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Die 28-jährige Aliena lebt mit ihren elf jüngeren Schwestern weit abgeschottet von der modernen Welt auf dem herrschaftlichen Anwesen ihres Vaters. Mit dem Tod seiner Frau ist aus dem Multimilliardär ein kontrollsüchtiger Patriarch geworden, der seine Töchter nicht mehr aus dem Haus lässt. Ein Affront in der heutigen Zeit! Aber die zwölf Schwestern sind gewitzt. Jede Nacht stehlen sie sich unbemerkt davon – und keiner weiß wohin. Um ihrem pubertären Treiben auf die Schliche zu kommen, engagiert ihr Vater eine Reihe von wagemutigen jungen Männern. Sollten sie erfolgreich sein, verspricht er ihnen nicht nur die Hand einer Tochter ihrer Wahl, sondern auch sein Erbe. Scheitern sie hingegen, droht ihnen der Tod.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Title Page
Impressum
Zitat
Vorwort
Prolog - Geständnisse - 1. Die zwölfte Schwester
2. Die elfte Schwester (Karolina)
3. Die zehnte Schwester (Jolina)
4. Die neunte Schwester (Imilia)
5. Die achte Schwester (Henna)
6. Die siebte Schwester (Gianna)
7. Die sechste Schwester (Fiona)
8. Die fünfte Schwester (Elvira)
9. Die vierte Schwester (Djamila)
10. Die dritte Schwester (Carola)
11. Die zweite Schwester (Bianca)
12. Die erste Schwester (Aliena)
Epilog
Nachwort
Die Autorin
Anett Diell
Fairy Fabula 4
Märchen
Ashera Verlag
IMPRESSUM
In dieser Reihe bereits erschienen:
Das Sternenmädchen – Die Nacht der Wünsche, Cat Lewis
Feenwünsche, Mila Sommerfeld, nicht mehr erhältlich
Cinderella Reloaded, Nena Siara
Die einsame Tänzerin, Anett Diell
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.
Erste Auflage im Mai 2025
Copyright © 2025 dieser Ausgabe by
Ashera Verlag, Hochwaldstr. 38, 51580 Reichshof
www.asheraverlag.net
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.
Covergrafik: Pixabay
Schmutzseite: Pixabay
Kapiteltrenner: Pixabay
Innengrafiken: Pixabay
Coverlayout: Atelier Bonzai
Redaktion: Alisha Bionda
Lektorat & Satz: TTT
Vermittelt über die Agentur Ashera
(www.agenturashera.net)
… und wie sie unten waren, standen sie in einem wunderprächtigen Baumgang, da waren alle Blätter von Silber, und schimmerten und glänzten.
Die zertanzten Schuhe, Gebrüder Grimm
„Weißt du, was der glücklichste Moment jeder Nacht ist? Wenn wir die Stufen abwärts gehen, mit jedem Schritt weiter in eine andere Welt. Wenn uns die Blätter silbern entgegenschimmern, dann fühle ich mich daheim.“
Die einsame Tänzerin, Lucrecia
Vorwort
Wir brauchen Geschichten.
Dieser sagenhafte Satz stammt von einem Menschen, der für mich eine große Inspiration darstellt, und dem ich voll und ganz zustimmen kann. Ich werde heute noch ein wenig spezifischer und behaupte: Wir brauchen Märchen. Mein Name ist Anett Diell, und ich bin die Autorin dieses Romans. Seit ich denken kann, begleiten mich Märchen. Was zu einem beträchtlichen Teil daran liegt, dass sie mir auf stundenlangen Wanderungen von meiner Mutter erzählt wurden (– ehrlich Mama, ich danke dir dafür, dass du diese Strapazen so sehr versüßt hast!) Märchen stecken voller magischer Orte, faszinierender Figuren und fantastischer Abenteuer, die so bildreich beschrieben sind, dass sie stets die Fantasie anregen. Vor allem meine. Als Kind habe ich massenhaft Zeit damit verbracht, alle erdenklichen Märchenfiguren nachzuspielen, (was nicht nur die Prinzessin war, sogar eher seltener!!), und, was soll ich sagen?
Ich habe nie damit aufgehört.
Heutzutage greife ich dabei vermehrt zum Stift und erschaffe meine eigenen, aber etwas von den Klassikern bleibt immer zurück. Denn diese Märchen verlieren einfach niemals ihren Charme!
