Die Einhornchroniken 3 - Die Schlacht am Weltenbaum - Bruce Coville - E-Book

Die Einhornchroniken 3 - Die Schlacht am Weltenbaum E-Book

Bruce Coville

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Beschreibung

Die hasserfüllte Beloved ist mit ihren Jägern in das wundersame Land Kirin eingedrungen. Jetzt hat sie die Chance, die Einhörner ein für alle Mal auszulöschen! Kirins magische Bewohner schweben damit in größter Gefahr: Die Jäger haben bei ihrem rücksichtslosen Einfall ins Land der Einhörner den Weltenbaum schwer verletzt! Und mit ihm liegt auch Kirin im Sterben … Nur erbitterter Widerstand gegen Beloved und die Heilung des Weltenbaums können Kirin retten. Während die Einhörner sich auf die alles entscheidende Schlacht vorbereiten, erbittet Cara Hilfe vonseiten der Drachen. Mehr und mehr Bewohner Kirins verbünden sich, um ihre Welt zu retten – doch die Zeit verrinnt schnell ... "Die Schlacht am Weltenbaum" ist der dritte Band der Einhornchroniken. Die Fantasy-Reihe von Bruce Coville entführt Leserinnen ab 10 Jahren in eine märchenhafte Welt voller Magie und zauberhafter Fabelwesen.

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Die Legende der Großen Jagd

Zum letzten Mal greife ich, Grimwald, Hüter der Einhornchroniken, zum Stift, um niederzuschreiben, wie die Große Jagd ihren Anfang nahm. Nach alter Tradition geschieht dies alle zehn Jahre einmal, seit dem Tag, als die Einhörner Kirin betraten. Diese Geschichte birgt das Geheimnis hinter allem, was den Einhörnern seit jeher widerfahren ist. Und sie zu erzählen, ist unsere Art, die Erinnerung daran lebendig zu erhalten.

Woher die Einhörner kamen, weiß niemand. Doch es besteht kein Zweifel daran, dass ihr Erscheinen aus der alten Erde einen reicheren und süßeren Ort machte. Zu dieser Zeit lebten Menschen und Einhörner größtenteils getrennt voneinander. Und dennoch waren sie nicht verfeindet.

Nun verhält es sich so: Obschon Einhörner sehr lange leben, sind sie nicht unsterblich. Und schließlich kam der Tag, an dem das erste verstarb. Leider wurde sein Horn – denn nichts sonst war von ihm übrig geblieben, da sein Körper sich aufgelöst hatte, wie es bei den Einhörnern nun einmal so ist – von einem Mann gefunden, der bald darauf entdeckte, dass darin noch immer ein mächtiger Heilzauber ruhte. Damit hätte er sich zufriedengeben können. Aber er wollte tapfer und wagemutig erscheinen und so prahlte er damit, dass das Einhorn – das lange tot gewesen war, bevor der Mann das Horn überhaupt fand – eine grässliche Bedrohung gewesen sei. Und er habe mit ihm bis zum Tode gerungen.

Wie Lügen es an sich haben, verbreitete sich die Geschichte vom blutrünstigen Einhorn wie ein Lauffeuer – ebenso wie die Wahrheit über die heilenden Kräfte des Horns.

Zu dieser Zeit begab es sich, dass die Tochter eines Mannes – ein Jäger durch und durch – lebensbedrohlich erkrankte. Der Vater beschloss, sich auf die Suche nach solch einem magischen Horn zu machen, um sie zu retten, und bereitete sich auf den Kampf mit einer grauenhaften Bestie vor. Da seine Frau bereits tot war, nahm er seine Tochter (die er Beloved getauft hatte) mit sich.

Eines verhängnisvollen Tages ließ der Jäger Beloved auf einer Lichtung im Wald zurück, wo sie sich ausruhen sollte. An jenem Nachmittag erfasste ein unglücklicher Windstoß den Geruch des Kindes und seiner Krankheit und trug ihn zu einem Einhorn namens Weißling. Weißling kam auf die Lichtung, um zu helfen. Behutsam und zärtlich näherte er sich, kniete sich zu Beloved und presste die Spitze seines Horns in ihre Brust, um sie zu heilen.

In diesem Moment kehrte der Jäger zurück und schrie entsetzt auf, da er dachte, er müsse mit ansehen, wie ein Einhorn seine Tochter tötet. Flink feuerte er einen Pfeil ab. Dieser bohrte sich dem Einhorn ins Herz, im selben Augenblick, da auch das Horn ins Herz des Not leidenden Mädchens drang.

Vor Schreck und Schmerz riss Weißling den Kopf in die Höhe – so plötzlich, dass die Spitze des Horns abbrach und in Beloveds Herzen stecken blieb.

Der Jäger stürzte sich auf Weißling und vor den Augen des verängstigten Mädchens kämpften Mann und Einhorn einen Kampf bis auf den Tod. Sie sah mit an, wie beide ihr Leben ließen, und die Worte ihres Vaters über die Bösartigkeit der Einhörner brannten sich in Beloveds Herz ein, das an diesem Tag zum ungewöhnlichsten Herzen der ganzen Welt geworden war. Denn immerfort, in jedem Augenblick, wird es von dem Splitter darin verwundet und gleichzeitig vom mächtigen Zauber des Horns wieder geheilt.

Angetrieben von Schmerz und Wut und am Leben gehalten von dieser seltsamen Magie, wurde Beloved zum erbitterten, ewigen Feind der Einhörner. Fortan strebte sie danach, die magischen Wesen zu vernichten, um Rache für ihren Vater zu üben und ebenso um ihnen die nie endenden Qualen ihres Herzens zu vergelten.

Dies war der Anbeginn der langen Jagd, die schon jahrhundertelang dauert, da die unsterbliche Beloved noch immer nichts sehnlicher erstrebt als die Ausrottung derer, denen sie die Schuld an ihrem Unglück gibt.

Nun, zuletzt jedoch, ist es vorbei. Ich nehme meinen Stift, um hier, zwischen dem, was von meinen Höhlen übrig geblieben ist, von der Freude und dem Leid, dem Triumph und der Tragödie zu berichten, die die letzten Tage der Jagd erfüllten …

Grimwald

Vierter Hüter der Einhornchroniken

Königlicher Hain, Kirin

Prolog

Er betrachtete das Samenkorn. Sanft leuchtend lag es in seiner riesigen Hand.

Dass er den Samen stehlen musste, um seinen Plan durchführen zu können, hatte ihn bekümmert. Aber nur ein wenig. Samen sollten wachsen und nicht irgendwo gehortet und versteckt werden.

Nichtsdestotrotz wusste er, dass die Bestrafung fürchterlich sein würde, wenn man ihn dabei ertappte.

