Die Einhornchroniken 1 - Das Tor zwischen den Welten - Bruce Coville - E-Book

Die Einhornchroniken 1 - Das Tor zwischen den Welten E-Book

Bruce Coville

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Beschreibung

Die Fantasy-Reihe von Bruce Coville entführt Leserinnen ab 10 Jahren in eine märchenhafte Welt voller Magie und zauberhafter Fabelwesen. Zehn ... elf ... Angestrengt zählt Cara die Schläge der Kirchturmglocke, während sie hastig die steilen Stufen des Turms hochstürmt. Noch eine Stufe, durch die Luke und endlich steht sie im Freien! Unter sich die Straßen der Stadt – und hinter sich die Schritte eines unheimlichen Verfolgers. Was will er von ihr und ihrer Großmutter? Warum verfolgt er sie? Und soll sie tatsächlich einfach vom Turm springen, wie ihre Großmutter es ihr eingeschärft hat? ZWÖLF! Cara hat keine Zeit mehr, weiter nachzudenken – sie stößt sich vom Boden ab und lässt sich fallen … Sie findet sich zwischen wundersamen Wesen wieder: Das junge Einhorn Lightfoot, der riesenhafte, haarige Dumbeltum und der kleine Skijum begegnen ihr bald als Freunde. Doch schnell begreift Cara, dass diesem verzauberten Ort, dem Land der Einhörner, Gefahr droht – und dass nur sie die Macht hat, das Land vor Verderben und Zerstörung zu bewahren. "Das Tor zwischen den Welten" ist der erste Band der Einhornchroniken.

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Der Verfolger

Kann es vielleicht sein, dass uns dieser Mann verfolgt, Oma?«

Caras Großmutter blickte zurück zur Bibliothek. Als sie den Kopf wieder nach vorn drehte, machte sie ein Gesicht, wie Cara es noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Die alte Frau verstärkte ihren Griff um die Hand des Mädchens und begann, schneller zu laufen.

Cara spürte plötzlich einen Stich im Magen. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Großmama Morris irgendwas sagen würde wie »Sei nicht albern, Mädchen!« – so wie sie es sonst immer tat, wenn Cara sich grundlos vor etwas fürchtete. Sie hätte nie gedacht, dass ihre Großmutter so beunruhigt reagieren würde.

»Wohin gehen wir?«, fragte Cara und beeilte sich, mit ihrer Großmutter Schritt zu halten. Sie versuchte, nicht allzu nervös zu klingen.

»Ich weiß noch nicht genau …«, murmelte Oma Morris.

»Sind wir denn in Gefahr?«

»Ja.«

Caras Magen krampfte sich erneut zusammen. »Woher weißt du das?«

»Still jetzt, Kind! Ich habe nicht genug Puste, um neben dem Laufen zu reden.«

Cara hielt ihre neuen Bücher aus der Bibliothek fest unter dem Arm, um sie nicht im Gedränge der Last-Minute-Einkäufer zu verlieren, an denen sie vorbeihuschten. Schon vor einer Weile hatte es leicht zu schneien begonnen, sodass der Schnee inzwischen all die festlichen Dekorationen mit einer feinen weißen Schicht bedeckte. Überall glitzerte und funkelte es. Es war für Cara eigentlich nur schwer vorstellbar, dass ihnen in diesem so zauberhaften, stimmungsvollen Moment etwas Schlimmes zustoßen könnte. Aber die Angst, die sie im Gesicht ihrer Großmutter las, war unmissverständlich – unmissverständlich und überzeugend.

»Da rein!«, zischte Oma Morris plötzlich und zog Cara scharf nach rechts. Sie liefen eine kleine schmale Gasse entlang und betraten von dort aus die St.-Christoph-Kirche durch einen Seiteneingang.

Cara kannte die Kirche gut. Sie war schon oft zusammen mit Simon, dem langjährigen Freund ihrer Großmutter, hier gewesen.

Im Innern des Gebäudes war es dunkel und still. Großmutter Morris lief mit Cara zu einer Bank in der Nähe des Altars und ließ sich dort nieder. Sie atmete schwer.

»Ich glaube nicht, dass er gesehen hat, wie wir hier reingegangen sind«, meinte Cara, aber so richtig überzeugt davon war sie nicht. Tatsächlich hatte sie keine Ahnung, ob ihr Verfolger sie beobachtet hatte.

Einen Augenblick später nahm Caras Großmutter eine Kette von ihrem Hals. »Hier, nimm sie und hänge sie dir um!«, forderte sie Cara auf und reichte ihr die Kette.

»Dein Glücksamulett?«, fragte Cara mit großen Augen. Dies war beinahe beängstigender als der unheimliche Mann, der sie verfolgte. Großmutter Morris’ »Glücksamulett«, wie Cara die Kette mit dem Anhänger daran immer nannte, war bisher absolut tabu für sie gewesen. Obwohl sie das Amulett aus Gold und Kristall schon oft begehrt hatte, scheute sie sich nun, es von ihrer Großmutter entgegenzunehmen. Sie dachte, dann würde sie irgendwie auch akzeptieren, dass ihre Welt vollständig aus den Fugen geriet.

»Nimm es!«, drängte ihre Großmutter sie erneut. »Häng es dir um. Du wirst es brauchen können, bevor das hier zu Ende ist.«

»Bevor was zu Ende ist?«

»Keine Zeit für Erklärungen«, zischte ihre Großmutter ungeduldig. »Nimm es einfach!«

Vorsichtig, um ja keinen Laut zu machen, legte Cara ihre Bücher auf die Kirchenbank. Dann nahm sie widerwillig das glitzernde Amulett in ihre Hand. Ihre Finger fingen an zu kribbeln. Unter dem durchsichtigen kristallenen Deckel des Amuletts lag eine zarte weiße Haarsträhne.

»Die stammt aus der Mähne eines Einhorns«, erzählte ihr Großmutter Morris, als Cara noch klein war. Cara glaubte ihr damals. Bis sie in die zweite Klasse kam und erfuhr, dass es Einhörner nicht wirklich gab.

»Für was brauche ich es denn?«, fragte sie, als sie sich die Kette über den Kopf zog. Oma Morris lehnte sich nach vorn und strich sich mit den Fingern gedankenverloren über die Stirn.

»Glaubst du, ich bin verrückt?«, flüsterte sie.

Cara fühlte, wie eine neue Welle der Angst über sie hinwegschwappte. Was ist denn das für eine Frage?, dachte sie beunruhigt. Doch noch bevor sie eine passende Antwort gefunden hatte, hörte sie, wie sich Schritte näherten und ganz leise eine Tür aufging. Es war dieselbe Tür, durch die sie selbst die Kirche betreten hatten – da war sich Cara sicher. Stille.

Stand ihr Verfolger jetzt etwa dort und wartete auf sie?

Erstaunt bemerkte Cara, wie ihre Großmutter sich duckte und ihren Kopf einzog, sodass sie beinahe nicht mehr zu sehen war. Sie gab Cara lautlos ein Zeichen, es ebenso zu machen. Als Cara neben ihr in die Hocke ging, begann die alte Frau, sich langsam auf den Kirchenmittelgang zuzubewegen. Cara folgte ihr. Die Bänke standen zu eng beieinander, als dass sie sich auf Knien hätten kriechend fortbewegen können. Stattdessen trippelten sie geduckt weiter, bis sie das Ende der Bank erreichten. Erst dann ließ sich Caras Großmutter auf Hände und Knie nieder.

Bisher war an der Tür nichts zu hören gewesen, wo ihr Verfolger wahrscheinlich immer noch stand und wartete. Und Cara konnte ihre Großmutter jetzt kaum fragen, was hier eigentlich los war.

Als sie beide endlich das andere Ende der Kirche erreichten, kauerten sie sich hinter der letzten Bank aneinander. Wenige Fuß vor ihnen ragten zwei große hölzerne Türen auf, die sich unmöglich öffnen ließen, ohne die Aufmerksamkeit des Verfolgers zu erregen. Cara starrte auf die Holztüren – genauso wie ein Wüstenwanderer auf eine undurchdringbare Glaswand, hinter der es ein Becken mit klarem Wasser gab. Sie warteten.

Kein Laut war in der Kirche zu vernehmen. War der Mann immer noch da? Oder war er leise wieder hinausgegangen, um woanders nach ihnen zu suchen? Und wie lange würden sie hier noch herumsitzen müssen? Wer war dieser Mann überhaupt?

Cara zitterte und versuchte, nicht laut aufzuschluchzen, als Fragen und Angst in ihr hochkrochen. Verzweifelt griff sie nach der Kette um ihren Hals und berührte das Amulett. Durch die Berührung erinnerte sie sich plötzlich wieder an etwas aus ihrer Kindheit. Es waren nur einzelne Bruchstücke aus der Zeit, kurz bevor sie ihre Eltern verloren hatte. Sie war zwei oder drei Jahre alt und sehr krank gewesen. Ihre Großmutter saß stundenlang an ihrem Bett. Als sie dann dringend weggerufen wurde, gab sie dem inständigen Bitten von Cara nach und ließ ihr das Amulett da.

