass mit Dernhofs Milch nichts so unschuldig und rein ist, wie es sein sollte. Aber auch sein Liebesleben entpuppt sich als verhängnisvolles Spiel mit wahren und mit vorgetäuschten Emotionen. Dann gibt es einen zweiten Toten. War auch das ein Mord? Hat derselbe Täter wieder zugeschlagen? Ist noch jemand in Gefahr? Die Ermittlungen werden für den Gemütsmenschen Baltes zur Nervenprobe. Bei charmanten Escortdamen, Schamanen mit Totemtier, kreativen Filmschaffenden und kühl kalkulierenden Großhändlern mit Sitz in Dubai muss der Kommissar stets den Durchblick behalten. Noch nie hat Baltes sein Team so sehr gebraucht – und noch nie so sehr die Klugheit seiner Frau.

Angelika Koch studierte Soziologie, Linguistik und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Seit über dreißig Jahren ist die Eifel ihre Wahlheimat. Hier arbeitet sie als Journalistin für Zeitungen und Zeitschriften, ferner veröffentlichte sie Reiseführer über Eifel und Moselland. Im Gmeiner-Verlag erschien zuletzt ihr Krimi „Die Eifel und die blinde Wut“.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © goldbany / AdobeStock

ISBN 978-3-8392-7374-6

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Das allergrößte Pech für die Kuh Elsa war nicht, dass man sie nach einem Sketch benannt hatte, in dem eine Kuh zu Tode kam. Das allergrößte Pech war nicht einmal, dass irgendwelche Gassigeher permanent ihre Hunde auf die Wiese kacken ließen, sodass die Häufchen in die gepressten Rundballen mit Heu gerieten und Elsa sich infizierte. Ihr allergrößtes Pech war, dass sie nicht reden konnte. Denn hätte sie es gekonnt, hätte sie erzählen können, was sie gesehen hatte in jener Nacht. Dann hätte man ihr sicher ein Gnadenbrot spendiert und sie wäre nicht kurz darauf nach der Fehlgeburt ihres jüngsten Kälbchens in der Tierkörperbeseitigungsanlage in Rivenich gelandet.

So wie die Dinge standen, war sie dazu verdammt, stoisch wiederkäuend und wortlos zuzuschauen, als sich ein Mensch damit abplagte, einen anderen zu meucheln. Elsa hörte das Keuchen und Schlagen und war – noch – froh, zu einer Spezies zu gehören, die derlei rabiaten Umgang befremdlich fand. Man munkelte in Kuhkreisen, dass es Artgenossen geben sollte, die sich bisweilen gegenseitig mit ihren extrem massigen Köpfen rammten. Diese Artgenossen hatten keine Milchdrüsen, dafür anderes Tiefhängende zwischen den Hinterbeinen. Aber keine ihrer Mitkühe hatte so etwas je gesehen. Sie selbst auch nicht.

Elsa hatte in diesen Stunden keine Ahnung davon, dass man sie bald abtransportieren würde. Und dass man bei dieser Gelegenheit auf eine Leiche stieß, was polizeiliche Ermittlungen zur Folge hatte. Ihr eigener Tod hingegen interessierte niemanden. In der Rinderdatenbank wurde er anhand ihrer Ohrmarken ordnungsgemäß registriert, das war alles. Nur eine Beamtin der Spurensicherung dachte noch ein paar Tage an sanfte Tieraugen, von dichten langen Wimpern umrahmt, die sie bei ihrer Arbeit beobachtet hatten. Dann versickerte auch diese Erinnerung an DE0731440913, genannt Elsa.

1 2022

Milch war für Kriminalhauptkommissar Werner Baltes etwas, das praktischerweise gut gekühlt in Tetrapaks vorhanden war. Natürlich wusste er um die Entstehung dieses Lebensmittels, er war nicht naiv. Aber dass ein Euter dermaßen … er suchte nach dem richtigen Wort. Dass es dermaßen gewaltig war, bestürzte ihn regelrecht. Er starrte es an. Diese Ausmaße, die erst an den Kniegelenken endeten. Wenn überhaupt. Diese dicken blauen Adern, die über spärlich behaarter Haut mäanderten. Diese länglichen Zitzen, die aussahen wie Fleisch gewordene Tischfußballgriffe. Diese braungrünlichen Sprenkel, die sich in diesem Moment mit einem weiteren Kuhfladen vermengten. Wohl nie zuvor hatte Baltes einen so unmittelbaren Kontakt zum Kreatürlichen gehabt. Und nicht nur er. Auch das Auto, in dem er gemeinsam mit seiner Ehefrau Vera saß und dessen Motorhaube in den vergangenen zehn Minuten mit wertvollem Naturdung garniert worden war. Wohin das Paar aus der Sicherheit eines gut gepflegten Wageninneren auch blickte: wedelnde Schwänze mit verklebten Quasten, knochige Beine mit braun-weißem Fell, prall mit warmer, fetter Milch gefüllte Ausbuchtungen und eine Schar munterer Fliegen, die all das begeistert umkreisten. Als es einen schweren, dumpfen Schlag aus Richtung Kofferraum tat und das Auto in eine heftig wippende Bewegung geriet, ahnte Baltes, dass eine der rustikalen Damen im Gedränge sein Gefährt mit einer Artgenossin verwechselte und dass ihre Hufe bei der Besteigung des Fließhecks Spuren im Lack hinterlassen würden.

»Wie kannst du so ruhig bleiben?«, fragte Baltes seine Gattin auf dem Beifahrersitz, die sich in ein Buch vertieft hatte und bemüht war, nicht aus dem Fenster zu schauen.