In seiner anderen Hand hielt er die Reste einer Sternschnuppe. Dies war ebenfalls verboten, denn die Kraft des Sterns war auch nach dem Fall gewaltig und durfte nicht von jemandem seines Standes benutzt werden.

Doch auch dies störte ihn kaum.

Was ihn in Wahrheit bedrückte, war das Blut. Denn Blut zu vergießen – selbst wenn es wie geplant sein eigenes war –, war die schwerste aller Sünden. Aber ohne die Leben spendende Flüssigkeit war alles andere nutzlos.

Er presste den Samen in den noch immer glühenden Stern, nahm ein Messer aus seinem Gürtel und schnitt sich damit in die Handfläche.

Blut sickerte aus der Wunde. Es war glänzend rot und warm.

Einige Tropfen fielen auf das Samenkorn. Als es mit dem Blut in Berührung kam, fing es an zu wachsen.

Er lächelte.

Es hatte begonnen.

Die Nacht des Blutmonds

»Der Ansturm der erfolgreichen Streitkräfte ist wie ein Wasserfall, der in eine tausend Faden tiefe Schlucht stürzt.«

Sunzi: Die Kunst des Krieges

Der Mond geht auf

Cara Diana Hunter rückte dichter an ihre Großmutter Amalia Flickerfoot – die Königin der Einhörner – heran. Weder sie noch die Königin konnten die Augen vom Himmel abwenden, an dem der rubinrote Kreis des aufgehenden Blutmondes höher und höher stieg.

Rechts von Cara stand ihr Freund Medafil, der sie nach ihrer Reise zum Tal der Zentauren wieder zurück nach Autumngrove geflogen hatte. Medafil war ein Greif, mit dem Kopf und den Flügeln eines Adlers – wenn auch sehr viel größer – und dem Unterleib eines gewaltigen gelbbraunen Löwen. Gerade öffnete und schloss er immer wieder seinen Schnabel. Cara wusste, dass er vor sich hin murmelte – was er immer dann tat, wenn er nervös war. Hin und wieder zuckten seine buschigen Ohren, die das Einzige an seinem Kopf waren, was nicht einem Adler glich. Sein langer dünner Schwanz peitschte ebenfalls unruhig von einer Seite zur anderen und ähnelte – bis auf das Fellbüschel am Ende – einer Schlange im Mondlicht.

Um den Greif, das Mädchen und die Königin standen bis in den Wald hinein unzählige Einhörner. Wahrscheinlich war es die größte Zusammenkunft aller Zeiten, denn es hatte sich herumgesprochen, dass Kirin in Gefahr war. So war beinahe jedes Einhorn des Landes nach Autumngrove gekommen. Alle hatten die schreckliche Nachricht vernommen, dass Beloved im Besitz eines der mächtigen königlichen Amulette war, mit denen man jederzeit zwischen der Erde und Kirin hin und her pendeln konnte. Normalerweise beförderten die Amulette nur ein oder zwei Menschen – oder Einhörner. Niemand zweifelte jedoch daran, dass Beloved das Amulett dazu verwenden würde, ein Tor zu schaffen, um dann eine ganze Armee an Jägern hindurchzuschleusen. Alle wussten, dass sie die Einhörner ausrotten wollte.

Ein weiteres Gerücht ging um, dass die Delfer einen machtvollen Gegenstand von M’Gama, der Geomantikerin, gestohlen hatten – einen Gegenstand, mit dem Beloved frei wählen konnte, wo in Kirin sie ihren Angriff starten wollte.

Welche Stelle das sein würde, konnte niemand sagen, denn es war nicht sicher, ob Beloved sich überhaupt in Kirin auskannte. Die Königin hatte M’Gama gebeten, mit ihren magischen Kräften Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Die Geomantikerin hatte eingewilligt, doch dann seltsamerweise nichts mehr von sich hören lassen. Da dies eigentlich nicht ihre Art war, machte sich die Königin große Sorgen – M’Gama war schließlich ihre engste und mächtigste Verbündete.

Bevor der Kontakt zu M’Gama abgebrochen war, hatte sie der Einhornkönigin jedoch noch eine wertvolle Information gegeben, nämlich wann der Überfall erfolgen werde: Noch in dieser Nacht, der Nacht des Blutmondes, am Jahrestag des Kampfs zwischen Weißling und Beloveds Vater!

Cara schauderte, während sie beobachtete, wie der purpurrote Kreis über ihnen langsam höher stieg. Sie hatte nicht nur Angst um die Einhörner, sondern fürchtete auch um Kirin. Sie hatte diese Welt so sehr lieben gelernt, dass ihr ganz schlecht wurde, wenn sie daran dachte, dass nun alles zerstört werden sollte.

Und was das Ganze noch schlimmer machte: Cara wusste, dass Beloved speziell nach ihr suchte, auch wenn sie keine Ahnung hatte, warum. Gerade wollte sie sich an ihre Großmutter lehnen, als die Königin schmerzerfüllt aufschrie.

»Was ist los?«, fragte Moonheart beunruhigt, der nicht weit entfernt stand. »Was ist passiert, Schwester?«

Die Königin schüttelte den Kopf, sodass ihre Mähne in silbernen Wellen über ihre Schultern floss. »Ich weiß es nicht, Bruder. Es war, als ob mir irgendetwas einen Schlag versetzt hätte. Ein Gefühl wie …«

Doch noch bevor sie weiterreden konnte, fing der Boden unter ihnen an zu vibrieren.

Die versammelten Einhörner wieherten panisch, stiegen auf die Hinterbeine und schlugen mit den Vorderhufen in die Luft.

»Fürchtet euch nicht!«, schrie die Königin. »Habt keine Furcht!« Ihre Stimme verlor sich im Durcheinander. Doch das Beben dauerte nur einen Augenblick, und als das Schlimmste vorbei war, beruhigten sich die Einhörner wieder.

»Fürchtet euch nicht!«, rief Amalia abermals. »Erinnert euch daran, dass dies in der alten Welt auch hin und wieder geschah. Man nennt das ein Erdbeben.«

»Aber es ist noch niemals hier in Kirin passiert!«, sagte Moonheart. »Was hat das zu bedeuten?«

Amalia Flickerfoot blickte ihren Bruder besorgt an, bevor sie antwortete: »Es heißt wohl, dass Beloved ihr Tor geöffnet hat.« Sie hielt inne und sagte dann wie zu sich selbst: »Aber ein neues Tor sollte nicht solch eine Erschütterung verursachen. Was hat sie nur getan?«

Auch wenn die Königin versuchte, es zu verbergen, war die Angst in ihrer Stimme so deutlich, dass es Cara kalt den Rücken hinunterlief.