Es war das erste und einzige Mal, dass sie das Amulett für sich allein hatte. Sie hielt es sanft in der Hand, während sie immer wieder von Fieberträumen geschüttelt wurde. Doch dann, als es ihr immer schlechter ging, geschah etwas. Ein weißes Licht erschien, das sie einhüllte und vollkommen ruhig werden ließ. Und dann auf einmal spürte sie, wie sie von etwas sanft berührt wurde. Von etwas Glühendem, Festem – heiß und kalt gleichzeitig. Und mit dieser Berührung verschwand das Fieber von einem zum anderen Augenblick. Das war alles, an das sie sich danach noch erinnerte. Diese Erinnerung verblasste zwar mit den Jahren, verschwand aber niemals ganz. Als Cara älter wurde, tat sie das Ganze als Halluzination ab, hervorgerufen durch das Fieber von damals. Trotzdem, wann immer sie später an das Ereignis dachte, überkam sie das Gefühl, dass etwas Überirdisches ihr Leben gestreift hatte. Eine Zeit lang hatte sie sich sogar gewünscht, wieder krank zu werden, nur um diesen magischen Moment von jener Nacht noch einmal zu erleben. Ein wenig von dieser Magie würde ihr jetzt gerade ganz gelegen kommen …

Cara blinzelte. Wie lange saß sie schon so da, versunken in ihre Erinnerungen? Mit Unbehagen bemerkte sie, dass ihr Bein eingeschlafen war.

Großmutter Morris lehnte sich zu Cara hinüber und wisperte ihr etwas ins Ohr. Sie sprach so leise, dass Cara sie beinahe nicht verstand: »Wir müssen unbedingt hier raus. Wir kriechen so geräuschlos wie möglich zu diesen Türen da vorn. Ich werde versuchen, eine davon zu öffnen. Du gehst zuerst durch. Mach dich bereit loszulaufen, wenn ich es dir sage.«

Cara nickte. Sie hoffte, dass ihr eingeschlafenes Bein sie nicht im Stich ließ, und begann, auf allen vieren weiter nach vorn zu kriechen. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie Angst hatte, ihr Verfolger könnte es hören.

Sie spürte Oma Morris dicht hinter sich.

Und was war mit dem Mann, der sie verfolgte? War er noch da oder hatte er inzwischen aufgegeben? Liefen sie womöglich nur vor einem Schatten davon?

Der glatte Boden unter Caras Händen war kalt, die Tür jedoch überraschend warm. Mit ihren Fingern ertastete sie einige fremdartige Symbole.

»Mach dich bereit!«, raunte ihr Großmama Morris zu. Sie kniete neben Cara und stieß die Tür auf.

Cara zwängte sich so gut es ging durch den Türspalt und wagte dabei kaum zu atmen. Sie hatte es beinahe geschafft, als ihre Großmutter plötzlich rief: »Lauf, Cara, LAUF!«

Cara sprang auf die Füße und sprintete auf die nächsten beiden Doppeltüren zu, die hinaus ins Freie führten. Hastig drückte sie die Klinken nach unten – und schrie verzweifelt auf.

Die Türen waren verschlossen.

Sprung ins Ungewisse

Cara drehte sich panisch um.

»Hier entlang!«, rief Großmutter Morris und griff nach Caras Hand.

Sie huschten durch eine kleine Tür seitlich des Foyers. Dahinter befand sich eine schmale Treppe, die sich spiralförmig nach oben wand. Oma Morris drehte sich um und verschloss die Tür mit einem altertümlichen Riegel. Dann stiegen sie hastig die Treppe hinauf.

Sie hatten gerade die ersten zehn Stufen genommen, als Cara hörte, wie jemand gegen die Tür schlug. Der Verfolger! Er schlug noch einmal heftig von außen dagegen. Cara war sich sicher, dass der Mann nicht nur seine Wut daran ausließ, sondern auch versuchte, die Tür einzutreten.

Caras Herz raste wie wild und sie kletterte so schnell wie möglich im Dunkeln nach oben, ohne weiter auf das Kribbeln zu achten, das wie spitze Nadelstiche durch ihr eingeschlafenes Bein fuhr.

Sie erreichten einen kleinen Treppenabsatz. Cara hörte ein leises Summen, als eine Lampe über ihr anging. Ihre Großmutter lehnte an der Wand, eine Hand noch auf dem Lichtschalter. Mit der anderen Hand strich sie sich einige lose Strähnen ihres langen grauen Haares zurück.

Ein dickes Seil hing in der Mitte des Raumes. Das eine Ende lief durch eine Öffnung in der Decke, das andere Ende durch ein Loch im Boden.

Unten krachte es erneut. Dieses Mal hörten sie Holz splittern. Die Tür hielt zwar noch, aber ihnen beiden war klar, dass sie bald nicht mehr standhalten würde.

»Hast du das Amulett?«, fragte Caras Großmutter.

Cara nickte.

»Gut. Halt es fest und hör genau zu! Ich werde gleich die Kirchturmglocke läuten und damit Hilfe holen. Aber ich weiß nicht, ob rechtzeitig jemand hier sein wird, um das Amulett in Sicherheit zu bringen.«

Das Amulett?, dachte Cara. Und was ist mit uns?

»Hör gut zu, damit du weißt, was du tun musst«, fuhr ihre Großmutter fort. »Lauf die Treppe bis ganz nach oben zum Kirchturm. Das Dach ist flach und rundherum mit einer niedrigen Mauer versehen. Zähl mit, wenn die Glocke schlägt. Beim zwölften Schlag hältst du das Amulett ganz fest und flüsterst: ›Kirin, bring mich nach Hause‹. Dann …« Die alte Dame stockte und schloss die Augen. Ihr Gesicht spiegelte Furcht und Sehnsucht, Freude und Leid wider.

Cara zitterte erneut, aber nicht aus Angst vor dem Verfolger.

»Und dann …?«, drängte sie ihre Oma weiterzusprechen.

Ihre Großmutter zuckte zusammen, als von unten ein dumpfer Schlag zu hören war. Sie schaute Cara in die Augen: »Dann, Cara«, wisperte sie, »musst du springen.«

Cara starrte ihre Großmutter ungläubig an. Die Frage: »Glaubst du, ich bin verrückt?«, die die alte Frau vorhin gestellt hatte, bekam plötzlich eine ganz neue, erschreckende Bedeutung.

Doch noch bevor sie etwas erwidern konnte, war ein weiteres Krachen von unten zu hören.

»Die Tür wird nicht mehr lange halten«, flüsterte Großmutter Morris. »Er darf das Amulett auf keinen Fall in die Hände bekommen! Klettre so schnell du kannst hinauf, Cara! Dein Leben und noch viel mehr hängen davon ab. Ich war dort, mein Liebes, und es ist wunderschön. Hab keine Angst. Halte nur gut das Glücksamulett fest. Und zähl die Glockenschläge. Lass dich einfach fallen und ich verspreche dir, du wirst echte Einhörner sehen.«

»Aber …«

Ein Splittern war von unten zu hören.

»Klettre hinauf!«, drängte Caras Großmutter, hängte sich mit dem ganzen Gewicht ihres schlanken Körpers an das Seil und begann, es nach unten zu ziehen. »Beeil dich! Es darf nicht in seine Hände fallen!«

»Wer ist er?«, fragte Cara mit zitternder Stimme.

Caras Herz setzte einen Moment lang aus, als sie sah, wie Leid und Schmerz die Augen ihrer Großmutter verdunkelten. Die alte Dame schüttelte ein paarmal den Kopf, so als ob sie düstere Gedanken vertreiben wollte.

»Wir haben keine Zeit zu reden«, antwortete sie mit lauter Stimme, um den Glockengong zu übertönen. Da wurde das Seil auf einmal nach oben gezogen und nahm Oma Morris mit sich, sodass sie den Boden unter den Füßen verlor. »Denk daran«, rief sie, »du musst genau beim zwölften Schlag nach unten springen! Zähl genau mit! Und jetzt geh! GEH!«

Cara drehte sich um und rannte los.

Die Glocke schlug noch einmal. Und dann hörte Cara, wie ihre Großmutter ihr noch eine weitere Anweisung hinterherrief: »Cara! Such nach der Ältesten! Sag ihr … sag ihr: ›Die Wanderin ist müde‹.«

Cara glaubte, ein kurzes Schluchzen zu hören, aber sie war sich nicht sicher, da der dritte Glockenschlag ertönte und jedes andere Geräusch darin unterging.

Schon dreimal hatte die Glocke geläutet. Cara fürchtete, nicht rechtzeitig beim zwölften Schlag oben auf dem Kirchturm zu sein, und rannte noch schneller. Dann, als ihr bewusst wurde, was sie gerade gedacht hatte, hielt sie kurz inne. Sie tat gerade so, als ob sie wirklich vorhatte zu springen.

Wollte sie das wirklich tun? Konnte sie das überhaupt tun?

Mit der Hand am Treppengeländer lief sie in der Dunkelheit die Stufen empor und zählte den vierten und fünften Glockenschlag laut mit.