»Was sollte ich sonst tun?«, fragte sie geistesabwesend zurück. »Ich habe dir gesagt, halt an, als wir sahen, dass da vorn eine Herde Kühe über die Straße getrieben wird. Aber nein, du musstest weiterfahren …«

»Ich bin sehr langsam weitergefahren, nicht mal Schritttempo«, verteidigte er sich.

»Zum Glück, sonst hätte es ein Gemetzel gegeben. Und jetzt warten wir halt ab, bis die Tiere im Stall sind. Und so lange lese ich, wenn es recht ist.« Sie klang ziemlich spitz. Die Erholung des gemeinsamen Ausflugssonntages – sie waren durch die Felsenlandschaft im luxemburgischen Müllerthal spaziert – hatte in den letzten Momenten etwas gelitten.

»Woher willst du wissen, dass die Viecher in den Stall trotten?«

Sie klappte das Buch zu. »Es ist gleich achtzehn Uhr, Zeit zum Melken. Und entweder sind Kühe heutzutage ganzjährig aufgestallt oder aber den Sommer über in Weidehaltung. Dann müssen sie zweimal täglich rein, zum Melkstand«, erklärte sie mit demonstrativer Geduld, die auf ihr Gegenteil schließen ließ. »Oder glaubst du, da sitzt ein Bäuerlein mit Eimer und Melkschemel auf der Wiese?«

»Aha.« Er wusste, sie kannte sich aus. Sie kannte sich eigentlich immer aus, egal womit, und zumeist bewunderte er ihren schlauen Kopf. Manchmal nervte der aber auch. Es konnte arg anstrengend sein, mit einer Frau verheiratet zu sein, die entweder alles wusste oder in Sekundenbruchteilen alles googelte.

Das Auto tat einen kleinen Hüpfer, als die Stoßdämpfer plötzlich von der Zudringlichkeit des Paarhufers befreit wurden. Das Fleckvieh verfiel nun in eine Art Marschordnung und schob sich zielgerichtet am blechernen Hindernis vorbei. Endlich war die Sicht wieder frei. Es offenbarten sich eine Landstraße mit flach getretenen Fladen bis zu einer nahen Hofeinfahrt, niedrige weiß verputzte Gebäude mit Wellblechdach, eine Biogasanlage und eine etwas zerrupft aussehende Weide voller lehmiger Trampelpfade. Sie ging über in dichte Maisfelder und eine grasbewachsene Böschung mit schwarz-rot-golden lackierter Plastikkuh, die für faire Milch warb. Daneben prangte ein großes Plakat, das über die Existenz einer Milchtankstelle informierte.

»Sollen wir reinschauen?«, meinte Vera. »Ich möchte mal wissen, wie so was funktioniert. Und unser Kühlschrank ist sowieso bedenklich leer. Oder hast du Lust, morgen nach Feierabend einzukaufen?«

»Eher nicht«, brummte er. »Und hier kann ich gleich fragen wegen Schadensersatz. Die Kuh hat unser Auto demoliert.« In ihm flüsterte jedoch die leise Selbsterkenntnis, dass beim Eintauchen in eine Viehherde mit randvollen Eutern nicht das ungestüme Tier, sondern seine eigene Hektik das Problem gewesen war. Schon wieder. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, Gelassenheit zu pflegen und achtsam zu sein. Aber er musste sich nur ans Steuer setzen, um einen gesundheitsgefährdenden Hormoncocktail aus Testosteron, Cortisol und Adrenalin zu produzieren. Gefährdend nicht nur für ihn, sondern ebenso für andere Verkehrsteilnehmer. Ein niederländisches Urlauberpaar samt Hund hatte damit bereits Bekanntschaft gemacht – eine Episode, an die sich Baltes bisweilen mit schamgeröteten Ohren erinnerte. An seinen fahrerischen Wallungen hatten jedoch auch die ambulanten Psychotherapiesitzungen nichts geändert, die er auf Anraten seines Hausarztes noch immer alle zwei Wochen absolvierte und in denen er sich darum bemühte, das Selbstverständnis eines vernünftigen Mannes mittleren Alters mit gezügeltem Temperament zu vervollkommnen. Das war er auch. Fast immer.

Er steuerte den Wagen dem Fladenbelag und den letzten beiden schaukelnden Eutern folgend auf einen asphaltierten Hof, in dessen Mitte eine riesige Kastanie ihre Äste ausbreitete. Die Kühe waren im Dunkel eines halb offenen Stalltrakts verschwunden, aus dem monotones Maschinenbrummen und leises Muhen zu hören war. Offenbar wussten sie auch ohne richtungsweisende Hiebe eines Viehtreibers, wo sie ihre weiße Fracht loswerden konnten. Etwas klirrte, eine Frauenstimme erklang, dann tiefes Männergelächter.

Die Gebäude waren u-förmig angeordnet. An den Stall schlossen sich eine Scheune und ein überdachter Unterstand an, in dem ein sauber poliertes, grün lackiertes Monstrum von Traktor mit mehr als mannshohen Reifen geparkt war. Das anderthalbstöckige, hell verputzte Wohnhaus war modern und schlicht, die nichtssagende Architektur wäre genauso wenig in irgendeiner anderen Landschaft aufgefallen. Nebenan verrieten eine Schaukel und ein Sandkasten, vor dem knallbunte Spielzeuge und ein Buggy verstreut waren, dass hier kleine Kinder wohnten. Löwenzahn behauptete sich in den Ritzen eines verbundsteingepflasterten Gehwegs vom Hof zur Haustür. Der nicht allzu penibel gepflegte Rasen und ein Gewirr blühender Stauden, zwischen denen sich Giersch emporreckte, verbreiteten eine gemächliche Dorfstimmung und waren doch weit entfernt von den romantischen Arrangements, die Hochglanzmagazine als landidyllische Sehnsuchtsorte verkauften. Hier fochten die Menschen den Kampf gegen die Beikräuter allenfalls halbherzig aus und wussten, dass er letztlich zwecklos war.

