Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe - Uwe Kopf - E-Book

Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe E-Book

Uwe Kopf

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Beschreibung

»Uwe Kopfs sardonisches Romandebüt ist brillant und zutiefst erschütternd und voller Heiterkeit.« Christian Kracht Es beginnt mit einem Ende. Mit Toms Ende. Im Mai 1998 erhängt sich »der 40-jährige Junge«, auch Jesus genannt, in Hamburg-Barmbek »nach Art der Greise«. Tom ist wohl das, was die Gesellschaft leichtfertig eine gescheiterte Existenz nennt – kein Glück mit den Frauen, ein Gelegenheitsjob als Briefsortierer, auf Suche nach dem Ausweg. Über die Abgründe und Niederlagen wird Tom von seinem Bruder Sören und immer wieder dem nächsten Bier getragen. Doch auf jeden Hoffnungsschimmer, auf jeden Rausch folgt auch Ernüchterung. Bis nichts mehr geht. In virtuoser, zugleich radikal einfacher Sprache und mit popliterarischen Anleihen komponiert Uwe Kopf einen witzigen, traurigen, unsentimentalen Streifzug durch Toms Leben , nicht im Sinne eines befindlichkeitsfixierten Lamentos, sondern als lebenspralle Geschichte. Dabei entwirft er auch ein Kaleidoskop des kleinbürgerlichen und prekären Hamburgs der siebziger, achtziger und neunziger Jahre.   »Ein Buch, das Superlative verdient.«   Deutschlandfunk   

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Uwe Kopf

Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe

Roman

TEMPO

Für Stephan

Eins

Bevor sich dieser 40-jährige Junge nach Art der Greise erhängen wird, wäscht er noch mal Wäsche, das Waschmittel muss wie immer Sunil sein (»Top Sauberkeit, rechnen Sie mit dem Besten«), auch seine Mutter hat nur Sunil an ihre Wäsche gelassen, und während die Waschmaschine läuft, bestellt er sich eine Pizza (mit Salami, Spinat und Bratkartoffeln), dazu drei Dosen Bier (Warsteiner, er mag dieses Tantenbier eigentlich nicht, aber der Pizzadienst führt keine andere Sorte), er muss auch noch ein Geschenk einpacken, die Freundin seines Bruders hat morgen Geburtstag, sie kriegt eine Flasche Parfüm (von Lagerfeld, Sun Moon Stars), das gleiche Parfüm benutzt auch die Geliebte, die Unvergleichliche, die Sau, die Verräterin.

Es ist Sonntagabend, der 24. Mai 1998, im Fernsehen läuft der Kriegsfilm Platoon, draußen, im Hamburger Arbeiterviertel Barmbek, endet gerade ein Straßenfest, er hat dort vorhin zwei Würstchen mit Mutter gegessen und sie angeraunzt, obwohl oder weil sie sich bei ihm einhakte und ihn trösten wollte, er ist mit Mutter noch in ihre Wohnung gegangen und hat dort zwei Flaschen Bier getrunken (Jever Pilsener, von Mutter immer für ihn im Kühlschrank gelagert), sie sprachen über Eva – »die blonde Hexe«, sagte Mutter, die blonde Hexe war doch überhaupt nie gut für ihn, die blonde Hexe hat ihn durch Sex verhext und so krank gemacht, jetzt ist sie wieder nach Aachen zu ihrem »Bessergestellten« zurückgekrochen, sagte Mutter.

Nachmittags an seinem Sterbetag hat Tom, dieser 40-jährige Junge mit den Lucky-Luke-Beinen, noch mal seine Kinderschrift gebraucht und auf einen Zettel geschrieben, was sein Leben taugt, die Polizei wird den Zettel später finden und von einem Bilanzselbstmord reden: Links auf dem Zettel stehen die Wünsche, nämlich Eva, Respekt, Sinn, Ruhe, rechts steht der Zustand, das Erreichte – Nichts, da kommt nix mehr. Er bekritzelt außerdem einen Zettel mit der Phrase Wenn Du das liest, bin ich nicht mehr da, an Eva gerichtet, er zerreißt den Zettel, wirft die Schnipsel in den Papierkorb und überlegt dann, in welchem Raum es passieren soll, das Schlafzimmer, das Wohnzimmer und die Küche würden sich genauso eignen, aber er wählt das Badezimmer, dort hat er zum ersten Mal mit Eva geschlafen, er wollte nur auf die Toilette gehen, aber Eva ist hinterhergekommen und hat ihn sich genommen, so hat er’s immer voller Stolz gesehen und erzählt.

Er hat nachmittags das Buch Stiller Schrecken zu Ende gelesen, das einzige Buch, das er in seinem Leben zu Ende gelesen hat: James Ellroy hat’s geschrieben, einer seiner frühen Romane, es handelt von einem Mann, der als Kind und Jugendlicher an seinen Verwandten leidet und später sein Leben mit Sinn füllt, indem er durch Amerika reist und Menschen mit einer Axt zerhackt. Auf die Frage, was ihm denn ausgerechnet an diesem Buch so gefalle, antwortete Tom, ohne nachzudenken: »Es war das Absurde, das Grauen, das Lächerliche.«

Diesen Roman hat er begonnen während der vier Tage in dem Irrenhaus, wie er sagte, es war die offene Psychiatrie eines Krankenhauses, da lagen Männer, die wackelten ständig mit dem Kopf, sabberten und rotzten, befummelten sich unter der Bettdecke und greinten. Hier gehöre ich nicht her, sagte er zu sich selbst und zu Mutter, sie nickte, aber Eva hatte von ihm verlangt, dass er sich einweisen und behandeln lässt, dann wollte sie noch mal über »unsere Beziehung reden und vielleicht an ihr arbeiten«, sagte Eva zu Tom.

Zwei Wochen vor seinem Sterbetag hatte Tom in Mutters Küche gesessen und geweint, Muttertag, es gab Spargel und Schinken wie immer, wenn Mutter an diesem Tag für ihre beiden Jungs kochte, Tom hatte die Nacht durchgetrunken (Wodka) und nicht geschlafen, sein Leben war zu Ende, so sah er die Situation, seine Schicksalsfrau hatte mit ihm »Schluss gemacht«, sagte er im Teenagerjargon. Sein Gesicht ähnelte bei den Worten der Fratze von Gwynplaine, dem Helden aus Victor Hugos Roman Der lachende Mann: Ein Meisterchirurg hat Gwynplaine zur Strafe entstellt und ihm ein Grinsen ins Gesicht geschnitten, von den Ohren bis zu den Mundwinkeln, der Anblick entsetzt, erschüttert oder belustigt die Leute, das Grinsen umrahmt Augen, in denen Angst und Hass, Zorn und Abscheu sitzen.

So kauerte Tom am Muttertagstisch, einige Freunde sagten früher auch »Jesus« zu Tom, weil er so viel Herz hatte und seine Haare wie Jesus trug, seine Sanftmut beeindruckte die Mädchen und Frauen, viele Schulkameraden hielten ihn für schwul. Mutter fragte ihn: »Warum grinst du denn so?«, so habe er ja noch nie gegrinst, und außerdem weine er ja, während er grinst, nun solle er aber vom Spargel und Schinken nehmen, sie wolle auch nichts über die Eva hören, das sei ja nun wohl vorbei! Du wirst schon sehen, was das Grinsen bedeutet, dachte Tom, ihr Alle werdet es sehen, aber dann wird’s zu spät sein, nachher, gleich wird’s zu spät sein. Er trank noch eine Flasche Bier und kleckerte beim Schlucken, der Rotz lief ihm aus der Nase und beschmutzte sein Aldi-T-Shirt, die ganze Zeit grinste und weinte er und sagte kein Wort, nach einer Stunde erhob er sich, wankte zur Tür und verließ die Küche und die Wohnung, er wohnte zwei Straßen entfernt, dort saß er ständig auf dem Balkon, trank sehr viel Alkohol, führte Selbstgespräche und sprach auch diese Eva an, obwohl sie gar nicht da war; er hörte nur noch zwei Lieder, I Want You von Elvis Costello und Into My Arms von Nick Cave, diese Lieder, dachte Tom, sagen ganz genau, was er fühlt. Nun sollte Mutter niemals diesen Muttertag 1998 vergessen, er hatte sein Selbstmordinstrument für 40 Pfennige gekauft und bereits aufs Bett gelegt, nun würde er gleich endlich, endlich weg sein.