Für mich sind sie nicht nur unterhaltsam, sondern stecken außerdem voller Wahrheiten. Ihre Protagonisten, sei es der gute Bauernsohn, die schöne Prinzessin oder auch der gerissene Wolf werden gerne als Archetypen beschrieben, die für eine spezielle Sache stehen, wobei ich behaupte, dass sie trotzdem oder gerade deshalb enorm vielschichtig sind – das weiß ich, seit ich mich auf der Schauspielschule tiefenpsychologisch damit auseinandergesetzt habe. Ein Wolf ist definitiv nicht nur ein Wolf, glauben Sie mir, und zu ergründen, was noch alles in ihm steckt, ist für mich als Schriftstellerin ein spannender Prozess. Das gilt für jede Märchenfigur, die gleichzeitig eine Identifikationsfigur ist. Natürlich sollte das eine gute Story ausmachen, dass sich die Lesenden mit den Protagonisten identifizieren können. In Märchen jedoch werden wir erstmal in eine fantastische Welt entführt, in der angeblich nichts real ist, und wir merken nicht, dass wir unbewusst unsere persönliche Lebenswelt verstehen. Ich habe jedenfalls sehr viel von Rotkäppchen und dem Wolf gelernt. Über mich.
Aber das ist eine andere Geschichte. Gut möglich, dass ich sie Ihnen auch einmal erzähle.
Nur nicht heute.
Heute geht es um ein anderes Märchen, ein modernes, mein modernes – und jetzt kommt’s – das ist das Faszinierendste: aus einem Klassiker etwas Neues zu schaffen. Denn so bereichernd Märchen sind, sie wirken manchmal recht simpel, und nicht jeder hat Lust, oder sieht die Notwendigkeit darin, nach einem tieferen Sinn zu graben. Von mir abgesehen. „Die einsame Tänzerin“ ist inspiriert vom klassischen Märchen der Gebrüder Grimm „Die zertanzten Schuhe“, und ich würde sagen, es gehört zu den kürzeren seiner Gattung. Auf zwei bis drei Seiten wird die Geschichte von zwölf Königstöchtern erzählt, die jede Nacht verschwinden und am Morgen mit zertanzten Schuhen zurückkehren. Der König hat genug von der Geheimniskrämerei und beauftragt eine Reihe von Prinzen herauszufinden, was die Prinzessinnen des Nachts treiben. Dafür haben die jungen Männer drei Nächte Zeit, und sollten sie scheitern, müssen sie leider sterben. Ganz schön barbarisch. Zum Glück gelingt es einem der Prinzen mit List und Tücke, und ihm winkt am Ende Reichtum und eine der zwölf Schwestern seiner Wahl. So weit, so simpel. Und auch irgendwie ein bisschen unbefriedigend, denn wir erfahren so gut wie nichts über die Figuren oder ihre Motive. Wieso gelingt es dem König nicht, seine Töchter zum Reden zu bringen, oder warum versucht er nicht selbst, ihr Geheimnis zu lüften? Wer sind diese zwölf Schwestern, und warum schlagen sie sich die Nächte um die Ohren? Was ist so bedeutsam, dass sie es jede Nacht betreiben und ein Geheimnis darum machen? Und wer ist dieser selbstmordgefährdete Prinz? Warum riskiert er sein Leben, was treibt ihn an? Das waren Fragen, denen ich nachgehen wollte, und die mich zu unserer einsamen Tänzerin geführt haben.
Geschichten leben aus meiner Sicht durch ihre Figuren. Sie sind das Fundament, das eine gute Story für mich ausmacht, und wenn sie stimmen, kann die Handlung nach meiner Meinung noch so banal sein. Deshalb war es mir besonders wichtig, diesen Figuren Leben, einen Background, eine eigene Persönlichkeit zu verleihen. Denn eigentlich haben wir es im Ursprungsmärchen im Grunde mit einer einzigen Prinzessin, dem Archetyp, zu tun. Es ist zwar von zwölf Schwestern die Rede, aber keine sticht in irgendeiner Form heraus. Es hätte ebenso gut auch nur eine sein können. Entsprechend habe ich ihnen ihren eigenen Charakter verliehen, sie zu Individuen gemacht und die zwölfte und älteste dabei als Figur besonders herausgearbeitet. Aliena ist diejenige, aus deren Sicht das Märchen primär erzählt wird, und die in besonderer Weise in Beziehung mit dem „Prinzen“ tritt.