Ob ihr Verfolger jetzt gerade auch die Treppen nach oben rannte? Auf Oma Morris zu? Was wäre, wenn er sie erreichte, noch bevor sie die Glocke zum zwölften Mal läuten konnte? Was wäre dann?

Cara war völlig außer Atem und ihre Waden brannten wie Feuer. Sie hörte den sechsten Gong – oder war es der siebte? Nein, es musste der sechste sein. Sie durfte sich jetzt nicht verzählen! Mit der freien Hand, mit der sie sich nicht auf das Geländer stützte, griff sie nach dem Amulett um ihren Hals. Es fühlte sich warm an. Sie öffnete ein wenig ihre Finger. Zu ihrem Erstaunen fing das Amulett sanft an zu leuchten.

Der siebte Glockenschlag. Der siebte? Es muss der siebte gewesen sein, nicht der achte, versuchte Cara sich zu überzeugen.

Das Amulett leuchtete noch heller. Sie lockerte ihren Griff und das Licht, das darunter hervorstrahlte, erhellte die ausgetretenen hölzernen Stiegen, die sie weiter bis zum Ende des Turms hinaufeilte.

Als die Glocke zum achten Mal schlug – sie war sich sicher, dass es das achte Mal war – erreichte Cara eine Leiter. Kaum stand sie auf der ersten Sprosse, hörte sie von unten laute Geräusche: eine tiefe dunkle Männerstimme und wütendes Schimpfen ihrer Großmutter. Sie wollte gerade umdrehen, um ihrer Großmutter zu Hilfe zu eilen. Da erinnerte sie sich, was diese ihr vorhin eingetrichtert hatte: Das Amulett durfte auf gar keinen Fall in die Hände des Mannes fallen! Also kletterte sie weiter die Leiter hinauf. Oben an der Decke befand sich eine Falltür, die sie versuchte aufzustoßen.

Nichts rührte sich.

Eine schreckliche Sekunde lang glaubte sie, in der Falle zu sitzen. Doch als sie ihre Großmutter schmerzerfüllt aufschreien hörte, drückte Cara noch einmal wütend gegen die Falltür. Und ohne zu wissen wie, war die Tür plötzlich offen.

Von unten näherten sich Schritte. Der Verfolger kam ihr nach! Was war mit Großmutter Morris? Hatte er ihr etwas angetan?

Die Glocke schlug erneut. Cara lächelte. Was immer auch geschehen war, ihre Großmutter hatte noch genug Kraft, die Glocke zu läuten. Cara durfte sie jetzt nicht enttäuschen.

Sie kletterte auf das flache Dach des Kirchturms, doch sie hielt inne, als sie hinter sich eine dunkle Stimme vernahm: »Halt, Cara Diana! Warte!«

Cara blieb stocksteif stehen. Sie hatte diese Stimme schon einmal irgendwo gehört. Aber wo? Kalter Wind umwehte sie. Die Schneeflocken hatten sich in eisige Spitzen verwandelt, die ihr in die Wangen stachen. Sie wankte zum Rand des Daches. Ihr wurde schwindelig, als sie hinunter auf die schneebedeckten Straßen sah.

Der zehnte Glockenschlag erklang. Die Worte ihrer Großmutter tönten durch ihren Kopf: »Glaubst du, ich bin verrückt?« Oma Morris musste verrückt sein, wenn sie von Cara verlangte, vom Turm zu springen. Doch das Amulett, das hell im Schneesturm leuchtete, sagte ihr etwas anderes. Sie fühlte, dass sie etwas Zauberhaftes erwarten würde.

Der nächste Glockenschlag – der elfte? – hallte in ihren Ohren, als sie auf die kleine Mauer stieg, die das Dach umrundete. Tief unter sich sah sie winzige schwarze Punkte, die im Sturm hin und her liefen. Eilten einige von ihnen ihr und Oma Morris vielleicht schon zu Hilfe?

Sie machte sich bereit – zumindest versuchte sie es – sich beim zwölften Glockenschlag in die Tiefe fallen zu lassen.

Stille. Kalte Angst kroch in ihr hoch. Hatte sie sich verzählt? Hatte sie den Moment verpasst? Wenn sie jetzt sprang, würde sie sich dann in den sicheren Tod stürzen? Völlig verwirrt stand Cara auf der Mauer und starrte hinab in die Tiefe.

Da hörte sie etwas hinter sich. Der Verfolger stand am oberen Ende der Leiter! Die Glocke schlug erneut, das zwölfte und letzte Mal, und eine strahlende Lichtkugel erschien vor ihr am Nachthimmel. Es hatte die gleiche sanftgrüne Farbe wie das Licht des Amuletts, das zwischen ihren Fingern hindurchschien. Cara schloss ihre Hand um das Amulett und flüsterte: »Kirin, bring mich nach Hause.«

»Warte!«, schrie der Mann.

Schnee umwirbelte sie. Der Wind fuhr durch ihre Haare. Cara lehnte sich nach vorn – und sprang.

Kirin

Das Gefühl zu fallen und dem Boden entgegenzustürzen war schrecklich. Aber noch bevor sich aus Caras zugeschnürter Kehle ein Schrei lösen konnte, war schon das grüne Licht da und hüllte sie ein.

Dann fiel sie auf einmal langsamer, wie in Zeitlupe. Sie fühlte sich wie in einem Traum. Cara konnte danach nicht mehr genau sagen, wie lange ihr Sturz wirklich gedauert hatte.

Die Landung kam plötzlich, war aber weich. Einen Augenblick lag Cara ruhig da, starrte in den strahlend blauen Himmel und wunderte sich, wo dieser auf einmal herkam. Dann schloss sie die Augen, um besser nachdenken zu können. Wo war ihre Großmutter? Wo der seltsame Verfolger, die Kirche, die schneebedeckte Stadt?

Wo war sie?

Sie atmete siebenmal ein und aus und versuchte, sich zu beruhigen. Da erinnerte sie sich, dass sie auf etwas Weichem gelandet war. Das musste Moos sein, so wie es sich zwischen ihren Fingern anfühlte. Moos?

Sie drehte ihren Kopf zur Seite. Tatsächlich lag sie auf einem dicken Moosteppich oder zumindest etwas sehr Ähnlichem. Ein wenig entfernt standen riesige, hell silber glänzende Bäume. So etwas hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen! Sie gab bei dem Anblick einen erschrockenen Laut von sich. Obwohl sie bereits wusste, dass sie nicht mehr in ihrer Welt war, war sie geschockt, als sie den Beweis in Form dieser seltsamen Bäume vor sich sah. Allein, dass ihre Großmutter den Fall in eine andere Welt vorausgesagt hatte, half ihr in diesem Moment, ruhig zu bleiben. Wie würde sie nur wieder nach Hause kommen?

Der Gedanke überraschte sie. Denn bisher war ihr ihr »Zuhause« gar nicht so wichtig gewesen – außer Großmutter Morris natürlich. Seit ihre Eltern – Ian und Martha Hunter – sie verlassen hatten, lebte Cara mit ihrer Oma zusammen. Damals war sie drei Jahre alt gewesen und in den Jahren, die folgten, schleppte sie sich von einer Demütigung zur nächsten. In der Schule wurde sie wegen allem Möglichen gehänselt, so auch wegen ihrer roten Haare und der Tatsache, dass sie keine Eltern mehr hatte – dabei konnte sie doch gar nichts dafür! In vielen Nächten weinte sie sich in den Schlaf. Dann träumte sie, wie sie ihre Welt hinter sich ließ und in einer anderen lebte. Einer Welt, wie die in den Märchenbüchern, die sie aus Großmutters Bücherecke hervorzog – das blaue Märchenbuch, das rote Sagenbuch und noch viele andere mehr.

Cara schaute sich um. Was dies wohl für eine Welt war?

Sie fragte sich, ob sie hier im Wald auch einer alten Frau begegnen würde – so wie es in den Märchen immer geschah. Wenn ja, würde es dann eine böse Hexe oder eine gute Zauberin sein? Die Frage erinnerte sie an die letzte Anweisung, die ihr ihre Großmutter noch gegeben hatte: »Suche nach der Ältesten! Sag ihr: ›Die Wanderin ist müde‹.«

Nun gut, wenn es das war, was ihre Großmutter wollte, dann konnte diese Älteste nicht allzu böse sein – wer immer sie auch war. Aber wie sollte sie sie nur finden?

Plötzlich merkte sie, wie warm ihr war. Sie stand auf und zog ihren Wintermantel aus. Dann schälte sie sich auch noch aus dem blauen Pulli, den ihr Oma Morris zum letzten Weihnachtsfest gestrickt hatte.

»So ist es besser«, sagte sie laut, nur um ihre eigene Stimme zu hören. Cara fühlte sich tatsächlich wohler. Nicht allein, weil sie nur noch ihre Lieblingsjeans und ihr T-Shirt anhatte, sondern auch, weil die Luft hier besser war – viel reiner und klarer als die, die sie sonst so einatmete. Nach ein paar tiefen Atemzügen fühlte sie sich beinahe berauscht von der Süße, die darin lag.

»Hier bin ich!«, rief Cara übermütig.