Zwei

Seinen ersten Selbstmordversuch machte Tom vor 20 Jahren, am 25. November 1978, kurz nachdem die Volkstempel-Sekte im Dschungel von Französisch-Guyana gerade einen Massenselbstmord eher gefeiert als nur begangen hatte: James Warren Jones, ihr Anführer, versprach den Weg ins Paradies durch Zyankali, vermischt mit Beruhigungspillen und Limonade. Über 900 Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche, starben damals durch den Wahnsinn des Predigers, sie hielten einander an den Händen, ihre Leichen lagen nebeneinander und übereinander wie auf einer Müllhalde, aber sie lächelten.

Heiko, der Leser, gab in Hamburg eine Party, seine Freunde nannten ihn so, weil er mindestens zwei Bücher pro Woche las, oft sogar was Anspruchsvolles, ab und zu sogar Werke von Philosophen, und wenn die Freunde genug getrunken hatten, dann durfte Heiko berichten, was die Denker in aller Welt und zu allen Zeiten sich ausdenken; auch Tom interessierte das Zeug, denn Heiko konnte das Unverständliche und Gestelzte rausfiltern und in Alltagssprache wiedergeben. Tom schwieg wie meistens, er nickte manchmal, seine Hundeaugen verrieten aber jederzeit Interesse, wenn Heiko erzählte; Heiko hatte als Siebzehnjähriger bereits einen Vollbart und rauchte Pfeife, sodass er wirkte wie ein junger Mark Twain.

Heiko stand unter dem Eindruck des Massenselbstmordes und erklärte, viele Selbstmörder würden nicht einfach Selbstmord begehen, sondern darauf achten, dass ihre Existenz und die Selbstmordmethode zusammenpassen. Genau, dachte Tom, sein Bruder verehrte den Schriftsteller Ernest Hemingway und sagte mal, Hemingway hätte immer wieder Großwild gejagt und geschossen und sich, als er nicht mehr schreiben und keine Erektion mehr halten konnte, selbstverständlich auch erschossen – ein Hemingway konnte ja kein Gift nehmen oder von der Golden-Gate-Brücke springen oder sich die Gurgel durchschneiden oder ins Wasser gehen oder einen Strick nehmen oder sich in die volle Badewanne setzen und dann einen Fön einschalten und ihn in die Wanne werfen, nein, Hemingway musste eine Schrotflinte in seinen Mund stecken und sich den Kopf wegfetzen.

Heiko wusste von einem Schmied, der am Ende ohne Aufträge verarmte, seinen Kopf in einen Schraubstock legte, zudrehte und, während er so starb, Gott um Gnade anflehte. Nicht ganz begriffen hatte Heiko eine Geschichte aus dem Jahr 1940, er fragte seine Freunde, was sie dazu meinten: Hitler hatte Paris besetzt und besichtigte den Eiffelturm, ein paar Nazi-Offiziere schlenderten durch den Louvre (»Gehört jetzt alles uns, dieser Dreck!«), nur ein Offizier blieb stehen und betrachtete ein van-Gogh-Gemälde; er setzte sich auf eine Bank und betrachtete das Gemälde stundenlang, es dämmerte bereits, er war allein. Schließlich stand er auf, nahm seine Pistole und schoss sich in den Kopf – der Führer, nach eigenem Verständnis selbst ein Maler, ließ »die Schmach« vertuschen, denn ein deutscher Offizier erschießt sich nur, wenn er auf dem Schlachtfeld versagt oder sonst wie seine Ehre verloren hat.

»Der Offizier hat sich wohl geschämt, er geriet in eine Konfliktsituation, aber warum genau, und weshalb hat er sich dann gleich umgebracht?«, fragte Heiko. »Es ist leider nicht bekannt, welches van-Gogh-Gemälde sich der Offizier so lange angeguckt hat, van Gogh hat ja Blumen gemalt und Sterne und Selbstporträts und Bauern bei der Arbeit, irgendeines dieser Themen muss den Offizier erschüttert haben, über ihn ist auch nichts bekannt, Hitler hat ihn praktisch gelöscht.« Ganz egal, welches van-Gogh-Bild es war, dachte Tom, der Offizier wird etwas so Wahres und Schönes in dem Bild erkannt haben, dass sich ihm dadurch die ganze Widerwärtigkeit seines Lebens offenbarte: Was der Offizier gedacht, gesagt und getan hatte, erwies sich als falsch beim Anblick des Gemäldes, er brauchte aber ein paar Stunden, um das Ausmaß seines Irrtums zu begreifen; das SS-Gerede von Meine Ehre heißt Treue hat ihn nun so abgestoßen, dass ihm nur der Selbstmord blieb.

Tom behielt seine Gedanken für sich, er stand auf und betrat den Balkon, es regnete Eis, und aus einem Nachbarhaus dröhnte Das Lied der Schlümpfe, einer der Jahreshits 1978, gesungen von Vader Abraham, und Tom erfreute sich mal wieder an der Idee, dass dieses Lied der Schlümpfe vom Band läuft, während seine Verwandten und Freunde in einer Kirche um ihn trauern, nachdem er sich umgebracht hat. Das Lied der Schlümpfe spiegelt die Absurdität des Daseins und der Welt, dachte der 20-jährige Tom, dafür hätte er sich gern bei Vader Abraham und seinen Schlümpfen bedankt, aber Vader Abraham und die Schlümpfe hatten wahrscheinlich gar keine Ahnung, was sie da aufführten.

Das Nichts und die Angst vor dem Nichts konnten Tom jederzeit und plötzlich anspringen, im Supermarkt oder auf dem Fußballplatz und sogar, wenn er mit Anne sprach oder sie ansah, Anne, seine erste Liebe, zwei Jahre jünger als er, sie hatte eine Anmut wie Elizabeth Taylor, als sie bereits im Teenie-Alter schauspielerte und Lassie – Held auf vier Pfoten streichelte.

Alle Jungs im Stadtviertel und an der Schule wollten mit Anne gehen, aber sie wählte Tom, obwohl er nur immer wieder geguckt und gelächelt hatte und dabei errötet war, was einem Jugendlichen in dieser Gegend eigentlich nicht passieren durfte: Der Stadtteil Berne verschandelte damals den Hamburger Osten, dort im Ghetto war Tom aufgewachsen unter Rockern und Kartoffelsalatdieben, Totschlägern und Stumpfsinnigen, für die’s so natürlich war wie atmen, ihre Frau zu schlagen oder anders zu demütigen. Ein Michael aus dem Hochhaus (die Anwohner nannten es »Hannibal«) stieß seine Mutter aus dem vierten Stock durch die Wohnzimmerfensterscheibe, denn die Mutter hatte nicht das Richtige gekocht und war ihrem Sohn auch sonst »aufn Sack gegangen«. Seit der Zeit in Hamburg-Berne glaubte Tom trotz seiner Friedfertigkeit, dass bestimmte Männer nur eine Sprache verstehen und auf die Schnauze kriegen müssen.

Die Straßen in Berne hatten meist Namen nach Orten, die in Pommern liegen: Zwischen der Greifenberger Straße und dem Anklamer Ring entstand eine Rivalität, die Greifer gegen die Klamen; die Greifer hatten mehr Glück bei den Mädchen und duldeten zwei Gymnasiasten bei sich, die Klamen spielten besser Fußball und konnten mehr Vorbestrafte aufbieten. Tom, der Greifer, brachte trotzdem immer mal wieder einen Klamen mit nach Hause, sie konnten nicht fassen, wie seine Mutter aussah: Jeder Mann verliebte sich in sie, sogar Frank Sinatra, dachte Tom, hätte sie gewollt, so schön war Mutter, sie ähnelte der Schauspielerin Ava Gardner, früher Sinatras zweite Ehefrau – manche Dichter hätte Hymnen auf Mutter gereimt.

Drei

Mutter begeisterte Tom wie jeden Mann, aber es reichte ihm, sie anzustaunen und sich selbst zu sagen, super, das ist meine Mutter, welches Kind hat schon so eine Mutter! Die Klamen betrachteten sie fast mit Ehrfurcht, so eine Mutter hatten sie noch nie gesehen, das war doch eher eine Märchenfee, den Vater gab’s nicht mehr, gestorben am Alkohol. Wenn Tom zurückdachte und sich dabei anstrengte, dann erinnerte er sich an den Vater als Schatten, spät eierte er aus der Kneipe, rutschte aufs Sofa, wo er sofort einschlief – Mutter kochte ihm morgens zwei Liter Bohnenkaffee (mit dem Verwöhnaroma).