Der verwundete Baum

Während Cara und ihre Großmutter den aufgehenden Mond betrachteten, stand auch Lightfoot zitternd im blutroten Licht und konnte kaum glauben, was er sah.

Keine zwanzig Fuß vor ihm ragte Axis Mundi auf, der Mittelpunkt von Kirin, ein Baum, so gewaltig, dass er beinahe das komplette Blickfeld des Einhornprinzen einnahm. Zwischen Lightfoot und dem Baum war ein Steinhaufen aufgeschichtet, fast so hoch wie der Prinz selbst, und darauf lag ein Ball aus Draht. Lightfoot hatte beobachtet, wie ihn sein Freund, der Dumbeltum, wenige Augenblicke zuvor dort hingelegt hatte. Es war der »Anker«, der es Beloved ermöglichte, an einer bestimmten Stelle Kirin zu betreten.

Die Explosion, die erfolgte, nachdem der Dumbeltum die Kugel platziert hatte, warf den Prinzen um und machte ihn vorübergehend blind. Als er wieder auf den Beinen war und seine Sicht sich klärte, bemerkte er zwei Dinge, die ihn zutiefst beunruhigten: Der Dumbeltum war verschwunden und das Drahtgeflecht glühte.

Sofort galoppierte Lightfoot auf den Steinhaufen zu, um den leuchtenden Ball auf den Boden zu werfen und zu zertrampeln. Aber obwohl er es dreimal versuchte, schaffte er es nicht heranzukommen. Irgendein magischer Schutzwall hielt ihn davon ab.

Mit Grauen beobachtete er nun, wie sich die Drahtkugel wie von unsichtbarer Hand in die Luft erhob. Als sie etwa einen Fuß über den Steinen schwebte, begann sie, sich zu drehen. Außerdem versprühte sie rote und gelbe Funken, die auf den mit silberblauen Blättern bedeckten Waldboden fielen. Einen Moment lang fürchtete Lightfoot, dass das Laub Feuer fangen würde. Als dies nicht geschah, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die herumwirbelnde Kugel.

Langsam und ohne einen einzigen Laut bewegte sich der Drahtball auf den großen Baum zu. Lightfoots Herz begann wie wild zu pochen und mit aller Kraft warf er sich gegen die magische Barriere.

Doch es nützte nichts, der Schutzwall hielt stand.

Die glühende Kugel prallte gegen den Stamm und der Prinz musste die Augen abwenden, als eine helle, gewaltige Druckwelle über ihn hinwegfegte. Die Erde bebte und durch die ungeheure Kraft wurde er erneut zu Boden geworfen.

Als sich Lightfoot wieder dem Baum zuwandte, schrie er erschrocken auf. Im Stamm klaffte ein riesiges Loch. Es erstreckte sich vom Boden bis etwa auf Schulterhöhe des Prinzen und war so breit, dass fünf Männer nebeneinander hindurchgehen konnten.

Weit, weit über sich hörte Lightfoot ein Klagen und Ächzen, als ob die Zweige den Schmerz des Baumes hinausschreien wollten.

In der Öffnung schimmerte ein Schleier aus lichtem Nebel. Hinter diesem dünnen Vorhang konnte Lightfoot undeutlich eine andere Welt erkennen – eine Welt, die von steinernen Mauern umgeben war.

Der Prinz benötigte ein paar Augenblicke, bis er begriff: Er blickte auf eine Festung – von der Art, wie sie in den alten Geschichten und Liedern beschrieben wurden, die die Einhörner von der Erde nach Kirin mitgebracht hatten.

Es war jedoch nicht das Schloss, das Lightfoot mit Schrecken erfüllte. Es war das, was hinter dem Nebelschleier in Erscheinung trat: Reihe um Reihe grimmig aussehender, wütend dreinblickender Männer.

Der Prinz erschrak. Das waren nicht nur »Männer«.

Es waren Jäger.

Und das Schlimmste daran war, dass sie von jemandem angeführt wurden, den Lightfoot nur zu gut von ihrem letzten Zusammentreffen kannte: Beloved, die ewige Feindin der Einhörner.

Dem Prinzen wurde ganz mulmig zumute, als Beloved dem schimmernden Vorhang immer näher kam. Ihre roten Augen loderten und ihr silberweißes Haar wogte auf und ab, als ob es ein Eigenleben führte.

Lightfoot rappelte sich hoch. Sein erster Impuls war, über die Weide, die den Baum umgab, zu fliehen. Aber das würde sicherlich die Aufmerksamkeit der Eindringlinge erregen. Und es würde den Einhörnern auch nichts nutzen. Besser – wenn auch weitaus beängstigender – wäre es, den Feind auszuspionieren. Mit diesem Gedanken trabte der Prinz eilig um den Baum herum, dessen Stamm so breit war, dass er sich gut dahinter verstecken konnte.

Zwar konnte er nichts sehen, aber er lauschte angestrengt den verblüfften Rufen der Männer, die aus dem Durchgang traten. Es war offensichtlich, dass sie entgegen aller Vorbereitung völlig überrascht waren, sich auf einmal in einer anderen Welt wiederzufinden.

Zu seinem Erstaunen hatte Lightfoot das plötzliche Bedürfnis, zu ihnen zu gehen – ein Gefühl, so kraftvoll und überwältigend, dass es ihm schwerfiel zu widerstehen. Er konnte es sich nicht erklären, bis er den Grund dafür vernahm: Zusammen mit den Männern war eine Gruppe junger Frauen angekommen.

Lightfoot fröstelte. Seit der Zeit, als Weißling ermordet wurde, verspürten die Einhörner den Drang, Jungfrauen zu Hilfe zu eilen. Mit Grausen wurde dem Prinzen bewusst, dass Beloved diese Mädchen mit nach Kirin gebracht hatte, um sie als Köder zu benutzen. Sie wollte die nichts ahnenden Einhörner in den Tod locken!

Die Wut, die in Lightfoot aufflammte, spülte seine Furcht fort. Er wollte nichts lieber, als die Jäger mit seinen Hufen zu zertrampeln, sie mit seinem Horn aufzuspießen und so viele wie nur möglich zu verletzen und zu töten. So lange, bis sie ihn mit ihren Schwertern und Spießen zu Fall bringen würden. Doch dann schüttelte er den Kopf, weil er einsah, dass es nicht sehr klug wäre. Die Königin musste unbedingt von all dem erfahren und er war der Einzige, der ihr davon berichten konnte. Er durfte weder sterben noch als Gefangener enden. Mit einem Mal fiel jegliche Angst, die der Prinz um sich selbst hatte, ab und wurde von einer viel größeren ersetzt: der Angst um das Schicksal aller Einhörner. Seit Jahrhunderten schon versuchte Beloved die magischen Wesen auszulöschen. Sollte es ihr letztendlich gelingen?

