Die Elenden - Les Misérables - Victor Hugo - E-Book

Die Elenden - Les Misérables E-Book

Victor Hugo

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Beschreibung

Vollständige Überarbeitung der ersten Übersetzung von 1910 Victor Hugo beendete dieses Meisterwerk, das zu den wichtigsten Werken der französischen Literatur gehört, im Jahre 1862, als er im Exil weilte. Es schildert das bedrückende Dasein der Unterschicht, der Elenden, der Verzweifelten, der Menschen, denen man selbst eine zweite Chance verwehrt. Der Roman trug durch seine Themen- und Sprachwahl wesentlich zur Herausbildung der realistischen Literatur im 19. Jahrhundert bei. Kein anderer Autor von Weltrang hatte es zuvor gewagt, in seinen Texten zu fluchen oder die Lebensumstände der Geschundenen so drastisch darzustellen. Hauptperson ist der Ex-Häftling Jean Valjean, der es dank eines mildtätigen Bischofs schafft, in eine normale und sogar erfolgreiche Existenz zurückzukehren. In seiner neuen Identität setzt er alles daran, die todkranke Arbeiterin Fantine und deren kleine Tochter Cosette zu retten. Doch holt ihn seine Vergangenheit ein; der Polizeiinspektor Javert lässt ihn nicht in Frieden, er will Valjean unbedingt wieder hinter Gittern sehen. Dieses Geschehen bildet den Rahmen für zahlreiche Nebenhandlungen und ausführliche Schilderungen der damaligen Missstände, mit einem Detailreichtum, wie es in der europäischen Literatur sonst nur Charles Dickens vermochte. Der Stoff war Grundlage für zahlreiche Verfilmungen, verschiedene Theaterstücke und ein Musical, die letzte Adaption erblickte 2012 mit Hugh Jackman in der Rolle des Valjean und Russell Crowe als Inspektor Javert das Licht der Welt. "Die Entlassung bedeutete noch nicht die Freiheit. Kommt man aus dem Zuchthaus heraus, so hat man damit noch nicht die Verurteilung abgeschüttelt." Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 2194

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Victor Hugo

Die Elenden - Les Misérables

Überarbeitung der Erstübersetzung

Victor Hugo

Die Elenden - Les Misérables

Überarbeitung der Erstübersetzung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Dr. G. A. Volchert, Jürgen Schulze 3. Auflage, ISBN 978-3-954185-62-7

www.null-papier.de/hugo

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Über die­ses Buch

Über den Au­tor

Über die­se Fas­sung

Ers­ter Teil – Fan­ti­ne

Ers­tes Buch. Ein Ge­rech­ter

Zwei­tes Buch. Der Fehl­tritt

Drit­tes Buch. Im Jah­re 1817

Vier­tes Buch. In schlech­ten Hän­den

Fünf­tes Buch. Dem Ab­grund zu

Sechs­tes Buch. Ja­vert

Sie­ben­tes Buch. Der Fall Champ­ma­thieu

Ach­tes Buch. Der Rück­schlag

Zwei­ter Teil – Co­set­te

Ers­tes Buch. Wa­ter­loo

Zwei­tes Buch. Der Ori­on

Drit­tes Buch. Das ein­ge­lös­te Ver­spre­chen

Vier­tes Buch. Das Gor­be­au­sche Haus

Fünf­tes Buch. Eine stum­me Meu­te

Sechs­tes Buch. Das Klos­ter Pe­tit-Pic­pus

Sie­ben­tes Buch. Eine Par­en­the­se

Ach­tes Buch. Die Kirch­hö­fe neh­men, was man ih­nen gibt

Drit­ter Teil – Ma­ri­us

Ers­tes Buch. Ein Atom von Pa­ris

Zwei­tes Buch. Ein Mann von al­tem Schrot und Korn

Drit­tes Buch. Groß­va­ter und En­kel

Vier­tes Buch. Die Freun­de des A-B-C

Fünf­tes Buch. Die Vor­tei­le des Un­glücks

Sechs­tes Buch. Die Zu­sam­men­kunft zwei­er Ster­ne

Sie­ben­tes Buch. Pa­tron-Mi­net­te

Ach­tes Buch. Der böse Arme

Vier­ter Teil – Eine Idyl­le und eine Epo­pöe

Ers­tes Buch. Ein we­nig Ge­schich­te

Zwei­tes Buch. Epo­ni­ne

Drit­tes Buch. In der Rue Plu­met

Vier­tes Buch. Hil­fe, die von un­ten aus­geht und von oben an­kommt

Fünf­tes Buch. Schlech­ter An­fang, gu­tes Ende

Sechs­tes Buch. Der klei­ne Ga­vro­che

Sie­ben­tes Buch. Die Gau­ner­spra­che

Ach­tes Buch. Freud und Leid

Neun­tes Buch. Wo­hin?

Zehn­tes Buch. Am 5. Juni 1832

Elf­tes Buch. Eine Win­zig­keit, die sich mit dem Or­kan ver­brü­dert

Zwölf­tes Buch. Co­rin­the

Drei­zehn­tes Buch. Ma­ri­us un­ter den In­sur­gen­ten

Vier­zehn­tes Buch. Die Groß­ta­ten der Verzweif­lung

Fünf­zehn­tes Buch. Die Rue de l’ Hom­me-Armé

Fünf­ter Teil – Jean Val­jean

Ers­tes Buch. Eine Schlacht zwi­schen vier Wän­den

Zwei­tes Buch. Das In­ne­re des Le­wia­than

Drit­tes Buch. In den Re­gio­nen des Kots

Vier­tes Buch. Ja­vert ge­rät aus sei­nem Ge­lei­se

Fünf­tes Buch. En­kel und Groß­va­ter

Sechs­tes Buch. Eine schlaflo­se Nacht

Sie­ben­tes Buch. Der letz­te Trop­fen des Kel­ches

Ach­tes Buch. Es nach­tet schwär­zer

Neun­tes Buch. Durch Nacht zum Licht

Nach­trag

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Über dieses Buch

Vic­tor Hugo be­en­de­te die­ses Meis­ter­werk, das zu den wich­tigs­ten Wer­ken der fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur ge­hört, im Jah­re 1862, als er im Exil weil­te. Es schil­dert das be­drücken­de Da­sein der Un­ter­schicht, der Elen­den, der Verzwei­fel­ten, der Men­schen, de­nen man selbst eine zwei­te Chan­ce ver­wehrt.

Der Ro­man trug durch sei­ne The­men- und Sprach­wahl we­sent­lich zur Her­aus­bil­dung der rea­lis­ti­schen Li­te­ra­tur im 19. Jahr­hun­dert bei. Kein an­de­rer Au­tor von Wel­trang hat­te es zu­vor ge­wagt, in sei­nen Tex­ten zu flu­chen oder die Le­ben­sum­stän­de der Ge­schun­de­nen so dras­tisch dar­zu­stel­len.

Haupt­per­son ist der Ex-Häft­ling Jean Val­jean, der es dank ei­nes mild­tä­ti­gen Bi­schofs schafft, in eine nor­ma­le und so­gar er­folg­rei­che Exis­tenz zu­rück­zu­keh­ren. In sei­ner neu­en Iden­ti­tät setzt er al­les dar­an, die tod­kran­ke Ar­bei­te­rin Fan­ti­ne und de­ren klei­ne Toch­ter Co­set­te zu ret­ten. Doch holt ihn sei­ne Ver­gan­gen­heit ein; der Po­li­zei­in­spek­tor Ja­vert lässt ihn nicht in Frie­den, er will Val­jean un­be­dingt wie­der hin­ter Git­tern se­hen.

Die­ses Ge­sche­hen bil­det den Rah­men für zahl­rei­che Ne­ben­hand­lun­gen und aus­führ­li­che Schil­de­run­gen der da­ma­li­gen Miss­stän­de, mit ei­nem De­tail­reich­tum, wie es in der eu­ro­päi­schen Li­te­ra­tur sonst nur Charles Di­ckens ver­moch­te.

„Die Elen­den ist ein Buch der Nächs­ten­lie­be, ein auf­peit­schen­der Mahn­ruf an eine selbst­ge­fäl­li­ge Ge­sell­schaft, die sich nicht um die ewi­gen Ge­bo­te der Brü­der­lich­keit küm­mert.“ (Charles Bau­de­laire)

Der Stoff war Grund­la­ge für zahl­rei­che Ver­fil­mun­gen, ver­schie­de­ne Thea­ter­stücke und ein Mu­si­cal, die letz­te Ad­ap­ti­on er­blick­te 2012 mit Hugh Jack­man in der Rol­le des Val­jean und Rus­sell Cro­we als In­spek­tor Ja­vert das Licht der Welt.

»Die Ent­las­sung be­deu­te­te noch nicht die Frei­heit. Kommt man aus dem Zucht­haus her­aus, so hat man da­mit noch nicht die Ver­ur­tei­lung ab­ge­schüt­telt.«

Über den Autor

Die Fol­gen der Re­vo­lu­ti­on be­schäf­ti­gen Frank­reich, als Vic­tor Hugo am 26. Fe­bru­ar 1802 in Be­sançon ge­bo­ren wird, zwei Jah­re, zwei Mo­na­te und zwei Tage nach der Ver­ab­schie­dung der Kon­su­lats­ver­fas­sung, die Na­po­le­on Bo­na­par­te prak­tisch zum recht­mä­ßi­gen Al­lein­herr­scher al­ler Fran­zo­sen be­stimm­te.

Der jun­ge Roya­list

In die­ser ge­sell­schafts­po­li­tisch auf­ge­la­de­nen At­mo­sphä­re wächst der jüngs­te Sohn von So­phie Tré­bu­chet und Ge­ne­ral Jo­seph Léo­pold Si­gis­bert Hugo auf. Prä­gen­de Kind­heits­er­fah­run­gen dürf­ten so­wohl das un­har­mo­ni­sche Ver­hält­nis der El­tern sein als auch das Feh­len fes­ter Be­zugs­per­so­nen, weil Va­ter Hugo sel­ten da­heim ist und die Mut­ter ihr Herz ei­nem an­de­ren Mann schenkt.

Vic­tor be­tei­ligt sich früh an Dich­ter­wett­be­wer­ben und grün­det als Ju­gend­li­cher eine roya­lis­ti­sche Li­te­ra­tur­zeit­schrift, die er ge­mein­sam mit sei­nen Brü­dern be­treibt. Zu je­ner Zeit, im Al­ter von 17 Jah­ren, nimmt er ein Ju­ra­stu­di­um in Pa­ris auf, wo er gleich­zei­tig Zu­tritt zu den städ­ti­schen Li­te­ra­tur­krei­sen fin­det. Im Jahr 1820 er­hält er sei­ne ers­te Gra­ti­fi­ka­ti­on für die „Ode sur la mort du duc de Ber­ry“. Zwei Jah­re spä­ter er­scheint sein ers­ter Ge­dicht­band, des­sen voll­kom­men roya­lis­ti­sche Hal­tung ihm eine jähr­li­che Pen­si­on von 1000 Fran­cs ein­bringt.

Li­te­rat und Po­li­ti­ker

Sei­ne li­te­ra­ri­schen Er­fol­ge sind groß ge­nug, um dem hoff­nungs­fro­hen Schrift­stel­ler ein be­schei­de­nes Aus­kom­men zu er­mög­li­chen. Pri­vat sind die frü­hen 1820er Jah­re eine Zeit des Er­wach­sen­wer­dens, als Vic­tor Hugo die jun­ge Adèle Fou­cher zur Frau nimmt. Sie schenkt ihm fünf Kin­der, von de­nen nur die jüngs­te Toch­ter ih­ren Va­ter über­le­ben wird.

Mit Glück und Un­glück der Fa­mi­lie geht der li­te­ra­ri­sche Auf­stieg Hu­gos ein­her, dem es ge­lingt, sei­nen Lie­ben eine vor­erst ge­nüg­sa­me Exis­tenz zu er­ar­bei­ten, als er für sein 1823 ver­öf­fent­lich­tes Ro­man­de­büt „Han d'Is­lan­de“ Be­zü­ge von jähr­lich 2000 Fran­cs be­kommt. Im fol­gen­den Jahr kün­di­gen sich zar­te Knos­pen ei­nes Ge­sin­nungs­wan­dels an, als er in den Kreis der Ro­man­ti­ker um Charles No­dier auf­ge­nom­men wird. Noch bleibt Hugo der Roya­list, als der er auf­ge­wach­sen ist, ab 1826 voll­zieht er einen ra­di­kal er­schei­nen­den Ge­sin­nungs­wan­del zum Li­be­ra­len. Schon ab 1827 gilt Vic­tor Hugo als maß­geb­lich für die ro­man­ti­sche Li­te­ra­tur, zwei Jah­re spä­ter er­schei­nen sei­ne zu­nächst ge­mä­ßig­ten, spä­ter ein­deu­tig re­gi­me­kri­ti­schen Ro­ma­ne und Dra­men.

Das Jahr 1833 kenn­zeich­net einen neu­en Le­bens­ab­schnitt Hu­gos, als die Schau­spie­le­rin Ju­li­et­te Drou­et zu sei­nem neu­en pri­va­ten Glück wird. Spä­tes­tens seit 1838 ist der Schrift­stel­ler ein wohl­ha­ben­der Mann, denn ein Ver­lag er­wirbt für eine statt­li­che Sum­me sämt­li­che Rech­te an Hu­gos Wer­ken. Fünf Jah­re spä­ter wird der Au­tor zum Mit­glied der Aca­dé­mie françai­se ge­wählt, 1845 schließ­lich er­nennt ihn „Bür­ger­kö­nig“ Louis-Phil­ip­pe zum Pair. Sei­ne Kol­le­gen im Ober­haus ver­un­si­chert der Au­tor durch li­be­ra­le Stel­lung­nah­men, die von ei­nem kon­ser­va­ti­ven Ab­ge­ord­ne­ten in die­ser Wei­se nicht zu er­war­ten sind.