Der Tod von Toms Vater bedeutete für Mutter nicht die erste Lebenskatastrophe: Sie kam 1925 in Hamburg zur Welt, nach dem Krieg hatte sie gleich einen Eisenbahner geheiratet, sie zogen in ein Pfälzer Dorf, sie gebar ihm drei Kinder – der Eisenbahner gehörte zu einer Sekte, aber Mutter verweigerte den Beitritt, ihr Hochmut und Eigensinn erzürnten und erschreckten die Sektenleute, und so musste Mutter, als Schlampe und Ungläubige verachtet, das Dorf unter Schmährufen verlassen, die Kleinkinder blieben beim Eisenbahner.

Die nächsten Jahre wohnte Mutter in Kaiserslautern, zwei Prominente wollten sie heiraten: der Schlagersänger Gerhard Wendland (Tanze mit mir in den Morgen) und der Fußballer Ottmar Walter, gerade Weltmeister geworden, 3:2 gegen Ungarn, aber Mutter nahm den Glatzkopf aus Schwaben, er war ein Berufsspringer wie Donald Duck und machte jede Arbeit – mit dem Glatzkopf, dachte Tom, ist sie dann eine Weile glücklich gewesen, mit ihm und uns beiden Söhnen, ich war zwei, mein Bruder vier Jahre alt, ging’s 1960 zu Verwandten wieder nach Hamburg, wo Vater 1964 starb und Mutter dann seinen SS-Mantel vor mir und meinem Bruder versteckte.

Mutter war wieder gefordert, sie hatte keinen Beruf gelernt, kriegte aber wegen ihrer Energie und Frechheit doch einen Bürojob bei der Bundespost, und Mutters Mutter hütete und bekochte daheim die beiden Jungs: Tom dachte oft, dieses Duo, die Oma und Mutter, hatte eine Kraft und Phantasie wie Bundeskanzler Willy Brandt und sein Außenminister Walter Scheel, die 1969 an die Macht kamen und begannen, Deutschland mit dem Osten zu versöhnen. Mutter und Oma hatten ihn zu einem Frauenmann ausgebildet, ganz ohne Absicht wohl; ein Muttersohn im Sinne von Muttersöhnchen war er nie gewesen, aber Frauen waren ihm näher, besonders als Gesprächspartner, denn zu viele Männer reden nur von sich selbst oder sagen gar nichts, weil ihr Gehirn schon beinahe abgestorben ist oder eine einzige Idee herrscht und das ganze Gehirn ausfüllt. Einen Mann allerdings liebte Tom doch, den Rockmusiker Rory Gallagher, aber nur Mutter war sein Vorbild wegen ihrer Güte, was zählt letztlich mehr als Güte? Was Mutter hatte, das gab sie gern an andere Menschen, für sich selbst brauchte sie immer nur das Nötigste, denn »Dinge bringen Leid«, sagte Mutter.

Im August 1994 lag die Außentemperatur bei 35 Grad, dazu eine Dschungelschwüle, die Nachbarin musste verreisen und bat Mutter, auf ihren Dackel Manfred aufzupassen: Manfred litt unter dem Wetter so sehr, dass er am Durchdrehen war, sich im Kreis drehte und eher miaute als bellte. Mutter rettete Manfred – sie öffnete die Kühlschranktür, legte Manfred davor, er erholte sich, durfte nun alle paar Stunden vor den Kühlschrank, und am Jahresende musste Mutter sehr viel Stromgeld nachzahlen.

Tom und Mutter lachten gemeinsam über solche Abenteuer, sie hatten einander stets was Lustiges oder Interessantes zu erzählen, seine Freunde verstanden nicht, wie er stundenlang mit Mutter in ihrer Küche sitzen konnte, an Ostern und Weihnachten sprachen sie über Jesus und dankten ihm, sie trank ihren Roséwein, er trank sein Bier, doch zweimal pro Jahr passierte es, dass er mit Mutter schimpfte und sie anklagte, weil sie von der Nazizeit fast keine Ahnung hatte – sie war zu jung damals, um Hitler und seine Leute zu durchschauen, dachte Tom, aber darum ging’s nicht: Mutter weigerte sich nach dem Krieg, auch nur ein Buch über die Nazizeit zu lesen; sie las ständig Bücher, sogar so was Schweres wie Die Pest von Camus, doch »bitte lass mich in Ruhe mit Hitler«, sagte Mutter, sie wollte nicht wissen, was genau ab 1933 geschehen war und warum es geschehen konnte. Die Nazis stahlen ihr die Jugend, und 1943 kamen die Engländer mit ihren Flugzeugen über Hamburg und brachten den Feuersturm, in Altona an der Elbe überlebte Mutter, sie war nun ausgebombt, Zehntausende Hamburger verbrannten oder erstickten, nach 1945 haben Mutter und andere Trümmerfrauen angepackt und die Stadt aufgeräumt – von Mutter erwartete Tom, dass sie ausspuckt und die Nazis hasst, aber sie kann nicht hassen, dachte Tom, und will ihr Unglück während der Teenagerjahre vergessen.

Ihren dritten Mann, einen Holländer, heiratete sie dann im Frühling 1983, als die Welt über die Zeitschrift Stern lachte, der Stern hatte sich Hitler-Tagebücher andrehen lassen, aber die Tagebücher waren gar nicht von Hitler, da musste Mutter dann doch kichern, erinnerte sich Tom; der Holländer hasste die Deutschen als Volk, denn Hitler hatte ja auch seine Heimat überfallen, Tom überlegte damals, ob er vielleicht mal in den Keller gehen sollte, um Vaters SS-Mantel anzuziehen, es hätte Tom interessiert, was dann zwischen Mutter und dem Holländer passiert wäre, aber er mochte den Holländer und wollte ihn nicht aufregen. Mutter pflegte den Holländer ab Mitte 1991, er erkrankte an Lungenkrebs, saß in seinem Sessel, atmete Sauerstoff durch eine Maske und rauchte eine Zigarette, während Mutter sich von ihren beiden Söhnen trösten ließ und die Zigarettenasche des Holländers vom Teppich entfernte. Am Nikolaustag, zwei Stunden vor seinem Tod, dämmerte der Holländer schließlich in seinem Sterbebett, dann stand er plötzlich vor dem Bett, rief »Sommer, Blumen, Vögel!« und verlangte seine beiden Koffer, er wollte nach Mallorca reisen, Tom konnte den Holländer aber davon überzeugen, dass er zurück ins Bett und die Reise verschieben musste; Tom rasierte den Sterbenden noch mal und zog der Holländerleiche später den Ehering vom Finger, die Mutter und der Bruder trauten sich nicht, das zu tun.

Vier

Lori hatte oft mit dem Holländer geraucht und es gewagt, mit ihm übers Jenseits zu sprechen – der König der Außenseiter war dieser Lori, zehn Jahre älter als Tom und eine Art Vater für ihn, denn Lori (bürgerlich Herwig Lorius) hatte seine Chancen auf eine Karriere nicht nutzen wollen. »Ich lasse mir doch meine Identität nicht nehmen!«, sagte er und erzählte immer wieder von seinen Triumphen (manche Zuhörer fanden: Niederlagen). 1968, im Revolutionsjahr, spielte Lori in der Jugendmannschaft des FC St. Pauli und bald in der Hamburger Auswahl, einige Rentner erinnerten sich noch Jahre später an diesen Linksaußen mit dem Stirnband und dem Vollbart und schwören, er sei der beste Hamburger Amateurfußballer aller Zeiten gewesen.