Sofort bereute sie es. Sie hoffte zwar, dass ihre Großmutter hier Freunde hatte, die nach ihr suchen würden. Aber ihr kam auch der Gedanke, dass vielleicht noch jemand anders, der nicht so freundlich war, nach ihr suchen könnte. Ein Schaudern durchlief sie, als sie sich fragte, ob es ihrem Verfolger wohl auch möglich war, diese Welt zu betreten? Suchte er immer noch nach ihr? Sie biss sich auf die Lippe und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Aber außer einem sanften Windhauch, der durch die Blätter der Bäume fuhr, bewegte sich nichts. Cara hoffte, einen Pfad, ein Zeichen, irgendetwas zu entdecken, das ihr zeigen könnte, wohin sie gehen sollte. Nichts.

Ihre Angst begann sich wieder zu regen. Sie fürchtete sich jedoch nicht nur davor, sich zu verirren, sondern auch vor allem, was in dieser Nacht geschehen war. Oder war es an diesem Tag? Denn als sie vom Kirchturm sprang, war es dunkel gewesen, jetzt war es taghell. Ein Teil von Cara wollte glauben, dass alles nur ein Traum war. Dass sie gleich aufwachen würde, eingekuschelt in ihrem Bett, in ihrer vertrauten, wenn auch unliebsamen Welt. Doch ein anderer Teil von ihr bebte vor Freude, weil sie tief in ihrem Herzen wusste, dass sie nicht träumte.

Voller Staunen betrachtete sie diese neue Welt, in der sie gelandet war. Direkt vor ihren Füßen wuchs etwas, das wie eine Blume aussah. Als sie sich hinunterbeugte, um sie näher zu betrachten, bekam sie eine Gänsehaut. Denn die große violette Blüte war mit einem feinen silbernen Flaum bedeckt. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

Sie griff sich Mantel und Pulli und erkundete die Lichtung. Sie lief von einem Ende zum anderen und suchte nach einem Weg. Die silbernen Stämme der Bäume um sie herum schimmerten bläulich und ließen sie wie die violette Blume erschaudern. Die dunkelgrünen Blätter an den Ästen der Bäume waren rund, makellos und etwa so groß wie ihre Hand – nicht allzu sonderbar, aber doch so verschieden von allem, was sie kannte, dass es ihr fremd vorkam. Cara strich vorsichtig über die weiche glatte Rinde eines Baumes. Überrascht stellte sie fest, dass die Luft plötzlich nach Zimt duftete.

Sie begann ein zweites Mal, die Lichtung zu umrunden. Langsam geriet sie in Panik. Wenn sie nicht bald einen Weg fand, dann würde sie quer durch den Wald gehen müssen, ohne die leiseste Ahnung, wohin.

»Oder sollte ich doch lieber hierbleiben«, fragte sie sich, »und abwarten, ob mich irgendjemand findet?« Sie schüttelte den Kopf. Cara wusste, wenn man verloren ging, sollte man normalerweise einfach da bleiben, wo man war. Aber das machte nur Sinn, wenn jemand nach einem suchte. Darauf konnte sie in ihrem Fall jedoch nicht zählen … Wahrscheinlicher war, dass niemand hier überhaupt von ihrer Anwesenheit wusste. Am gleichen Ort zu bleiben, um gefunden zu werden, hieße unter diesen Umständen, aufs Glück zu vertrauen. Und wenn sie eines von Oma Morris gelernt hatte, dann, dass man sein Glück selbst schmieden musste, wenn man überleben wollte.

Plötzlich hörte Cara in der Ferne ein leises Rauschen. Sie blieb stehen und hielt den Atem an, um besser lauschen zu können. Ja, es bestand kein Zweifel: fließendes Wasser.

Sie lächelte. Das war auf jeden Fall etwas, woran sie sich orientieren konnte. Wenn sie einen Weg durch den Wald finden wollte, dann am ehesten entlang eines Baches. Denn wo Wasser war, gab es sicher auch Menschen.

Mit diesem Gedanken lief sie los.

Der weiche Waldboden roch nach welkem Laub. Ein riesiger Baum reihte sich an den nächsten. Außerhalb der Lichtung gab es viele unterschiedlich aussehende Bäume, manche, mit knorrigen Stämmen, beinahe so breit wie Caras Bett zu Hause. Glücklicherweise war der Waldboden nicht sehr stark mit Pflanzen bewachsen, sodass sie gut vorankam. Auf den meisten Baumstämmen wuchs eine moosartige, meist grüne Flechte mit braunen, orangefarbenen und roten Tupfern darauf. Andere moosige Dinge hingen in langen Fäden von den untersten Ästen der Bäume. Weiter oben wuchsen Zweige und Blätter so dicht, dass nur wenig Licht von oben durchkam. Irgendetwas mit leuchtenden Flügeln flog über Cara hinweg.

Cara war schon oft mit ihrer Großmutter im Wald spazieren gewesen. Aber keiner war je wie dieser hier gewesen. An keinem Ort, den Cara kannte, waren die Bäume so uralt und so – würdevoll.

Kurze Zeit später erreichte sie einen fröhlich vor sich hin plätschernden Bach. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Caras Großmutter hatte ihr immer gesagt, wenn sie Sorgen hätte, solle sie sich einen Platz am Wasser suchen und sich eine Weile hinsetzen. Und einen perfekteren »Platz am Wasser« als diesen hatte sie noch nie gesehen. Der Bach, etwa vier Fuß breit, war so klar, dass Cara jedes Blatt und jeden Kiesel sehen konnte, der auf dem Grund lag. Gurgelnd und plätschernd floss der zwischen bemoosten Ufern eingebettete Bach dahin und suchte sich glucksend seinen Weg um die glatt polierten, braunen Steine, die aus dem Wasser ragten.

Cara setzte sich ans Ufer. Kurz darauf zog sie ihre Stiefel und Socken aus und ließ ihre Füße im angenehm kühlen Wasser baumeln.

Ich wünschte, Oma Morris wäre hier, dachte sie wehmütig.

Plötzlich erinnerte sie sich wieder an die letzten aufwühlenden Momente in der St.-Christoph-Kirche. Was war passiert, nachdem sie gesprungen war? War ihrer Großmutter jemand zu Hilfe gekommen? Ging es ihr gut? Hatte sie der Verfolger vielleicht verletzt, oder sogar …

Cara wollte den Gedanken nicht zu Ende denken und verscheuchte ihn aus ihrem Kopf. Ihrer Großmutter musste es einfach gut gehen.

Sie nahm das Amulett, zog die Kette über ihren Kopf und betrachtete es eingehend. Stammte das weiße Haar, das darin verschlossen war, wirklich von einem Einhorn? Ihre Gedanken rasten und ihr wurde wieder bewusst, wie seltsam das alles war. Sie fühlte sich, als würde sie ziellos auf einem unbekannten See umhertreiben, ohne ein Ufer in Sicht.

Cara wischte sich die Träne weg, die ihre Wange hinunterlief, und blickte auf das Amulett.

»Was passiert hier?«, fragte sie, als könnte der Anhänger ihr antworten.

Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht merkte, wie sich aus dem Schatten der Bäume eine schmale Gestalt löste und auf sie zukam. Sie starrte weiterhin auf das Amulett – bis wie aus dem Nichts eine bleiche Hand über ihre Schulter hinweg danach griff. Cara fuhr herum – und schrie erschrocken auf.

Vor ihr stand ein menschenähnliches Wesen, kaum drei Fuß hoch, das versuchte, ihr das Amulett aus der Hand zu schlagen. Es hatte einen enorm großen Kopf und riesige Augen, die kaum ins Gesicht zu passen schienen. Ein paar Haarsträhnen hingen von dessen sonst kahlem Kopf, der die Farbe eines Champignons hatte. Die kleine Nase war so weit nach oben gebogen, dass Cara nicht viel mehr als zwei Nasenlöcher sah.

Das seltsame Wesen trug einen dunkelgrünen Umhang, der in Taillenhöhe von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Dazu trug es braune Stiefel, die beinahe bis zu den knubbeligen Knien reichten. Die nackten Arme waren muskelbepackt.

»Skraxis!«, zeterte das Männchen. Es schnappte erneut nach dem Amulett und schaffte es diesmal, sich die Kette zu angeln.

»Lass los!«, rief Cara verzweifelt. Das Amulett war die einzige Verbindung zu ihrer Welt. Wenn diese Kreatur es stahl, würde sie wahrscheinlich nie wieder einen Weg zurückfinden.

Eine Weile lang zogen beide an dem Amulett, das bleiche Männchen zischend und kreischend, Cara grimmig und still.

Zuletzt riss Cara so fest daran, dass sich die Kette aus dem Griff des Monsters löste. Als das Männchen die Kette losließ, stolperte sie durch den plötzlichen Ruck nach hinten. Mit dem Amulett in der Hand krachte sie gegen einen scharfen Felsen.

Wie eine Welle durchfuhr sie der Schmerz, als sie in den Bach fiel.

Keifend vor Wut sprang ihr das Männchen hinterher. Vom Schmerz benommen, war Cara unfähig, sich zu wehren, als das Wesen sie am Genick packte und ihren Kopf langsam unter die Wasseroberfläche drückte.