Sein un­ab­hän­gi­ges Den­ken trägt ihm im Jahr 1852 Ver­haf­tung und an­schlie­ßen­de Ver­ban­nung ein, als er ge­gen den Staats­s­treich Bo­na­par­tes de­mons­triert. Sein Exil in Saint Pe­ter Port nutzt der miss­lie­bi­ge Schrift­stel­ler, um „Na­poléon le Pe­tit“ aus der Fer­ne zu at­ta­ckie­ren und um so­zi­al­kri­ti­sche Schrif­ten zu ver­fas­sen. Im Jahr 1871, Na­poléon III. ist ge­stürzt und die Drit­te Re­pu­blik aus­ge­ru­fen, kehrt Hugo nach Pa­ris zu­rück, wo er 1876 in den Se­nat ge­wählt wird. Als er 1885 stirbt, ist der lei­den­schaft­li­che Li­te­rat und Homo po­li­ti­cus eine in­tel­lek­tu­el­le In­sti­tu­ti­on Frank­reichs. Vic­tor Hugo wird in der zum Pan­théon um­ge­wid­me­ten Kir­che der Hei­li­gen Ge­no­ve­va in ei­nem Ehren­grab bei­ge­setzt.

Be­deu­tung und Schaf­fen des Mon­sieur Hugo

Die Trau­er der Fran­zo­sen um ih­ren Na­tio­nal­schrift­stel­ler – sei­ne Be­deu­tung ist mit der­je­ni­gen Goe­thes für Deutsch­land ver­gleich­bar – war enorm, das Be­dürf­nis über­wäl­ti­gend, ihn an­ge­mes­sen zu eh­ren. Die Pa­ri­ser Kir­che St. Ge­no­ve­va war be­reits wäh­rend der Re­vo­lu­ti­ons­jah­re zum Pan­théon um­ge­wid­met, spä­ter er­neut ge­weiht und nun, an­läss­lich Hu­gos Be­stat­tung, wie­der zur Ehren­hal­le er­nannt wor­den. Der Au­tor war nach ei­nem Schlag­an­fall im Jahr 1878 we­ni­ger ak­tiv ge­we­sen als zu­vor, den­noch galt er zum Zeit­punkt sei­nes To­des als le­ben­de Le­gen­de, als eine der be­deut­sams­ten Berühmt­hei­ten sei­ner Zeit.

Das lag selbst­ver­ständ­lich an sei­nem mu­ti­gen po­li­ti­schen En­ga­ge­ment ei­ner­seits, an­de­rer­seits be­saß Hugo ge­wal­ti­gen kul­tu­rel­len Ein­fluss: In den spä­ten 1820er Jah­ren, als er sti­lis­tisch und po­li­tisch ge­wis­ser­ma­ßen er­wach­te, präg­te er so­wohl Thea­ter als auch Li­te­ra­tur der Ro­man­tik, als de­ren Kopf er seit 1827 galt. Un­ter an­de­rem lös­te sein Stück „Her­na­ni“ bei der Pre­mie­re im Jahr 1830, hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen im Pub­li­kum aus.

Ei­nes der be­kann­tes­ten Wer­ke Hu­gos ist der im fol­gen­den Jahr ver­öf­fent­lich­te his­to­ri­sche Ro­man „Notre-Dame de Pa­ris“ (Der Glöck­ner von Notre-Dame), der viel mehr ist als das heu­te häu­fig auf­ge­grif­fe­ne Lie­bes­dra­ma um den ver­krüp­pel­ten Qua­si­mo­do und sei­ne schö­ne Es­me­ral­da. Bei der un­glück­li­chen Ver­eh­rung Qua­si­mo­dos für die an­geb­li­che Zi­geu­ne­rin han­delt es sich le­dig­lich um einen der vie­len Hand­lungs­strän­ge, die Hugo erst am Ende zu­sam­men­führt. Das Buch ist glei­cher­ma­ßen so­zi­al- und re­gi­me­kri­tisch; dar­über hin­aus spricht es kul­tu­rel­le Wer­te an, die sei­ner­zeit kaum Be­ach­tung fan­den, in­dem es sich bei­spiels­wei­se für den Er­halt his­to­ri­scher Bau­sub­stanz ein­setzt. Der Ro­man stieß be­reits kurz nach Er­schei­nen auf au­ßer­or­dent­li­chen An­klang, Schrift­stel­ler­kol­le­gen wür­dig­ten ihn als epo­chal – La­mar­ti­ne er­klär­te Hugo gar zum „Sha­ke­s­pea­re des Ro­mans“.

Wie kein Zwei­ter ver­stand es Vic­tor Hugo, die­ser zu­tiefst po­li­ti­sche Li­te­rat, Pri­va­tes mit Ge­sell­schaft­li­chem zu ver­knüp­fen. Auch in „Notre-Dame de Pa­ris“ schlägt sich sein per­sön­li­ches Füh­len nie­der, wenn er einen sei­ner Pro­tago­nis­ten ins Un­glück stürzt, in­dem er ihn ver­hei­ra­tet: Der Au­tor selbst ver­lor sei­ne ers­te Gat­tin an einen Freund und Schrift­stel­ler-Kol­le­gen, der Af­fä­re stand er hilf­los dul­dend ge­gen­über. Erst nach­dem er sei­ne neue Le­bens­ge­fähr­tin Ju­li­et­te Drou­et ken­nen­lern­te, wich die Bit­ter­keit wie­der aus sei­nen Schrif­ten.

Nach der Ju­li­re­vo­lu­ti­on von 1830 ver­fass­te Hugo zu­nächst ex­trem kri­ti­sche Wer­ke. Nach­dem er aber den „Bür­ger­kö­nig“ Louis-Phil­ip­pe per­sön­lich ken­nen­ge­lernt hat­te, ver­lor sich die­se Di­stanz vor­erst. An­fangs muss­te der Li­te­rat da­mit le­ben, dass Stücke ver­bo­ten wur­den, „Le roi s'amu­se“ (Der Kö­nig amü­siert sich) aus dem Jahr 1832 bei­spiels­wei­se. Die we­ni­ger auf­rüh­re­ri­schen oder gänz­lich un­kri­ti­schen Wer­ke der fol­gen­den Jah­re, „Lu­crè­ce Bor­gia“, „Ma­rie Tu­dor“, „An­ge­lo“ und „Ruy Blas“ wur­den hin­ge­gen öf­fent­lich gou­tiert. Gleich­zei­tig schrieb Hugo meh­re­re Ge­dicht­bän­de, in de­nen sich nicht sel­ten Per­sön­li­ches nie­der­schlug. Das än­der­te sich ab 1848 und wäh­rend der Jah­re des Exils auf Jer­sey und Gu­ern­sey, denn hier ent­stan­den so­wohl bis­si­ge po­li­ti­sche Ge­dich­te als auch das im Jahr 1862 vollen­de­te „Les Misé­ra­bles“ (Die Elen­den), wor­an der Au­tor be­reits seit 1847 ge­ar­bei­tet hat­te. In ge­wis­ser Wei­se flie­ßen in die­sem Buch die Per­sön­lich­keits­an­tei­le des großen Fran­zo­sen wie in ei­nem Schmelz­tie­gel in­ein­an­der: sein kri­ti­scher Ver­stand, sei­ne Ur­teils­kraft und sei­ne Fä­hig­keit zur An­teil­nah­me.

Über diese Fassung

Zwei di­cke Bän­de, mit zu­sam­men mehr als 1500 Sei­ten in Frak­tur­schrift, um 1910 erst­ma­lig ver­öf­fent­licht, form­ten die ers­te Ver­öf­fent­li­chung von Die Elen­den auf dem deut­schen Markt.

Na­tür­lich kann man die­se Ori­gi­nal­über­set­zung nicht ohne Über­ar­bei­tung ver­öf­fent­li­chen, zu schwer, zu hol­pe­rig wäre der Le­se­ge­nuss. Da­her habe ich es mir er­laubt, den Text ei­nem Deutsch an­zu­pas­sen, wie es ein heu­ti­ger Le­ser er­war­ten darf.

»Rhät­sel« wird zu »Rät­sel«, »Ca­pi­tel« zu »Ka­pi­tel«, »Dis­cus­si­on« zu »Dis­kus­si­on«. Dazu gibt es dut­zen­de Kor­rek­tu­ren der di­rek­ten Rede oder der will­kür­li­chen – zu­min­dest für uns un­ge­wohn­ten – Apostro­phie­rung.

Als eine fran­zö­si­sche Ge­schich­te, habe ich na­tür­lich die ge­läu­figs­ten Aus­drücke be­las­sen: »Tri­cot« bleibt »Tri­cot«, wird nicht zu »Tri­kot«; eben­so über­le­ben »Cour­ti­sa­ne«, »Fla­con«, »Cou­leur«, »Cou­sin« usw.

Aber man­che miss­glück­te Ur-Über­set­zung wur­de von mir kor­ri­giert: Das »Büf­fet« wur­de wie­der zu dem auch in Deutsch­land ge­bräuch­li­chen »Buf­fet«.

Dazu kom­men noch ei­ni­ge er­klä­ren­de Fuß­no­ten für hüb­sche Wör­ter, die ich ein­fach nicht er­set­zen woll­te, wie das an­hei­meln­de »in­ter­pel­lie­ren« oder der »Oheim«, der ja auch bei uns durch den pro­fa­ne­ren »On­kel« er­setzt wird.

Wenn es Sie in­ter­es­sie­ren soll­te, wie ein E-Book er­zeugt wird, so kön­nen Sie hier eine klei­ne Ge­schich­te aus mei­ner Werk­statt le­sen: http://null-pa­pier.de/sto­ry

Ich hof­fe, Sie ha­ben Freu­de an die­ser Ge­schich­te.

Jür­gen Schul­ze

Erster Teil

Fantine

So lan­ge kraft der Ge­set­ze und Sit­ten eine so­zia­le Ver­damm­nis exis­tiert, die auf künst­li­chem Wege, in­mit­ten ei­ner hoch ent­wi­ckel­ten Zi­vi­li­sa­ti­on, Höl­len schafft und noch ein von Men­schen ge­woll­tes Fa­tum zu dem Schick­sal, das von Gott kommt, hin­zu­fügt; so lan­ge die drei Pro­ble­me des Jahr­hun­derts, die Ent­ar­tung des Man­nes durch das Pro­le­ta­ri­at, die Ent­sitt­li­chung des Wei­bes in­fol­ge ma­te­ri­el­ler Not und die Ver­wahr­lo­sung des Kin­des, nicht ge­löst sind; so lan­ge in ge­wis­sen Re­gio­nen eine so­zia­le Er­sti­ckung mög­lich sein wird, oder in an­de­ren Wor­ten und un­ter ei­nem all­ge­mei­ne­ren Ge­sichts­punkt be­trach­tet, so lan­ge auf der Erde Un­wis­sen­heit und Elend be­ste­hen wer­den, dürf­ten Bü­cher wie die­ses nicht un­nütz und un­nö­tig sein.

Erstes Buch. Ein Gerechter

I. Myriel

Im Jah­re 1815 war Charles François Bi­en­ve­nu Bi­schof von Dig­ne. Er zähl­te da­mals fünf­und­sieb­zig Jah­re und hat­te sein ho­hes Amt seit 1806 inne.

Letz­te­rer Um­stand steht ei­gent­lich in kei­ner we­sent­li­chen Be­zie­hung zu dem In­halt un­se­rer Er­zäh­lung, aber viel­leicht ist es nicht über­flüs­sig, – wäre es auch nur der Ge­nau­ig­keit we­gen – hier zu be­rüh­ren, was über ihn bei sei­ner An­kunft in der Di­öze­se er­zählt und ge­mut­maßt wur­de. Was man von ei­nem Men­schen sagt, spielt ja, gleich­viel ob es wahr oder falsch ist, in sei­nem Le­ben oft eine eben­so wich­ti­ge Rol­le wie sei­ne Ta­ten und Hand­lun­gen. My­ri­el war der Sohn ei­nes Par­la­ments­rats der Stadt Aix, ge­hör­te also zu dem Be­am­te­na­del. Man er­zähl­te sich, sein Va­ter, der ihm sein Amt ver­er­ben woll­te, habe ihn schon, als er erst acht­zehn oder zwan­zig Jah­re alt war, ver­hei­ra­tet, wie dies bei dem Par­la­ment­sadel ge­bräuch­lich war. Trotz die­ser Hei­rat hät­te aber Charles My­ri­el viel von sich re­den ge­macht. Er war gut ge­wach­sen, wenn auch von klei­ner Sta­tur, hielt sehr auf sein Äu­ße­res, hat­te fei­ne Ma­nie­ren und viel Geist und brach­te den ers­ten Ab­schnitt sei­nes Le­bens mit welt­li­chen Zer­streu­un­gen und Lie­bes­aben­teu­ern hin.