Baltes merkte, wie er ruhig wurde. Er stellte sich vor, dass die Bewohner entspannte Zeitgenossen waren, die Fünfe gerade sein lassen konnten. So etwas mochte er. Vor allem seit diesem Burnout mochte er das, dessen Wiederauferstehung er stets befürchtete. Schließlich war sein Beruf nicht weniger fordernd geworden seitdem. Vielleicht, so dachte er bisweilen, hatte auch der Tod seiner kleinen Tochter Mona im Laufe der Jahre vergessen geglaubte Sollbruchstellen in ihm hinterlassen. Vergessen geglaubt, weil der Alltag alltäglich geworden und seine Ehe heil geblieben war. Es kam ihm entgegen, dass seine Vera als Sozialarbeiterin wusste, wie sie mit ihm umzugehen hatte, wenn er aus dem Takt geriet. Er stieg aus dem Auto, streckte sich und gähnte. »Wo ist denn hier diese Tankstelle?«

Sie zeigte auf eine Art Gartenhäuschen aus roh behauenen Eichenbalken, das alpinen Charme versprühte und an dem eine Schiefertafel hing, auf dem mit Kreide ein Herz und »Willkommen! Frisches für Sie, Faires für die Bauern!« gemalt war. Die Tür quietschte leise in den Angeln, als sie eintraten.

»Wow!«, entfuhr es dem Kommissar. »Das ist ja ein halber Supermarkt.« Er blickte auf eine Phalanx von verschiedenen, kaum hörbar summenden Automaten aus mattiertem Stahl und Glas. In beleuchteten Fächern warteten Bratwürstchen, Rohesser und marinierte Steaks in Vakuumfolie, Joghurt und Quark in Mehrweggläsern auf Zugriff. Es gab einen Tiefkühlautomaten für Eis in recycelbaren Bechern. Baltes hatte die Qual der Wahl zwischen Baileys, Fürst Pückler, Stracciatella oder Haselnuss-Nougat. In einem anderen Stahlkoloss lagerte kalte Rohmilch, aktueller Fettanteil vier Komma fünf Prozent für einen Euro pro Liter, wie ein aufgeklebter Computerausdruck informierte, und die Flaschen zum Abtransport spendierte der Automat ebenfalls für einen Euro. Alles funktionierte mit EC-Karte oder App. Vertrauenssache gegen Bares war hingegen der Kauf von Kartoffeln oder Eiern, die in Flechtkörben auf blau-weiß kariertem Tuch drapiert waren. Hausgemachte Nudeln aus ebenjenen Eiern waren in braunen Papiertüten pfundweise abgepackt. »Gib so viel, wie dir Gesundheit wert ist!« stand auf einem Flyer, der neben einer offenen Geldkassette ausgelegt war und versprach, dass die Eier von wirklich glücklichen Tieren in Biohaltung stammten. Nicht nur Hühner mit glänzendem braunem Federkleid pickten sich auf den Fotos durch sattgrüne Wiesen, sondern auch ihre männlichen Pendants mit knallroten Kämmen. Auf die Abbildung flauschig gelber Küken hatten die Gestalter des Flyers wohlweislich verzichtet, zu sehr war mit solchen Fotos der Gedanke ans Schreddern verbunden. Baltes fragte sich, ob die Bruderhähne bis ins Greisenalter krähen durften oder ob sie genau wie ihre Schwestern als Suppenzutat endeten. Darüber war nichts zu lesen.

»Was brauchen wir?«, fragte er und drehte sich zu Vera um.

»Wahrscheinlich alles«, sagte sie, zückte ihr Plastikgeld und betrachtete sinnierend die Inhalte der Kühlfächer. »Wenn ich nur schon wüsste, ob in der Marinade Knoblauch ist. Du magst ja kein Knoblauch.«

»Das tun viele nicht. Darum nehmen wir Bärlauch stattdessen«, sagte die Frauenstimme, die zuvor aus dem Stall zu hören gewesen war. In der Tür stand eine Mittdreißigerin mit grüner Latzhose, von Lehm und Kuhfladen verkrusteten Gummistiefeln und tigergemustertem Stirnband, das wirre dunkle Locken zurückhielt. »Kommen Sie klar mit den Automaten oder brauchen Sie Hilfe?«

Vera überlegte, ob sie schon so tüdelig wirkte, dass man ihr bargeldloses Zahlen nicht mehr so ohne Weiteres zutraute. Vielleicht sollte sie sich doch die Haare färben. Eine Dreizehnjährige aus einer der Problemfamilien, die sie betreute, hatte erst vor Kurzem frech provoziert, der graue Zopf sei nicht trendy, sondern sei nur die Kapitulation vor den Wechseljahren. »Doch, doch, ich bin noch voll orientiert, danke. Ich überlege nur, ob wir auch Milch …« Sie hielt inne. »Ich meine, ist die wirklich frisch?« Sie war skeptisch. Wenn alle Kunden so zufällig wie sie selbst vorbeikamen, konnte es Tage dauern, bis der Milchautomat leer war, viel Zeit für den Gang alles Irdischen und die Arbeit fleißiger Keime. Vor allem bei vier Komma fünf Prozent Fett.