Das kalte Wasser hielt sie wach, auch dann noch, als ihr nach und nach schwarz vor Augen wurde. »Gib ihm das Amulett!«, schrie eine Stimme in ihrem Kopf. »Wenn du es nicht tust, stirbst du!«

Aber ein anderer Teil von ihr – der Teil, der wusste, dass ihre Großmutter sie hierhergeschickt hatte, damit das Amulett nicht in falsche Hände geriet – zwang sie dazu, die goldene Kette weiter festzuhalten.

Mehr und mehr umfing Cara Dunkelheit. Als ihre Lungen anfingen, wie Feuer zu brennen, nahm sie noch einmal all ihre Kraft zusammen. Wild um sich schlagend, versuchte sie freizukommen.

Aber sie verschwendete ihre Energie umsonst. Die Kreatur hielt sie weiter unter Wasser. Cara hatte keine Kraft mehr und versank in die Bewusstlosigkeit.

In der Höhle

Als Cara erwachte, befand sie sich in einer Höhle. Beinah von selbst griffen ihre Finger an ihren Hals.

Das Amulett war weg!

Der Schreck darüber ließ sie für einen Moment die brennenden Schmerzen vergessen, die sie in ihrer Seite spürte. Sie würde für immer hierbleiben müssen! Und was noch viel schlimmer war: Sie hatte ihre Großmutter enttäuscht.

Cara versuchte, die Panik niederzukämpfen. Sie war am Leben, das war schon mal was. Oma Morris sagte immer, solange du noch lebst, hast du eine Chance. Plötzlich erinnerte sie sich an ihren Kampf mit der koboldartigen Kreatur im Wald. Wie um Himmels willen war sie hierhergekommen?

Und überhaupt, wo war sie hier?

Cara zwang sich, ruhig zu bleiben und ihre Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Das flackernde Licht einer Fackel erhellte den Raum, sodass sie erkennen konnte, dass sie auf einem Polster aus Moos und Blättern lag. Sie drehte sich auf die Seite, wodurch ihr Bettlager auf einmal anfing, nach Blumen zu duften. Es roch herrlich. Leider wurde ihr durch die Bewegung auch schwindelig.

Cara schloss die Augen, zählte bis zehn und öffnete sie erneut. Sie versuchte, die hochsteigenden Tränen zurückzuhalten, während sie sich in der Höhle umschaute.

Die Felswände waren nackt bis auf eine einzelne, große Verzierung, die aus Zweigen eines blühenden Busches oder Baumes bestand. Unter den Zweigen stand ein riesiger, grob behauener Stuhl. Die Sitzfläche war an den Enden abgerundet und eine Vertiefung in der Mitte war mit dem gleichen Moos und den Blättern gefüllt, aus dem auch ihr Bett gemacht war.

Dann fiel Caras Blick auf den Bewohner der Höhle! Ihr stockte der Atem vor Überraschung und Furcht.

Das, was da in der Höhle stand, sah aus wie eine Mischung aus Bär und Mensch. So als ob ein Bär versucht hätte, sich in einen Mann zu verwandeln, die Veränderung aber nicht zu Ende gebracht hatte. Er war groß und breitschultrig, hatte ein zerzaustes Fell, das fast seinen ganzen Körper bedeckte, und ein breites Maul, das in einer schwarzen Nase endete.

Da begann das Wesen, auf Cara zuzugehen. Cara schnappte entsetzt nach Luft, und wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte, wäre sie mit einem Satz aus dem Bett gesprungen. Da sie dies nicht schaffte, versuchte sie sich verzweifelt davon zu überzeugen, dass diese Kreatur ihr längst etwas zuleide getan hätte, hätte sie es denn gewollt. War das Wesen Retter oder Gefängniswächter?

Der Bärenmann beugte sich über sie und schaute in ihr Gesicht. Die Klugheit, die in seinen großen schwarzen Augen lag, überraschte Cara. Seine Nasenflügel zuckten, als er seine behaarte Pfote an ihre Wange legte. Mit einem Brummen, das beinahe nicht als Stimme zu erkennen war, fragte er: »Garzim?«

»Was?«, fragte Cara zurück.

»Garzim?«, wiederholte er. Als er erkannte, dass sie ihn nicht verstand, stand er auf und ging mit hängendem Kopf weg.

Cara stützte sich auf ihre Ellenbogen und überlegte krampfhaft, wie sie mit dem Wesen in Kontakt treten konnte. Es tat ihr leid, als sie seine Enttäuschung sah, weil sie ihn nicht verstand.

Kurz darauf kam das Wesen mit einem dicken kurzen Holzstück zurück. Als er es Cara hinhielt, sah sie, dass es innen ausgehöhlt und mit Flüssigkeit gefüllt war. Der Bärenmann grunzte und drückte ihr das Holzstück in die Hand.

Cara zögerte einen Moment, nahm dann den ungewöhnlichen »Becher« und trank in kleinen Schlucken daraus.

Der Bärenmann lächelte, was durch seine langen scharfen Zähne, die dabei zum Vorschein kamen, ein eher Furcht einflößender Anblick war. Dann gab er ein zufriedenes Grunzen von sich.

Cara lächelte zurück; teils, weil sie das Gefühl hatte, dass dies ein guter Anfang für sie beide war, teils, weil das Getränk einfach wunderbar schmeckte. Es war irgendein Tee, der sie so stärkte, dass sie überzeugt war, sofort wieder aufstehen zu können. Aber das war ein Fehler. Bei der ersten Bewegung überkam sie Schwindel, sodass sie sich stöhnend wieder zurücksinken ließ.

Der Bärenmann brummelte besorgt und beugte sich über sie.

»Keine Sorge«, murmelte Cara. »Es geht mir gut.«

Die unsinnige Behauptung, es ginge ihr gut, obwohl sie nicht einmal richtig stehen konnte, erinnerte sie an ihre Großmutter. Diese beschwerte sich nämlich immer, dass Cara selbst dann noch behauptete, sie fühlte sich gut, wenn sie eigentlich schon ins Krankenhaus gehörte. Bei dem Gedanken an ihre Großmutter konnte Cara nicht verhindern, dass ihr eine Träne die Wange hinunterlief. Wo Oma Morris jetzt wohl ist?, fragte sie sich.

»Guh-izz glack?«, brummte ihr neuer Freund.

Auch wenn seine Stimme rau klang und Cara keine Ahnung hatte, was die Worte bedeuteten, so spürte sie doch, dass er damit sein Mitgefühl ausdrücken wollte. Ohne darüber nachzudenken, legte sie ihre Hand auf den langen haarigen Arm des Bärenmannes.

»Guh-izz glack?«, wiederholte er freundlicher.

Danach schlief sie so schnell ein, dass sie später überzeugt war, dass es an dem Tee gelegen haben musste, den ihr der Bärenmann zu trinken gegeben hatte.

Als Cara von den Schmerzen in ihrer Seite wieder aufwachte, war es in der Höhle dunkler als zuvor. Vom Höhleneingang leuchtete silbernes Licht herein und sie vermutete, dass es Nacht war.

Wie lange hatte sie geschlafen? Und wo war ihr neuer Freund?

Die Einsamkeit, die sie für einen Augenblick überfiel, wich plötzlich einer Angst, die sie schaudern ließ.

Wenn ihr Beschützer nicht da war, bestand dann nicht die Möglichkeit, dass der Kobold, der sie im Wald angegriffen hatte, hierherkam und es noch einmal versuchte?

Ihre Furcht verdoppelte sich, als sie hörte, wie sich etwas vor der Höhle bewegte. Sie machte sich bereit, aus dem Bett zu springen, und hoffte, dass ihre Beine sie tragen würden. Gleichzeitig versuchte sie, so ruhig wie möglich zu bleiben, schließlich könnte es auch nur ihr Gastgeber sein, der – woher auch immer – zurückkehrte.

Doch Angst und Hoffnung wurden mit einem Mal fortgespült und wichen Staunen, als Cara ein überirdisch schönes Wesen im Mondlicht zum Höhleneingang treten sah. Schon allein der zauberhafte Anblick füllte Caras Augen mit Tränen.

Der Gestalt nach ähnelte das Wesen einem Pferd, war aber viel schmaler und anmutiger gebaut. Die Hufe waren gespalten, ähnlich denen einer Ziege. Mähne und Schweif glitzerten silbern, als ob sie aus Silberwolken und Mondlicht gesponnen wären. Zwischen den großen dunklen Augen wuchs ein spiralförmiges, mindestens drei Fuß langes Horn, das von innen heraus leuchtete.

Als das Einhorn auf Cara zukam, saß sie völlig bewegungslos da – nur ein leichtes Zittern überkam sie. Der Klang der Hufe, die gegen den steinigen Höhlenboden schlugen, erinnerte an Silberglöckchen.

Cara wollte dem Einhorn sagen, wie wunderschön es war, befürchtete aber, dass es beim Klang ihrer Stimme umdrehen und davonlaufen würde. Jedoch nicht aus Furcht – das Einhorn strahlte überwältigende Würde und Kraft aus. Cara konnte sich nicht vorstellen, dass es sich vor ihr – oder überhaupt irgendetwas – ängstigen könnte. Sie sagte nichts, weil der Moment so kostbar war, dass sie Angst hatte, das kleinste Geräusch könnte ihn zerstören.