Die Beziehungen in dieser Geschichte voller erschaffener Individuen sind nun von entscheidender Bedeutung. Sie erklären den Großteil meiner oben gestellten Fragen. Die Beziehung zum Vater musste zum Beispiel unterirdisch schlecht sein, damit gerechtfertigt wäre, weshalb es zu keiner vernünftigen Aussprache kommt. Ein sehr spannender Punkt. Noch spannender war es für mich zu ergründen, was mit zwölf jungen Frauen geschieht, die mit ihrem Vater (in der heutigen Zeit!) in einem abgeschiedenen Landhaus leben und so gut wie nichts über die Welt da draußen wissen. Was geschieht mit ihnen, in dem Moment, in dem ihr heiles Landleben von einem Fremden durcheinandergebracht wird, der ebenso geheimnisvoll wie faszinierend ist? Was geschieht mit ihnen, wenn sie erkennen, dass es Männer gibt, die nicht wie ihr Vater komplette Arschlöcher sind – sondern charmant und liebenswert?
Das allein bietet schon eine Menge Konfliktpotential. Was, wenn sich jetzt außerdem die älteste Schwester, diejenige, die die Verantwortung für alle anderen trägt, in diesen Kerl verliebt? Denn natürlich benötigt ein gutes Märchen eine Liebesgeschichte. Und ich wollte sie zart schreiben – inmitten dieser prickelnden Spannung und vor dem Hintergrund, dass am Ende Joe Lentus eventuell sterben muss. Wie sich sein und Alienas Schicksal, inklusive das ihrer Schwestern, entwickeln wird, erfahren Sie auf den nächsten Seiten.
Viel Spaß dabei!
Anett Diell, Frühjahr 2025
Ob ich Reue empfinde?
Ja.
Nein!
Ich meine, beides.
Irgendwie.
Selbstverständlich bleibt da immer dieses latent schlechte Gewissen. Wobei ich nicht genau weiß, was ein latent schlechtes Gewissen sein soll. Die Formulierung habe ich von meiner Schwester. Sie studiert, müssen Sie wissen, und kann sich unglaublich gewählt ausdrücken, weswegen ich ihr Vokabular manchmal zweckentfremde. Will heißen, ich borge mir Phrasen aus, die ich von ihr aufgeschnappt habe, und würze damit meine Unterhaltungen, ohne zu wissen, ob sie den Sinn wirklich treffen. Wie dem auch sei, um Ihre Frage zu beantworten: Ja und nein. Niemand auf der Welt kann vermutlich von sich behaupten, er empfinde keine Reue dabei, ein Geheimnis zu hüten, für das andere sterben müssen. Aber was ist, wenn dieses Geheimnis dein Lebenselixier ist, (womit ich schon wieder eine meiner Schwestern zitiere), wenn es das Einzige ist, das zählt, wenn seine Enthüllung weit Schlimmeres als den Tod bedeuten würde? Rechtfertigt das etwas? Ich hoffe es sehr.
Hinzu kommt, dass es ja nicht auf unserem Mist gewachsen ist. Haben wir diese komischen, Verzeihung, seltsamen Verträge aufgesetzt und unterschrieben? Nein, bestimmt nicht. Das waren die alle selbst. Ich hätte sowas nie gemacht. Wer lässt sich darauf schon ein? Da muss man schon voll daneben sein oder der blamablen Fehleinschätzung erliegen, omnipotent zu sein.
In der heutigen Zeit schon zweimal!
Aber Geld regiert die Welt, und zumindest das war noch nie anders. Ich muss das sogar noch präzisieren und annehmen, das Geld unseres Vaters regiere diese Welt. Er ist ewig reich, ich meine, enorm wohlhabend. Das lässt die Menschen alle Vorsicht vergessen. Die lassen sich vom Geld blenden, und das war’s mit dem gesunden Menschenverstand.
Wer spielt schon mit seinem Leben für ein paar Milliönchen?
Tja. Die Antwort ist erschütternd: sehr, sehr viele. Ich möchte ehrlich sein. Die meisten von diesen grenzenlos oberflächlichen Figuren hatten es nicht anders verdient. Es war ihr Spieleinsatz. Selbst gewählt. Für jeden Menschen mit Intellekt viel zu hoch.