Da brach die große Re­vo­lu­ti­on von 1789 aus, und als bald wur­den auch die Fa­mi­li­en des Par­la­ment­sadels in den Stru­del hin­ein­ge­ris­sen und de­zi­miert, aus dem Lan­de ge­jagt, ver­folgt, aus­ein­an­der ge­sprengt. Auch Charles My­ri­el emi­grier­te gleich zu An­fang der Re­vo­lu­ti­on nach Ita­li­en. Hier starb sei­ne Frau an ei­ner Brust­krank­heit, an der sie schon seit Jah­ren ge­lit­ten hat­te. Kin­der hat­ten sie nicht. War es der Zu­sam­men­bruch der al­ten Wel­t­ord­nung, der Nie­der­gang sei­ner Fa­mi­lie, die Dra­men des Schre­ckens­jah­res 1793, die den Emi­grier­ten aus der Fer­ne noch ent­setz­li­cher er­schie­nen als sie in Wirk­lich­keit wa­ren, kurz, wa­ren es die äu­ßer­li­chen Um­wäl­zun­gen, die ihn der Welt und ih­ren Freu­den ent­frem­de­ten? Oder traf mit­ten in dem Stru­del sei­ner Ver­gnü­gun­gen ihn per­sön­lich ein Un­glück, das die tiefs­ten Tie­fen sei­nes Her­zens auf­wühl­te und sei­nem Den­ken eine an­de­re Rich­tung wies? Die­se Fra­gen wuss­te nie­mand zu be­ant­wor­ten; nur so viel stand fest, dass er, aus Ita­li­en zu­rück­ge­kehrt, Pries­ter war.

Im Jah­re 1804 war My­ri­el Pfar­rer von Bri­gnol­les, wo er ein sehr zu­rück­ge­zo­ge­nes Le­ben führ­te. Zu die­ser Zeit, kurz nach Na­po­le­ons Kai­ser­krö­nung, kam er ein­mal be­hufs Er­le­di­gung ei­nes Amts­ge­schäf­tes nach Pa­ris und muss­te un­ter an­de­rem auch dem Kar­di­nal Fesch sei­ne Auf­war­tung ma­chen. Wäh­rend nun un­ser wa­cke­rer Pfar­rer im Vor­zim­mer war­te­te, kam zu­fäl­lig auch der Kai­ser um den Kar­di­nal, sei­nen Oheim,1 zu be­su­chen. Ihm fiel ein ge­wis­ser Aus­druck von Neu­gier­de auf, mit dem die Au­gen des Pfar­rers ihm folg­ten, und, sich um­wen­dend, frag­te er barsch:

»Wer ist denn der gute Mann, der mich so an­sieht?«

»Ma­je­stät, sag­te My­ri­el, se­hen einen gu­ten, und ich einen großen Mann. Bei­de Tei­le kön­nen pro­fi­tie­ren.«

Der Kai­ser frag­te nach­her den Kar­di­nal so­fort nach dem Na­men die­ses Pfar­rers, und kur­ze Zeit dar­auf er­fuhr My­ri­el zu sei­ner großen Ver­wun­de­rung, dass er auf den Bi­schofs­sitz von Dig­ne be­ru­fen sei.

Im Üb­ri­gen wuss­te nie­mand, ob an den Gerüch­ten, die über My­ri­els Vor­le­ben in Um­lauf wa­ren, et­was Wah­res sei. Nur we­ni­ge hat­ten sei­ne Fa­mi­lie ge­kannt.

Selbst­re­dend ging es My­ri­el wie je­dem Neu­an­ge­kom­me­nen in je­der Klein­stadt, wo je­der­mann einen Mund zum Re­den, aber nur We­ni­ge ein Hirn zum Den­ken ha­ben. Er muss­te die Leu­te re­den las­sen, ob­gleich und weil er Bi­schof war. Was man sich über ihn er­zähl­te, wa­ren nur Re­den, nur lee­res Wort­ge­klin­gel, und als er neun Jah­re in Dig­ne re­si­diert hat­te, war all der Klatsch, der an­fangs alle klei­nen Geis­ter in die­ser klei­nen Stadt in große Auf­re­gung ver­setzt hat­te, der Ver­ges­sen­heit an­heim­ge­fal­len. Nie­mand wag­te mehr da­von zu spre­chen, nie­mand ihn zu ge­häs­si­gen Zwe­cken aus­zu­beu­ten.

My­ri­el brach­te nach Dig­ne ein al­tes Fräu­lein na­mens Bap­tis­ti­ne, mit, die sei­ne Schwes­ter und zehn Jah­re jün­ger war als er. Die gan­ze Die­ner­schaft der bei­den Ge­schwis­ter be­stand in ei­ner Magd des­sel­ben Al­ters wie Fräu­lein Bap­tis­ti­ne, na­mens Frau Mag­loi­re, die ehe­dem nur die »Magd des Herrn Pfar­rers« ge­we­sen und nun zu­gleich als Kam­mer­frau des Fräu­lein Bap­tis­ti­ne und als Wirt­schaf­te­rin Sr. Bi­schöf­li­chen Gna­den fun­gier­te.

Fräu­lein Bap­tis­ti­ne war eine hoch ge­wach­se­ne, blas­se, ha­ge­re Dame von sanf­tem We­sen, eine Ver­kör­pe­rung al­les des­sen, was ein weib­li­ches We­sen ach­tungs­wert macht; denn auf Ehr­furcht An­spruch ma­chen darf ja­wohl nur das Weib, das Mut­ter ist. Hübsch war sie nie ge­we­sen, aber da ihr gan­zes Le­ben mit Wer­ken from­mer Lie­bes­tä­tig­keit aus­ge­füllt wor­den war, so war jetzt über ihre äu­ße­re Er­schei­nung eine Art lich­ter Klar­heit aus­ge­gos­sen, et­was, das man die Schön­heit des Ge­müts nen­nen kann. Was in ih­rer Ju­gend Ma­ger­keit ge­we­sen, hat­te sich jetzt zu en­gel­haf­ter Durch­sich­tig­keit ver­klärt. Sie war mehr See­le noch als jung­fräu­li­ches Weib, gleich­sam ein Schat­ten mit so viel Kör­per, dass man ihm noch ein Ge­schlecht bei­le­gen konn­te; ein we­nig Stoff, der einen lich­ten Glanz ein­hüll­te. Dazu große Au­gen, die sie im­mer zur Erde ge­senkt hielt, als su­che die­se See­le einen Vor­wand noch hie­nie­den zu ver­wei­len.

Frau Mag­loi­re war eine klei­ne, di­cke Alte, die im­mer keuch­te, weil sie sich im Hau­se tüch­tig tum­mel­te, und zwei­tens, weil sie eng­brüs­tig war.

Als My­ri­el sei­nen Ein­zug in Dig­ne hielt, wur­de er mit den üb­li­chen ho­hen Ehrun­gen, ge­mäß den kai­ser­li­chen De­kre­ten, laut de­nen die Bi­schö­fe im Ran­ge un­mit­tel­bar den Bri­ga­de­ge­nerä­len fol­gen, in dem bi­schöf­li­chen Palast in­stal­liert. Der Maire und der Prä­si­dent mach­ten ihm zu­erst ihre Auf­war­tung, und er sei­ner­seits be­such­te zu­erst den Ge­ne­ral und den Prä­fek­ten. Dann, nach­dem die In­stal­la­ti­on voll­zo­gen war, war­te­te die Stadt, wie ihr neu­er Bi­schof sei­nes Am­tes wal­ten wür­de.

On­kel  <<<

II. Herr Myriel wird der Herr Bischof Bienvenu

Der bi­schöf­li­che Palast in Dig­ne lag ne­ben dem Ho­spi­tal. Es war ein großes, schö­nes Ge­bäu­de, das zu An­fang des 18. Jahr­hun­derts von Hen­ri Pu­get, Dok­tor der Theo­lo­gie und 1712 Bi­schof von Dig­ne, er­rich­tet wor­den war. Al­les in die­sem wahr­haft fürst­li­chen Schloss war in großem Sti­le an­ge­legt: die Wohn­zim­mer des Bi­schofs, die Säle, die Kam­mern, der große Ehren­hof nebst den Wan­del­gän­gen, die sich, von alt­flo­ren­ti­ni­schen Ar­ka­den über­wölbt, um ihn her­um­zo­gen, die mit herr­li­chen Bäu­men be­pflanz­ten Gär­ten. In dem Spei­se­saal, ei­ner lan­gen und pracht­vol­len Ga­le­rie, die im Erd­ge­schoss be­le­gen war und sich nach den Gär­ten hin­aus öff­ne­te, hat­te einst Hen­ri Pu­get sie­ben hohe Wür­den­trä­ger der Kir­che fei­er­lichst be­wir­tet. Die Bild­nis­se die­ser sie­ben ehr­furcht­ge­bie­ten­den Präla­ten schmück­ten den Saal, und das denk­wür­di­ge Da­tum, der 29. Juli 1714, war mit gold­nen Buch­sta­ben auf ei­ner wei­ßen Mar­mor­ta­fel ein­ge­gra­ben.

Das Ho­spi­tal war ein en­ges, nied­ri­ges, ein­stö­cki­ges Haus mit ei­nem klei­nen Gar­ten.

Drei Tage nach sei­ner An­kunft be­sich­tig­te der Bi­schof das Ho­spi­tal. Nach Been­di­gung der Vi­si­ta­ti­on ließ er so­fort den Di­rek­tor zu sich be­schei­den.

»Herr Di­rek­tor, re­de­te er ihn an, wie viel Pa­ti­en­ten ha­ben Sie ge­gen­wär­tig?«

»Sechs­und­zwan­zig, Ew. Bi­schöf­li­che Gna­den.«

»So­viel habe ich auch ge­zählt«, be­merk­te der Bi­schof.

»Die Bet­ten«, hob der Di­rek­tor wie­der an, »ste­hen recht dicht an­ein­an­der.«

»Das ist mir auch auf­ge­fal­len.«

»Statt Säle ha­ben wir nur Stu­ben, die schwer zu lüf­ten sind.«

»Das scheint mir auch so.«

»Und fällt ein­mal ein Son­nen­strahl in den Gar­ten, so ist er zu klein, die vie­len Re­kon­va­les­zen­ten zu fas­sen.«

»Das habe ich mir auch ge­sagt.«

»Wenn Epi­de­mi­en um­ge­hen, wie z.B. die­ses Jahr der Ty­phus und vor zwei Jah­ren Frie­sel und Schweiß­fie­ber, ha­ben wir bis­wei­len an die hun­dert Kran­ke und wis­sen dann nicht, wo wir mit ih­nen hin sol­len.«

»Der Ge­dan­ke ist mir auch in den Sinn ge­kom­men.«

»Aber al­len die­sen Übel­stän­den ist nun ein­mal nicht ab­zu­hel­fen«, sag­te der Di­rek­tor. »Man muss sich fü­gen.«

Die­ses Zwie­ge­spräch fand in dem Spei­se­saal des Erd­ge­schos­ses statt.

Der Bi­schof schwieg einen Au­gen­blick und wand­te sich dann wie­der an den Di­rek­tor mit der has­ti­gen Fra­ge:

»Herr Di­rek­tor, wie viel Bet­ten, mei­nen Sie, wür­de wohl die­ser Saal al­lein schon fas­sen?«

»Der Spei­se­saal Ew. Bi­schöf­li­chen Gna­den?« rief der Di­rek­tor in maß­lo­sem Er­stau­nen.

Der Bi­schof über­schau­te den Saal und schi­en mit den Au­gen Mes­sun­gen an­zu­stel­len.

»Zwan­zig Bet­ten wür­den hier wohl Platz fin­den«, flüs­ter­te er lei­se, als spre­che er für sich. Dann, zu dem Di­rek­tor ge­wen­det, fuhr er laut fort:

»Ich will Ih­nen was sa­gen, Herr Di­rek­tor. Es liegt of­fen­bar ein Irr­tum vor. Ihr seid sechs­und­zwan­zig Men­schen in fünf bis sechs win­zi­gen Zim­mer­chen. Un­se­rer sind hier drei, und wir ha­ben Platz für sech­zig. Da liegt ein Irr­tum vor, sage ich Ih­nen noch ein­mal. Sie ha­ben mei­ne Woh­nung, und ich die Ih­ri­ge. Ge­ben Sie mir mein Haus wie­der. Sie ge­hö­ren hier­hin.«

Am fol­gen­den Tage wa­ren die sechs­und­zwan­zig ar­men Kran­ken in dem Palast des Bi­schofs un­ter­ge­bracht und der Bi­schof in das Kran­ken­haus über­ge­sie­delt.

My­ri­el hat­te, da sei­ne Fa­mi­lie durch die Re­vo­lu­ti­on rui­niert war, kein Ver­mö­gen. Sei­ne Schwes­ter be­zog eine Lei­b­ren­te von fünf­hun­dert Fran­ken, die sei­ner Zeit im Pfarr­hau­se für ihre per­sön­li­chen Be­dürf­nis­se aus­ge­reicht hat­ten. My­ri­el er­hielt vom Staa­te als Bi­schof ein Ge­halt von fünf­zehn Tau­send Fran­ken. Über die­se Sum­me ver­füg­te My­ri­el laut ei­ner von ihm sel­ber auf­ge­stell­ten Rech­nung, de­ren Ori­gi­nal uns vor­liegt, ein für alle Mal fol­gen­der­ma­ßen:

Aus­ga­ben für mei­nen Haus­halt.