Cara streckte ihre Hand aus.

Das Einhorn bewegte sich auf sie zu. Als es nur noch etwa fünf Fuß entfernt war, senkte es sein Horn und zeigte damit auf ihre Brust.

Cara hielt den Atem an. Was hatte das Einhorn vor? Obwohl sie wahrscheinlich nicht einmal genügend Kraft zum Stehen hatte, hielt sie sich bereit loszulaufen. Doch als wäre sie verhext, war es ihr unmöglich, sich zu bewegen.

Das Horn kam näher. Cara zuckte nicht mit der Wimper, als das Horn ihr T-Shirt berührte. Erst als es durch ihre Haut stieß, direkt auf ihr Herz zu, begann sie zu schreien.

Lightfoot

Der Schmerz war kurz und heftig. Als er verging, überzog ein Kribbeln Caras gesamtes Gesicht, als wäre sie von tausend winzigen Batterien elektrisch aufgeladen worden.

Das Einhorn machte überrascht einen Schritt rückwärts.

Cara schaute hinunter zu ihrer Brust. Der T-Shirt-Stoff war an der Stelle, an der das Horn sie berührt hatte, zerrissen. Doch die Haut darunter war makellos und ohne irgendwelche Blutspuren. Der einzige Beweis für das, was gerade eben passiert war, war eine winzige sternförmige Narbe.

Das Einhorn legte sein Horn sanft auf Caras Schulter. Zu ihrer Verwunderung begann es zu sprechen: »Ich habe bemerkt, dass ich nicht das erste meiner Art bin, das du in deinem Leben getroffen hast. Leider hast du eine Wunde im Herzen, die nicht einmal ich heilen kann.«

Diese rätselhafte Mitteilung erreichte Cara nicht, wie sonst, über gesprochene Worte – es waren keine Laute, die im Hals entstanden und an die Luft getragen wurden. Das silberfarbene Wesen sprach in ihrem Kopf. Das, was es ihr sagen wollte, drückte es in einer seltsamen Form von Bildern, Geräuschen, Gefühlen und sogar Gerüchen aus, die Cara nicht erklären konnte. Es war ihr aber alles so klar verständlich, dass sie sogar den überraschten Unterton bemerkte, der mit der Nachricht einherging.

»Ich wollte dir nicht wehtun«, fügte das Einhorn hinzu. »Ich habe nur ermöglicht, dass wir uns unterhalten können. Es ist einfacher, dich zu heilen, wenn wir miteinander sprechen können.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Sprich deine Worte nicht laut aus! So kann ich dich nicht verstehen. Bilde einfach nur den Gedanken und schicke ihn mir. Dazu musst du allerdings mit mir in Berührung bleiben, zumindest für den Moment.«

Obwohl das Horn schon auf ihrer Schulter lag, legte Cara zur Sicherheit auch noch vorsichtig ihre Hand darauf. Es war glatt, wie das Innere einer Muschelschale, und angenehm warm.

»Wo bin ich hier?«, fragte sie.

Sie wusste, dass das Einhorn ihre Nachricht erhalten hatte. Ich rede mit einem Einhorn! Sie war so aufgeregt, dass sie beinahe die Antwort verpasste.

»Du bist in der Höhle des Dumbeltum«, erklärte es ihr. »Im Wald der Königin, am Rande der Wildnis, in der Welt von Kirin.«

»Kirin?«, fragte sie neugierig.

»Dem Land der Einhörner«, antwortete es ihr.

Kurze Zeit konnte Cara keinen klaren Gedanken fassen. Dann sprudelten die Fragen nur so heraus: »Was ist mit mir passiert? Wer bist du? Was ist das für eine Kreatur, die in dieser Höhle lebt? Wie komme ich wieder nach Hause? Kennst du meine Großmutter? Warum hast du –«

»Warte, warte!«, unterbrach sie das Einhorn. »Ich kann dir nicht alle deine Fragen gleichzeitig beantworten. Lass uns mit ein paar einfachen anfangen. Mein Name ist Lightfoot. Und deiner?«

»Cara.«

»Was genau hat dich hierhergeführt, Cara? Nur wenige Menschen können in diesen Tagen die Grenzen nach Kirin überschreiten.« Lightfoot hielt inne, dann schaute er sie merkwürdig an und wiederholte: »Sehr wenige.« Dieses Mal klang die Nachricht nicht überrascht, sondern vielmehr besorgt.

Cara begann, ihre Geschichte zu erzählen, fiel aber immer wieder in die mündliche Sprache zurück, ohne es zu merken. Sie begann erneut. Es war überraschend schwierig, das, was sie sagen wollte, nur zu denken und nicht laut auszusprechen.

»Es wird mit der Zeit leichter«, sagte Lightfoot aufmunternd. »Versuch es noch einmal.«

Cara konzentrierte sich und schaffte es, bis auf drei-, viermal, die ganze Geschichte zu erzählen, ohne in die gewohnte Sprechweise zurückzufallen.

Das Einhorn schaute überrascht und ein wenig besorgt auf, als Cara erwähnte, dass ihre Großmutter sie beauftragt hatte, »die Älteste« zu suchen.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Nichts, erzähl weiter!«, antwortete das Einhorn.

Cara blickte Lightfoot argwöhnisch an, erzählte aber dann zu Ende. Als sie fertig war, sagte er: »Es ist doch ernster, als ich annahm, als der Dumbeltum deinetwegen zu mir kam.«

»Der Dumbeltum?«

»Der Dumbeltum ist dein Gastgeber und Retter. Du sitzt gerade auf seinem Bett. Er ist ein grummeliger Bursche und normalerweise ein Einzelgänger. Dementsprechend ist er es auch nicht gewohnt, jemanden hierzuhaben – aber ich glaube, dass er dich sehr mag. Es tut ihm gut, wenn du mich fragst – rüttelt ihn ein wenig auf.«

»Wo ist er jetzt?«

»Er sammelt ein paar Kräuter, die dir deine Kraft zurückbringen werden. Ich kann zwar jede deiner Wunden heilen, die du dir im Kampf zugezogen hast, aber um wieder vollständig zu Kräften zu kommen, ist mehr als nur Heilung nötig. Wahrscheinlich hat dich der Übertritt von deiner Welt nach Kirin auch Kraft gekostet. Du musst dich ein paar Tage ausruhen. Was das Heilen angeht: Welche Wunden hast du, um die ich mich kümmern kann?«

Über die Aufregung, ein echtes Einhorn zu treffen, hatte sie beinahe die Schmerzen in ihrer Seite vergessen. Aber die Frage erinnerte sie wieder an ihre schmerzende Wunde.

»Hier«, sagte Cara und zeigte auf ihre Seite.

Da wurde ihr bewusst, dass sie wieder einmal laut gesprochen und nicht gedacht hatte, was sie meinte. Doch dadurch, dass sie mit dem Finger auf die Wunde zeigte, wusste Lightfoot trotzdem Bescheid. Er ging ein paar Schritte zurück, dann legte er wieder sein Horn auf Caras Schulter und schickte ihr die Botschaft: »Zeig mir die Wunde!«

Cara zog ihr T-Shirt hoch. Die klaffende Wunde darunter war so entzündet, dass Cara erschrocken nach Luft schnappte. Die Schmerzen verstärkten sich auf einmal, als würde die Verletzung schlimmer werden, jetzt, da sie sich ihrer wirklich bewusst war.

Lightfoot drehte den Kopf, um das Problem besser in Augenschein nehmen zu können. Was immer er darüber dachte, bekam Cara nicht mit, da sie nicht länger in Berührung miteinander waren.

Dann drehte er den Kopf wieder zurück und legte sein Horn auf die Wunde. Cara schrie auf, als der Heilungsprozess begann. Doch nur kurze Zeit später war die Haut bereits zusammengewachsen und die Schmerzen verschwanden.

»Du hast mich geheilt!«, rief sie erleichtert.

Lightfoot nickte, drehte sich aber von ihr weg. Er machte drei Schritte. Dann gaben seine Beine nach und er sank auf den Boden der Höhle.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Cara zutiefst erschrocken. Als sie merkte, dass er sie weder verstehen noch antworten konnte, wischte sie die Blätter zur Seite, die sie bedeckten, und stand auf. Doch im gleichen Moment fiel sie auch schon wieder zurück aufs Bett. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und ließ sich auf den Boden fallen. Auf allen vieren kroch sie zu dem Einhorn hinüber. Sie legte eine Hand auf seine weiche Flanke und wiederholte verzweifelt: »Ist alles okay mit dir?«

Kaum hatte sie die Frage in Gedanken geformt, antwortete er ihr auch schon beruhigend: »Entschuldige bitte! Ich hätte dich vorwarnen sollen. Heilen beansprucht sehr viel Energie – und deine Heilung war komplizierter, als ich erwartet hatte.«

»Warum?«, fragte Cara beunruhigt.