Die Bäuerin lächelte sie unbefangen an. »Natürlich ist sie das. Nichts wird so gut kontrolliert wie Milch … und nichts so penibel gereinigt wie dieser Tank. Jeden Abend.«

Werner Baltes räusperte sich. »Vermutlich müssen Sie viel wegschütten, jeden Abend?«

»Wegschütten?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, unsere Rohmilch verkauft sich wie warme Semmeln. Ein Problem ist es nur, wenn man ausschließlich für Großhandel und Export produziert. Die Kollegen tun mir leid, die das machen, denen geht es richtig schlecht. Haben Sie die Bauernproteste im Fernsehen gesehen?«

»Sicher haben wir das gesehen«, entgegnete der Kommissar. Zwar hatte er immer nur halb wachen Geistes zugeschaut, weil er am Feierabend abzuschalten versuchte und sich lieber von Veras Rückenmassagekünsten verwöhnen ließ. Aber als sparsamer Mensch, der er war, hatte er die Bilder von Tankwagen voller Milch, die wie Gülle auf Felder vergossen wurde, in unangenehmer Erinnerung. So was tut man nicht mit Lebensmitteln, fand er. »Schrecklich. Ändert eine Milchtankstelle daran etwas?«

Die Bäuerin nickte. »Es ist erst mal nur ein Zubrot. Aber doch, mit der Zeit ändert es schon was. Nämlich bei den Verbrauchern. Sie beide stehen ja auch hier und reden mit mir und wollen was wissen. Darauf kommt es uns an. Außerdem sind wir nicht verrückt und lassen uns sang- und klanglos von der Mafia ausnehmen. Wir werden immer mehr, die sich wehren und eigene Wege gehen.« Sie stand da mit emporgerecktem Kinn, als müsse sie den heldenhaften Kampf gegen die Globalisierung mit dem Ehepaar Baltes ausfechten.

»Mafia?«, brummte er. »Ich bin Polizist … und finde, da sprechen Sie arg große Worte allzu gelassen aus.« Er war sicher, er hätte davon erfahren, wenn man in finsteren Teichen ertrunkene Milchbauern mit einbetonierten Füßen oder erschossene Milchbauern mit abgeschnittener Zunge gefunden hätte … das klassische Mafiarepertoire, bekannt aus Film, Funk und Fernsehen. Auch von Schutzgelderpressungen auf einsamen Aussiedlerhöfen hatte er nie gehört.

»Na ja, vielleicht nicht ganz. Aber die Wirkung ist dieselbe: Einige wenige verdienen sich dumm und dämlich, die meisten kuschen, arbeiten sich halb tot und verdienen dennoch nichts.«

Vera fand, dass ihre unbeschwerte Ausflugslaune nun genug gefährdet war und Ablenkung guttat. »Schön haben Sie es hier«, sagte sie und machte eine ausladende Handbewegung zum Hof hinaus. »Und Ihre Tiere dürfen frische Luft und Sonne tanken. Alles ist so, wie es sein sollte.« Sie steckte ihre EC-Karte in den Automatenschlitz, zog abgepackte Würstchen und Steaks aus dem Kühlfach und klemmte sie sich unter den Arm. »Milch haben wir noch zu Hause, fällt mir ein. Das nächste Mal holen wir sie hier, versprochen.« Sie hatte es eilig, ins Auto zu kommen, und zog ihren Gatten mit sich.

Zum Abendessen gab es frische Steaks, die zart auf der Zunge zergingen, mit krossen Bratkartoffeln und samtigem Flutwein von der Ahr. Baltes hatte zwölf Flaschen ersteigert, die aus einem der überschwemmten Weingutskeller gerettet worden waren. Die von Schlammspuren ramponierten Etiketten verrieten einen Spätburgunder des Jahrgangs 2018. Er hatte fest vor, sich im Urlaub, der bald anstand, in die Heerschar der Fluthelfer einzureihen.

*

Doch Baltes’ Urlaub vermasselte Dirk Dernhof. Vermutlich hätte er das gar nicht gewollt. Aber er war sicher nicht gefragt worden. Und er hätte wohl auch nicht viel sagen können. Im Falle von Dirk Dernhof war es eine letztgültige Schweigsamkeit, wie Werner Baltes sofort erkannte, als er sich am Montagmorgen einem Tatort näherte.

Dirk Dernhof hing mit blutig verkrusteter Stirn bäuchlings über dem Rücken eines lebensgroßen Bronzerindviehs wie ein von Indianerpfeilen getroffener Cowboy, der auf seinem Gaul durch die Main Street einer Präriestadt geschleppt wurde. Allerdings hatte die Skulptur keine Gemeinsamkeit mit einer müden Mähre und genauso wenig mit der braven Faire-Milch-Kuh, die der Kommissar wenige Tage zuvor gesehen hatte. Das Tier hier strotzte vor Kraft, ein auf Hochglanz polierter Bulle mit angriffsbereit gesenktem Kopf und mächtigen Hörnern. Sofort fiel ihm ein, wo er ein identisches Exemplar schon einmal gesehen hatte: vor der Frankfurter Börse. Der Bulle bot einen grotesken Kontrast zu einer mageren Rotbunten, die nebenan auf einem kleinen eingezäunten Stück Wiese stand und leise schnaufend über den Strom führenden Draht hinweg betrachtete, was da mehrere in weiße Schutzanzüge verpackte Zweibeiner trieben. Einige schwarze Fliegen wechselten zwischen ihrem Kopf und der Leiche hin und her. Die Kuh versuchte, sie mit wedelnden Ohren zu vertreiben. Die Leiche blieb reglos.