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Für das klei­ne Se­mi­nar

1500

Fran­ken

Für die Mis­si­ons­kon­gre­ga­ti­on

100

Für die La­za­ris­ten zu Mont­di­dier

100

Für das Se­mi­nar der aus­wär­ti­gen Mis­sio­nen in Pa­ris

200

Für die Kon­gre­ga­ti­on des Hei­li­gen Geis­tes

150

Für die re­li­gi­ösen An­stal­ten im Hei­li­gen Lan­de

100

Für die Frau­en­ver­ei­ne zur Un­ter­stüt­zung ar­mer Wöch­ne­rin­nen

300

Für den Ve­rein in Ar­les au­ßer­dem noch

50

Für die Ver­bes­se­rung der Ge­fäng­ni­sein­rich­tun­gen

400

Zur Un­ter­stüt­zung und Be­frei­ung Ge­fan­ge­ner

500

Für die Be­frei­ung von Fa­mi­li­en­vä­tern aus dem Schuld­ge­fäng­nis

1000

Zu­schuss zu den Ge­häl­tern der ar­men Schul­leh­rer der Di­öze­se

2000

Für das Ge­trei­dema­ga­zin der Obe­ral­pen

100

Für die Kon­gre­ga­ti­on der Da­men von Dig­ne, Ma­nos­que und Sis­te­ron zur Er­tei­lung von un­ent­gelt­li­chem Un­ter­richt an be­dürf­ti­ge Mäd­chen

1500

Für die Ar­men

6000

Für mei­ne per­sön­li­chen Aus­ga­ben

1000

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Sum­ma

15.000

Fran­ken

An die­ser Ein­rich­tung »sei­nes so­ge­nann­ten Haus­hal­tes« än­der­te er nichts, so lan­ge er den Bi­schofs­sitz zu Dig­ne inne hat­te.

Die­ser An­ord­nung un­ter­warf sich auch Fräu­lein Bap­tis­ti­ne ohne den ge­rings­ten Wi­der­spruch. Für die­se from­me Dame war My­ri­el nicht al­lein ihr Bru­der, son­dern auch ihr Bi­schof, ein Freund, den die Na­tur ihr zu­ge­sellt, und ein Vor­ge­setz­ter, den die Kir­che ihr über­ge­ord­net hat­te. Sie brach­te ihm nur Lie­be und Ehr­furcht ent­ge­gen. Al­len sei­nen Wor­ten pflich­te­te sie bei; was er tat, hieß sie gut. Nur die Magd, Frau Mag­loi­re, murr­te ein we­nig. Hat­te doch, der Herr Bi­schof, – wie aus der oben an­ge­führ­ten Rech­nung er­hellt,– sich nur tau­send Fran­ken vor­be­hal­ten, was mit Fräu­lein Bap­tis­ti­nes Pen­si­on fünf­zehn Hun­dert Fran­ken jähr­lich er­gab. Mit die­sen fünf­zehn Hun­dert Fran­ken be­strit­ten die bei­den Frau­en und der alte Herr ih­ren gan­zen Le­bens­un­ter­halt.

Und wenn ein Dorf­pfar­rer nach Dig­ne kam, brach­te es der Bi­schof noch fer­tig ihn an­stän­dig zu be­wir­ten, dank Frau Mag­loi­res großer Spar­sam­keit und Fräu­lein Bap­tis­ti­nes wei­ser Haus­hal­tungs­kunst. Ei­nes Ta­ges – er war da­mals seit etwa drei Mo­na­ten in Dig­ne – sag­te der Bi­schof: »Mei­ne Ein­künf­te wol­len doch gar nicht recht zu­lan­gen!«

»Das woll­te ich mei­nen! rief Frau Mag­loi­re. Wenn Bi­schöf­li­che Gna­den sich we­nigs­tens noch das Geld aus­zah­len lie­ßen, das Ih­nen das De­par­te­ment als Ver­gü­tung für Equi­pa­ge1 und Rei­seun­kos­ten schul­dig ist. Die Vor­gän­ger Ew. Bi­schöf­li­chen Gna­den ha­ben’s doch im­mer so ge­hal­ten!«

»In der Tat, Sie ha­ben recht, Frau Mag­loi­re«, stimm­te ihr der Bi­schof bei und reich­te ein Ge­such bei der Stadt­ver­wal­tung ein.

Der Ge­ne­ral­rat zog auch das Ge­such in Er­wä­gung und warf einen Pos­ten von drei­tau­send Fran­ken jähr­lich aus, als Ver­gü­tung der Un­kos­ten, die der Herr Bi­schof für sei­ne Equi­pa­ge in der Stadt und für sei­ne Rei­sen mit der Post zu be­strei­ten habe.

Na­tür­lich er­ho­ben die Frei­den­ker ein Ze­ter­ge­schrei und ein Se­na­tor na­ment­lich, ein ehe­ma­li­ges Mit­glied des Ra­tes der Fünf­hun­dert, der dem Staats­s­treich vom 18. Bru­maire zu­ge­stimmt und von Na­po­le­on ein bei Dig­ne ge­le­ge­nes großes Gut als Do­ta­ti­on er­hal­ten hat­te, er­ließ an den Kul­tus­mi­nis­ter Bi­got de Préa­me­neu einen ent­rüs­te­ten Schrei­be­brief, dem wir fol­gen­de Zei­len ent­neh­men:

»Wozu eine Equi­pa­ge in ei­ner Stadt, die kei­ne vier­tau­send Ein­woh­ner hat? Und Un­kos­ten für Run­drei­sen? Was sol­len denn sol­che Run­drei­sen für einen Zweck ha­ben? Und wie reist man denn per Post in ei­nem Ge­birgs­lan­de? Wir ha­ben hier ja über­haupt kei­ne Chaus­seen. Man reist hier nur zu Pfer­de. Kaum dass die Brücke über die Du­ran­ce bei Cha­teau-Ar­noult ein Och­sen­fuhr­werk tra­gen kann! Aber so sind die Pries­ter alle! Geld­gie­rig und gei­zig. Der hier hat sich An­fangs auf den Hei­li­gen aus­ge­spielt. Jetzt macht er’s wie die an­de­ren. Er muss in ei­ner Equi­pa­ge fah­ren und in ei­ner Post­kut­sche rei­sen! Er braucht Lu­xus wie die Bi­schö­fe des al­ten Re­gime. O über die­ses Pfaf­fen­ge­schmeiß! Glau­ben Sie nur, Herr Graf, ehe uns der Kai­ser die Schwarz­rö­cke nicht vom Hal­se schafft, wer­den die Zu­stän­de nicht bes­ser. Nie­der mit dem Papst! (Frank­reich stand da­mals mit Rom auf ge­spann­tem Fuße). Ich für mein Teil bin da­für, dass Cäsar al­lein re­giert. U.s.w. U.s.w.«

De­sto mehr freu­te sich Frau Mag­loi­re.

»So ist’s recht, sag­te sie zu Fräu­lein Bap­tis­ti­ne. Se. Bi­schöf­li­che Gna­den ha­ben bis jetzt nur für an­de­re ge­sorgt, aber schließ­lich ha­ben Sie doch end­lich auch an sich den­ken müs­sen. Die Ar­men sind nun ver­sorgt, und die drei­tau­send Fran­ken blei­ben für uns. Es war auch Zeit, dass wir was krieg­ten!«

An dem Abend des­sel­ben Ta­ges stell­te der Bi­schof wie­der eine Rech­nung auf und gab sie sei­ner Schwes­ter. Sie lau­te­te fol­gen­der­ma­ßen:

Un­kos­ten für Equi­pa­ge und Amts­rei­sen.

-

-

Zu Bouil­lon für die Kran­ken un­se­res Ho­spi­tals

1.500

Fran­ken

Für den Frau­en­ver­ein zu Ar­les

250

Für den Frau­en­ver­ein zu Dra­gu­i­gnan

250

Für die Fin­del­kin­der

500

Für die Wai­sen­kin­der

500

-

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Sum­ma

3.000

Fran­ken

Das war My­ri­els Bud­get.

Was die Ne­ben­ein­künf­te an­be­langt, die Ein­nah­men für Ab­kauf von Auf­ge­bo­ten, für Dis­pen­sa­ti­ons­schei­ne, Not­tau­fen, Pre­dig­ten, Ein­wei­hun­gen von Kir­chen und Ka­pel­len, Hoch­zei­ten u.s.w., so trieb der Bi­schof die­se Gel­der von den Rei­chen mit umso grö­ße­rer Stren­ge ein, da er sie sämt­lich den Ar­men zu­wand­te.

Nach Ver­lauf ei­ner kur­z­en Zeit flos­sen ihm denn auch Lie­bes­ga­ben in rei­cher Men­ge zu. Be­gü­ter­te und Be­dürf­ti­ge, alle klopf­ten an My­ri­els Tür, die einen um Spen­den bei ihm zu hin­ter­le­gen, die an­de­ren um sie in Empfang zu neh­men. Aber so be­trächt­li­che Sum­men ihm auch durch die Hän­de gin­gen, so fand er sich doch nicht ver­an­lasst sei­ne Le­bens­hal­tung in ir­gend ei­nem Punk­te zu än­dern und sich au­ßer dem Not­wen­di­gen auch Über­flüs­si­ges zu ge­stat­ten.

Im Ge­gen­teil. Da in der mensch­li­chen Ge­sell­schaft all­zeit un­ten mehr Elend als oben Wohl­tä­tig­keits­sinn vor­han­den ist, so war al­les schon weg­ge­ge­ben, ehe er es be­kom­men hat­te, so fiel al­les wie ein Trop­fen auf einen hei­ßen Stein. Man konn­te ihm noch so viel Geld ge­ben, nie hat­te er et­was. In sol­chen Fäl­len gab er noch mehr von dem Sei­ni­gen her.

Der dank­ba­re In­stinkt des Vol­kes wähl­te denn auch un­ter den Vor­na­men, die sein Bi­schof dem Brau­che ge­mäß in sei­nen Er­las­sen und Hir­ten­brie­fen voll­stän­dig auf­zähl­te, den­je­ni­gen her­aus, der einen be­deu­tungs­vol­len Sinn dar­bot. Die ar­men Leu­te nann­ten ihn nur den Bi­en­ve­nu (Will­kom­men, Se­gens­reich). Wir wol­len die­sem Bei­spiel fol­gen und ihn ge­le­gent­lich gleich­falls so nen­nen. Ihm sel­ber sag­te üb­ri­gens die­se neue Be­zeich­nung zu. »Der Name ge­fällt mir«, ließ er sich ver­neh­men. »Er mil­dert, was der Ti­tel Bi­schöf­li­che Gna­den zu Stol­zes hat.«

Dass die­se Schil­de­rung, die wir hier ent­wer­fen, die Wahr­schein­lich­keit für sich habe, wa­gen wir nicht zu be­haup­ten, wohl aber ist sie der Wahr­heit ge­mäß.

Ge­päck  <<<

III. Ein tüchtiger Arbeiter findet viel zu tun

Der Bi­schof hat­te zwar sei­ne Equi­pa­ge in Al­mo­sen um­ge­wan­delt, be­reis­te aber gleich­wohl flei­ßig sei­nen Amtss­pren­gel, was mit er­heb­li­chen Stra­pa­zen ver­bun­den war. Die Di­öze­se Dig­ne ist ein Land mit we­nig Ebe­nen und viel Ber­gen, da­bei fast ohne Chaus­seen, wie schon er­wähnt. Sie um­fasst zwei­und­drei­ßig Pfar­rei­en, ein­und­vier­zig Vi­ka­ria­te und zwei­hun­dert fünf­un­dacht­zig Fi­li­al­kir­chen. Dies al­les zu be­wäl­ti­gen, er­heisch­te kei­ne ge­rin­ge Sum­me von Ar­beits­kraft, die aber un­ser Bi­schof auf­zu­brin­gen ver­stand. War der be­tref­fen­de Ort in der Nach­bar­schaft ge­le­gen, so ging er zu Fuß; in den ebe­nen Ge­gen­den fuhr er in ei­ner Halb­kut­sche, im Ge­bir­ge ritt er auf ei­nem Maul­tier. Die bei­den Frau­en be­glei­te­ten ihn ge­wöhn­lich, au­ßer wenn die Stra­pa­zen das bil­li­ge Maß über­stie­gen. In die­sem Fall reis­te er al­lein.

Ei­nes Ta­ges ritt er in Se­nez, ei­ner al­ten Bi­schofs­stadt, auf ei­nem Esel ein. Ein an­de­res Trans­port­mit­tel hat­te er we­gen der star­ken Ebbe, die in sei­ner Bör­se auf­ge­tre­ten war, nicht ge­neh­mi­gen kön­nen. Als er nun von sei­nem Esel ab­stieg, maß ihn der Bür­ger­meis­ter, der sich zu sei­nem Empfan­ge vor dem Bi­schof­spa­lais ein­ge­fun­den, mit Bli­cken, aus de­nen tie­fe sitt­li­che Ent­rüs­tung sprach, und ei­ni­ge Vor­über­ge­hen­de, die ih­rer Klei­dung nach zu ur­tei­len den bes­se­ren Stän­den an­ge­hör­ten, blie­ben ste­hen und lach­ten.