Er zögerte und sagte dann: »Du hast eine alte Wunde, die sehr tief sitzt. Es ist eine Verwundung der Seele, nicht des Körpers, und die kann nicht so einfach geheilt werden, nicht einmal mit meiner Kraft.«

Cara blinzelte und nahm die Hand weg. Sie fühlte einen dicken Kloß im Hals.

Das Einhorn wartete einen Augenblick und lehnte sich dann gegen sie. »Ich kenne die Ursache deiner Wunde nicht«, sagte er sanft. »Ich kann keine Gedanken lesen, ich verstehe nur, was du mir sendest.«

»Ich möchte mich jetzt ausruhen!«, antwortete Cara schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Sie wollte gerade wieder zurück zu ihrem Lager kriechen, als sie es sich anders überlegte. Sie kroch stattdessen näher an Lightfoot heran, legte ihren Kopf auf seine Seite und seufzte. Über den Verlust ihrer Eltern hatte sie noch nie gesprochen. Noch nie, mit niemandem.

Sie war es gewohnt, ihren Kummer für sich zu behalten. Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.

Cara wachte auf, als jemand an ihren Haaren zog. Bevor sie die Augen öffnen konnte, hörte sie Lightfoot wiehern. Dann war ein aufgeregtes Schnattern zu hören.

Cara blickte um sich.

Direkt neben ihr stand ein Wesen, nicht größer als ein Zwerg, das aussah wie eine Mischung aus einem Äffchen und einem Eichhörnchen. Auf dem Kopf und am Rücken hatte es ein dichtes, dunkelgraues Fell; das Gesicht, der Bauch, die Arme und Füße waren in einem helleren Ton. Während es Cara aus großen Augen anstarrte, schlug sein buschiger Schwanz heftig hin und her. Die hellblauen Augen machten auf Cara einen lebhaften und intelligenten Eindruck.

Cara war es eigentlich gewohnt, dass kleine Tiere scheu gegenüber Menschen waren. Deshalb war sie sehr überrascht, als das graue Wesen begann, ihr Gesicht zu untersuchen. Mit den drei Fingern seiner Hand befühlte es ihre Wange und rieb dann mit seinem Daumen darüber.

»Hab keine Angst«, sagte Lightfoot zu Cara. »Er ist etwas nervig, aber harmlos.«

»Was … wer ist er?«, dachte Cara.

»Der Skijum«, antwortete das Einhorn in Gedanken.

Cara griff nach der kleinen Kreatur. Als ihre Hand den Skijum berührte, blinzelte er kurz, rannte aber nicht weg. Sein Fell war weich und warm.

»Wieso heißt er der Skijum?«, schickte sie Lightfoot ihre Gedanken. »Heißt das, dass er der Einzige seiner Art ist?«

»Ja, soweit ich weiß.«

»Wenn er der Einzige ist, wo kam er dann her?«

»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung«, erwiderte Lightfoot. »Und eigentlich interessiert es mich auch nicht«, fügte er noch spitz hinzu.

Der Skijum drehte seinen Kopf zu Lightfoot und schnatterte wie wild. Was er damit meinte, wäre für Cara auch ohne die Verbindung mit Lightfoot klar gewesen. Mit der Verbindung hörte sich das, was der Skijum von sich gab, etwa so an: »Langes-Horn-im-Kopf mag den guten Skijum nicht – pfui, schlechtes Pferd! Jawohl!«

Das Einhorn schnaubte entrüstet.

Plötzlich fiel ein Schatten über die drei. Kreischend kletterte der Skijum über Caras Seite und kauerte sich hinter sie.

Cara warf einen Blick über die Schulter. Für eine Sekunde blieb ihr vor Angst das Herz stehen. Doch dann entspannte sie sich wieder. Das, was am Eingang der Höhle stand, war das Wesen, das sie nach dem Erwachen als Erstes hier gesehen hatte – der Dumbeltum. Sie fragte sich, ob er wohl wie der Skijum auch der Einzige seiner Art war.

Der Dumbeltum schien zu lächeln, auch wenn das bei einem behaarten Bärengesicht wie diesem schwer zu erkennen war. Er hob seine große, pelzige Pfote und sagte: »Der Dumbeltum hat etwas, das dir gehört.«

Das Amulett der Königin

Das Amulett!«, rief Cara. »Wo hast du es gefunden?«

Der Dumbeltum schaute Lightfoot an, der daraufhin ein paar seltsame Laute von sich gab. Da wurde Cara klar, dass das Einhorn gerade ihre Worte für den Dumbeltum übersetzte. Das machte natürlich Sinn, denn nur weil sie den Dumbeltum durch ihre Verbindung mit Lightfoot verstand, hieß das nicht, dass auch er sie verstand.

Als das Einhorn mit der Übersetzung fertig war, kam tief aus Dumbeltums Kehle ein kicherndes Geräusch. »Der alte Dumbeltum hat so seine Tricks«, sagte er. Er ging zu Cara, die immer noch neben Lightfoot saß, und ließ das Amulett in ihren Schoß fallen.

Sie nahm es mit ihrer freien Hand und schrie entsetzt auf, als sie sah, dass die goldene Kette gerissen war.

»Ganz ruhig«, meinte Lightfoot. »Ketten können wieder zusammengeschmiedet werden. Es ist wichtiger, dass wir das Amulett überhaupt zurückhaben.«

Cara errötete bei diesen Worten, drehte sich zu dem Dumbeltum um und sagte beschämt: »Danke.« Lightfoot übersetzte für sie. Der Bärenmann nickte und brummte zufrieden.

»Wie hast du es geschafft, dem Delfer das Amulett wieder abzunehmen?«, fragte das Einhorn und wiederholte damit das, was Cara vorhin durch den Kopf gegangen war. Er sprach es für den Dumbeltum laut aus, schickte die Frage aber gleichzeitig in Gedanken an Cara. Durch das Bild, das er ihr von dem »Delfer« schickte, wusste sie nun, dass so die Kreatur hieß, die sie im Wald angegriffen hatte.

Der Dumbeltum kicherte wieder. »Die Freunde des Dumbeltum folgten dem Delfer durch den Wald. Sie behielten den Delfer im Auge und blieben ihm auf den Fersen. Die Freunde des Dumbeltum merkten sich den Weg. So war es für den Dumbeltum einfach, den Delfer zu finden. War einfach, dem Delfer das Amulett abzunehmen.«

Dann runzelte der Bärenmann die Stirn und streckte seine Hand aus. Cara interpretierte diese Geste so, dass er das Amulett haben wollte, und gab es ihm. Er hielt die kaputte Kette zwischen seinen pelzigen Fingern und sagte: »Schwierig zu entscheiden, was jetzt geschehen soll. Es kann nicht hierbleiben.«

»Warum nicht?«, fragte Lightfoot erstaunt.

»Schau genau hin! Das ist eines der Fünf.«

»Waaaas?«, kreischte da der Skijum und rannte an dem Dumbeltum hoch, als wäre er ein Baum. »Lasst sehen! Lasst sehen!«

Der Dumbeltum pflückte den Skijum von seiner Schulter und setzte ihn auf dem Boden ab.

»Will sehen!«, zischte er. Aber er blieb, wo er war – zumindest bis Dumbeltum Lightfoot das Amulett zeigte. Da huschte er zwischen die Füße des Dumbeltum und schaute mit ernster Miene nach oben.

Nach einem kurzen Moment seufzte Lightfoot und stellte fest: »Du hast recht. Es ist tatsächlich eins der Fünf.«

»Was meint ihr denn damit?«, fragte Cara neugierig.

Das Einhorn schloss die Augen. »Vor vielen, vielen Jahren befahl die Königin, fünf Amulette anzufertigen als Geschenk für diejenigen, die viel für das Land Kirin getan hatten. Ob dies eine weise Entscheidung war, wird auch heute noch heftig diskutiert. Denn die Magie der Amulette besteht darin, dass sie es ihrem Träger ermöglichen, zwischen der Erde und Kirin hin und her zu wandern, ohne eines der Haupttore benutzen zu müssen. Das bedeutet natürlich große Macht. Und wie das meistens mit großer Macht ist, kann diese leicht missbraucht werden. Wie bist du eigentlich an das Amulett gekommen?«

»Meine Großmutter hat es mir gegeben.«

»Wer ist deine Großmutter?«, fragte das Einhorn.

»Ihr Name ist Ivy Morris.«

»Das kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Lightfoot nach einer kleinen Pause. »Ich glaube, ich hätte in der Geschichtsstunde besser aufpassen sollen.«

Cara versuchte sich gerade mit dem Gedanken anzufreunden, dass ihre Großmutter etwas wirklich Bedeutendes für diese Welt hier geleistet haben musste, als der Dumbeltum grummelte: »Das Amulett muss zur Königin!«

»Warte mal einen Augenblick«, protestierte Cara. »Meine Großmutter hat es mir gegeben, damit ich es ›der Ältesten‹ bringe. Und genau das werde ich auch tun. Das Amulett bleibt bei mir!«

Cara fragte sich, ob sie die anderen wohl mit ihren Worten verärgert hatte. Aber Lightfoot lachte nur – ein helles, schönes, glockenartiges Lachen.