»Wissen wir schon, wer es ist?«, fragte Baltes eine Weißvermummte von der Spurensicherung und streifte sich Einmalhandschuhe über. »Und wann und wie er getötet wurde?«

»Ihm gehört das alles hier.« Sie zeigte auf eine Talmulde in der Entfernung. Ein schmaler asphaltierter Wirtschaftsweg, auf dem ein Jeep mit Viehanhänger geparkt war, führte dorthin und verlor sich in der Weite. Am Horizont ragten glänzende dunkelblaue Dachpfannen zwischen unzähligen Maispflanzen empor und verrieten die Existenz von offenbar frisch renovierten Gebäuden. »Dirk Dernhof. Der Dirk Dernhof.« Sie betonte es, als müsste der Kommissar sofort wissen, wer gemeint war. »Die Totenstarre ist ausgeprägt, also ist der Mord vor mindestens sechs Stunden geschehen. Schätzungsweise trat der Tod durch massive äußere Gewalteinwirkung auf den Kopf ein. Näheres wie üblich nach der Obduktion. Ein mögliches Tatwerkzeug gibt es bisher nicht. Sein Mitarbeiter hat ihn gefunden, heute Morgen, als er die hier« – sie deutete auf die magere Kuh – »zum Schlachter bringen wollte.«

Baltes schaute auf das Tier. Armes Ding, taugt höchstens noch für Suppenknochen, dachte er, und wandte sich wieder seiner Kollegin zu. »Hat jemand was gehört oder gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nach den ersten Aussagen niemand. Obwohl es mir merkwürdig vorkommt, denn auf dem Hof wimmelt es seit Tagen von Leuten. Ein Filmteam ist da.«

»Ein Filmteam? Wildschweine im Wandel der Jahreszeiten, oder was drehen die?« Baltes hatte gefühlt unzählige Male gesehen, wie muntere Frischlinge von entschlossenen Bachen mal durch den Teutoburger Wald, mal durch den Nationalpark Eifel oder durch die Berliner City geführt wurden. Wildschweine lagen im Trend.

Die Beamtin schaute ihn verblüfft an und grinste dann. »Ach, Sie sind kein Fan von Kuppelshows und Scripted Reality? Klingelt da was, ›Pott sucht Deckel‹? Dernhof war der Liebling aller Romantikerinnen zwischen achtzehn und achtzig. Wenn man dem Sender glauben darf.«

Der Kommissar runzelte die Stirn. »Das ist doch was für …« Er besann sich gerade noch rechtzeitig auf seine professionelle Neutralität.

»Für Idioten? Seien Sie nicht so borniert. Auch wenn Sie lieber Arte oder 3sat oder Phoenix schauen, hinter ›Pott sucht Deckel‹ stecken echte lyrische Talente. Die arbeiten immer mit Alliterationen. Oder würden Sie ohne Weiteres auf Schlagzeilen wie ›Fescher Fischzüchter zähmt zornige Zoochefin‹ kommen?«

»Und dieser Dings … dieser Dernhof? Wofür ist der vorgesehen?«

»Er ist der ›agile Ackerbauer‹, so wird er in den Medien angekündigt.«

»Sie meinen im Mosella-Courier?« Baltes überkam ein flaues Gefühl. Er erinnerte sich an eine Begegnung mit einem Journalisten dieses heimatlichen Blattes, die nicht unbedingt erfreulich verlaufen war.

Die Dame von der Spurensicherung lachte auf. »Wo denken Sie hin? Leute wie Dernhof werden richtig groß aufgebaut, B-Promis. Oder na ja, wenigstens C-Promis. Wenn der hier fertig gewesen wäre, dann wäre er garantiert in die Zweitverwertung gekommen und sie hätten sehen können, wie er im Dschungelcamp bei der Geburt von Kälbchen Tränen der Rührung vergießt.« Sie ging einige Schritte zur Seite und zog sich die Kapuze vom Kopf. »Ich denke, hier sind wir fertig. Die Gerichtsmedizin ist schon unterwegs.« Sie blickte zur Kuh, die über den Zaun noch immer auf den Toten starrte. »Und die hier muss jetzt auch weggeschafft werden … Schade. Sie wäre so eine gute Zeugin.« Sie ging auf das Tier zu und streckte ihm die Hand hin. Mit ihrer feucht glänzenden Schnauze sog die Kuh hörbar die Luft ein und stieß sie als warmen Schwall wieder aus. Sie fuhr sich mit einer dicken blaurosa Zunge über die Nasenlöcher, nickte energisch mit dem Kopf, als wollte sie der Spurensicherung »Gute Arbeit!« sagen. »Tschüss, meine Süße«, murmelte die Beamtin leise und schlenderte ganz langsam zum Polizeiwagen.

Baltes hatte beim Wort »Filmteam« schnell geschaltet und sofort im Präsidium angerufen, dass er erfahrene Unterstützung brauchte. Ohne Natalia Subotka und Lutz Didier, seine Mitstreiter im Team der Mordkommission, würde er kaum in der Lage sein, eine Horde Zeugen schnell genug zu erfassen und zu vernehmen. Als er sein Auto in die Talmulde rollen ließ, übermannte ihn die Erkenntnis, dass Bauer nicht gleich Bauer war. Dieser hier hatte offenbar einen anderen und überaus einträglicheren Weg gewählt als die bescheidenen Milchtankstellenbesitzer. Unter dem schicken blauen Glitzerdach breitete sich die Front eines zweistöckigen, blassbeige verputzten Hauses aus, mit schneeweißen Fensterstürzen und einem ebenso schneeweißen Säulenportal. Es hätte auch als Kulisse für Hollywood-Blockbuster wie »Vom Winde verweht« getaugt. Ein Streifen fein geharkten, ebenfalls blendend hellen Kieses trennte das Gebäude vom asphaltierten Hof, auf dem mehrere SUVs und Sprinter mit der Aufschrift »Jeckli Movies« geparkt waren. Abseits stand eine riesige Scheune in moderner Holzbauweise, deren Schiebetore aus edlem Cortenstahl verschlossen waren. Ein weiterer Wirtschaftsweg verlor sich zwischen den Gebäuden, und Baltes nahm an, dass alle Insignien aktiver und unromantischer Landwirtschaft woanders verborgen sein mussten.