Dessen ungeachtet bedaure ich sie, das ja. Wurde ihr Schicksal besiegelt, konnte ich es kaum ertragen.
Ist auch nachvollziehbar, oder?
Es geht um Menschen.
Ich weigere mich dennoch anzuerkennen, dass wir die Verantwortung tragen. Jedenfalls nicht allein und schon gar nicht gewollt. Trotzdem bedeutet ein beendetes Menschenleben eine Seele weniger auf Erden – und dass sie wegen uns gehen musste, ist nicht so leicht zu verkraften.
Ich gestehe, ich habe viele Male um Verzeihung gebeten. Ich habe gehofft, es könne auch ohne dieses kompromisslose Urteil gehen. Die Schmach, unfähig gewesen zu sein, ist schließlich Strafe genug.
Bedenkt man allerdings, dass sie gewusst haben, worauf sie sich einlassen und in gedankenloser Überheblichkeit die Konsequenzen eines Scheiterns ausgeblendet haben, was können wir da tun?
Ich bin, davon abgesehen, nicht aus leblosem Stein oder kaltem Eis. Immer, wenn unser Vater sie in den Tod schickte, zerbrach ein kleiner, winzig kleiner Anteil meiner heilen Welt. Als stürbe etwas mit ihnen.
Das hingegen, das mich am meisten und immer wieder aufs Neue plagt, hat absolut nichts mit den zahllosen Männern zu tun, die in den letzten zweieinhalb Jahren versucht haben, unser Geheimnis zu lüften und daran gescheitert sind.
Ich spreche von dieser unsäglichen, unbeschreiblichen Angst.
Die Angst, die einem den Atem raubt, die in den Ohren rauscht, die das Herz zum Rasen bringt und niemals aufhörte, wenn wir uns auf den Weg machten. Die Angst, dass es tatsächlich einmal jemand herausfinden, dass all unsere Träume, unsere Hoffnungen und unsere Liebe zerstört werden könne. Weil einer schlau genug sein würde.
Wie oft glaubte ich, hinter uns rege sich etwas?
Wie oft war ich mir sicher, verfolgt zu werden?
Jedes Mal.
Allein, ich wusste immer, dass es das wert ist. Für diesen Augenblick.
Also: Ja, ich bekenne, dass es Momente der Reue gibt, Momente der Verzweiflung und des Selbsthasses. Ich weiß, dass wir eine Teilschuld haben, und ja, wir hätten es beenden können. Aber all diese Gedanken, Sorgen und Ängste verpufften eben in genau dem Atemzug, in dem wir unser Ziel erreichten. Jede Nacht, Woche für Woche, Jahr um Jahr. Wenn ich wieder am Ort meiner Träume war, schien alles vergessen und vergeben. Denn wir waren – wir sind bedingungslos glücklich.
Jedes Mal.
Obwohl er es ins Wanken gebracht hat. Viel zu schlau und kein bisschen oberflächlich, wie er war.
So leid es mir tut, ich bereue nichts. Wie könnte ich? Ich bin eine Romantikerin, bin es schon immer gewesen, und das, was wir haben, ist vollkommen. Vor allem im Gegensatz zu dem, was uns unser Vater gibt, nämlich Kälte, Gleichgültigkeit und Kontrollwahn. Machtausübung.
Das, was wir dort finden, ist Wärme, Geborgenheit und Freiheit. Es ist Liebe. Was gibt es Schöneres als die Liebe? Zu lieben und zu wissen, geliebt zu werden?
Die meiste Zeit nahm ich von dem Leben auf unserem viel zu hoheitsvollen Anwesen nichts wahr; nahm die Männer, die kamen und uns beobachteten, studierten, fixierten, nicht wahr. Vielleicht aus Selbstschutz. Wer genießt es schon, auf diese Art im Rampenlicht zu stehen? Also verträumte ich den Tag, wohl wissend, dass das eigentlich Bedeutende erst nach Sonnenuntergang beginnen würde. Zum Leben erwachte ich erst um zwölf Uhr Mitternacht.