»Mei­ne Her­ren, sag­te der Bi­schof, ich kann mir das Mo­tiv Ihres Un­wil­lens den­ken: Sie fin­den es an­maß­lich, dass ein ar­mer Pries­ter sich des Reit­tie­res Jesu Chris­ti be­dient. Ich ver­si­che­re Sie aber, ich tue es aus Not, nicht aus Ei­tel­keit.«

Wo­hin er auch bei ei­ner sol­chen Run­drei­se kam, stets zeig­te er sich mil­de und nach­sich­tig ge­gen sei­ne Un­ter­ge­be­nen und in sei­nen Pre­dig­ten schlug er vor­zugs­wei­se einen ge­müt­li­chen Ge­spräch­ston an. Weit­her ge­hol­te Grün­de und Bei­spie­le lieb­te er nicht. Da­ge­gen er­mahn­te er die Leu­te an ei­nem Ort sich die Be­woh­ner ei­nes an­de­ren, be­nach­bar­ten, zum Vor­bild zu neh­men. Wo man hart ge­gen die Be­dürf­ti­gen war, sag­te er z.B.: »Nehmt Euch Eure Nach­barn in Briançon zum Vor­bild. Sie ha­ben den Ar­men, den Wit­wen und Wai­sen die Er­laub­nis er­teilt, ihre Wie­sen drei Tage vor den an­de­ren ab­mä­hen zu las­sen und re­pa­rie­ren ih­nen ihre Häu­ser, wenn sie bau­fäl­lig ge­wor­den sind, un­ent­gelt­lich. Des­halb hat aber auch der lie­be Gott das Land ge­seg­net, denn vol­le hun­dert Jah­re lang ist da­selbst kein Mord vor­ge­kom­men.«

Zu Leu­ten, die bei der Ern­te zu ge­nau ver­fuh­ren, sag­te er. »Seht Euch mal an, wie sie’s in Em­brun ma­chen. Hat ein Fa­mi­li­en­va­ter Söh­ne beim Mi­li­tär oder Töch­ter, die in der Stadt die­nen, und kann er we­gen Krank­heit oder aus ei­nem an­de­ren Hin­de­rungs­grun­de die Ein­brin­gung sei­ner Ern­te nicht be­sor­gen, so emp­fiehlt ihn der Pfar­rer der Ge­mein­de, dann kom­men am Sonn­tag alle Leu­te aus dem Dor­fe, die Män­ner, die Frau­en, die Kin­der, mä­hen ihm sein Ge­trei­de und schaf­fen es ihm, Korn und Stroh, in sei­ne Scheu­ne.« – Zu den Fa­mi­li­en, die we­gen Geld- und Erb­schafts­an­ge­le­gen­hei­ten un­ei­nig wa­ren sag­te er: »Schaut mal, wie sie’s in De­volny an­fan­gen. Es ist das eine raue Ge­birgs­ge­gend, wo man den Ge­sang der Nach­ti­gall kaum ein­mal in fünf­zig Jah­ren zu hö­ren be­kommt. In die­sem Lan­de also ge­hen die Söh­ne, wenn der Va­ter stirbt, in die Frem­de, und über­las­sen das Erbe ih­ren Schwes­tern, da­mit die­se sich ver­hei­ra­ten kön­nen.« – In den Kan­to­nen, wo viel pro­zes­siert wur­de, sag­te er: »Nehmt Euch die bra­ven Bau­ern in Quey­ras zum Vor­bild. Es sind ih­rer drei­tau­send See­len, und die Leu­te le­ben dort ein­träch­tig, als bil­de­ten sie eine klei­ne Re­pu­blik für sich. Rich­ter und Exe­ku­tor gib­t’s dort nicht. Der Schul­ze be­sorgt da al­les. Er ver­an­lagt die Steu­ern, schätzt je­den ein, wie er’s vor sei­nem Ge­wis­sen ver­ant­wor­ten kann, schlich­tet un­ent­gelt­lich Strei­tig­kei­ten, teilt Erb­schaf­ten ohne Ho­no­rar zu for­dern, fällt Ur­teilss­prü­che ohne den Leu­ten Un­kos­ten zu ver­ur­sa­chen, und er fin­det Ge­hor­sam, weil er ein ge­rech­ter Mann ist und un­ter ein­fa­chen Leu­ten lebt.« In den Dör­fern, wo kein Schul­leh­rer war, ver­wies er wie­der auf das Bei­spiel der Bau­ern in Quey­ras: Wisst Ihr, wie die’s ma­chen? »Da ein Dorf mit nur zwölf bis fünf­zehn Häu­sern nicht im­mer die Mit­tel be­sitzt einen Ma­gis­ter zu er­näh­ren, so tun sich die Be­woh­ner des gan­zen Ta­les zu­sam­men und hal­ten sich Schul­meis­ter. Die ge­hen von Dorf zu Dorf und ge­ben hier acht, dort zehn Tage lang Un­ter­richt. Die­se Ma­gis­ter fin­den sich ein, wo Jahr­markt ist, und ich habe sel­ber wel­che ge­se­hen. Sie sind an den Schreib­fe­dern, die sie in ei­ner Schnur­schlei­fe am Hute tra­gen, zu er­ken­nen. Die nur Un­ter­richt im Le­sen er­tei­len, ha­ben eine Fe­der; die im Le­sen und Rech­nen un­ter­rich­ten, zwei; die Le­sen, Rech­nen und La­tein leh­ren, drei. Die­se letz­te­ren sind große Ge­lehr­te. Aber wel­che Schan­de un­wis­send zu sein! Ahmt den Leu­ten in Quey­ras nach.«

In die­ser ein­dring­li­chen und vä­ter­li­chen Aus­drucks­wei­se pfleg­te er mit den Leu­ten zu re­den. Und die Er­mang­lung von Bei­spie­len er­fand er Gleich­nis­se, hob deut­lich das her­vor, wor­auf es an kam, und brauch­te we­nig Re­dens­ar­ten, aber de­sto mehr bild­li­che Wen­dun­gen, wie Je­sus Chris­tus, des­sen Be­red­sam­keit zu Her­zen ging, weil sie aus dem Her­zen kam.

IV. Übereinstimmung von Taten und Worten

Im Ge­spräch war er leut­se­lig und hei­ter. Er pass­te sich dem Ver­ständ­nis der bei­den Frau­en an, die bei ihm leb­ten. La­chen konn­te er so herz­lich wie ein Schul­kna­be.

Frau Mag­loi­re nann­te ihn gern Ho­her Herr. Ei­nes Ta­ges nun er­hob er sich von sei­nem Ses­sel, um ein Buch zu ho­len, konn­te es aber, da es auf ei­nem obe­ren Re­gal lag und er zu klei­ner Sta­tur war, nicht lan­gen. Da rief er Frau Mag­loi­re: »Brin­gen Sie mir doch einen Stuhl. Die Ho­heit des ho­hen Herrn reicht nicht bis an das Brett da.«

Eine ent­fern­te Ver­wand­te von ihm, die Grä­fin von Lô, ließ es sich sel­ten ent­ge­hen, in sei­ner Ge­gen­wart die »Hoff­nun­gen« ih­rer drei Söh­ne aus­führ­lich auf­zu­zäh­len, näm­lich all die Glücks­gü­ter und Vor­tei­le, die sie von rei­chen al­ten Ver­wand­ten bin­nen vor­aus­sicht­lich kur­z­er Zeit er­ben wür­den. Der jüngs­te Sohn er­war­te­te von ei­ner Groß­tan­te ein Jah­res­ein­kom­men von nicht we­ni­ger als hun­dert­tau­send Fran­ken; dem zwei­ten muss­te der Her­zogs­ti­tel sei­nes Oheims zu­fal­len; der Äl­tes­te hat­te An­wart­schaft auf die Pai­rie sei­nes Groß­va­ters. Die­sen un­schul­di­gen und ver­zeih­li­chen Prah­le­rei­en der zärt­li­chen Mut­ter hör­te meis­ten­teils der Bi­schof mit mus­ter­haf­tem Still­schwei­gen zu. Bei ei­ner Ge­le­gen­heit in­des hing er sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken nach, wäh­rend die Grä­fin sich in weit­schwei­fi­gen Er­ör­te­run­gen al­ler die­ser Suk­zes­sio­nen und »Hoff­nun­gen« er­ging. Plötz­lich brach sie un­ge­dul­dig ab und frag­te är­ger­lich: »Aber, Vet­ter, wor­an den­ken Sie denn?« »An einen son­der­ba­ren Auss­pruch, ver­setz­te er, der, wenn ich nicht irre, sich in den Wer­ken des heil. Au­gus­tin fin­det: Set­zet Eure Hoff­nung auf Den, dem nie­mand suk­ze­diert.«1

Ein an­de­res Mal, als er eine To­des­an­zei­ge mit ei­nem lang­at­mi­gen Ver­zeich­nis der Wür­den des Ver­stor­be­nen und der Adels­ti­tel al­ler Ver­wand­ten des­sel­ben er­hal­ten hat­te, rief er aus: »Was für einen star­ken Rücken Freund Hein ha­ben muss, dass man ihm so­viel ge­wich­ti­ge Ti­tel auf­pa­cken kann, und wie ge­scheit die Men­schen sind, da sie so­gar in ei­nem Gra­be Ge­le­gen­heit zur Be­frie­di­gung ih­rer Ei­tel­keit fin­den!«

Er ver­stand auch zu spot­ten, in harm­lo­ser Wei­se, aber fast im­mer mit ei­nem erns­ten Hin­ter­ge­dan­ken. So kam ein­mal wäh­rend der Fas­ten­zeit ein jun­ger Vi­kar nach Dig­ne und hielt eine recht be­red­te Pre­digt über die Mild­tä­tig­keit. Er for­der­te die Rei­chen auf den Ar­men zu ge­ben, um der Höl­le zu ent­ge­hen, de­ren Schreck­nis­se er ih­nen in den grells­ten Far­ben aus­mal­te, und sich das Him­mel­reich zu er­obern, das er als über­aus lieb­lich und er­stre­bens­wert hin­stell­te. Die­se Schil­de­rung mach­te auf einen sei­ner Zu­hö­rer, der im Han­del zwei Mil­lio­nen zu­sam­men­ge­rafft hat­te, einen so nach­hal­ti­gen Ein­druck, dass er von sei­ner Ge­pflo­gen­heit nie­mals Al­mo­sen zu ge­ben abließ und von der Zeit an je­den Sonn­tag an der Kir­chen­tür eine klei­ne Kup­fer­mün­ze für sechs Bett­le­rin­nen spen­de­te. Ei­nes Ta­ges nun, als er wie­der die­sen Akt hoch­her­zi­ger Mild­tä­tig­keit voll­zog, sah ihn der Bi­schof und be­merk­te lä­chelnd zu sei­ner Schwes­ter: »Sieh mal, da kauft sich Herr Ge­bo­rand für einen Sou ewi­ge Se­lig­keit.«

Han­del­te es sich um Mild­tä­tig­keit, so ließ er sich selbst durch eine ab­schlä­gi­ge Ant­wort nicht ab­schre­cken und ver­stand es mit ei­ner tref­fen­den, geist­rei­chen Ent­geg­nung den Wi­der­spens­ti­gen an­de­ren Sin­nes zu ma­chen. Ein­mal sam­mel­te er in ei­ner Ge­sell­schaft für die Ar­men. Un­ter den An­we­sen­den be­fand sich der Mar­quis von Champ­ter­cier, ein rei­cher al­ter Geiz­hals, der das Kunst­stück fer­tig ge­bracht hat­te zu­gleich ul­tra­roya­lis­tisch und ul­tra­vol­tai­ria­nisch ge­sinnt zu sein. Denn es hat auch sol­che Käu­ze ge­ge­ben. Als der Bi­schof zu ihm ge­langt war, be­rühr­te er ihn am Arm und sag­te: »Herr Mar­quis, Sie müs­sen mir et­was ge­ben.« Der Mar­quis wand­te sich um und ant­wor­te­te tro­cken: »Bi­schöf­li­che Gna­den, ich habe schon mei­ne Ar­men.« »Dann ge­ben Sie mir die«, ent­geg­ne­te der Bi­schof.

Ei­nes Ta­ges hielt er im Dom fol­gen­de Pre­digt: »Teu­ers­te Brü­der, lie­be Freun­de, es gibt in Frank­reich 1.320.000 Bau­ern­häu­ser mit nur drei, 1.817.000 mit zwei Öff­nun­gen, der Tür und ei­nem Fens­ter, und end­lich 346.000 Hüt­ten mit ei­ner ein­zi­gen Öff­nung, der Tür. Schuld dar­an ist et­was, das man die Tür- und Fens­ter­steu­er nennt. Denkt Euch nun arme Fa­mi­li­en, alte Frau­en, klei­ne Kin­der in sol­chen Be­hau­sun­gen und stellt Euch vor, was für Fie­ber, was für Krank­hei­ten da herr­schen müs­sen! Gott schenkt, das Ge­setz ver­kauft den Men­schen die Luft. Ich kla­ge das Ge­setz nicht an, aber Got­tes Güte prei­se ich. In den De­par­te­ments Isé­re, Bar, Ober- und Un­te­r­al­pen ha­ben die Land­leu­te nicht ein­mal Schub­kar­ren und tra­gen den Dün­ger auf dem Rücken; kei­ne Talg­lich­ter, und bren­nen Kien­spä­ne oder mit Harz be­stri­che­ne Stri­cke. So macht man es in dem gan­zen Ober-Dau­phiné. Das Brot ba­cken sie auf ein hal­b­es Jahr und hei­zen den Back­ofen mit ge­trock­ne­tem Kuh­mist. Im Win­ter zer­schla­gen sie dies Brot mit der Axt und las­sen es vier­und­zwan­zig Stun­den in Was­ser wei­chen, um es es­sen zu kön­nen. Seid barm­her­zig, lie­be Brü­der; be­denkt, wie viel Elend Euch um­gibt!«

Als ge­bor­ner Pro­ven­za­le war es ihm leicht ge­wor­den sich mit al­len süd­fran­zö­si­schen Dia­lek­ten gründ­lich ver­traut zu ma­chen. Das ge­fiel dem ge­mei­nen Volk sehr und trug nicht we­nig dazu bei, dass er sei­ne Ge­dan­ken dem Ver­ständ­nis al­ler nä­her brin­gen konn­te. Er war in der Hüt­te und im Ge­bir­ge zu Hau­se. Er ver­stand es, die er­ha­bens­ten Din­ge mit­tels der tri­vi­als­ten Re­de­wen­dun­gen aus­zu­drücken, und da er Je­der­manns Spra­che re­de­te, so fand er auch Mit­tel und Wege sei­nen Ide­en Ein­gang in Je­der­manns Herz zu schaf­fen.