»Was ist denn daran so lustig?«, wollte sie wissen.

»Einer der vielen Namen, die die Königin trägt, ist ›die Älteste‹. Also hat der Dumbeltum genau das vorgeschlagen, was auch deine Großmutter wollte.« Er seufzte leise und fügte dann hinzu: »Ich fürchte leider, dass der Dumbeltum recht hat mit dem, was er gesagt hat.«

»Natürlich hat er recht!«, brummte der Bärenmann. »Wenn das Amulett in falsche Hände fällt …«

Er brach ab und schüttelte bei dem Gedanken besorgt den Kopf.

»Ich kann helfen, kann Weg führen!«, schnatterte plötzlich der Skijum.

Lightfoot schnaubte verächtlich.

»Klein und schnell!«, schnatterte der Skijum weiter und hüpfte aufgeregt auf den Füßen des Dumbeltum auf und ab. »Klein und schnell, kann suchen und finden! Will mitgehen! Jawohl!«

»Wenn ich Nein sage, dann folgst du uns wahrscheinlich trotzdem«, sagte Lightfoot seufzend.

»Ja, ja! Wunderbares Ja!«, rief der Skijum erfreut aus und umarmte seinen buschigen Schwanz.

»Wie steht es mit dir?«, fragte Lightfoot und wandte sich dabei an den Dumbeltum. »Wirst du uns begleiten, wenn wir zur Königin gehen?«

Der Dumbeltum gab einige Groll- und Brummlaute von sich, die übersetzt lauteten: »Der Dumbeltum wird einen Teil des Weges mitkommen. Aber trotz deiner Freundschaft mit dem Dumbeltum, hat der Dumbeltum wenig Liebe für deine Art – ihr seid Eindringlinge. Der Dumbeltum wird den Hof der Königin nicht betreten.«

»Du bist ein Eindringling?«, fragte Cara Lightfoot.

»Das erkläre ich dir später«, war seine knappe Antwort.

Die Beratung endete rasch, nachdem entschieden war, dass das Amulett zur Königin gebracht werden sollte. Es war nicht die Art des Dumbeltum, lange herumzusitzen und zu reden. Sobald die Entscheidung feststand, machte er sich bereit zu gehen. Und da es nichts zu packen, keine Verwandten zu informieren, keine Post abzubestellen gab, hätten sie eigentlich gleich aufbrechen können. Es gab nur ein Problem: Cara und Lightfoot waren beide noch zu schwach zum Reisen.

»Morgen früh bei Sonnenaufgang«, versprach das Einhorn. »Dann werde ich bereit sein.«

Der Dumbeltum gab ein tiefes, unzufriedenes Grollen von sich.

»Je länger wir warten, desto wahrscheinlicher, dass die Delfer uns finden. Sie werden wütend sein, dass der Dumbeltum das Amulett an sich genommen hat. Der Dumbeltum wird mit drei oder vier von ihnen leicht fertig. Aber wenn sie mehr schicken, geraten der Dumbeltum und seine Freunde in echte Schwierigkeiten.«

»Genauso schwierig würde es werden, wenn wir zu früh aufbrächen«, erwiderte Lightfoot. »Das Mädchen und ich würden nur langsam vorankommen und dadurch zur leichten Zielscheibe werden. Bis zum Morgengrauen werde ich wieder vollständig bei Kräften sein und kann sie dann notfalls tragen.«

Der Dumbeltum grummelte zwar, sah aber ein, dass dies doch die bessere Alternative war. Er hob Cara mit seinen kräftigen Armen hoch und legte sie wieder ins Bett. Unruhig lief er eine Weile lang in der Höhle auf und ab und verschwand dann schließlich wieder hinaus in die Nacht.

Als der Bärenmann gegangen war, kniete sich Lightfoot neben Caras Bett. Sie legte eine Hand auf seine Schultern.

»Ich hab so viele Fragen!«, schickte sie ihm ihre Gedanken.

»Meine Mutter sagt, dass ich immer auf alles eine Antwort habe«, antwortete Lightfoot und grinste amüsiert. »Natürlich behauptet sie auch, dass die meisten meiner Antworten weder richtig noch weise sind. Aber ich werde mein Möglichstes versuchen.«

»Wo ist deine Mutter?«, fragte Cara. Sie hatte noch Tausend andere Fragen, die ihr dringend auf der Seele brannten. Aber ein plötzliches Gefühl sagte ihr, dass das Einhorn vielleicht doch noch nicht so alt war, wie sie bisher angenommen hatte. Dies und ihr grundsätzliches Interesse an verschwundenen Müttern schoben alle anderen Fragen erst mal beiseite.

»Sie lebt in Summerhaven«, erzählte Lightfoot. »Zusammen mit der Königin.«

Cara verspürte eine leichte Unsicherheit in Lightfoots Ton. Sie erinnerte sich an seinen Kommentar von vorhin, als er es bedauerte, dass der Dumbeltum mit seinen Worten recht hatte, und fragte vorsichtig: »Du willst nicht wirklich dorthin, oder?«

»Darüber möchte ich nicht sprechen«, entgegnete er scharf. »Als du gemeint hast, dass du Fragen hast, war mir nicht klar, dass alle mich betreffen würden!«

Cara nahm ihre Hand von seiner Schulter. Sie war ein wenig überrascht, wie aufgebracht Lightfoot war. Nach einer kurzen Pause versuchte sie es noch einmal. »Warum hat dich der Dumbeltum Eindringling genannt?«

Das Einhorn seufzte tief. »Mein lieber Freund mochte es überhaupt nicht, dass wir Einhörner einst von der Erde hierherkamen. Aber ich glaube, wir stören ihn gar nicht so sehr, sondern mehr die Tatsache, dass wir die Tore zwischen der Erde und Kirin auch für andere geöffnet haben. Er macht uns für jeden verantwortlich, der daraufhin hierhergekommen ist – so wie die Delfer.« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Außerdem vermute ich, dass irgendetwas zwischen ihm und der Königin vorgefallen ist. Unglücklicherweise war es mir nie möglich, etwas darüber zu erfahren.«

»Ist die Königin ein Mensch oder ein Einhorn?«, fragte Cara.

Lightfoot schnaubte empört über ihre Vermutung, dass die Königin ein Mensch sein könnte. »Ihr Name ist Arabella Skydancer«, erklärte er, »und sie ist die Älteste und Weiseste von uns. Leider wird sie in letzter Zeit immer dünner. Manchmal kann man schon fast durch sie hindurchsehen.«

»Dünner?«

Eine unangenehme Stille machte sich zwischen ihnen breit. Nach einer Weile murmelte Lightfoot: »Ich habe schon mehr gesagt, als ich sollte.«

Cara knirschte mit den Zähnen. Sie hasste es, wenn jemand etwas andeutete, aber dann nicht zu Ende brachte.

»Wie weit ist es zur Königin?«, fragte sie in der Hoffnung, dass ihr wenigstens diese Frage von Lightfoot beantwortet werden würde.

»Mehrere Tage. Wie viele, hängt zum einen davon ab, wie schnell wir reisen können – und zum anderen, auf wie viele Schwierigkeiten wir während der Reise treffen werden.«

»Rechnest du denn mit Schwierigkeiten?«

»Kommt drauf an, was die Delfer vorhaben.«

»Erzähl mir ein wenig von ihnen!«, forderte Cara Lightfoot auf.

»Scheußliche Kreaturen sind das«, antwortete Lightfoot. Sie konnte fühlen, wie seine Muskeln unter ihren Fingern erzitterten. »Sie leben im Untergrund und sind die erbitterten Feinde der Einhörner.«

Seine Nachricht bestand natürlich nicht aus Worten, sondern aus Bildern eines Delfer.

»Warum sind sie eure Feinde?«, fragte Cara.

»Dafür gibt es viele Gründe«, antwortete Lightfoot. Dann fügte er noch hinzu: »Unser Weg führt uns an Grimwalds Höhle vorbei. Vielleicht kann er dir mehr über sie erzählen.«

»Grimwald?«

»Er ist der Wächter der Einhornchroniken und er kennt mehr Geschichten als irgendjemand sonst in der Welt. Wie auch immer, jetzt gerade interessiert mich eigentlich nur eine Geschichte, und das ist die, in der wir uns befinden. In dieser Geschichte gibt es augenblicklich nur eines für uns zu tun: schlafen zu gehen, damit wir morgen ausgeruht unsere Reise antreten können.«

Cara wollte liebend gerne protestieren. Ihr Kopf war voll mit unzähligen Fragen. Aber sie hatte sich heute schon genug zugemutet, ihr Körper schrie förmlich nach Schlaf. Ihre Neugier stand im Moment an zweiter Stelle.

Cara lehnte sich zurück und fiel fast sofort in tiefen Schlaf, aus dem sie nur kurz erwachte, als der Dumbeltum mit einigen Blättern und Beeren zurückkam. Sie beobachtete ihn, wie er Tee kochte und diesen dann in einem der hölzernen Becher zu ihr brachte. Sie erinnerte sich noch gut an den Tee, den er ihr letztes Mal zubereitet hatte, und nahm einen großen Schluck.