Davor wanderte ich durch einen nebligen Schleier aus geballter Unwichtigkeit, war in Gedanken schon an jenem magischen Ort, von dem man glauben könnte, er existiere nur in unser aller Fantasie. Ich träumte von dem stillen, glasklaren See, der uns wankend umfing, dem prachtvollen Schiff, das uns samten geleitete und von den Zinnen des traumhaftesten aller Schlösser, das sich im Wasser spiegelte. Ich durchschritt den Torbogen, bestaunte die glanzvollen Hallen und verlor mich in der Vorstellung zu tanzen. Tanzte wirklich, wann und wo ich konnte, mit geschlossenen wie geöffneten Augen.
Die anderen kichern immer über mich. Sie verstehen nicht, weshalb ich nicht beide Leben lebe, denn auch bei unserem Vater fehlt es uns an nichts. Er ist vermutlich der reichste Mensch der Welt. Laut meinen älteren Schwestern, weil er sein Leben lang Leute abgezockt hat. Ich weiß nicht, wie ich das einordnen darf. In jedem Fall bedeutet diese Abzocke, dass wir alles bekommen können, was wir uns wünschen. Aber genau das ist es, was nicht stimmt: Wir bekommen keine Liebe. Ich spreche von bedingungsloser Liebe. Die Liebe, für die es sich lohnt, den Tod eines anderen zu akzeptieren. Der von dieser Liebe nichts weiß. In dieser unschönen Welt, in der scheinbar ausschließlich Geld, Besitz und Macht zählen, in der Menschen nur geboren werden, um zu funktionieren und das möglichst schnell, in der Gefühle zu einem Brei an Monotonie verschwimmen und niemand mehr innehält, um zu atmen – in dieser Welt kann ein Mädchen, wie ich, nicht leben. Ich würde zerfallen, zu winzigen Staubkörnchen, die durch die Luft irren und schließlich zerrissen und zerstört irgendwo haften bleiben, wo man mich vergessen würde. Ungeliebt vergessen. Und das, wo ich so sehr geliebt sein möchte, so sehr, dass ich erst die Augen öffne, wirklich öffne, wenn unsere Uhr zwölfmal schlägt.
Nein, so leid es mir tut, ich bereue nichts.
Ich nehme an, es klingt absurd, aber ich habe nichts davon mitbekommen. Oder vielleicht schon, bloß nicht bewusst. Ich habe mir noch nie viele Gedanken um das gemacht, was um mich herum geschieht. Mit einem steinreichen Vater führt man nicht dasselbe Leben wie alle anderen. Das muss aber nicht unbedingt bedeuten, dass es ein besseres ist. Wir sind abgeschottet. Gefangen in einem Käfig. Keinem goldenen. Einem marmornen. Kalt und weiß und undurchdringbar. Heißt es nicht, man passe sich immer irgendwie an seine Umwelt an? Also bin ich genauso kalt und undurchdringbar geworden. Ich denke, das Einzige, das mich wirklich interessiert, ist das, was ich in Büchern lese. Keine Bücher, die mir Geschichten über diese Realität, die ich nicht kenne, erzählen. Bücher, die ferne Welten beschreiben, spannende Orte, abenteuerliche Figuren.
Irgendwie ist es, als würden wir jede Nacht in eines dieser Bücher entschwinden, und das war’s. Das ist es, was ich brauche. Nicht mehr und nicht weniger.
Dass Männer um uns herumschlichen, ohne uns je anzusprechen, habe ich kaum bemerkt. Erst recht nicht, dass sie herausfinden wollten, was wir jede Nacht treiben. Was sollte es sie kümmern? Oder unseren Vater? Er wollte nie wissen, was wir den lieben langen Tag tun, kam nie zu uns, um sich zu unterhalten oder Zeit mit uns zu verbringen. Wenn er es so dringend hätte wissen wollen, hätte er uns auch fragen können. Kein Grund, fremde Männer zu engagieren und über ihr Scheitern so in Rage zu geraten, dass sie es nicht überleben!
Ergibt das einen Sinn?
Nein, keinen.
Genau deshalb bleibe ich lieber abgeschottet, kalt, weiß und undurchdringbar.
Diesen Einen allerdings konnte man schlecht nicht bemerken. Was es plötzlich viel schwerer gemacht hat, abgeschottet, kalt, weiß und undurchdringbar zu sein.
Eine absonderliche Frage, die implizieren würde, dass wir alle über keinerlei menschliche Gefühle verfügten. Was wiederum im Widerspruch zu allem, das wir tun und anstreben, stünde und daher völlig überflüssig ist. Natürlich empfinde ich Reue. Natürlich empfinde ich Mitleid. Jeden Tag. Sogar jede Nacht.