Üb­ri­gens be­nahm er sich gleich ge­gen die Vor­neh­men und Ge­rin­gen.

Nie über­eil­te er sich mit Ver­dam­mungs­ur­tei­len, son­dern zog stets die Um­stän­de in Er­wä­gung. »Erst wol­len wir uns den Weg an­se­hen, pfleg­te er zu sa­gen, den das Ver­ge­hen ent­lang ge­kom­men ist.«

Als »Ex­sün­der«, wie er sich im Scherz nann­te, trug er kei­ne Stren­ge zur Schau und lehr­te mit großem Frei­mut und ohne sei­ne Stirn nach Art der Tu­gend­hel­den in fins­te­re Fal­ten zu le­gen, Grund­sät­ze, die man in fol­gen­den Wor­ten zu­sam­men­fas­sen könn­te:

»Der Mensch ist ein Geist, der mit Fleisch be­klei­det ist. Die­ses Fleisch ist eine Last und eine Ver­su­chung. Der Mensch trägt es und gibt ihm nach.«

»Er soll es im Auge be­hal­ten, es zu­rück­drän­gen, es nie­der­hal­ten und ihm nur im äu­ßers­ten Not­fall will­fah­ren. Solch ein Ge­hor­sam kann mit Schuld be­haf­tet sein, aber solch eine Schuld fin­det Ver­ge­bung. Wer so nach­gibt, fällt, aber auf die Knie und kann sich mit Ge­bet los­kau­fen.«

»Ein Hei­li­ger zu sein ist die Aus­nah­me, ein Ge­rech­ter zu sein ist die Re­gel. Ir­ret, feh­let, sün­di­get, aber seid Ge­rech­te.«

»So we­nig Sün­de wie mög­lich, lau­tet das Ge­setz für den Men­schen. Gar nicht zu sün­di­gen ist das Ide­al des En­gels. Al­les Ir­di­sche ist der Sün­de un­ter­wor­fen. Wir kön­nen uns von ihr eben­so we­nig frei ma­chen wie von dem Ge­setz der Schwe­re.«

Hör­te er ein all­ge­mei­nes Ze­ter­ge­schrei, sah er die große Men­ge ein has­ti­ges Ta­dels­vo­tum ab­ge­ben, so spot­te­te er: »Hier liegt ge­wiss eine Sün­de vor, die je­der­mann be­geht. Sonst wür­den die Heuch­ler es nicht so ei­lig ha­ben zu pro­tes­tie­ren, um den Ver­dacht von sich ab­zu­len­ken.«

Ge­gen die Frau­en und die Ar­men, auf de­nen mit ih­rer gan­zen Wucht die mensch­li­che Ge­sell­schaft las­tet, war er nach­sich­tig: »An den Ver­ge­hen der Frau­en, der Kin­der, des Ge­sin­des, der Schwa­chen, der Be­dürf­ti­gen und Un­wis­sen­den sind die Män­ner, die El­tern, die Herr­schaf­ten, die Star­ken, Rei­chen und Ge­lehr­ten Schuld.«

Fer­ner: »Die Un­wis­sen­den be­leh­ret, so gut Ihr es ver­mö­get; die Ge­sell­schaft ist zu ta­deln, dass sie nicht den öf­fent­li­chen Un­ter­richt un­ent­gelt­lich er­tei­len lässt; sie ist ver­ant­wort­lich für die Fins­ter­nis, der sie die Ent­ste­hung gibt. Ist eine See­le um­nach­tet, so schleicht sich die Sün­de in sie hin­ein. Nicht der­je­ni­ge ist der Schul­di­ge, der die Sün­de be­geht, son­dern der die Nacht ge­schaf­fen hat.«

Man sieht, er hat­te eine ab­son­der­li­che und ei­ge­ne Art die Din­ge zu be­ur­tei­len. Ich habe ihn stark in Ver­dacht, dass er die­se Ge­dan­ken dem Evan­ge­li­um ent­nom­men hat­te.

Ei­nes Ta­ges war er ge­ra­de zu­ge­gen, als in ei­ner Ge­sell­schaft von ei­nem Kri­mi­nal­pro­zess ge­spro­chen wur­de, der da­mals die Ge­rich­te be­schäf­tig­te. Ein ar­mer Mensch hat­te sich aus Lie­be zu ei­ner Frau und zu dem Kin­de, das sie ihm ge­bo­ren, der Falsch­mün­ze­rei schul­dig ge­macht, da er sie auf an­de­re Wei­se vor dem Hun­ger­to­de nicht zu be­wah­ren wuss­te. Die­ses Ver­bre­chen wur­de da­mals noch in Frank­reich mit der To­dess­tra­fe ge­ahn­det. Die Frau war bei dem ers­ten Ver­such ein von dem Man­ne fa­bri­zier­tes Geld­stück in Um­lauf zu set­zen, ver­haf­tet wor­den, aber Be­wei­se um sie ei­ner Schuld zu über­füh­ren, hat­te man nicht. Sie al­lein konn­te ge­gen ih­ren Lieb­ha­ber aus­sa­gen und durch ein Ge­ständ­nis sei­ne Ver­ur­tei­lung er­mög­li­chen. Sie leug­ne­te aber aufs hart­nä­ckigs­te. Da hat­te der Staats­an­walt einen ge­schei­ten Ein­fall. Er leg­te der Un­glück­li­chen ge­schickt aus­ge­wähl­te Bruch­stücke aus Brie­fen des Man­nes vor und brach­te sie auf die­se Wei­se zu dem Glau­ben, sie habe eine Ne­ben­buh­le­rin, mit der er sie hin­ter­ge­he. Da klag­te sie, ge­trie­ben von sinn­lo­ser Ei­fer­sucht, ih­ren Ge­lieb­ten an, und lie­fer­te die nö­ti­gen Be­wei­se. Nun war der Mann ver­lo­ren und nächs­ter Tage soll­te ihm, samt sei­ner Mit­schul­di­gen in Aix der Pro­zess ge­macht wer­den. Die­ser Vor­fall also bil­de­te den Ge­gen­stand der Un­ter­hal­tung, und alle be­zeig­ten das höchs­te Ent­zücken über die Schlau­heit des Staats­an­walts. Da­durch, dass er die Ei­fer­sucht ins Spiel ge­zo­gen, auf die Rach­sucht der ge­kränk­ten Ei­tel­keit spe­ku­liert, habe er der Wahr­heit und Ge­rech­tig­keit zum Sie­ge ver­hol­fen. Al­len die­sen Lo­bes­he­bun­gen hör­te der Bi­schof bis zu Ende schwei­gend zu. Dann frag­te er:

»Vor wel­ches Ge­richt wer­den die bei­den ge­stellt wer­den?«

»Vor die As­si­sen.«

»Und der Staats­an­walt?«

Wir müs­sen hier noch einen an­de­ren tra­gi­schen Vor­fall er­wäh­nen, der sich in Dig­ne zu­trug. Es wur­de ein Mann we­gen Mor­des zum Tode ver­ur­teilt, ein Un­glück­li­cher, der nicht ge­ra­de ein ge­bil­de­ter Mann, aber auch nicht ganz un­wis­send war, und der sich als Akro­bat und öf­fent­li­cher Schrei­ber sein Brot auf den Jahr­märk­ten ver­dien­te. Der Pro­zess er­reg­te große Sen­sa­ti­on. An dem Tage vor der Hin­rich­tung wur­de der Ge­fäng­nis­geist­li­che krank, und da man einen Pries­ter brauch­te, der den ar­men Sün­der auf sei­nem letz­ten Gan­ge be­glei­ten soll­te, so schick­te man nach dem Stadt­geist­li­chen. Die­ser aber wei­ger­te sich, wie es heißt, mit rück­sichts­lo­ser Deut­lich­keit: »Das geht mich nichts an«, ließ er sich ver­neh­men, »ich wer­de es blei­ben las­sen, mich mit dem Hans­wurst zu be­fas­sen. Au­ßer­dem bin ich sel­ber krank, und es ist über­haupt nicht mein Be­ruf.« Sei­ne Äu­ße­run­gen wur­den dem Bi­schof hin­ter­bracht, und die­ser sag­te: »Der Herr Pfar­rer hat recht. Es ist nicht sein Be­ruf. Aber es ist der mei­ni­ge.«

Er be­gab sich auch un­ver­züg­lich in das Ge­fäng­nis, ließ sich in die Zel­le des »Hans­wurs­tes« füh­ren, re­de­te ihn mit sei­nem Na­men an, er­griff sei­ne Hand und sprach zu ihm. Den gan­zen Tag blieb er bei ihm, ver­sag­te sich Es­sen, Trin­ken und Schlaf, be­te­te zu Gott für die See­le des Ver­ur­teil­ten und er­mahn­te den Un­glück­li­chen sei­nes See­len­heils zu ge­den­ken. Er pre­dig­te ihm die bes­ten Wahr­hei­ten, näm­lich die ein­fachs­ten. Er sprach mit ihm wie ein Va­ter, ein Bru­der, ein Freund; und kehr­te den Bi­schof nur her­vor, um ihn zu seg­nen. Er un­ter­wies ihn, in­dem er ihn be­ru­hig­te und trös­te­te. Der Mann sah sei­nem letz­ten Au­gen­blick mit Verzweif­lung ent­ge­gen. Der Tod war ihm ein Ab­grund, an des­sen Rand er schau­dernd zu­rück­beb­te. Er war nicht so roh, dass er völ­lig stumpf hät­te sein kön­nen. Sei­ne Ver­ur­tei­lung hat­te ihn bis in sein In­ners­tes er­schüt­tert und ge­wis­ser­ma­ßen jene Schran­ke hie und da nie­der­ge­ris­sen, die das Ge­heim­nis der Din­ge un­se­ren Bli­cken ent­zieht, und die wir das Le­ben nen­nen. Durch die Bre­schen blick­te er ohne Un­ter­lass über die­se Welt hin­aus und sah nur Fins­ter­nis. Der Bi­schof aber zeig­te ihm ein Licht.

Am an­de­ren Tag als der arme Sün­de ge­holt wur­de, war der Bi­schof ge­gen­wär­tig. Er ging ne­ben ihm und zeig­te sich den Au­gen der Men­ge im vio­let­ten Man­tel, mit dem Bi­schofs­kreu­ze am Hal­se ne­ben ei­nem mit Stri­cken ge­fes­sel­ten Ver­bre­cher.

Er stieg mit ihm auf den Kar­ren, stieg mit ihm auf das Schaf­fot. Der De­lin­quent, der tags zu­vor nie­der­ge­drückt und ver­zwei­felt ge­we­sen, sah ge­fasst aus. Er hat­te das Ge­fühl, dass sei­ne See­le Er­lö­sung ge­fun­den und bald mit ih­rem Gott ver­ei­nigt sein wer­de. Der Bi­schof um­arm­te ihn und sag­te in dem Au­gen­blick, als das Fall­mes­ser der Guil­lo­ti­ne her­ab­stür­zen soll­te: »Wen Men­schen tö­ten, den lässt Gott wie­der­au­fer­ste­hen; wen sei­ne Brü­der ver­ja­gen, der fin­det den Va­ter. Bete, glau­be, gehe in das ewi­gen Le­ben ein: der Va­ter ist da, dich auf­zu­neh­men.« Als er vom Schaf­fot wie­der her­un­ter­stieg, lag in sei­nem Blick ein Et­was, vor dem die Men­ge ehr­furchts­voll zu­rück­wich. Man wuss­te nicht, was man mehr be­wun­dern sol­le, die Bläs­se oder die Hei­ter­keit sei­nes Ant­lit­zes. In der be­scheid­nen Woh­nung an­ge­langt, die er scher­zend sei­nen Palast nann­te, sag­te er zu sei­ner Schwes­ter: »Ich habe ein fei­er­li­ches Hochamt ge­hal­ten.«

Da das Er­ha­bens­te oft am we­nigs­ten Ver­ständ­nis fin­det, so leg­ten man­che Leu­te das Ver­hal­ten des Bi­schofs als Af­fek­ta­ti­on2 aus. Frei­lich nur Leu­te aus den bes­se­ren Stän­den. Das Volk, das Wer­ke der rech­ten Fröm­mig­keit nicht miss­deu­tet, war ge­rührt und be­wun­der­te sei­nen Bi­schof.

Was den Bi­schof an­be­trifft, so hat­te ihn der An­blick aufs hef­tigs­te er­schüt­tert, und es währ­te lan­ge, ehe er die­sen Ein­druck ver­wand.