Die Haustür öffnete sich. Eine höchstens zwanzigjährige Frau mit langen blonden Haaren, in hautengen Jeans zu übergroßer karottenroter Flanellbluse kam herausgelaufen. Vielmehr gab sie ihr Bestes, aber in den farblich zur Bluse passenden High Heels glich ihr Sprint eher dem verzweifelten Flugstartversuch eines Flamingos auf der Wasseroberfläche. Der Mann, der ihr auf weiß besohlten Sneakern hinterherlief, hatte keine Mühe, sie einzuholen und am Arm zu packen.

»Janine, ich bitt dich, es ist schlimm, ja, aber wennst austickst, ist’s für dich aus und vorbei, bevor es begonnen hat. Willst du das?« Seine Aussprache verriet, dass er aus dem tiefen Süden der Republik stammen musste. Er hielt die Blonde fest und brachte seinen dunkelgrau melierten, sorgfältig gestylten Hipsterbart ganz nah an ihr blasses Gesicht. »Sag, willst du das?«

Sie schüttelte schweigend den Kopf, befreite sich aus seinem Griff und zog sich die Bluse zurecht. »Laut Vertrag muss ich nur mit dem Dirk rummachen. Von einem anderen steht da nichts. Und ich will den anderen nicht. Der hier war schon schlimm genug.« Sie stand starr vor dem Mann wie ein trotziges Mädchen und wirkte noch jünger als zuvor. Vielleicht hatte sie gerade erst den Führerschein gemacht.

»Dernhof ist over and out. Der war schon vorher over, das weißt du. Der Idiot hat die Spielregeln nicht beachtet. Das hat er nun davon.« Er fasste sie erneut am Arm, aber ohne zuzugreifen. »Janine! Hör auf mit dem Rumzicken und komm rein.« Er erblickte den Kommissar, der sich den beiden genähert hatte. »Wenn’s das ist, wonach es ausschaut, müssen wir zwei jetzt sowieso ins Haus.«

Baltes zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn hoch. »Ich bin das, wonach ich ausschaue. Weitere Kollegen kommen auch gleich. Ihre Personalien sind schon aufgenommen? Nein? Dann fangen wir mal damit an. Bitte nach Ihnen …« Er deutete auf den Eingang. »Sie wissen im Moment noch besser als ich, wo es langgeht.«

Der Wohntrakt des Hofes entpuppte sich auch als luxuriöses Haus mit Zimmern, die vom zweistöckigen Treppenhaus und vom saalartigen Foyer abzweigten. Kameras, Stative, silbrige Koffer, Kabel, Mikrofone, all das lag und stand ohne für ihn erkennbare Ordnung durcheinander und im Weg. Er hatte sich mit Natalia Subotka und Lutz Didier darauf geeinigt, dass sie zunächst alle zwei Dutzend Anwesenden nach ihren persönlichen Daten, dem Verhältnis zum Toten und ihrem Aufenthaltsort in der vergangenen Nacht befragten. Die Subotka hatte sich dafür in die geräumige Wohnküche zurückgezogen, deren Ausstattung mit frei stehender Kochinsel aus mattiertem Edelstahl und drei verschiedenen Herden den Eindruck erweckte, als hätte Dirk Dernhof als edles Hobby Live-Cooking für Gäste gehabt, die sich ansonsten durch die Sternerestaurants der Welt futterten. Didier fertigte seine Fragerunde im Wohnzimmer ab, das kein gewöhnlicher Raum war, sondern eher eine Art Amphitheater mit zwei Treppenstufen, die hufeisenförmig zu einer Glasfront ausgerichtet waren. Der Übergang auf eine Terrasse mit makellosen hellgrauen Steinplatten und weiter in eine von Bambus begrenzte, fußballplatzgroße Rasenfläche verlief fließend. Wer sich auf den cremefarbenen Polstern der Sofas und Sessel niederließ und hinausschaute, konnte sich bereits wie im Freien wähnen. Ein Notebook lag zugeklappt auf einem marmornen Couchtisch, Didier überreichte es den Kollegen von der Spurensicherung.

Baltes fühlte sich fremd in dieser Umgebung. Sein Beamtensalär hätte niemals für eine solche Pracht gereicht. Er dachte an das, was er an der Milchtankstelle erfahren hatte. Sofort drängte sich ihm ein mögliches Mordmotiv auf. Jemand, der so offensichtlich ein Gewinner war, während andere auf der Verliererseite standen, rief automatisch Neid und Missgunst hervor. So jemand hatte Geldquellen, die sich vom Üblichen abhoben. Vordringlich waren also die geschäftlichen und finanziellen Verhältnisse Dernhofs zu prüfen. Es war ihm Anlass zur Hoffnung, dass die Ermittlungen nüchtern, routiniert und vor allem von klarer Beweislage gekrönt sein würden.