Lightfoot spähte vorsichtig um den Stamm, um die Jäger zu zählen. Aber es half ihm wenig. Einhörner haben wenig Sinn für Zahlen und Lightfoot hatte noch nie solche Massen an Männern gesehen, wie sie jetzt an ihm vorbeiströmten. Waren es mehr, als es Einhörner gab? Wie viele Einhörner lebten überhaupt in Kirin? Wieso nur hatte er solchen Dingen nie mehr Aufmerksamkeit geschenkt?

Es kamen immer mehr Menschen. Sie füllten beinahe schon den ganz Platz vor dem Baum aus. Bereits kurze Zeit später standen sie bis zu der Stelle, an der Lightfoot vorhin gegen die magische Barriere geprallt war. Er fragte sich, ob der Schutzwall inzwischen außer Kraft gesetzt war oder ob man grundsätzlich nur von einer Seite hindurchkam.

Genug!, befahl er sich. Ich kann später noch darüber nachdenken. Jetzt muss ich mich darauf konzentrieren, nicht gesehen zu werden. Und das bedeutet … das bedeutet …

Lightfoot verlor den Faden, weil er von den Jungfrauen abgelenkt wurde, die gerade an seinem Versteck vorbeigingen.

Wie seltsam, dachte er. Auch wenn ich weiß, warum sie hier sind, zieht es mein Herz trotzdem zu ihnen. Ich frage mich, ob sie wissen, was für einen Verrat sie begehen sollen – ob ihnen bewusst ist, was zerstört wird, wenn sie Erfolg haben?

Er zwang sich, die Mädchen nicht weiter zu beachten, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Prozession der Jäger zu.

Plötzlich kamen die Männer zum Stehen. Lightfoot bemerkte, dass auch Beloved angehalten hatte. Die Männer und Frauen versammelten sich und Beloved drehte sich zu ihnen. Sie erhob die Arme und rief: »Meine Kinder!«

Ihre Stimme war klar, kraftvoll und verführerisch – selbst für Lightfoot, der sie fürchtete und hasste.

Dann fing sie an, sich in Rage zu reden. Ein wenig konnte der Prinz davon verstehen. Sein Vater, Tanzendes Herz, hatte immer behauptet, dass Lightfoot eine außergewöhnliche Begabung für Sprachen besaß. Deshalb konnte der Prinz auch mit so fremden Wesen wie den Delfern und dem Dumbeltum sprechen. Und durch seine Freundschaft mit Cara hatte er einige Wörter und Ausdrücke der Menschen gelernt. So begriff Lightfoot auch, dass Beloved die Männer dazu aufforderte, loszumarschieren, um so schnell so viele Einhörner zu töten wie nur möglich. Immer wieder schnappte er die Wörter »Blut« und »böse« auf. Und auch wenn er leider nicht alles verstand, fühlte er sich durch ihren Hass beschmutzt. Er hatte das Bedürfnis, sich an einem klaren Bach von all dem Dreck aus Beloveds Mund reinzuwaschen.

Dann hörte er etwas Unmissverständliches, das ihn mit neuer Furcht erfüllte: »Und vor allem will ich das Mädchen – Cara Diana Hunter. Bringt sie mir!«

Damit beendete Beloved ihre Rede. Sie ließ die Hände sinken und murmelte: »Hier ist es Herbst – eine passende Zeit für den Tod.«

Fröstelnd rieb sie sich die Arme und fragte nach einem Mantel.

Einer der Jäger trat nach vorn und schien ihr etwas anzubieten. Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er sich auf den Weg zurück zu dem Tunnel im Baum.

Beloved rief ihm einen scharfen Befehl zu und er hielt mitten in seiner Bewegung inne.

Lightfoot versuchte krampfhaft, hinter die Bedeutung von Beloveds Worten zu kommen. Offenbar hatte es irgendwas damit zu tun, dass es gefährlich war, schon jetzt durch die Passage zu gehen. Sie sagte etwas von gegensätzlichen magischen Kräften, die einander bekämpfen würden. Laut Beloved musste der Jäger erst einige Stunden warten, bis er wieder zur Erde konnte.

Lightfoot wusste von Cara, dass »Stunde« eine Zeitangabe war, aber er hatte keine Ahnung, wie lange so etwas dauerte. Und er hatte auch nicht verstanden, wie viele Stunden man warten musste.

Der Jäger blickte betreten zu Boden, nickte und trat vom Baum zurück. Da griff sich Beloved plötzlich an die Brust. »Los!«, schrie sie mit schriller Stimme. »Geht jetzt!«

Nach einigen weiteren Worten, die für Lightfoot ein Rätsel waren, brüllte Beloved etwas, das nur allzu deutlich war: »Geht und tötet die Einhörner! Tötet sie! Tötet sie alle!«

Die Jäger brachen in begeisterte Jubelrufe aus. Dann teilten sie sich ohne ein weiteres Wort in Dreier- und Vierergruppen auf. Zu einigen gesellte sich auch eine der Jungfrauen. Allerdings bemerkte Lightfoot, dass die meisten Gruppen ohne eins der Mädchen auskommen mussten.

»Geht!«, kreischte Beloved erneut.

Lightfoot erstarrte und versuchte, sich so still wie möglich zu verhalten. Er hoffte, dass keiner der Jäger ihm zu nahe kommen würde. Eine der Gruppen lief dicht an ihm vorbei – zu dicht, wie er fand, aber zu seiner Erleichterung blieb er unentdeckt. Innerhalb weniger Augenblicke waren die Jäger und die Jungfrauen im Wald verschwunden und Beloved stand allein da.

Zumindest dachte Lightfoot das. So war er überrascht, als sie sich zu ihrer Rechten wandte und wie auf eine Frage antwortete: »Ja, es ist tatsächlich alles wie versprochen.«

Redet sie mit jemandem?, fragte sich Lightfoot. Er ging etwas näher und spitzte die Ohren.

Er erhaschte die Andeutung eines Flüsterns, das jedoch so leise war, dass der Prinz keine Einzelheiten wahrnahm.

Lächelnd sagte Beloved: »Ich werde nicht vergessen, was ich Euch schulde.«

Lightfoot lauschte so angestrengt der geheimnisvollen Stimme, dass er nicht mehr auf die anderen Geräusche um sich herum achtete. So hörte er auch nicht die leisen Schritte, die sich ihm von hinten näherten. Erst als ein Speer seine Flanke streifte, erkannte er, dass er sich in größter Gefahr befand. Lightfoot wirbelte herum und machte sich zum Kampf bereit. Zwei Männer sprangen mit gezückten Schwertern auf ihn zu. In ihren Augen loderte Blutgier. Ein weiterer Jäger erhob seinen Speer und schleuderte ihn in Richtung des Einhornprinzen. Die Waffe schoss durch die Luft und bohrte sich in Lightfoots Schulter. Er wieherte vor Schmerz. Die Angreifer hatten ihn nun fast erreicht, doch auf einmal wusste er, was zu tun war. Er drehte sich von den Jägern weg, ignorierte die furchtbaren Schmerzen in seiner Schulter und galoppierte auf Beloved zu. Inständig hoffte er, dass der Schutzwall inzwischen außer Kraft war. Wenn er schnell und entschlossen genug handelte, dann könnte er sie vielleicht zertrampeln.