Allerdings trainierte dann ein Bundeswehroffizier die Auswahl und verlangte einen Soldatenschnitt und tägliche Gesichtsrasur von jedem Spieler, alle Kameraden spurten, nur Lori lachte, schüttelte die Matte und sagte zu dem Offizier, die Haare auf dem Kopf und im Gesicht »sind Ausdruck meiner ganz individuellen Persönlichkeit« (21 Jahre später, in dem Film Wild At Heart, sagt Nicolas Cage als Sailor genau das Gleiche, als Rocker von ihm wissen wollen, warum er denn diese schwule Schlangenlederjacke trägt). Lori, nachdem er sich mit dem Offizier angelegt hatte, bekam nie wieder eine Chance, in den Profifußball zu wechseln, alle Beobachter (und sogar der Offizier) urteilten über ihn, sein Talent und seine Physis hätten gereicht für die 2. Bundesliga, mindestens; Lori spielte noch bis zum Alter von 35 bei einem Amateurverein im Hamburger Norden, die Zuschauer mochten ihn, weil er’s schaffte, die Verteidiger so zu blamieren, dass sie kurz vor der Nervenkrise waren und sich auswechseln ließen.

Hinterher, im Vereinsheim am Tresen, erzählte Lori von seinen Frauengeschichten, einmal, beispielsweise, war Lori bei Tom zu Hause gewesen, Mutter stand in der Küche mit dem Rücken zur Tür und schmierte sich ein Brot, von hinten kam Lori und fasste ihr an den Hintern, sie ohrfeigte ihn sofort, und er sagte mal wieder die Wahrheit: »Es muss doch nicht immer Liebe sein.« Da hat Mutter gekichert, niemand konnte Lori böse sein. Er sei, sagte Lori, und Tom glaubte ihm, sogar mit der berühmtesten Feministin des Landes im Bett gewesen: Wahrscheinlich wegen ihm, sagte Lori, sei sie zu den Lesben gewechselt und habe dann eine Zeitschrift gegründet. Sie habe im Stehen gepinkelt, was ihn sehr erregt habe, beim Sex sei sie sehr zärtlich gewesen, er wusste noch, wie er sich nach dem Cunnilingus sammelte und ein Feministinnen-Schamhaar aus seinem Mund zog. Er habe drei Orgasmen während der Nacht gehabt, aber die berühmte Feministin keinen, obwohl er alles getan habe, um sie zu befriedigen, sagte Lori. Am Ende seiner Anekdoten holte er gelegentlich noch ein Passfoto aus seiner Brieftasche, es zeigte ein 15-jähriges Mädchen aus Aschaffenburg, sie hieß Heike, er war ihr im Urlaub mit seinen Eltern begegnet, 1971 war das, Danyel Gerard sang Butterfly und hat ausgesehen wie Lori, der nun seinen Schlapphut vor Zeugen nicht mehr absetzte, um seine beginnende Glatze zu verbergen. »Heike ist meine einzige Liebe, meine Sehnsucht, die sich nie erfüllt hat«, sagte Lori, »die Sache mit der Feministin tut mir aber trotzdem leid, ich hätte mich mehr anstrengen sollen, dann wäre sie wahrscheinlich nicht so verbittert.«

Tom lehnte oft mit am Vereinstresen, wenn Lori erzählte und erzählte, er schien alles über Frauen und Fußball zu wissen, er konnte sagen, was Uwe Seeler zu dem Argentinier im Gruppenspiel der WM 1966 sagte, nachdem der Argentinier immer wieder gegen Seelers Bein getreten hatte. Tom musste im Geschichtsunterricht am Gymnasium gerade Hitlers Rassenpolitik durchdringen, aber Lori belehrte Tom und die anderen Anwesenden: »Die Nazis waren ja sogar beim Verteufeln zu blöde, denn die Juden sind keine Rasse, sondern eine Volksgemeinschaft und eine Glaubensgemeinschaft. Es gibt die nordische Rasse, die negroide Rasse, die mongolische Rasse, die lappische Rasse und so weiter – aber eine jüdische Rasse gibt’s nicht. Die Juden meinen, und Statistiken scheinen das zu bestätigen, dass sie intelligenter als wir Gois sind. Auf ihre Abstammung haben sie sich schon immer eine Menge eingebildet, das jüdische Selbstverständnis hat auf jeden Fall Züge von Rassismus.«

Tom und die anderen Zuhörer fragten sich immer wieder, woher Lori wusste, was andere Menschen nicht wussten, er sagte, dass er mal »Handelsabitur« gemacht habe, niemand hatte jemals von dieser Art Abitur gehört. Lori trug einen Trenchcoat zu jeder Jahreszeit, in der linken Tasche hatte er stets die aktuelle Ausgabe des Spiegel, in der rechten Tasche die aktuelle Ausgabe der Zeit, beides guckte zur Hälfte aus den Taschen, damit die Leute sehen konnten, was Lori las, Zeitungen mit Niveau; zum ersten Mal hörte Tom dann das Wort »Intellektueller«, ja, Tom wollte lernen von Lori, dem Intellektuellen.

Es wunderte Tom allerdings, dass Lori trotz der Reife, die Tom ihm unterstellte, weiterhin bei seinen Eltern wohnte, er war immerhin 24, seine Mutter ernährte ihn offenbar, sein Vater, ein ehemaliger Maurer, ähnelte dem Schauspieler Gert Fröbe und sächselte auch genauso, denn das Ehepaar Lorius war kurz nach dem Mauerbau aus der DDR abgehauen; Herr Lorius saß daheim im Ohrensessel, trank Tee oder Caro, löste Kreuzworträtsel und beobachtete, wie sich sein Sohn betüdern ließ. Etwas Lauerndes lag in den Augen des Herrn Lorius, er ähnelte dann Gert Fröbe als Mädchenmörder Schrott, wenn der in Es geschah am hellichten Tag durch die Gegend fuhr und sich nach Opfern umsah. Lori nahm Tom manchmal mit nach Hause zum Mittagessen, wenn Loris Mutter wieder ihren Hackbraten oder eine Nudelsuppe zubereitete, die Mutter trug meistens einen Kittel, verziert mit Blumen, sie ergänzten die Pril-Blumen an der Küchenwand, sodass Tom oft den Eindruck hatte, die Mutter gehörte selbst zur Kücheneinrichtung.

Die Mutter war erst zufrieden, nachdem Lori und Tom mindestens einmal um Nachschlag gebeten hatten; »Tom«, fragte sie, »was wollen Sie denn später mal werden?«, warum siezt mich diese Frau, dachte Tom, ich bin doch noch ein Junge, aber er antwortete, er wäre gern wie Herwig (seine Eltern wollten den Spitznamen Lori nicht hören), denn Herwig sei klug, habe einen Überblick, lasse sich nix gefallen und bekomme Respekt von allen Seiten. Der Vater stoppte kurz mit dem Kreuzworträtsellösen und lachte, aber auf eine Weise, dass Tom dachte, er habe eben was Unanständiges gesagt. Die Mutter lächelte, die Blumen auf ihrem Kittel schienen zu erblühen, sie berührte ihren Herwig an der Schulter, er grunzte, und Tom fand, sein Freund hätte sich ein bisschen mehr freuen können über den Zuspruch und das Essen.

Der Frühling 1971 endete, Tom lag gerade auf der Couch und guckte Tagesschau, in Radevormwald bei Wuppertal waren zwei Züge zusammengestoßen, ein Geräusch drang ins Wohnzimmer, die Mutter, die Oma und Tom identifizierten das Geräusch sofort – Lori klingelte nie, sondern nahm seinen Kamm und klopfte damit an das Fenster, hinter dem er jetzt Tom vermutete.

»Alter«, zischte Lori von draußen und unterdrückte seine Wut, »komm raus, die Katastrophe ist da!« Tom folgte stets, wenn Lori rief, Hannibal, das Hochhaus, ragte höhnisch in den Abendhimmel. »Mein Vater, der Neandertaler, hat mich rausgeschmissen«, sagte Lori, »meine Mutter hat geheult und geschrien, aber es hat nichts gebracht.« Tom bemerkte, dass wie gewohnt Der Spiegel aus Loris Manteltasche lugte, aber Die Zeit fehlte, die Tragödie daheim musste Lori also wirklich erschüttert haben. »Aber du lässt dir doch sonst auch nix gefallen«, sagte Tom und erkannte sofort das Unangemessene seiner Antwort, denn was sollte Lori schon ausrichten gegen Gert Fröbe, wenn der tobte und sein Hausrecht durchsetzte?