Der Kommissar hatte sich für seine Befragungen ein Schlafzimmer im Erdgeschoss ausgesucht. Auch hier hatte der Hausherr offenbar repräsentative Zwecke verfolgt. In der Mitte des Raumes, der wie das Wohnzimmer nebenan durch eine gläserne Front vom Rasen getrennt war, stand ein Kingsize-Bett mit Kopfteil aus schwarzem Leder, gegenüber an der Wand befestigt war ein gebogener, sicher anderthalb Meter breiter Bildschirm. Der Kleiderschrank erfüllte eine andere Wandbreite. Er hatte brombeerfarbig lackierte Schiebetüren, eine stand halb offen und gab den Blick frei auf Jacken, Hosen und Shirts, deren Unordnung zu allem in Widerspruch stand, was Baltes bisher von Dirk Dernhof gesehen hatte. Es wirkte, als hätte jemand wahllos Kleidung in den Schrank gestopft. Offenbar hatte sich der reiche Bauer eine geheime Seite bewahrt.

Eine mit weißem Satin bezogene Bettdecke zeltgroßen Ausmaßes lag auf dem Bett zerknüllt und wirkte wie ein Haufen Schnee, zwei Kissen steckten zusammengestaucht am Kopfende. Baltes fragte sich, ob das Opfer hier allein geschlafen hatte. Er sah sich um, nichts deutete auf die Anwesenheit einer Frau oder überhaupt eines weiteren Menschen hin. Und alles verriet, dass Dernhof dieses Zimmer in Eile verlassen hatte. Auf einem der beiden integrierten Nachttische stand ein Glas, fingerbreit gefüllt mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Der Kommissar roch daran … Whisky. Er zog die Schublade auf. Baltes hatte die übliche Junggesellenausstattung erwartet, Sexspielzeug, Handschellen und Kondome. Stattdessen fand er eine Schachtel Ohropax, ein Fieberthermometer, ein Handyladekabel und Tabletten gegen Sodbrennen. Alles merkwürdig bieder und geschlechtslos für den Star einer Kuppelshow. Er ging ums Bett herum und zog die Schublade des anderen Nachttisches auf: eine halb volle Packung Papiertaschentücher, Nasenspray mit Ablaufdatum schon vor Monaten, ein noch in Folie eingeschweißter Psychoratgeber für Menschen auf der Suche nach der eigenen Bestimmung, ein Tütchen Pfefferminzbonbons und ganz hinten ein Fetzen schwarzer Spitze. Baltes zog sich Einmalhandschuhe an und zupfte den Stoff vorsichtig hervor. Also doch. Der Tangaslip einer schlanken Frau, der erste Hinweis auf einen anderen Menschen, der mit dem Opfer vertraut gewesen sein mochte. Der Kommissar verstaute das Utensil in einer Plastiktüte. Die Spurensicherung würde das Zimmer umgehend nach Fingerabdrücken und DNA untersuchen müssen. Für Befragungen fiel es vorerst aus.

Der Kommissar saß im Schatten eines Sonnensegels auf der Terrasse und verspürte Durst. Aber er hatte sich davor gescheut, eigenmächtig im Kühlschrank nach Erfrischendem zu suchen, und den Hausherrn, der Gastfreundschaft hätte walten lassen können, gab es nicht mehr. Baltes’ Gegenüber hatte solche Skrupel offenbar nicht. Der Filmproduzent entspannte sich demonstrativ im Sessel aus Rattangeflecht, als ob Mord für ihn lediglich eine dramaturgische Herausforderung und nichts Reales wäre. Vor ihm auf dem gläsernen Loungetisch standen eine Mineralwasserflasche, an der das Kondenswasser abperlte, und ein noch leeres Glas mit Zitronenscheibe drin. Er strich sich versonnen über den Bart. »Sie fragen sicher, was wir hier tun, nicht wahr? Hm, das alles ist für Laien eine ziemlich komplizierte Sache.«

»Ich werde mir Mühe geben, Sie zu verstehen, Herr Jeckli«, entgegnete Baltes und verschränkte seine Hände vor der Brust.

»Tjaaaa … also, wie soll ich sagen, im Grunde machen wir Standortmarketing für die Eifel. Wir zeigen, wie gut’s sich auf dem Land leben lässt.«

»Mit einer Kuppelshow?« Der Kommissar wusste in derselben Sekunde, dass sein spitzer Ton wohl nicht geeignet war, um Zeugen oder Verdächtige gesprächig zu machen.

Doch der Medienschaffende lächelte milde darüber hinweg und goss prickelndes Wasser auf die Zitrone. »Wir bringen Menschen, die auf dem platten … oder in diesem Fall gebirgigen Land leben, mit Städtern zusammen, die genau das wollen. Ganz gleich ob Männlein oder Weiblein, queer oder bi, trans oder asexuell. Es geht um Träume.« Sein R rollte. »Wir verkaufen Träume, wissen S’. Raus aus der Stadt, raus aus Stress und Tempo und Konkurrenzdruck, zurück zu den Wurzeln und rein in die urige Behaglichkeit der Provinz.«

Baltes runzelte die Stirn. »Aha.« Er war überzeugt, den Burnout nicht wegen zu wenig Stress in der provinziellen Mordkommission erlitten zu haben. Sowieso hatten Morde für ihn nichts Behagliches an sich. Er hatte nie verstanden, warum sich ein Millionenpublikum für Krimis begeisterte, die mit dem Vorhandensein von möglichst schrägem Personal und lustigen Verwicklungen beworben wurden. Andere filmische Verbrecherjagden spielten in fast gänzlich entvölkerten, nur von dunklen Ruinen bestandenen Landschaften und waren überzuckert mit uralten Mythen der Gegend. Gern genommen wurde die einst gemeuchelte Sagengestalt, die nunmehr wiederauferstand und sich an jenem skrupellosen Immobilienhai rächte, der den stets nebelverhangenen Wald für eine superteure Wohnanlage opferte. Alles war in Sepiafarben verfilmt und mit auf- und abschwellendem Alphorndröhnen unterlegt. Nichts hatte das mit seinem Berufsalltag zu tun, aber auch gar nichts, und darum langweilte es ihn. Im Gegensatz dazu Vera, ihres Zeichens Gattin eines bodenständigen Kriminalhauptkommissars, sie fand es unterhaltsam und saß bei solchen Gelegenheiten wie gebannt vor dem Fernseher. »Schön, wenn man an solche Träume glaubt. Und das Mordopfer, Herr Dernhof, sollte sozusagen das rustikale Lockmittel sein?«