Das Schaf­fot weckt in der Tat, wenn man es vor sich auf­ge­rich­tet sieht, in der Fan­ta­sie un­heim­li­che Ge­dan­ken und Bil­der. Man kann gleich­gül­tig den­ken über die To­dess­tra­fe, sich je­des Ur­teils ent­hal­ten, Ja und Nein sa­gen, so lan­ge man die Guil­lo­ti­ne nicht mit Au­gen ge­se­hen hat; ihr An­blick aber bringt eine mäch­ti­ge Er­schüt­te­rung in un­serm geis­ti­gen In­ne­ren her­vor und zwingt zur Par­tei­nah­me. Die einen be­wun­dern sie dann, wie de Maistre, die an­de­ren ver­flu­chen sie, wie Bec­ca­ria. Die Guil­lo­ti­ne ist das kör­per­lich ge­wor­de­ne Ge­setz, ihr Name ist Ra­che; sie ist nicht neu­tral und ge­stat­tet nicht, dass man neu­tral bleibt. Nichts Ge­heim­nis­vol­le­res als der Schau­er, der uns bei ih­rem An­blick durch­zuckt! Alle so­zia­len Pro­ble­me rich­ten um das Fall­mes­ser ihre Fra­ge­zei­chen auf. Die Guil­lo­ti­ne ist eine Vi­si­on. Sie ist kein Gerüst, kei­ne Ma­schi­ne, kein Mecha­nis­mus aus Holz, Ei­sen, Stri­cken! Sie gleicht ei­nem be­seel­ten, der Tä­tig­keit fä­hi­gen We­sen. Es ist, als sehe, als höre die­se Ma­schi­ne, als habe sie einen Ver­stand, als sei­en die­ses Holz, die­ses Ei­sen, die­se Stri­cke mit Wil­len be­gabt. Die durch ihre Ge­gen­wart ge­ängs­tig­te Fan­ta­sie zeigt sie uns als einen Un­hold, der mit Be­wusst­sein han­delt. Die Guil­lo­ti­ne be­tei­ligt sich an der Tö­tung, die der Hen­ker voll­zieht; sie ver­schlingt, frisst Men­schen­fleisch und säuft Blut. Die Guil­lo­ti­ne ist ein von dem Rich­ter und dem Zim­mer­mann fa­bri­zier­tes Un­ge­tüm, ein Ge­s­penst, das sich fort­wäh­rend aus dem Tode ein scheuß­li­ches Le­ben schafft.

Des­halb war auch bei dem Bi­schof der Ein­druck ein fürch­ter­li­cher und nach­hal­ti­ger; am Tage nach der Hin­rich­tung und vie­le Tage spä­ter sah er nie­der­ge­drückt aus. Die See­len­hei­ter­keit, die noch auf dem Schaf­fot bis zu ei­ner ge­walt­sa­men Höhe an­ge­wach­sen war, hat­te ihn ver­las­sen; ihn pei­nig­te das Phan­tom der so­zia­len Ge­rech­tig­keit. Er, der sonst auf sei­ne Hand­lun­gen mit un­ge­trüb­ter See­len­ru­he zu­rück­zu­bli­cken pfleg­te, schi­en sich dies Mal Vor­wür­fe zu ma­chen. Zeit­wei­se stell­te er halb­laut trau­ri­ge Be­trach­tun­gen an. Ei­nen sol­chen Mo­no­log be­lausch­te ei­nes Abends sei­ne Schwes­ter und be­hielt ihn in ih­rem Ge­dächt­nis: »Nein, so schau­er­lich hat­te ich es mir nicht vor­ge­stellt. Es ist Un­recht den Blick so fest auf das gött­li­che Ge­setz zu hef­ten, dass man die mensch­li­chen Ge­set­ze dar­über ver­gisst. Den Tod zu ge­ben hat Gott al­lein das Recht: Wa­rum be­fas­sen sich also die Men­schen da­mit, da ih­nen der Tod doch et­was Un­be­kann­tes ist?«

Mit der Zeit wur­den die­se Ein­drücke schwä­cher und er­lo­schen viel­leicht ganz. Nur fiel es auf, dass der Bi­schof es seit­dem ver­mied über den Richt­platz zu ge­hen.

Zu je­der Stun­de durf­te man My­ri­el zu Kran­ken und Ster­ben­den ru­fen. Er war sich klar dar­über, dass ei­nem sol­chen Rufe zu fol­gen die drin­gends­te und wich­tigs­te Ob­lie­gen­heit sei­nes Am­tes war. Zu Wit­wen und Wai­sen ging er von sel­ber: Sie brauch­ten ihn nicht erst zu sich zu bit­ten. Er ver­moch­te es Stun­den lang ne­ben ei­nem Mann, der eine ge­lieb­te Frau, bei der Mut­ter, die ihr Kind ver­lo­ren, zu sit­zen und zu schwei­gen. Eben­so aber, wie er zu schwei­gen ver­stand, er­pass­te er auch rich­tig den Au­gen­blick, wo es zu re­den galt. Und welch ein Trost­spen­der war er! Nicht da­durch such­te er den Schmerz zu ver­drän­gen, dass er ver­lang­te, man sol­le ihn der Ver­ges­sen­heit an­heim­ge­ben; nein, er be­streb­te sich ihn zu ver­tie­fen und zu läu­tern, in­dem er zu hof­fen lehr­te. Er sprach: Ach­tet wohl dar­auf, wie ihr nach den To­ten hin­seht. Den­ket nicht an das, was ver­wes­lich ist. Blicket fest hin, so wer­det Ihr den le­ben­di­gen Glanz des­sen, den Ihr be­weint, dro­ben schau­en. Er kann­te die Heil­kraft des Glau­bens, be­ru­hig­te die Verzwei­fel­ten, in­dem er sie auf die Ge­duld und die Er­ge­bung in das Un­ab­wend­ba­re ver­wies, und lehr­te den Schmerz, der auf ein Grab blickt, zu dem Him­mel em­por­schau­en.

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V. Der Bischof Bienvenu trägt seine Sutanen zu lange

My­ri­els häus­li­ches Le­ben be­weg­te sich in­ner­halb der­sel­ben Ge­dan­ken­welt wie sei­ne Amt­stä­tig­keit. Die frei­wil­li­ge Ar­mut, in wel­cher der Herr Bi­schof von Dig­ne be­harr­te, wäre wohl für je­den, der ihn hät­te be­ob­ach­ten kön­nen, ein wür­de­vol­les und an­mu­ten­des Schau­spiel ge­we­sen.

Wie alle al­ten Leu­te und wie die meis­ten Den­ker schlief er nur we­nig. Da­für aber ziem­lich fest. Des Mor­gens gab er sich eine Stun­de re­li­gi­ösen Be­trach­tun­gen hin, dann las er die Mes­se ent­we­der im Dom oder in sei­nem Hau­se. Nach der Mes­se nahm er sein Früh­stück ein, das aus Rog­gen­brot und Milch be­stand. Dann ar­bei­te­te er.

Ein Bi­schof ist ein sehr be­schäf­tig­ter Mann. Er muss täg­lich den Bis­tums­se­kre­tär und bei­na­he täg­lich sei­ne Groß­vi­ka­re emp­fan­gen. Er hat Kon­gre­ga­tio­nen zu kon­trol­lie­ren, Pri­vi­le­gi­en zu er­tei­len, alle neu­en Er­schei­nun­gen auf dem Ge­bie­te der geist­li­chen Li­te­ra­tur zu prü­fen, wie Mess- und Ge­bets­bü­cher, Ka­te­chis­men u.s.w., Er­las­se zu schrei­ben, Pre­dig­ten zu au­to­ri­sie­ren, Ei­nig­keit zu stif­ten zwi­schen Pfar­rern und Dorf­schul­zen, mit Geist­li­chen und mit den staat­li­chen Be­hör­den zu kor­re­spon­die­ren. Kurz tau­sen­der­lei Ge­schäf­te.

Die Zeit, die ihm die­se vie­len Ge­schäf­te, sei­ne Amts­ver­rich­tun­gen und sein Bre­vier üb­rig lie­ßen, wid­me­te er in ers­ter Li­nie den Ar­men, den Kran­ken und Un­glück­li­chen; die Zeit, die ihm dann noch blieb, wid­me­te er der Ar­beit. Bald grub er dann in sei­nem Gar­ten, bald las und schrieb er. Bei­de Ar­ten von Ar­beit schie­nen ihm gleich­wer­tig, denn der Ver­stand, so lau­te­te sein Wahr­spruch, be­darf eben­so sehr der Pfle­ge und Be­ar­bei­tung wie ein Gar­ten.

Ge­gen Mit­tag, wenn schön Wet­ter war, ging er aus, aufs Land oder in die Stadt, und trat da­bei oft in ärm­li­che Häu­ser ein. Die Leu­te sa­hen ihm dann gern nach, wie er al­lein vor sich hin ging, in tie­fes Nach­den­ken ver­sun­ken, auf sei­nen lan­gen Stock ge­stützt, in sei­nem dick wat­tier­ten Rock, vio­let­ten St­rümp­fen, gro­ben Schu­hen und mit sei­nem fla­chen Hute, von des­sen drei Ecken drei gold­ne Quas­ten her­ab­hin­gen.

Sein Er­schei­nen wur­de über­all freu­dig be­grüßt, als brin­ge er so­zu­sa­gen, Licht und Wär­me mit. Die Kin­der und die Grei­se ka­men auf die Tür­schwel­le, wie sie zu tun pfleg­ten, wenn sie sich des Son­nen­scheins er­freu­en woll­ten. Er er­teil­te sei­nen Se­gen, und sie wünsch­ten ihm Glück und Se­gen. Je­dem, der et­was be­durf­te, zeig­te man sein Haus.

Hier und da blieb er ste­hen, sprach mit den Kin­dern und lä­chel­te ih­ren Müt­tern zu. So lan­ge er Geld hat­te, be­such­te er die Ar­men; hat­te er keins mehr, so ging er zu den Rei­chen.

Da ihm sei­ne Su­ta­nen recht lan­ge vor­hal­ten muss­ten, und er dies die Leu­te nicht all­zu sehr mer­ken las­sen woll­te, trug er bei sei­nen Gän­gen in der Stadt im­mer nur sei­nen di­cken wat­tier­ten Rock, der ihm im Som­mer manch­mal recht läs­tig wur­de.

Zu Hau­se an­ge­langt, speis­te er zu Mit­tag. Die­ses Mahl glich dem Früh­stück.

Um halb neun nahm er mit sei­ner Schwes­ter die Abend­mahl­zeit ein, wo­bei Frau Mag­loi­re hin­ter ih­nen stand und sie be­dien­te. Es war ein aus­neh­mend fru­ga­les Mahl. Wenn je­doch der Bi­schof einen sei­ner Pfar­rer zu Be­such hat­te, be­nutz­te Frau Mag­loi­re die gute Ge­le­gen­heit, um Se. Bi­schöf­li­che Gna­den mit ei­nem vor­züg­li­chen Fisch oder ei­nem de­li­ka­ten Stück Wild zu re­ga­lie­ren. Je­der Pfar­rer war ihr ein will­kom­me­ner Vor­wand ih­ren Herrn zu ei­ner Ab­wei­chung von sei­ner stren­gen Diät zu ver­lei­ten, denn für ge­wöhn­lich kam nur in Was­ser ge­koch­tes Ge­mü­se und Sup­pe mit Öl auf den Tisch. Des­halb hieß es auch in der Stadt: »Wenn der Bi­schof nicht mit ei­nem Pfar­rer speist, isst er wie ein Trap­pist.«

Nach dem Abendes­sen plau­der­te er eine hal­be Stun­de mit Bap­tis­ti­ne und Frau Mag­loi­re; dann zog er sich auf sein Zim­mer zu­rück und schrieb wie­der, bald auf ein­zel­ne Blät­ter, bald an den Rand ei­nes Fo­li­an­ten. Er war sehr be­le­sen und be­saß wis­sen­schaft­li­che Bil­dung, Er hat auch fünf bis sechs merk­wür­di­ge Ma­nu­skrip­te hin­ter­las­sen, u.a. eine Ab­hand­lung über den Vers im 1. Buch Mo­ses: »Im An­fang schweb­te der Geist Got­tes über den Was­sern.« Er ver­glich mit die­sem Text drei Va­ri­an­ten, eine ara­bi­sche: »Die Win­de Got­tes weh­ten;« die des Fla­vi­as Jo­se­phus: »Ein Wind von oben blies auf die Erde«, und die chal­däi­sche Pa­ra­phra­se des On­kelos: »Ein Wind kam von Gott und blies auf die Ober­flä­che der Ge­wäs­ser.« In ei­ner an­de­ren Dis­ser­ta­ti­on prüft er die theo­lo­gi­schen Wer­ke des Bi­schofs Hugo von Pto­le­mais, Ur­groß­on­kel des­sen, der die­ses Buch schreibt, und wies nach, dass die­ser Bi­schof der Ver­fas­ser der ver­schied­nen im vo­ri­gen Jahr­hun­dert un­ter dem Pseud­onym Bar­ley­court ver­öf­fent­lich­ten Ab­hand­lun­gen sei.