»Was kann ich machen«, sagte Lori, »mein Vater, das Schwein, will jetzt Haushaltsgeld und einen Mietanteil von mir, obwohl meine Mutter immer betont hat, Haushaltsgeld und Miete brauche ich nicht zu zahlen, Mutters Rente und die Rente von meinem Vater, dem Versager, würden locker für drei reichen. Der kriegt kein Geld von mir, nie. Ich habe ihn gefragt, ob ich vielleicht wie er früher Steine klopfen und übereinander schichten soll, und er sagte, mein Leben sei so jämmerlich, ich könnte mich ebenso gut aufhängen.« Das ist ein Skandal, dachte Tom, aber auch die Chance für mich, näher bei Lori zu sein, meine Mutter, Oma und mein Bruder werden bestimmt einverstanden sein.

Fünf

Die beiden Frauen und die beiden Jungs lebten in einer Viereinhalbzimmerwohnung der SAGA, einem Hamburger Unternehmen, das seine Objekte an Bedürftige vermietet: Hitler hatte auch die SAGA übernommen, da er 1933 ganz Deutschland übernahm, KZ-Häftlinge mussten Betonteile für die SAGA fertigen, aber seit Kriegsende bekam die SAGA immer mehr das Image, es würden dort Kommunisten entscheiden und die Mieter zum Kommunismus verführen. Toms Zimmer und das Zimmer seines Bruders Sören (jeweils neun Quadratmeter) waren mit Ikea-Möbeln eingerichtet, wobei Toms Zimmer ein bisschen nach Kot roch, ja, dachte Tom, das Zimmer und besonders mein Bruder werden nie vergessen, wie wir damals feierten und die Ikea-Möbel begrüßten, es gab sehr viel Bier und noch mehr Wodka, die Mutter und die Oma besuchten Verwandte übers Wochenende, sein Bruder übernachtete bei Freunden, er würde am nächsten Mittag zurückkommen und das Elend entdecken.

Tom erinnerte sich noch, dass Rory Gallagher sang und ein Gitarrensolo spielte, das Stück hieß For The Last Time, veröffentlicht auf seinem ersten Soloalbum, und während Gallagher sich in dem Song über seine Geliebte beschwerte, muss ich wohl eingepennt sein, dachte Tom, vielleicht war’s aber auch eine Ohnmacht, ich erwachte, weil ein nasser Waschlappen in mein Gesicht klatschte und eine Ohrfeige auf meiner Wange brannte, Sören schrie und stank nach Scheiße. Es dauerte ein paar Wochen, bis Sören über die Ereignisse schmunzeln konnte: Tom hatte nicht nur seine Clique eingeladen, sondern auch Bekannte aus der Nachbarschaft, und diese Bekannten hatten noch ein paar Fremde mitgebracht, es waren wohl 30, 40 Leute in der Wohnung, um die Ikea-Möbel zu besichtigen.

Sein Bruder erzählte später, er sei in die Wohnung gestolpert, denn hinter der Tür schlief Rollo, der Bruder betrat links die Küche, um sich einen Apfel zu schälen, aber vor der Spüle stand ein Blonder, er trug Lederklamotten, hatte ein Babygesicht und bat den Bruder, mal eben den Gummischlauch zuzuziehen – der Lederjunge wollte sich gerade seine Heroinspitze setzen und fand keine Vene. Der Bruder gehorchte dem Lederjungen, Sören war baff, das ist er ja selten, urteilte Tom, als er an diesen Mittag zurückdachte. Der Lederjunge hieß Holger, einige Jahre danach stand er im Stern, der dann einen Artikel über Rauschgiftsüchtige brachte und Holger aussuchte, um die Lage zu veranschaulichen. Holger besaß ein Gewehr und schoss regelmäßig auf seinen Kleiderschrank, denn zwischen den Regalen, glaubte Holger, würden Indianer und Walfänger lauern und sein Leben bedrohen. Holger hatte gerade wieder ein paar Indianer und Walfänger erledigt, dann nahm er zu viel Heroin und starb an der Überdosis (das Foto im Stern zeigte Holgers Leiche, die Glieder völlig verdreht, als ob er von einem Hochhaus gesprungen wäre).

Der Bruder, nachdem er sich von Holger abgewandt hatte, wollte ins Badezimmer und seine Hände waschen, er drückte die Türklinke und fühlte was Weiches, ein Stück Scheiße, braune Fingerabdrücke an der Badezimmertür und am Duschvorhang, ja, dachte Tom, irgendwann hatte ich wohl doch die Idee, mich zu säubern, die Scheiße war überall, sie schwamm auch auf den Bierpfützen, die sich auf den Teppichfliesen gebildet hatten; das braune Billy-Regal von Ikea hatte die meiste Scheiße abgekriegt, Braun trifft Braun, dachte Tom und grinste, und er erinnerte sich, wie er rechts vom Badezimmer kurz in das Zimmer seines Bruders guckte, da lag Charlie, der wie der Hippie Rainer Langhans aussah und ein Spaßterrorist war, und Tom dachte bei Charlies Anblick, herrje!, das wird Ärger geben.

Charlie hatte sich vor dem Bett des Bruders erbrochen, die Feiernden hatten einen so großen Haufen Kotze noch nie gesehen, Heiko, der Leser, fotografierte den Haufen, das Foto und seine Abzüge amüsierte die Beteiligten noch Jahre später. Heiko, obwohl auch er voll von Bier und Wodka, holte einen Eimer aus der Abstellkammer, schob den Kotzehaufen rein und schüttete ihn ins Klo, aber als Charlie aufwachte, da hatte auch er noch eine Idee – auf dem Schreibtisch neben einer Schreibmaschine und einer Donald-Duck-Puppe stand eine Flasche Rasierwasser der Marke Pitralon (berühmt durch den Fußballer Uwe Seeler, er machte Reklame für das Zeug und pfiff ein Wanderlied dabei), Charlie griff sich die Flasche, schüttete den ganzen Inhalt auf den Kotzehaufenfleck, nahm ein Kissen und rieb das Pitralon ein, bestimmt zehn Minuten rieb und rieb Charlie, bis er nicht mehr konnte und wieder einschlief.

Toms Bruder, als er sah und roch, was passiert war, weinte ein bisschen vor Wut und trat Charlie in die Seite, worauf Charlie sich entschuldigte, aber zu bedenken gab, er habe doch immerhin versucht … Tom dachte damals, dass er sich ungefähr so das Aroma des Todes vorstellt: Erbrochenes vermischt mit Pitralon, der Teufel in der Hölle macht kein Feuer und grillt die Menschen nicht, er hat unendlich viele Flaschen Pitralon gehortet und kotzt vor die Menschen und verrührt die Kotze mit Pitralon. Von dieser Vision erzählte Tom später seinem Bruder, der nickte und sagte, er könne nie mehr Rasierwasser benutzen, weder Pitralon noch eine andere Sorte; er sei derart traumatisiert, dass er beim Fernsehen sofort umschalten muss, wenn Uwe Seeler ins Bild kommt.

Die Ikea-Möbel-Begrüßungsparty endete also mit Exkrementen, Heroin und Rasierwasser: Die Mutter schimpfte mit Tom und weigerte sich aufzuräumen; die Oma schimpfte nur ein bisschen, säuberte aber die Wohnung mit Schrubber und Lappen, denn sie unterstützte ihren Enkel Tom nach Leibeskräften und ohne sonderlich zu klagen. Gerne nannte sie ihn noch »Duddel«, der Kosename nach der Geburt, er war ein Schreibaby gewesen, und als Kleinkind bekam er oft einen Wutkrampf, sein Kopf hatte dann die Farbe einer Aubergine, ich finde, dachte Tom, dass ich auf einigen Fotos von damals aussehe wie Uli Hoeneß.