Beloved sah ihn kommen und jauchzte. »Das erste Opfer!«, schrie sie mit unverhohlener Freude.

Der Speer in Lightfoots Schulter senkte sich und verhakte sich in einer Wurzel. Mit einem einzigen Ruck löste er sich und hinterließ eine tiefe Wunde. Rötlich silbernes Blut floss über Lightfoots Fell und ein stechender Schmerz jagte sein Bein hinunter.

Als der Prinz schwankte, zog Beloved schnell ein Messer unter ihrer Robe hervor. Im Licht des Blutmonds blitzte die Klinge dunkelrot.

Lightfoot bäumte sich auf und wollte mit den silbernen Hufen auf Beloveds Kopf eintreten. Aber er hatte seine Feindin unterschätzt. Wild schwang sie ihre Klinge und stieß ihm damit in die Brust, sodass Lightfoot erneut ins Straucheln geriet.

Da griff Beloved in ihr Gewand und zog einen weiteren Dolch heraus.

Nacktes Grauen erfasste Lighfoot. Er wollte auf gar keinen Fall durch die Hand dieser verrückten Frau sterben. Plötzlich bemerkte er hinter ihr ein Schimmern und wusste, wie er entkommen konnte: durch das Tor zur Erde!

Lightfoot nahm all seine verbliebene Kraft zusammen und raste an Beloved vorbei.

»Haltet ihn auf!«, brüllte sie. »Haltet ihn!«

Der Prinz hatte schon beinahe die Öffnung erreicht. Er verdrängte die bohrenden Schmerzen in seiner Seite, sprang in den verwundeten Baum und galoppierte durch den hölzernen Tunnel. Mit einem Satz, der ihm um ein Haar seine letzten Kräfte abverlangte, schoss er durch den leuchtenden Nebelvorhang. Ein seltsames Prickeln lief durch seinen Körper und er hielt den Atem an.

Sein eigener Schwung trug ihn immer weiter. Und wenige Augenblicke später fand er sich an dem Ort wieder, an dem weder er – noch irgendein anderes Einhorn – jemals Zuflucht gesucht hätte: Beloveds Schlosshof.

Als ein Brüllen hinter ihm ertönte, wusste Lightfoot, dass er noch nicht in Sicherheit war. Einer der Männer war ihm durch den Baum gefolgt.

»Stirb, Einhorn!«, schrie der Jäger. Diese Worte kannte Lightfoot nur allzu gut. »Stirb im Namen von Beloved!«

Der Mann stürzte sich auf ihn und zielte mit seinem Schwert direkt auf Lightfoots Herz.

Zu gerne hätte der Prinz gegen ihn gekämpft, doch durch seine Wunden war er zu geschwächt. An Widerstand oder Flucht war nicht zu denken, und so bereitete er sich auf sein Ende vor.

Doch noch während der Jäger die Waffe durch die Luft sausen ließ, verzog er vor Entsetzen das Gesicht. Unheimlich hallte sein Schrei zwischen den Mauern der Festung wider. Das Schwert fiel klirrend auf die Pflastersteine, als der Mann sich mit den Händen übers Gesicht fuhr.

Mit Grausen beobachtete Lightfoot, wie das Fleisch des Mannes anfing, Blasen zu werfen. Der Jäger fiel zu Boden und wand sich vor Pein.

Einen Augenblick später war er tot.

Während Lightfoot immer noch starr vor Entsetzen auf den gekrümmten, schwarz verkohlten Körper blickte, erinnerte er sich, wie Beloved den anderen Jäger gewarnt hatte. Dann jedoch wurde der Prinz von seinen eigenen Schmerzen überwältigt. Seine Knie gaben nach und er brach zusammen.

Wenigstens habe ich nur normale Wunden, dachte er, und keine zwei gegensätzlichen Kräfte, die in meinem Körper wüten.

Er versuchte noch, sich zu erinnern, warum diese Erkenntnis so wichtig war, als ihm schwarz vor Augen wurde. Bewusstlos lag der Einhornprinz im Hof seines größten Feindes.

Der Rubin versagt

Im roten Schacht des Regenbogengefängnisses kniete Ian Hunter vor einem uralten Baum und hielt einen sterbenden Straßenjungen in seinen Armen.

Der Junge mit Namen Rajiv hatte eben die Hand ausgestreckt, um die Wange von Ians Frau zu berühren, die in einer substanzlosen, geisterhaften Form scheinbar bewusstlos im Stamm des Baumes saß.

Obwohl Ian alles versucht hatte, sie aus ihrem Zauberschlaf zu wecken, war es ihm nicht gelungen. Doch dann, als Rajiv Martha Hunter berührte, hatte sie ihre Augen aufgeschlagen und geflüstert: »Da bist du ja endlich!«

Ian hatte vor Freude laut gejuchzt. Aber Martha zog sich zurück, als ob sein plötzlicher Freudenausbruch ihr Schmerzen bereitete.

Hinter sich hörte Ian, wie sein Freund Fallon erleichtert aufseufzte. Ian war sofort klar, was er damit ausdrücken wollte: Vielleicht schaffen wir es nun doch noch, aus diesem seltsamen Gefängnis herauszukommen.

Die meisten Insassen des Regenbogengefängnisses – so wie die hinterhältige Felizitas, die sie aus etwa einem Fuß Entfernung beobachtete – blieben für immer darin, ohne irgendwelchen Schaden zu nehmen. Das lag daran, dass sie – so wie auch Martha – nur als Geist anwesend waren. Aber Ian, Fallon und Rajiv hatten diese rubinrote Hölle vorschnell mit ihren Körpern betreten. Und weil das Regenbogengefängnis nur aus Licht bestand, hatten sie seit ihrer Ankunft weder Wasser noch Nahrung zu sich nehmen können. Dies war auch der Grund, weshalb Rajiv nur noch wenige Stunden leben würde: Ohne Flüssigkeit trocknete er langsam aus. Ian wusste, dass er selbst höchstens noch einen Tag hatte, bevor ihn dasselbe Schicksal ereilen würde. Fallon, der übermenschliche Kräfte an den Tag legte, würde länger durchhalten, doch auch er würde früher oder später unterliegen. Deshalb waren sie froh, dass sie Martha gefunden hatten. Sie war ihre einzige Chance, zu entkommen – und zu überleben.