Jens Jeckli schlug die Beine übereinander und präsentierte seine leuchtend weißen Sneakersohlen, die offenbar noch keinerlei Kontakt mit den bodenständigen Seiten der Milchviehhaltung gehabt hatten. »Mehr als das, Dernhof hat uns überhaupt erst auf die Eifel aufmerksam gemacht und uns hergeholt. Eigentlich wollte der Sender im Hohen Fläming drehen lassen. Hier das schicke Berlin und dort das weite, staubige Umland mit seinen verdorrenden Kiefernwäldern, so ein toller Kontrast zieht immer. Aber Dernhof als fescher, knackiger Typ, den konnten wir uns nicht entgehen lassen. Der macht schon was her, jung, dynamisch, smart, ein mega storytelling, cooler Molkereichef verliebt sich wahnsinnig in …«

Baltes schüttelte den Kopf, als hätte er beim Duschen Wasser in die Ohren gekriegt. »Moment, nicht so schnell, Sie sehen doch, ich bin ein Provinzbulle. Immer hübsch der Reihe nach. Welche Funktion hatte Dernhof? Ich meine, außer hier der Herr der Ländereien zu sein?«

Der Produzent seufzte und lehnte sich mit hinterm Kopf verschränkten Händen zurück. »Okay, ich fange mal ganz von vorn an …«

»Eine gute Idee.«

»Dirk Dernhof ist … war nicht nur der Besitzer dieses Hofes, sondern ihm gehört die Molkerei Eifel Sahnehäubchen. Müssen S’ doch kennen, ist mega angesagt, diese Videoclips mit den verschiedenen Pärchen, die sich mit ihren Milchbärten busseln, von Babys bis Ü-siebzig. Und ganz neu diese Sportiven, multikulti und Frauenpower.« Er blickte Baltes an, als warte er darauf, dass es bei einem Begriffsstutzigen endlich klick machte. »Die Clips hab ich auch designt, alles meine Handschrift.«

»Ich gucke keine Werbung, und wir kaufen nur direkt beim Bauern, von der Milchtankstelle.« Ein bisschen auf ökologische Korrektheit machen, dachte der Kommissar, das schadet bei diesem Alpenschnösel nicht.

Jens Jeckli lächelte milde. »Also wie gesagt, das ›Sahnehäubchen‹ geht neue Wege, in Social Media und so. Wenn man wie ›Sahnehäubchen‹ im Handumdrehen bei hunderttausend Followern ist und es immer weiter durch die Decke geht, dann kommt’s halt auch ins gute alte Tiewieh. Die Sender sind mega heiß drauf, und die Werbeetats dort … gigantisch! Als Dernhof nicht nur wegen Werbevideos, sondern wegen der Show kam, da hat’s gleich klick gemacht. Mein Team hat dann das Casting gemacht und eine richtig geile Crew hingekriegt.«

Baltes merkte, wie Magensäure in ihm aufstieg. Er musste dringend was trinken. Milch vor allem, Milch half gegen Sodbrennen. Vielleicht lag es aber auch an der für seine Ohren peinlichen Ausdrucksweise des kreativschaffenden Gegenübers, er reagierte seit dem Burnout empfindlicher auf alles und jedes. Ich muss an meiner Toleranz arbeiten, dachte er. »Kann ich vielleicht ein Glas Wasser haben … oder Milch?«

»Aber freilich, warum haben S’ nichts gesagt? Wir sitzen ja hier an der Quelle«, sagte Jeckli und winkte eine junge Frau in Leggings und Kapuzenshirt herbei, offenbar ein in der Hierarchie niederes Crewmitglied. »Bring dem Herrn ein Glas Sahnehäubchens Beste, sei so gut.« Er wandte sich dem Kommissar zu. »Ist noch nicht auf dem Markt, kommt aber bald groß raus. Hat vollen natürlichen Fettanteil, Heumilch, bio … alles, was voll im Trend liegt. Dernhofs Leute kriegen alles hin.«

Baltes blickte der Frau nach, die eilig im Haus verschwand. »Er war für Sie also eine Art Glücksfall?«

»Aber ja! Von daher – niemand hat an seinem Tod weniger Interesse als ich. Das wollen S’ doch von mir wissen, gell.«

»Schön zu hören. Kannten Sie ihn auch privat?« Er sah auf und nahm dankbar ein Glas voll weiß schäumender, eiskalter Milch, das ihm gereicht wurde. Er trank es auf ex, während Jens Jeckli ihm mit einer Mischung aus Spott und Milde zusah. Wirklich köstlich, fand er, beinahe wie flüssiges Speiseeis. »Ich meine, ob er zum Beispiel eine Lebensgefährtin hatte?« Er leckte sich die Lippen. »Die Dreharbeiten hier waren doch sicher keine authentische Partnersuche.«

Jeckli warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Doch, doch! Alles ist authentisch bei uns. Wir leben von der Glaubwürdigkeit, Herr Kommissar, das ist unsere Währung. Das nennt sich Street-Credibility. Die Janine und die Tita, die sind beide mega heiß auf den Dirk. Ich kann’s ja selbst manchmal nicht glauben.«