Die Mutter und die Oma saßen noch vorm Fernseher und redeten über das Zugunglück in Radevormwald, die Oma rauchte trotz Asthma eine Zigarette der Marke Kim, die Mutter trank ein Glas Lumumba, den Modedrink aus Kakao und Rum, der, übermäßig genossen, noch mehr Kopfweh machte als Apfelkorn oder der Wacholderschnaps Steinhäger. Die beiden Frauen unterstützten andere Menschen gerne in Notsituationen, und so brauchte Tom auch gar nicht lange betteln, ja, Lori durfte »für zwei, drei Wochen« einziehen und das halbe Zimmer bewohnen, Mutter mochte Lori wegen seiner Ähnlichkeit mit Danyel Gérard, und die Oma, die längst wieder ihren Mädchennamen Ihns trug, fand es ganz reizend, dass Lori, wenn die Novembernebel fielen und sie sehr japste, immer eine Tüte Pfefferminzbonbons dabei hatte, ein Bonbon rausholte, die Oma beschenkte und sagte: »Hier, Frau Ihns, da werden Sie gleich mehr Luft kriegen.« – »Danke, Herr Lorius, ach, wenn Sie wüssten, wie die Lunge kneift, aber das ist ja nicht alles. Ich bin jetzt 75, auf gut Deutsch hat man da nur noch Arschgebrechen.«

Zwanzig Wochen nach seinem Einzug war Lori jedoch immer noch da, Tom freute sich jeden Tag, der Bruder hatte auswärts Mädchengeschichten, der Gast kümmerte ihn kaum, die Oma und die Mutter argwöhnten einen Beschiss, obwohl Lori im Haushalt half, ab und zu den Abwasch erledigte, das Klo putzte und Spinnen entfernte, aber für die drei Mahlzeiten am Tag zahlte er nie.

An einem Sonnabend im September klingelte es an der Wohnungstür, »Bitte, Herr Lorius, öffnen Sie mal«, sagte die Oma, und Lori sah da einen Dicken stehen, er war ungefähr 40 Jahre alt, trug eine Bommelmütze und hatte einen Holztisch unterm Arm, »Gunn Dach«, sagte er, ein Saarländer, »ich bin Berthold, der Verlobte«, und Lori ahnte, dass es nun eng werden würde.

Sechs

Von all ihren Männern (»fünf Stück«, hatte Mutter immer wieder mal erzählt) ist Berthold am wenigsten gemein zu ihr gewesen, Tom konnte das bestätigen: Berthold, so bescheuert ihn Sören und er auch fanden, wollte Mutter auf Sternen tragen und ihr sogar die Hände vom Himmel holen, sein Problem beziehungsweise Mutters Problem war seine Libido, wie Mutter zu Tom sagte, und er musste nachfragen, was sie damit genau meinte. »Tom«, sagte Mutter, »wenn ich in die Abstellkammer gehe und mich bücke und eine Dose Erbsen oder eine Flasche Rapsöl holen will, und Berthold ist zu Hause, dann muss ich damit rechnen, dass er sofort hinter mir steht und Libido machen möchte. Er sagt, er liebt mich so sehr, es geht nicht anders, er kann nicht anders, aber ich bin eigentlich ganz anders. Er will viermal am Tag, morgens, abends, nachts und einmal zwischendurch, wie soll das weitergehen, ich muss doch zur Arbeit gehen und den Haushalt machen, Oma sagt, ich soll es geschehen lassen, weil Berthold doch sonst ein guter Mann ist, aber ich habe langsam Unterleibsschmerzen, obwohl Berthold nicht brutal ist, das kann ich ihm nun wirklich nicht vorwerfen.«

Tom erinnerte sich, wie er mal in Mutters Schlafzimmer schlich und nach Kleingeld gierte, er wusste, da stand ein Sparschwein unter dem Handtuchhaufen, das Sparschwein schluckte regelmäßig Münzen, er hatte schon oft dran rumgefummelt und Markstücke ergattert, immer nur zwei oder drei Markstücke, der Diebstahl durfte ja nicht auffallen, und einmal sah Tom ein Notizbuch neben dem Handtuchhaufen, es hätte ihn nicht weiter interessiert, aber er kannte Bertholds Handschrift, er hatte Herz und ich vorne aufs Notizbuch geschrieben, was soll das denn, fragte sich Tom, mal kurz reingucken. Mit Datum und Uhrzeit hatte Berthold vermerkt, wie er mit Mutter verkehrte, dazu ein Strichmännchen und ein Strichweibchen und die jeweiligen Stellungen beim Geschlechtsakt: Ich oben, Herz unten, Herz oben ich unten, Herz kniet vor mir, Herz und ich 69, leider zu selten.

Tom erinnerte sich, dass er sich mehr für die Strichmännchen und Strichweibchen interessierte und weniger für den Text, und nach der Lektüre hat er ganz anders über Berthold gedacht, er respektierte ihn plötzlich, obwohl Tom kurz dachte, er könnte ihn ja auch verachten, denn er benutzt Mutter doch und dokumentiert es auch noch.

Tom dachte bei diesem Rückblick daran, wie seine Freundin Jenny viel später mal wieder zu ihrem Frauenarzt in der Hamburger Innenstadt ging, im Wartezimmer langweilte sie sich genauso wie zwei Frauen neben ihr, bald plauderten sie miteinander, Jenny erfuhr, dass die beiden Frauen für viel Geld mit Männern schliefen, nur mit Prominenten, und sie mussten nun wieder zum Arzt, weil derselbe Freier »unten zu groß« war und sie regelmäßig verletzte, aber nicht mit Absicht, er könne ja nix dafür, ein zärtlicher Mann, aber eben mit »so einem Rüssel«, die Huren kicherten, ein Ottifant eben.

Sieben

Als Otto und seine Ottifanten über Deutschland kamen, es war wohl 1972, da saß Tom oft mit seinem Volksschulkameraden Kalle an der Lehmkuhle, einem Teich nahe dem Minigolfplatz in der Greifenberger Straße, ein Autowrack lag auf dem Grund der Lehmkuhle, neben angeblichen Wrackteilen eines Panzers von den Engländern, die damals Hamburg zuerst bombardiert und dann befreit beziehungsweise gedemütigt hatten, wie Toms Vater meinte, aber Kamerad Kalli lockte Tom an die Lehmkuhle, komm, Sterben gucken! Kalles Vater arbeitete als Elektriker im Hamburger Schlachthof, klaute dort regelmäßig Schweineleber, um seiner Familie auch mal ein Stück Fleisch bieten zu können, und er erzählte am Abendbrottisch, wie die Schlachter im Schlachthof töteten und das Vieh schrie, die Schlachter gingen hinterher in ein Nachtlokal am Schlachthof, sie standen am Tresen und aßen Mettbrötchen, die Touristen von der Reeperbahn bestaunten die Blutspritzer auf den Kitteln der Schlachter, die dann, nachdem sie sich gestärkt hatten, zurück in den Schlachthof zum Schlachten gingen.

Kalle hatte seinen Vater mehrfach gebeten, ihn mitzunehmen, aber sein Vater sagte, das geht nicht, die Schlachter wünschten kein Publikum beim Schlachten, und er, der Vater, würde dies und das doch auch nur mitkriegen, weil er im Schlachthof für die Elektrik zuständig war, aber Kalle konnte irgendwann nicht mehr aufhören, sich das Sterben der Tiere vorzustellen, und so kam er auf die Idee, seinen eigenen Schlachthof zu eröffnen, und Tom sollte ihm assistieren; den Vorschlag hätte ich wohl nicht annehmen sollen, dachte Tom, aber die Lehmkuhle war der einzige Ort im Viertel, der von Geheimnis und Poesie berührt zu sein schien, es hieß sogar, dass Hexen, Betrunkene und Homosexuelle dort in dem Wäldchen miteinander verkehrten, und deshalb ging Tom an einem Frühlingsnachmittag zu Kalle an die Lehmkuhle, um dort »Sterben zu gucken«.

Kalle wartete bereits auf Tom, in einem leeren Ein-Liter-Gurkenglas saßen drei Frösche, von Kalle am Ufer der Lehmkuhle gefangen, sie saßen aufeinander, guck mal, die sind sauer, sagte Kalle, er öffnete das Glas, packte einen Frosch und hielt ihn vor Toms Gesicht, »woll’n mal sehn«, sagte Kalle, er holte einen Strohhalm aus seiner Parkatasche, stieß den Strohhalm in den Froschafter und blies in den Strohhalm, und Tom konnte sehen, wie der Frosch sofort anschwoll, das Froschgesicht, dachte Tom, hatte plötzlich einen Ausdruck, als wüsste der Frosch, dass seine Froschexistenz gleich vorbei wäre, obwohl doch Tiere vom Sterben nichts wissen können, dachte Tom, er kannte das Beispiel vom Affen, der einen Totenschädel betrachtet und keine Ahnung hat, was ein Totenschädel ist, und Kalle blies und blies, es dauerte keine Minute, bis der Frosch explodierte, Froschblut und Froschteile spritzten auf Toms Jeansjacke, während Kalle lachte, was Grünes hing an seiner Unterlippe, und Kalle sagte zu Tom, »jetzt du«, und gab ihm dann einen anderen Strohhalm. Hinterher erzählte Kalle in der Nachbarschaft herum, Tom sei ein Mädchen oder schwul, da er nicht mal den Schneid hatte, einen Frosch aufzublasen.