Ian hob Rajiv hoch und drehte sich zu seinem mysteriösen Freund um. Fallon beugte sich zu ihm. Seine langen goldschimmernden Haare fielen ihm über die Schultern, als er Rajiv auf seine muskulösen Arme nahm. Rajiv blickte auf und murmelte: »Gute Neuigkeiten, Sahib Fallon! Jetzt, wo wir die Memsahib gefunden haben, können wir nach Hause.« Er seufzte und fügte hinzu: »Und selbst wenn nicht, so hab ich sie zumindest gesehen. Ich bin wirklich froh darüber – wir haben so viel durchgemacht, um sie zu finden.« Dann fiel sein Kopf schlaff herunter und er wurde wieder bewusstlos.

Ian schluckte. Seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Er musste sie alle hier rausbringen, bevor es zu spät für den Jungen war. Er sehnte sich so sehr danach, seine Frau halten zu können. Aber da er wusste, dass ihre Gestalt noch durchlässiger war als Nebel, wisperte er stattdessen ihren Namen und legte seine ganze Liebe und Sehnsucht in dieses eine kleine Wort: »Martha.«

»Ian«, antwortete sie flüsternd. Er zuckte zusammen, als er die Angst in ihrer Stimme hörte. »Ian, wo bin ich? Warum ist alles so rot?«

»Du bist im Regenbogengefängnis, meine Liebste. Besser gesagt, dein Geist befindet sich hier. Ich bin gekommen, um dich zu befreien, aber wir müssen uns beide sehr anstrengen. Schaffst du es aus dem Baum? Ich würde dir gerne dabei helfen, aber … Nun ja, es ist so …«

Er legte seine Hand auf ihren Arm, um ihr zu zeigen, was er meinte.

Martha fing an zu schreien, als er durch sie hindurchfuhr, als wäre sie ein Gespenst.

»Schsch! Schschsch, meine Liebste. Es ist alles in Ordnung. Wie bei den meisten hier, ist nur dein Geist anwesend.«

»Ian, ich verstehe das alles nicht! Mir ist so, als ob ich traumwandeln würde, seit … ich habe keine Ahnung, wie lange schon. Ich hatte seltsame Träume über dich und einen Jungen und einen riesengroßen Mann – ich träumte, dass du nach mir suchst. Davor habe ich Cara gesehen, aber nur ein einziges Mal. Jedenfalls denke ich, dass sie es war. Sie war so viel älter … beinahe ein Teenager!«

Ian fuhr zusammen, sagte aber nichts.

»Es war wie ein Traum«, fuhr Martha fort, »und gleichzeitig fühlte sich alles so wirklich an.« Sie hielt inne, schaute sich abermals um und fragte dann noch einmal: »Wo sind wir? Und warum ist alles so rot?«

»Wir sind an einem Ort, der ›Regenbogengefängnis‹ genannt wird. Beloved hat dich hierhergebracht.«

Marthas Gesicht verdunkelte sich. »Ich hasse diese Frau!«

»Und dazu hast du allen Grund. Wir beide. Trotzdem, ohne sie hätte ich Cara nicht wiedergefunden.«

»Du hast Cara gefunden? Wo? Wo ist sie?«

»In Kirin.«

Martha blickte ihn verständnislos an und Ian wurde klar, dass Beloved mehr vor ihr geheim gehalten haben musste, als er angenommen hatte. »Kirin«, sagte er freundlich, »ist das Land der Einhörner.«

Martha schloss die Augen und sagte traurig: »Ich habe den Verstand verloren.«

Ian verfluchte sich, weil er ihr zu schnell zu viel erzählt hatte.

»Mein Liebes«, bat er sie erneut, »kannst du den Baum verlassen?«

»Sei doch nicht albern – natürlich kann ich das!« Aber als sie versuchte aufzustehen, erwies es sich als unmöglich. Sie geriet in Panik. »Ian, ich kann mich nicht bewegen!«

Die Angst in der Stimme seiner Frau zerriss Ian beinahe das Herz, das sowieso schon unter der Last seiner eigenen Angst litt. Während seiner gesamten Suche nach Martha war er immer davon ausgegangen, dass sie sich wie die anderen Gefangenen an diesem Platz frei bewegen könnte. Doch offenbar hatte Beloved sie mit einem doppelten Zauber belegt. Sie hatte Martha nicht nur in das Regenbogengefängnis geschickt, sondern sie genau an diese eine Stelle gebunden.

Ian versuchte, sich an die Anweisungen zu erinnern, die der blinde Mann ihm in Indien gegeben hatte – und für die Ian den zeitweiligen Gebrauch seiner Sehkraft eingetauscht hatte.

»Also, MrHunter, Sie müssen Folgendes tun«, hatte der Mann gesagt. »Laut den Gesetzen der Magie muss es einen machtvollen Gegenstand geben, mit dem Ihre Frau in das Regenbogengefängnis gebracht wurde. Wahrscheinlich war es ein Rubin, so ähnlich wie der, den Sie bei sich tragen. Sollte dem so sein, dann müsste es – sobald Sie Ihre Frau gefunden haben – gelingen, sie mit der Macht Ihres Rubins wieder in ihren Körper zu schicken.«

»Und wenn dem nicht so ist?«, hatte Ian gefragt.

Der blinde Mann hatte verlegen gelächelt, die Schultern gezuckt und geantwortet: »Das ist das Risiko, das Sie eingehen müssen. Aber nehmen wir mal an, Sie schaffen es. Dann muss Ihre Frau auf der Erde nach genau dem Gegenstand suchen, der zu Ihrem passt. Wenn sie ihn gefunden hat, sollte es euch beiden möglich sein, eine Verbindung zu singen, die euch wieder zusammenbringt.«

Ian hätte das stark bezweifelt, wenn er nicht bereits erfahren hätte, dass Cara einige Wochen zuvor ihre Großmutter Ivy Morris singend aus dem grünen Schacht des Regenbogengefängnisses befreit hatte.