Wenn man für einen Augenblick logisch denkt, nur ganz kurz, sind wir in den letzten zweieinhalb Jahren für etwa hundertdreißig Menschenleben verantwortlich gewesen. Männerleben, das reduziert womöglich die Tragik, aber nichtsdestotrotz Menschen. Teilt man diese Zahl durch dreizehn – denn ich bin nicht gewillt, unseren Vater aus dieser Rechnung auszunehmen – sind das zehn Menschenleben pro Kopf.
Ich verstehe nicht, wie man mir die Frage stellen kann, ob ich etwas derartig Schwerwiegendes bereue! Ich bin alles andere als beglückt über dieses Unglück. Ehrlich.
Die eigentliche Frage, die an dieser Stelle angebracht gewesen wäre, hätte lauten sollen: Würde ich es wieder tun?
Ja. Das würde ich. Zehn Männerleben, präzise hundertdreißig Männerleben und damit Menschenleben, sind es in jedem Fall wert, geopfert zu werden für den einen perfekten Mann, von dem man geglaubt hätte, es gäbe ihn nicht. Denn dieser eine perfekte Mann ist viel mehr wert als die hundertdreißig imperfekten Exemplare. Kerle, die uns nicht aus Liebe, nicht aus Interesse an einem Menschen, sondern an einem Objekt gekauft hätten.
Vielleicht haben Sie den perfekten Mann noch nicht kennengelernt, oder Sie sind ein Mann und können es nicht beurteilen oder sollten es nicht, denn das wäre bereits Beweis Ihres „Imperfektionismus“. Der perfekte Mann ist so wunderbar beflügelnd, dass alles Belastende auf der Welt mit einem Mal von einem abfällt. Er besitzt umwerfende Manieren, artikuliert sich umwerfend, sieht umwerfend aus, blickt einen an, als sei man selbst umwerfend – und wenn er einen dann umgeworfen hat, fängt er einen wie selbstverständlich auf. Vor allem daran erkennt man, dass er perfekt ist. Denn die meisten anderen würden einen fallen lassen. Und womöglich noch drauftreten. Erzählt man sich. Klar, kann ich das schwer bezeugen mit meinem unreifen Erfahrungsschatz; es klingt allerdings schlüssig für mich.
Missverstehen Sie mich bitte nicht: Ich bin keine Feministin. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für Frauen. Die Krux hierbei ist, dass ich nun einmal eine bin, daher maße ich mir nicht an, über dieses Geschlecht zu urteilen.
Fazit: Es steht außer Frage, dass ich das Schicksal dieser namenlos gebliebenen Typen bereue, aber ich bin mir sicher, dass kein Einziger davon jemals Gedanken an mein Schicksal verschwendet hat. Wenn man hingegen den einen gefunden hat, der es tut, ich bitte höflichst um Vergebung, was würden Sie tun?
Man kann mich ruhig garstig nennen. Ich weiß, dass ich es nicht bin. Nicht wirklich.
Nein, ich bereue nichts. Da müsste unser Vater schon den Anfang machen. Er ist es immerhin gewesen, der auf den vollkommen rückständigen Gedanken gekommen ist, im 21. Jahrhundert seine Töchter zu überwachen, weil sie nachts nicht brav in ihren Betten liegen. Plus, weil sie einen unerklärlichen Verschleiß an Schuhen zu verantworten haben.
Na und? Wir sind nicht mehr im Mittelalter – und selbst damals wäre es eine unerhörte Grenzüberschreitung gewesen. Die Überwachung allein klingt ja schon dreist genug! Indem er unverblümt öffentlich machte, wer herausfände, wohin wir des Nachts verschwinden, erhalte sein gesamtes Vermögen, seinen Besitz und alles, was dazu gehört – inklusive einer Tochter seiner Wahl – waren meine letzten Reserven an Zuneigung zu einem Mann, der niemals liebender Vater gewesen ist, aufgebraucht.
Und obwohl er den mutigen Kandidaten lediglich lächerliche drei Nächte gewährte, um den Grund und Ort unseres Verschwindens zu entdecken, und obgleich er ihnen deutlich machte, dass ihnen bei einem Scheitern der Tod bevorstünde – weil Familiengeheimnisse nun mal im Familienanwesen bleiben mussten – ließen sich diese geldgeilen, oberflächlichen, wirklich, wirklich unattraktiven Mistkerle darauf ein! Vertraglich!