Ja, dachte Tom, das konnte ich nicht, der Frosch hatte diesen, na ja, Gesichtsausdruck, ich habe mal eine Fliege vom Fliegenfänger genommen, die Fliege klebte am Fliegenleim, und ich habe ihr einen Flügel ausgerissen, an dem Flügel gerochen und ihn gegessen, die Fliege bewegte sich noch, in ihr war Leben, obwohl ihr ja jetzt ein Flügel fehlte, aber die Fliege hat mich auch nicht so angeguckt wie der Frosch, obwohl die Fliege doch 10000 Einzelaugen hat, das behauptet zumindest der Biologielehrer, und Doktor Mabuse hat immerhin 1000 Augen, aber die beiden Froschaugen, die, als Kalle blies und blies, aus den Augenhöhlen quollen wie bei einem Menschen, beispielsweise Marty Feldman, diese Froschaugen im Augenblick der Todesahnung und des Sterbens haben mich angesehen, dachte Tom, der Blick hatte was Jesusmäßiges, darin lagen Zärtlichkeit und Strenge, ich dachte tatsächlich: Bruder Frosch, aber das konnte ich ja nun nicht Kalle erzählen, der hätte gelacht oder mir eine gescheuert, es reichte doch, dass er jetzt sauer war und mich verachtete, weil ich versagt und seine Show ruiniert habe, aber ich hätte den anderen Frosch niemals aufblasen können, nicht mal, wenn ich dafür zwei Flaschen Wodka von Kalle bekommen hätte.

Acht

»Bruder Frosch«, da musste Tom jetzt doch lachen und an Sören denken, seinen Bruder, nur Sören wusste, dass Tom ab und zu mit sich und seinem Spiegelbild feierte – Tom hatte einmal vergessen, seine Jugendzimmertür abzuschließen, Mutter und Oma waren am Hamburger Stadtrand und besuchten Tante Elli, aber plötzlich stand Sören vor Tom, »mein Gott, was machst du denn da!«, sagte Sören zu Tom, der gerade ein Glas Wodka hob, vor ihm auf dem Beistelltischchen stand ein Rasierspiegel, gerade schien Tom seinem Spiegelbild zuzuprosten, er wollte wohl sagen »Auf dich!« oder »Auf uns!«, aber Sören unterbrach diese Zweisamkeit und wollte über diese Szene grinsen, aber dann sah er, dass Tom nicht nur das Wodkaglas hielt, er hatte eine Rasierklinge in der anderen Hand, er trug nur T-Shirt und Unterhose, seine Knie bluteten, nicht sehr, nur ein bisschen, natürlich kam vom Plattenspieler wieder ein Song von Rory Gallagher, diesmal I’m Not Awake Yet (das Stück würde am 3. Juni 1998 aus dem Ghettoblaster auch während Toms Beerdigung dröhnen); die Schnitte in den Knie helfen, mich selbst und die Musik besser zu fühlen, sagte Tom zu Sören, der jetzt weinte, seinen Bruder an der Schulter berührte und ganz kurz seine Haare küsste.

Ja, mein Bruder der Philosoph, dachte Tom, inzwischen hat er sich mit seinem Namen abgefunden, Sören, so was Affiges, sein Vater hatte den Namen zu Ehren des Religionsphilosophen Sören Kierkegaard gewählt, Kierkegaard war Christ wie der Vater und schrieb Sachen, die der Vater nur halb verstand, sie faszinierten ihn aber: Kierkegaard unterschied beispielsweise zwischen Furcht (hat ein Objekt) und Angst (hat kein Objekt) und lehrte, der Mensch habe keine Schuld, weil er sündigt, sondern sündigt, weil er schuldig ist. Als der Vater bei der SS war und die Konzentrationslager bewachte, da trug sein Kamerad Erwin immer eine Bibel bei sich, aber Vater hatte ein Exemplar von Kierkegaards Entweder – Oder in seiner SS-Manteltasche. Das Buch beschäftigt sich mit Schönheit und Moral, über diese Dinge redete Vater nach 1945 immer wieder, Mutter hat das gar nicht verstanden, es belustigte sie und fiel ihr auch auf die Nerven. Sie durfte den Namen des Zweitgeborenen bestimmen und wählte Thomas nach dem Apostel und Heiligen, der für die Zimmerleute da ist; alle Männer in ihrer Familie hatten als Handwerker gearbeitet, auch Tom und Sören sollten was Anständiges lernen.

Sören, dachte Tom, schleppt mit seinem Namen noch Vaters KZs durchs Leben, bei mir ist’s Jesus, da bin ich ja wohl im Vorteil, haha. Den Spitznamen Jesus, nein, es war wohl eher ein Heldenname, bekam Tom von seinem Bruder, sie saßen mit mehreren Engländern und Iren bei Ellen, so hieß die Kneipe an der Lehmkuhle, sie schufteten auf dem Bau um die Ecke, schliefen in einem Männerwohnheim und tranken das deutsche Bier und den deutschen Doppelkorn in einer Menge, die Tom und seine Freunde beeindruckte. John, der Anführer der Gastarbeiter, machte mit den Einheimischen gern ein Spiel, er nannte es »Trust me«, und alle neuen Kandidaten vertrauten John tatsächlich, das Spiel ereignete sich meistens am Billardtisch, ein Mann oder eine Frau trat zu John, er sagte, »Close your eyes, please, and now say hello to John«, der Spielpartner gehorchte, schloss die Augen und reichte ihm die Hand, hatte dann aber nicht Johns Hand in der Hand, sondern seinen Penis, den John aus seiner Hose geholt hatte. Zwei Ohrfeigen (von Frauen) bekam John bei ungefähr 20 Spielen, aber sonst lachten alle Anwesenden über diese Völkerverständigung. Im Hintergrund aus der Musikbox kam Rivers Of Babylon von Boney M., ich hasse diese Schlager, dachte Tom, aber John drückte den Song immer wieder und wollte nach vier Litern Bier und vielen, vielen Schnäpsen darüber reden, ob und warum Popmusik und die Bibel zusammengehen sollten.

Das Lied fußt auf Psalm 137, König Nebukadnezar und seine Babylonier haben Jerusalem erobert, die Juden jammern und wollen weg, John (ein Evangele, der trotzdem den Papst bewunderte, wie sich später herausstellte) erklärte den Zuhörern, dass Nebukadnezar doch nur das Beste für die Juden plante, sie erkannten aber nicht sein Wohlwollen und dachten nur an Flucht, das Wandern sei das Wesen des Juden, sagte John, während die Wirtin Ellen noch einen Humpen Pils für ihn brachte und zwei Gläser Korn in den Humpen goss, wie John es gern hatte, und Boney M., meinte John, hätten nun endlich mal diese Wahrheit über die Juden und Babylon in die Popwelt gebracht, that’s great, any objections?

Das war Sörens Moment, erinnerte sich Tom, ach mein Bruder, der Ironiker, damals, 1978, war er’s noch, später hat er die Ironie verachtet als Humorsorte jener Menschen, die ständig witzeln müssen und gar nicht wissen, was sie denken und sagen wollen. »John«, sagte Sören (er redete Englisch, er hatte gerade begonnen, die Sprache zu studieren), »wir glauben dir, haben aber keine Ahnung von Nebukadnezar und dem Alten Testament, das Neue Testament liegt uns viel mehr, denn das Alte Testament ist Zorn und Rache, während das Neue Testament und Jesus doch die Liebe und das Verzeihen feiern, und wir haben hier unseren Hamburger Jesus, du hast ihn ja schon oft gesehen, er lacht nie, der Bibel-Jesus hat auch nie gelacht«, und mein Bruder zeigte auf mich, erinnerte sich Tom, ich trug die Haare damals wie Rory Gallagher, sie fielen mir bis über die Schultern auf den Rücken, der Mittelscheitel war nicht ganz in der Mitte, und ja, der Vergleich stimmte, Rory Gallagher, Jesus Christus und ich hatten die gleiche Frisur.