»Es wird nicht einfach werden«, hatte der Blinde weitergesprochen. »Es funktioniert nur bei einer tiefen Herzensverbindung zueinander. Und natürlich muss es ein Lied sein, das für beide eine ganz besondere Bedeutung hat. Außerdem muss das Gegenstück Ihres Juwels sich auch wirklich auf der Erde befinden, sonst klappt es nicht.«

Das war das große Risiko, von dem alles andere abhing: Martha würde den passenden zweiten Rubin finden müssen. Ian betete im Stillen, dass alles gut gehen würde, und langte in der Tasche nach dem Edelstein. »Martha, du musst mir jetzt genau zuhören«, begann er. »Ich werde versuchen, dich in deinen Körper zurückzubefördern.«

Ihre Augen weiteten sich. »Wie willst du das schaffen?«

»Mit dem Rubin, den Cara mir gegeben hat … es ist derselbe, durch dessen Kraft du sie sehen konntest. Wenn es funktioniert, dann musst du, sobald du wieder in deinem Körper bist, nach einem ähnlichen Rubin suchen, der sich hoffentlich irgendwo in deiner Nähe befindet. Wenn du ihn gefunden hast, benutzen du und ich die beiden Juwelen, um uns alle wieder in die physische Welt zu ziehen.«

»Wie genau sollen wir das machen?«

Er lächelte. »Deine Mutter war an einem ähnlichen Platz wie dem hier gefangen …«

Bitterkeit überzog Marthas Gesicht. »Sprich nicht von dieser Frau! Sie ist nicht meine Mutter!«

Erst erschrak Ian über die Heftigkeit in ihrer Stimme, begriff dann aber. »Martha, es gibt eine Menge Dinge, von denen du jetzt noch nichts weißt. Wenn wir erst einmal hier raus sind, werde ich dir alles erzählen. Zumindest das, was ich weiß.«

Sie sah aus, als würde sie anfangen zu weinen, doch es schien in ihrer momentanen Verfassung nicht möglich, Tränen zu vergießen. Mit einem tiefen Seufzer antwortete sie: »Ich verstehe nichts von alldem hier, Ian. Ich will, dass alles wieder so ist wie früher, bevor meine Mutter uns Cara gestohlen hat. Ich möchte, dass wir wieder eine Familie sind.«

Ohne nachzudenken, wollte Ian sie umarmen, doch dann erinnerte er sich, dass das noch nicht möglich war. Traurig sagte er: »Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, Martha. Und wir können die vergangenen Jahre auch nicht ungeschehen machen. Aber das heißt nicht, dass die Zukunft nichts Gutes für uns drei – dich, mich und Cara – bereithält. Doch zuerst müssen wir das hier schaffen.«

Martha nickte und erwiderte sanft: »Es tut mir leid, Ian. Wir können uns später noch unterhalten. Was muss ich tun, wenn ich das Juwel gefunden habe?«

»Du musst singen.«

Martha warf ihrem Mann einen zweifelnden Blick zu.

Er hob den großen Rubin hoch und sagte: »Halte den passenden Edelstein einfach hoch und fange an zu singen. Cara hat das schon einmal getan und dadurch eine Verbindung zu … zu jemandem im Regenbogengefängnis geschaffen und ihn so befreit. Wir müssen uns einander ganz öffnen, mein Liebes. Sing von ganzem Herzen. Sobald ich dich höre, stimme ich mit ein.«

Martha schüttelte verwirrt den Kopf. »Gut, ich werde es versuchen«, meinte sie. »Aber was soll ich singen?«

»Wie wäre es mit Das ewig liebende Herz?«

Sie lächelte schwach, mit kummervollem Gesicht. Es war ›ihr Lied‹, das, welches sie als Zeichen ihrer Liebe ausgewählt hatten, bevor sie heirateten. Damals waren sie beide Lehrer gewesen und die Welt hatte noch einen Sinn ergeben.

»Fallon und Rajiv werden mit mir kommen«, fuhr Ian fort und hoffte inständig, dass dies wirklich der Fall sein würde.

Martha sagte mit einer seltsamen Mischung aus Ärger und Zärtlichkeit: »Du wirst mir einiges erklären müssen, Freundchen.«

»Ich weiß«, antwortete Ian, auch wenn er sich nicht gerade darauf freute. »Nun gut. Lass es uns versuchen. Bist du bereit?«

Martha nickte erneut.

Ian reichte ihr den Rubin.

Nichts passierte.

»Berühre ihn«, forderte er sie auf.

»Ich kann nicht«, flüsterte sie mit verzweifeltem Blick. »Ian, ich kann meine Hände nicht bewegen!«

Er rückte mit dem Juwel näher an sie heran, fuhr damit über Marthas Gesicht und über ihren Arm.

Doch es passierte immer noch nichts.

Ihm war klar, dass er einen Körper, der nicht da war, auch nicht verletzen konnte. Also drückte er den Rubin aus lauter Verzweiflung direkt in Marthas Brust.

Wieder nichts.

Sein eigener Brustkorb schnürte sich zusammen. Alles, all ihre Pläne, aus dem Regenbogengefängnis zu entkommen, gründeten darauf, Martha zu finden und sie mithilfe des Edelsteins wieder zur Erde zu schicken. Und nun versagte der Rubin. Ian war zum Weinen, zum Schreien zumute. Waren sie so weit gekommen, hatten sie so viel durchgemacht, nur um jetzt zu scheitern?

Er kniete vor dem Baumstamm und legte die Hand nahe an die Wange, die er nicht berühren konnte. »Es tut mir leid, Martha«, flüsterte Ian. »Es tut mir so unendlich leid.«

Noch bevor sie antworten konnte, erregte Rajiv mit seinem Stöhnen Ians Aufmerksamkeit. Als er sich umdrehte, um nach dem Zustand des Jungen zu fragen, erschrak er über den Ausdruck in Fallons Gesicht. Ian rappelte sich hoch und eilte an die Seite des großen Mannes. »Ist er …«

Fallon schüttelte den Kopf. »Er lebt. Aber ich fürchte, er wird nicht mehr lange durchhalten …«

»Ian!«

Ian Hunter wirbelte herum und sah, wie seine Frau in dem Baum immer mehr verblasste. Mit einem Satz war er bei ihr und streckte die Hand in den Baumstamm.

Genau in dem Augenblick, als er nach Martha greifen wollte, verschwand sie.

Überrascht taumelte Ian zurück und schoss dann auf Felizitas zu. »Was hast du denn jetzt schon wieder gemacht?!«, brüllte er.

Die alte Frau schüttelte den Kopf und an ihrem erstaunten Gesichtsausdruck konnte er ablesen, dass sie genauso ratlos war wie er.

»Vielleicht hat der Rubin verzögert reagiert«, überlegte Fallon.

»Möglich, aber wenig wahrscheinlich«, erwiderte Felizitas. Sie ging zu dem Baum und blickte in den nun leeren, hohlen Stamm. »Meine Herren, ich bin genauso verblüfft wie ihr.« Sie lächelte. »Ist es nicht faszinierend, wie mysteriös das alles ist? Wenn es bei euch nicht um Leben oder Tod ginge, dann würdet ihr das Ganze bestimmt genauso genießen wie ich.«

Wieder stöhnte Rajiv. Es klang so leise wie ein sachter Wind, der wispernd durch die Blätter rauschte.