Bis­wei­len schweif­te sein Geist, wäh­rend er ir­gend ein Buch vor sich hat­te, von dem In­halt des­sel­ben ab und über­ließ sich tief­sin­ni­gen Be­trach­tun­gen, von de­nen er nur abließ um das Re­sul­tat sei­nes Nach­den­kens in dem Bu­che selbst nie­der­zu­schrei­ben. Na­tür­lich stan­den der­ar­ti­ge Auf­zeich­nun­gen oft in gar kei­ner Be­zie­hung zu dem Bu­che, das sie ent­hielt. So lau­tet z.B. der Ti­tel ei­nes sei­ner Quar­tan­ten: Kor­re­spon­denz des Lord Ger­mains mit den Ge­nerä­len Clin­ton, Corn­wal­lis und den Ad­mi­rä­len der Ame­ri­ka­ni­schen Sta­ti­on. Ver­sail­les, Ver­lag von Poin­cot, und Pa­ris, Ver­lag von Pis­sot, Ouai des Au­gus­tins. In die­sem Bu­che ha­ben wir fol­gen­de von dem Bi­schof nie­der­ge­schrie­be­ne Zei­len ge­fun­den:

»O Du, der Du bist!«

»Der Pre­di­ger Sa­lo­mo nennt dich die All­macht, die Bü­cher der Mak­ka­bä­er den Schöp­fer, die Epis­tel an die Ephe­ser die Frei­heit, Ba­ruch die Unend­lich­keit, die Psal­men Weis­heit und Wahr­heit, Jo­han­nes das Licht, das Buch der Kö­ni­ge Herr, der Ex­odus die Vor­se­hung, der Le­vi­ti­cus die Hei­lig­keit, Esra die Ge­rech­tig­keit, die Schöp­fung Gott, der Mensch Va­ter; Sa­lo­mo heißt dich den Er­bar­mer, und dies ist der schöns­te un­ter Dei­nen Na­men.« –

Ge­gen neun Uhr abends be­ga­ben sich die bei­den Frau­en in ihre Zim­mer im ers­ten Stock und lie­ßen ihn bis zum an­de­ren Mor­gen im Erd­ge­schoss al­lein.

Hier müs­sen wir eine ge­naue Be­schrei­bung der Woh­nung un­se­res Bi­schofs ein­schal­ten.

VI. Von wem er sein Haus bewachen ließ

Das Haus, das er be­wohn­te, be­stand, wie schon er­wähnt, aus ei­nem Erd­ge­schoss und ei­nem ein­zi­gen Stock­werk. Drei Räu­me im Erd­ge­schoss, drei Schlaf­zim­mer im ers­ten Stock, dar­über der Bo­den. Hin­ter dem Hau­se ein fünf­und­zwan­zig Oua­drat­ru­t­en großer Gar­ten. Die bei­den Frau­en hat­ten den ers­ten Stock inne, un­ten wohn­te der Bi­schof. Das ers­te Zim­mer, das auf die Stra­ße hin­aus­ging, diente als Spei­se­saal, das zwei­te als Schlaf- und das drit­te als Bet­zim­mer. In die­ses Bet­zim­mer konn­te man nur ge­lan­gen, wenn man durch das Schlaf­zim­mer ging, und die­ses war nur durch den Spei­se­saal hin­durch zu­gäng­lich. In dem Bet­zim­mer war noch ein Al­ko­ven, wo die von dem Bi­schof zu Gas­te ge­b­et­nen Land­geist­li­chen schlie­fen.

Die ehe­ma­li­ge Apo­the­ke des Ho­spi­tals, ein an das Haus an­ge­bau­tes und im Gar­ten ge­le­ge­nes Ge­bäu­de, ent­hielt jetzt die Kü­che und Vor­rats­kam­mer.

Au­ßer­dem be­fand sich im Gar­ten noch ein Stall, der frü­her die Kü­che des Ho­spi­tals ge­we­sen war, und in dem der Bi­schof zwei Kühe hielt. Wie viel Milch die­se auch ge­ben moch­ten, die Hälf­te da­von schick­te er re­gel­mä­ßig je­den Mor­gen den Kran­ken des Ho­spi­tals. »Das ist der Zehnt, den ich zah­le«, pfleg­te er zu sa­gen.

Sein Schlaf­zim­mer war ziem­lich groß und schwer er­heiz­bar. Da das Holz in Dig­ne sehr teu­er ist, so war er auf den Ge­dan­ken ge­ra­ten sich in dem Kuh­stall einen Bret­ter­ver­schlag ma­chen zu las­sen. In die­sem Raum, den er sei­nen Win­ter­sa­lon nann­te, brach­te er, wenn es sehr kalt war, den Abend zu.

In die­sem Win­ter­sa­lon, so­wie in dem Spei­se­zim­mer wa­ren kei­ne an­de­ren Mö­bel, als ein vier­e­cki­ger Tisch aus weißem Holz und vier Stroh­stüh­le. In dem Spei­se­zim­mer stand al­ler­dings noch ein al­tes rosa an­ge­strich­nes Buf­fet. Aus ei­nem eben sol­chen mit wei­ßen Ober­tisch­tü­chern und falschen Spit­zen be­han­ge­nen Buf­fet, hat­te der Bi­schof den Al­tar ge­macht, der in sei­nem Bet­zim­mer prang­te.

Sei­ne rei­chen Beicht­töch­ter und die from­men Frau­en in Dig­ne hat­ten oft Geld auf­ge­bracht, um Sr. Bi­schöf­li­chen Gna­den einen schö­nen neu­en Al­tar für das Bet­zim­mer zu ver­eh­ren; die­ses Geld hat­te er auch an­ge­nom­men und den Ar­men zu­ge­wen­det. Der schöns­te Al­tar, ent­schul­dig­te er sich, ist die See­le ei­nes ge­trös­te­ten Un­glück­li­chen, der dem Herrn dankt.

In dem Bet­zim­mer stan­den zwei Bet­stüh­le aus Stroh und in sei­nem Schlaf­zim­mer ein Arm­ses­sel gleich­falls mit Stroh­sitz. Hat­te er zu­fäl­lig sie­ben bis acht Be­su­cher zu­gleich zu emp­fan­gen, den Prä­fek­ten, oder den Ge­ne­ral, oder den Stab des Re­gi­ments, das die Gar­ni­son von Dig­ne bil­de­te, oder Schü­ler des klei­nen Se­mi­nars, so sah man sich ge­nö­tigt die Ses­sel und Stüh­le aus dem Win­ter­sa­lon, dem Bet­zim­mer, dem Schlaf­ge­mach zu­sam­men­zu­ho­len. Auf die­se Wei­se konn­te man elf Stüh­le auf­brin­gen.

Es kam aber auch vor, dass Zwölf zu­gleich ka­men. Dann ver­deck­te der Bi­schof die Ver­le­gen­heit da­durch, dass er sich mit sei­nen Gäs­ten ste­hend un­ter­hielt.

Al­ler­dings be­saß er noch einen Stuhl in dem Al­ko­ven, aber der Sitz war ent­zwei und es fehl­te ein Bein, so­dass man ihn an die Wand leh­nen muss­te, wenn man sich dar­auf set­zen woll­te. Des­glei­chen hat­te noch Fräu­lein Bap­tis­ti­ne in ih­rem Zim­mer eine sehr große Ber­gé­re, aus Holz, die vor Zei­ten ver­gol­det ge­we­sen und mit Pe­kings­ei­de über­zo­gen war, aber die hat­te man durch das Fens­ter in das ers­te Stock hin­auf­win­den müs­sen, weil die Trep­pe zu schmal war. Sie konn­te also nicht zur Aus­hil­fe ge­braucht wer­den, wenn es an Stüh­len fehl­te.

Fräu­lein Bap­tis­ti­nes sehn­lichs­ter Wunsch wäre ge­we­sen, Sa­lon­stüh­le u. Cana­pee aus gel­bem Ut­rech­ter Samt mit Ro­set­ten ge­schmückt und aus Ma­ha­go­ni­holz, das in Form ei­nes Schwa­nen­hal­ses ge­schnitzt war, an­schaf­fen zu kön­nen. Aber das hät­te min­des­tens fünf­hun­dert Fran­ken ge­kos­tet, und da sie in fünf Jah­ren Sum­ma Sum­ma­rum nur zwei­und­vier­zig und einen hal­b­en Fran­ken zu die­sem Zweck hat­te spa­ren kön­nen, so gab sie den Ge­dan­ken auf. Wer er­reicht denn je sein Ide­al?

Et­was Ein­fa­che­res kann man sich nicht vor­stel­len, als das Schlaf­zim­mer des Bi­schofs: eine Glas­tür nach dem Gar­ten; ihr ge­gen­über das Bett: ein ei­ser­nes Ho­spi­tal­bett mit ei­nem Him­mel aus grü­ner Ser­ge; im Schat­ten des Bet­tes, hin­ter ei­nem Vor­hang, Toi­let­ten­ge­gen­stän­de, die noch die fei­nen Ge­wohn­hei­ten des ehe­ma­li­gen Welt­man­nes ver­rie­ten; zwei Tü­ren, die eine in der Nähe des Ka­mins, die an­de­re nach dem Bet­zim­mer; ein großer Bü­cher­schrank; ein mar­mor­ar­tig an­ge­strich­ner Ka­min aus Holz, wo ge­wöhn­lich kein Feu­er brann­te mit zwei ei­ser­nen Feu­er­bö­cken; über dem Ka­min ein kup­fer­nes, ehe­mals ver­sil­ber­tes Kru­zi­fix, das auf schä­bi­gem Sam­met be­fes­tigt und von ei­nem frü­her ver­gol­de­ten Holz­rah­men um­ge­ben war. In der Nähe der Glas­tür ein großer Tisch mit Tin­ten­fass, un­or­dent­lich hin­ge­worf­nen Pa­pie­ren und di­cken Bü­chern. Vor dem Tisch der Stroh­ses­sel. Vor dem Bett ein dem Bet­zim­mer ent­lehn­ter Bet­stuhl.

Ne­ben dem Bett hin­gen auf je­der Sei­te zwei Por­träts in ova­len Rah­men. Klei­ne In­schrif­ten mit Gold­buch­sta­ben zeig­ten an, dass das eine Por­trät den Abt von Cha­li­ot, Bi­schof von Saint-Clau­de, das an­de­re den Abt Tour­teau, Ge­ne­ral­vi­kar von Agde, Abt von Grand-Champ, von dem Zis­ter­zi­en­ser Or­den, dar­stel­le. Die­se Por­träts hat­te der Bi­schof, als er in dem Ho­spi­tal Woh­nung nahm, in dem ehe­ma­li­gen Kran­ken­zim­mer vor­ge­fun­den und sie dort hän­gen las­sen. Wa­ren es doch Bild­nis­se von Pries­tern, die viel­leicht dem Ho­spi­tal Schen­kun­gen ge­macht hat­ten, zwei ge­nü­gen­de Grün­de die Por­traits zu be­hal­ten. Al­les, was er von die­sen Präla­ten wuss­te, war, dass der Kö­nig sie an dem­sel­ben Tage, dem 27. April 1785, in ihre Äm­ter ein­ge­setzt hat­te. Die­se No­tiz hat­te der Bi­schof, als Frau Mag­loi­re die Bil­der ei­nes Ta­ges her­un­ter­ge­nom­men hat­te, um sie ab­zu­stäu­ben, auf ei­nem ver­gilb­ten, auf der Rück­sei­te des einen Por­traits auf­ge­kleb­ten Stück­chen Pa­pier ge­fun­den.

Am Fens­ter hing ein Vor­hang aus gro­bem Woll­stoff, der schließ­lich so alt wur­de, dass, um kei­nen neu­en an­schaf­fen zu müs­sen, Frau Mag­loi­re sich ge­nö­tigt sah, mit­ten drin eine große Naht zu ma­chen. Die­se Naht bil­de­te ein Kreuz, und der Bi­schof mach­te oft dar­auf auf­merk­sam, mit den Wor­ten; »Wie gut sich das aus­nimmt!«

Alle Schlaf­zim­mer ohne Aus­nah­me wa­ren wie Ka­ser­nen­stu­ben und Ho­spi­tal­sä­le, weiß ge­tüncht. In­des­sen fand, wie wei­ter­hin aus­führ­li­cher er­zählt wer­den soll, Frau Mag­loi­re un­ter den ge­stri­che­nen Ta­pe­ten in Bap­tis­ti­nens Zim­mer Ma­le­rei­en vor. Das Ge­bäu­de war näm­lich, ehe es als Ho­spi­tal be­nutzt wur­de, Rat­haus ge­we­sen und aus je­ner Zeit stamm­te die­se Ver­zie­rung des Zim­mers. Der Fuß­bo­den in den Schlaf­kam­mern be­stand aus ro­ten Zie­geln, die all­wö­chent­lich ge­wa­schen wur­den und war vor den Bet­ten mit Stroh­mat­ten be­legt. Im Üb­ri­gen herrsch­te in die­sem Hau­se, wo zwei Frau­en wal­te­ten, von oben bis un­ten die pein­lichs­te Sau­ber­keit. Dies war der ein­zi­ge Lu­xus, den der Bi­schof ge­stat­te­te: ›Das ent­zieht den Ar­men nichts‹, sag­te er.

In­des­sen muss ein­ge­stan­den wer­den, dass ihm von sei­nem eins­ti­gen Reich­tu­me sechs sil­ber­ne Ta­fel­be­ste­cke und ein Sup­pen­löf­fel üb­rig ge­blie­ben wa­ren, an de­ren An­blick Frau Mag­loi­re Tag für Tag ihre Au­gen zu wei­den pfleg­te. Und da wir den Bi­schof so schil­dern wol­len, wie er war, so müs­sen wir noch er­wäh­nen, dass ihm mehr als ein­mal das Ge­ständ­nis ent­schlüpft war: Es wür­de mir schwer wer­den, wenn ich dem Sil­ber­ge­schirr ent­sa­gen müss­te.