»Du sollst wissen, John«, sagte Sören, »dass mein Bruder Tom nicht hassen kann, Jesus liebt ihn wegen seiner Herzensgüte, das kannst du mir glauben, und obwohl auch Tom hier schon deinen Schwanz in der Hand hatte, obwohl er’s nicht wollte, würde er sogar noch mal zugreifen, was ungefähr Jesus’ Rat entspricht, auch die andere Wange hinzuhalten, wenn dir schon jemand auf die eine Wange geschlagen hat.«

John lachte, die anderen Engländer und Iren lachten auch, John spendierte eine Runde und fragte Tom, welche Musik er wünsche, und Tom, da er nicht wieder Rivers Of Babylon ertragen wollte, sagte zu John, er solle doch bitte mal Peggy Sue von Buddy Holly drücken. Von diesem Abend an hatte ich tatsächlich dieses Jesus-Image, dachte Tom, welch ein Quatsch, aber besser als Maik Gräser, der nur noch Manson nach Charles Manson hieß, weil er getobt und seine Mutter aus dem Fenster geworfen hatte. Tom wusste, die drei Frauen, mit denen er in seinem Leben zusammen war, verliebten sich in seine Jesus-Art und bedauerten auf Dauer wohl, dass er nicht wenigstens ab und zu mal was Schmutziges dachte und tat.

Neun

Vielleicht hätte ich mich 1980 nicht nach drei Tagen schon mit Tanja verloben und bald mit ihr zusammenziehen sollen, verdammt, ich ging als Jungfrau in diese Verlobung, sie dauerte zwölf Jahre lang, und als ich aus dieser Verlobung rauskam, da war ich immer noch Jungfrau – ich habe später eigentlich so genau nur mit Sören darüber geredet, dem »Bezirksbefruchter«, wir nannten ihn so während der siebziger Jahre, weil er monatlich seine Freundinnen wechselte; manche Gerüchte besagten, er hätte sogar wie Mick Jagger geliebt und zwei Mädchen gleichzeitig auf der Couch gehabt. Tanja litt an einem Reinlichkeitswahn, sie hatte ihn von ihrer Mutter übernommen beziehungsweise übernehmen müssen oder wollen, die Mutter badete sogar ihren Wellensittich zweimal täglich und zwang ihren Mann, die Toilettenschüssel mit 200 Gramm Backpulver zu säubern.

Mir war Tanja gleich ein bisschen unheimlich, erinnerte sich Tom, sie erzählte, dass sie in der Kneipe wahrnehmen könne, wie ein Mensch riecht, auch wenn dieser Mensch am anderen Ende des Raumes saß; falls der Geruch »nicht passte«, ist Tanja sofort wieder gegangen, und Tom folgte ihr, denn Jesus macht keinen Ärger und wird immer seine andere Wange hinhalten, nachdem er bereits einen Schlag auf die eine Wange bekommen hat. Tanja ähnelte Lady Diana, auch ihr Gesicht hatte was Vogelartiges, das erkannte Tom aber erst, als er schon ein Jahr mit Tanja verlobt war und Lady Diana auf jeder Zeitung vorne drauf lächelte, sie heiratete Prinz Charles und starb bei einem Autounfall, als Tom gerade Eva getroffen hatte, die finale Schlampe, wie seine Mutter nicht aufhören wollte zu urteilen. Tom erhielt Komplimente von seinen Kumpels, denn wer sonst konnte die Doppelgängerin von Lady Diana als Freundin vorzeigen?

Nur Sören sagte, Tanja und Lady Diana hätten tote Augen, tatsächlich war etwas Lebloses an Tanja. Auch Tom fand mit der Zeit, dass Tanja oft ihren Puppen glich, sie bastelte diese Puppen aus Pappmaschee und bevorzugte Drachen und Gruselfiguren, die aber lustig aussahen, die Leute kauften diese Puppen auf Weihnachtsmärkten, wo Tanja stand und sie anbot; Puppenmacherin konnte aber nicht ihr Hauptberuf sein, die Puppen haben zu wenig Geld eingebracht, Tanja arbeitete als Kindergärtnerin, wollte jedoch selbst nie Kinder haben – schon wegen der Sauerei bei der Geburt war sie gegen eigene Kinder. Wie viele Bekloppte, die sich vor Sexualität ekeln, kuschelte Tanja ständig mit ihren Haustieren, zwei Katzen und einem Goldhamster, der, dachte Tom, einmal alle meine Kabel der Stereoanlage durchgeknabbert hat, Tanja kicherte, da hasste ich sie wirklich, an die andere Sache hatte ich mich irgendwann gewöhnt.

»Leute, ihr müsst jetzt gehen, sie hat ihre Tage!«, sagte ich und bekam Beifall für die Auskunft, den Jungs erzählte ich, Tanja verträgt Pille und Kondome nicht, wir können nur verkehren, wenn sie wieder blutet und keine Schwangerschaft droht, aber die Wahrheit war, dass Penetration nicht stattfand; die Verlobte gestattete mir in zwölf Jahren kein einziges Mal, in sie einzudringen, aber Jesus ist trotzdem bei ihr geblieben, auch aus Mitleid. Drei- oder viermal pro Jahr hat sie sich dann doch bereit erklärt, mir einen runterzuholen, aber sie guckte dabei, als ob sie ein Insekt zerdrücken müsste, und hinterher ist sie sofort ins Badezimmer gerannt, hat einen Lappen geholt und meinen Samen weggewischt; am selben Tag kochte sie dann nix für mich. Piet behauptete, er sei einmal bei uns aufs Klo gegangen, die Tür sei nicht abgeschlossen gewesen und er sofort wieder rausgegangen, aber er habe noch gesehen, wie Tanja mit Urmel aus dem Eis, einer ihrer Pappmascheepuppen, zwischen ihren Beinen rumgefummelt und sogar ein bisschen gestöhnt hätte. Piet spinnte oft, aber in diesem Fall könnte er recht gehabt haben.

Zehn

»Die Wahrheit ist beim Einlochen, auf dem Platz und mit den Weibern«, so lautete Piets Grundsatz. Da Piets Schilddrüse nicht richtig funktionierte, glubschten seine Augen, und wenn er nach anderthalb Flaschen Whiskey schielte, dann wirkten diese Augen wie ein Spezialeffekt. Als Versicherungsvertreter scheiterte Piet, der Alkohol hatte seine Nerven ruiniert, er konnte Kunden kaum noch die Hand geben, weil er ohne Schnaps so zitterte. Mit Schnaps aber konnte Piet sehr gut Minigolf spielen und zweimal die Meisterschaft im Verein an der Lehmkuhle gewinnen, Piet wohnte gleich nebenan, die 20 Meter fuhr er aber immer im Auto, was der Streifenpolizist Höbel irgendwann mitbekam – eines Nachts lauerte Höbel im Gebüsch, bis Piet aus der Vereinshütte wankte, er ging selbstverständlich nicht zu Fuß, sondern kroch hinters Steuer, und als er dann eine halbe Minute später vor seiner Wohnung ausstieg, da wartete Höbel und ließ Piet pusten: 1,9 Promille, der Führerschein war weg, der Versicherungsvertreter Piet verlor seinen Job und fragte ausgerechnet Lori, was er nun machen solle. Das war 1974, als die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland stattfand, die BRD gegen die DDR verlor und Lori mit einer Sterbenden zusammenlebte; das Szenario hätte von Dostojewski sein können, sagte Sören später.

Nach seinem Rauswurf daheim und der Episode bei Tom, dessen Mutter und Oma musste sich Lori nun wieder eine Bleibe suchen, er dachte sofort an seine eigene Oma, die in einer Einzimmerwohnung (27 Quadratmeter) am Rahlstedter Bahnhof »auf den Tod wartete«, wie sie selbst sagte, obwohl sie mit 85 noch den eigenen Haushalt schaffte und ab und zu spazieren ging. Sofort war sie einverstanden, als Lori fragte, ob er für ein paar Tage, maximal drei, vier Wochen bei ihr unterkommen könne, er würde auch abwaschen, putzen, einkaufen und die Blumen auf dem Balkon gießen. Tom und Sören besuchten Lori und die Oma, im Fernsehen lief gerade das WM