Ian sank auf den Boden nieder und lehnte sich gegen den Baumstamm. Er starrte in die Öffnung, in der ihre letzte Hoffnung im wahrsten Sinne des Wortes dahingeschwunden war.

Im Prunksaal des Delferkönigs

Als die Geomantikerin am Fuße von Axis Mundi von einer Gruppe Delfer gefangen genommen wurde, hatte sie erwartet, gefoltert oder gar getötet zu werden. Deshalb war sie sehr überrascht, als die Delfer sie mit einer Art Ehrfurcht behandelten … auch wenn diese Ehrfurcht – wenn man es tatsächlich so nennen konnte – die Delfer nicht davon abhielt, die Erdmagierin zu fesseln und zu knebeln, bevor sie sie in den Untergrund schleppten.

Die ganze Zeit über murrten und maulten sie und M’Gama war erstaunt, dass sie deren Worte verstand – jedenfalls die meisten. Ihre Sprache schien nicht mehr als eine verwaschene Form der Zwergensprache zu sein. Der Gedanke brachte mit einem Mal die schmerzhafte Erinnerung an ihre geliebte Flensa zurück, die erst vor Kurzem bei einem Delferangriff in ihrem gemeinsamen Zuhause ums Leben gekommen war.

M’Gamas Geiselnehmer trugen sie nicht weit von Axis Mundi entfernt durch eine Höhle in ihre unterirdische Welt hinein. Fünf von ihnen hatten sie hochgehoben und trugen sie nun wie ein verschnürtes Paket über ihren Köpfen. Die Geomantikerin konnte einen letzten Blick zurückwerfen, bevor sie unter Tage verschwanden – sie starrte zu dem großen Weltenbaum hinaus, als ob dieser ihr irgendwie helfen könnte. Obwohl ihre größte Sorge dem Baum selbst galt. Ob sie es noch rechtzeitig geschafft hatte, ihn mit ihrem Wurzelholzzauber zu retten, bevor die Delfer sie überwältigten?

Unter der Erde ging es einen steilen Abhang hinunter. Die Geomantikerin bemerkte fasziniert, dass der Weg schwach von glühenden Linien beleuchtet wurde, die entlang der Wände verliefen. Unten angekommen, hielten ihre Entführer an und setzten sie ab, um ihr eine Augenbinde umzulegen.

Einen Moment später hörte M’Gama, wie einer der Delfer etwas sang. Dann hoben sie sie wieder hoch und gingen weiter. Beinahe gleichzeitig lief ein seltsames Prickeln durch M’Gamas gesamten Körper. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien, aber dann war es auch schon wieder vorbei.

Dieses merkwürdige Kribbeln wiederholte sich noch zweimal und sie fragte sich, was wohl die Ursache war. Kurz nach dem zweiten Mal hörte sie ein knirschendes Geräusch, gefolgt von einer harschen Stimme, die rief: »Halt! Wer verlangt Einlass in den Prunksaal von Gnurflax, dem König von Delfharken?«

»Ich bin Brax, Anführer des Zwölften Trupps. Meine Cousins und ich kehren von dem großen Baum zurück mit einem Geschenk für den König.«

»Was für ein Geschenk?«, fragte der Wachmann.

Brax konnte seine Freude kaum zurückhalten. »Wir bringen ihm … die Geomantikerin!«

»Ich beneide euch«, sagte der Posten. »Das ist wahrlich ein großer Gewinn. Tretet ein und seid willkommen.«

Hinter ihm hörte M’Gama einen weiteren Delfer, dessen Stimme tiefer und kräftiger war als die der meisten. Er tobte: »Ich will Namza! Wo ist Namza? Er kann sich doch nicht einfach so in Luft aufgelöst haben!«

»Das ist ein guter Zeitpunkt, ihm solch ein Geschenk zu überbringen«, wisperte der Wachposten. »Der König ist nicht gerade glücklich.«

»Wegen Namza?«, wollte Brax wissen und M’Gama konnte hören, wie überrascht er war. »Ich dachte, er vertraut dem Magier mehr als allen anderen?«

»Das tut er auch«, erklärte der Wachposten. »Zumindest hat er es getan. Das Problem ist, dass Namza nirgendwo zu finden ist. Der König ist deswegen sehr aufgebracht. Wir wären alle froh über etwas, das seine Stimmung hebt.«

Die Geomantikerin wurde noch ein wenig weiter getragen, dann legten die Delfer sie auf den Boden. Mit groben Händen wurde ihr die Binde abgenommen. Vor ihren Augen erstreckte sich eine riesige Höhle, die von Töpfen mit schimmerndem Moos beleuchtet wurde. Beinahe zwei Dutzend Delfer waren seitlich der Höhle postiert. Jeder von ihnen hielt einen Speer in der Hand. Sie hatten sich so dicht an die Wände gedrängt – oder in manchen Fällen gegen dicke Stalagmiten –, dass sie beinahe mit der Höhle verschmolzen. Mit weniger guten Augen oder solchen, die nicht so an die Dunkelheit gewöhnt waren wie die von M’Gama, wären die Wachen schwer zu entdecken gewesen.

Trotzdem waren sie für die Geomantikerin im Moment weniger von Bedeutung. Ihre Aufmerksamkeit galt dem großen Delfer direkt vor ihr, der eine Krone aus rotbraunem Fels auf dem Kopf trug. Er saß auf einem Thron, der auf einer kleinen Erhöhung stand. Mit Staunen stellte M’Gama fest, dass beides aus einem Stalagmiten gemeißelt worden war, der aus dem Höhlenboden wuchs. Es war eine wunderbare Arbeit, aber in ihren Augen schon beinahe ein Sakrileg.

Trotz ihrer Fesseln schaffte sie es aufzustehen. Mit ihrer stattlichen Größe von über sechs Fuß überragte die Geomantikerin die Delfer, von denen die meisten ihr nicht einmal bis zur Hüfte reichten.

Ihre ebenholzfarbene Haut, die hohen Wangenknochen, die vollen Lippen und die breite Nase standen in ebenso starkem Kontrast zu den bleichen, dünnlippigen Delfern, deren Nasen kaum mehr waren als zwei Löcher in der Mitte ihrer Gesichter. Nur die Augen, mit denen sie im Dunkeln sehen konnten, waren größer als die von M’Gama.

Die Erdmagierin trug ihre Reisekleidung – robuste Hosen, ein Leinenhemd und einen einfachen, aber wunderschön gefertigten braunen Umhang. Ihre stolze Haltung jedoch verlieh selbst diesen bescheidenen Kleidungsstücken Eleganz – so wie die vielen Ringe, die sie trug und deren Steine in dieser schummerigen Höhle von innen heraus zu leuchten schienen.