Mit Verträgen hatte er es ja schon immer, unser guter Vater. Es besteht freilich ein minimaler Unterschied zwischen einem Vertrag, in dem man mit seinem spekulativen Besitz bürgt und dem, in dem man es mit seinem Leben tut. Wobei ich überzeugt bin, dass er schon, ehe er seine Spitzel ermorden ließ, Blut an den Händen hatte. Niemand wird so reich, ohne sich nicht gehörig die Finger schmutzig zu machen.
Das war diesen Kerlen aber egal! Die haben nur den Teil des Vertrags gelesen, in dem es um Geld, Macht und Frauen ging. Also, ganz ehrlich, ich finde, da ist man selbst schuld. Ich meine, die ersten vier oder fünf, denen mag ja noch verziehen sein, denn sie waren nicht unbedingt vorgewarnt. Wenn man dagegen, trotz der offensichtlichen Sterberate der hundert Vorgänger, immer noch nicht abgeschreckt ist, leidet man entweder unter Realitätsverlust, zu geringem Selbsterhaltungstrieb oder klar erweislicher Selbstüberschätzung. Ich kann keine dieser Charaktereigenschaften ausstehen.
Also auch auf die Gefahr hin, dass man mich für eine garstige, kleine Hexe halten sollte, ich bereue rein gar nichts.
Besser, diese selbstüberschätzten Witzfiguren werden ihres Lebensglücks beraubt als wir zwölf gewitzte Frauenzimmer!
Schwieriger wird es allerdings, wenn einer davon unerwartet anders ist. Wenn keine einzige der oben genannten charakterlichen Missstände zutrifft. Sondern das Gegenteil.
Dann wird es schwieriger.
Mitleid: ja. Reue: jein. Aber vor allem: Belustigung. Seit mehr als zwei Jahren haben wir wöchentlich einen dieser Komiker auf unserem Anwesen herumscharwenzeln sehen, manchmal sogar zwei in einer Woche. Einer lächerlicher als der Nächste. Ich versichere Ihnen, wäre der sehr unwahrscheinliche Fall eingetreten, und einer von denen uns auf die Schliche gekommen, um sich dann für mich zu entscheiden, ich hätte auf der Stelle die Flucht ergriffen.
Was will man erwarten?
Es waren im Grunde alles Totgeburten – vereinsamte Versager, abgestürzte Adelige, versoffene Verlierer. Den meisten war das noch nicht mal bewusst. Das waren die beliebtesten Kandidaten. Von ihnen versprach sich unser Erzeuger am meisten. Es gab eigentlich nur ein wichtiges Kriterium, damit der Herr Papa sie unter Vertrag nahm: Sie mussten familienlos sein. Klar, niemand durfte sie vermissen. Dass denen auch sonst noch so einiges fehlte, machte das Ganze zur absoluten Farce.
Mal sehen. Vielleicht können Sie sich selbst ein Bild davon machen, wenn ich Ihnen die TOP 5 der skurrilsten Anwärter näher beschreibe:
Auf Platz fünf stünde demzufolge dieser Idiot, den wir alle den Tollpatsch nannten. Es gelang ihm innerhalb von drei Tagen das unrühmliche Kunststück, vierhundertsiebenundzwanzig Mal über alle erdenklichen Objekte zu stolpern, und in etwa der Hälfte der Fälle sehr ungelenk zu stürzen. Dass er sich dabei nichts brach, deutet wohl darauf hin, dass es sich hierbei um eine zur Gewohnheit gewordene Tragödie handelte. Im Grunde wurde er von der Qual, stets ausgelacht zu werden, erlöst, denn ausgelacht wurde er. Selbst, wenn wir es uns zu Beginn noch verkneifen konnten.
Platz Nummer vier nimmt der Fresssack ein. Man hatte den Eindruck, er lebe bloß aus dem einen Grund, um breiter als lang zu werden. In den drei Tagen sahen wir ihn niemals ohne etwas Essbares in der beeindruckend speckigen Hand. Er hätte vermutlich nicht mehr lange gelebt, denn sein Herz war bestimmt in keinem guten Zustand. Das konnte man dem prustenden Atem und der violettroten Gesichtsfärbung entnehmen, jedes Mal, wenn er versuchte, einige Schritte zu gehen.