Die Erbin - Claire Winter - E-Book

Die Erbin E-Book

Claire Winter

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Beschreibung

Eine Geschichte über Liebe, Macht und einen Mord, der in die dunkle Vergangenheit einer großen deutschen Industriellenfamilie führt.

Köln, 50er Jahre: Cosima ist Erbin der einflussreichen Industriellenfamilie Liefenstein. Doch mit der Gründung einer Stiftung für bedürftige Frauen und Mütter geht sie ihren eigenen Weg. Da tritt der Journalist Leo Marktgraf in ihr Leben, der Nachforschungen über den Tod eines Freundes anstellt. Die Leiche des Anwalts wurde am Ufer des Rheins gefunden, nur kurz nachdem er öffentlich schwere Anschuldigungen gegen die Liefensteins erhoben hatte. Cosima will Licht in die dunkle Vergangenheit ihrer Familie bringen und muss schon bald erkennen, dass nichts so ist wie es scheint. Aber in der jungen Bundesrepublik, in der niemand mehr an die Zeit des Dritten Reiches erinnert werden will, gibt es ein Netzwerk von Menschen, die noch immer mächtig sind. Sie sind bereit, alles dafür zu tun, dass Cosima und Leo der Wahrheit nicht auf die Spur kommen …

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Seitenzahl: 746

Veröffentlichungsjahr: 2025

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DASBUCH

Köln, in den 1950er-Jahren: Cosima ist Erbin der einflussreichen Industriellenfamilie Liefenstein. Doch mit der Gründung einer Stiftung für bedürftige Frauen und Mütter geht sie ihren eigenen Weg. Da tritt der Journalist Leo Marktgraf in ihr Leben, der Nachforschungen über den Tod eines Freundes anstellt. Die Leiche des Anwalts wurde am Ufer des Rheins gefunden, nur kurz nachdem er öffentlich schwere Anschuldigungen gegen die Liefensteins erhoben hatte. Cosima will Licht in die dunkle Vergangenheit ihrer Familie bringen und stößt schon bald darauf, dass nichts so ist, wie es scheint. Aber in der jungen Bundesrepublik, in der niemand mehr an die Zeit des Dritten Reichs erinnert werden will, gibt es ein Netzwerk von Menschen, die noch immer mächtig sind. Sie sind bereit, alles dafür zu tun, dass Cosima und Leo der Wahrheit nicht auf die Spur kommen.

DIEAUTORIN

Claire Winter studierte Literaturwissenschaften und arbeitete als Journalistin, bevor sie entschied, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie liebt es, in fremde Welten einzutauchen, historische Fakten genau zu recherchieren, um sie mit ihren Geschichten zu verweben, und ihrer Fantasie dann freien Lauf zu lassen. Claire Winters Romane finden sich regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste, zuletzt vertreten mit Kinder ihrer Zeit. Die spannende Geschichte um die Schwestern Alice und Emma im Berlin der 1960er-Jahre wurde mit Kinder des Aufbruchs fortgesetzt. Die Autorin lebt in Berlin.

Claire Winter

Die Erbin

Roman

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

© 2025 by Claire Winter

© 2025 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Hanna Bauer

Umschlaggestaltung/Artwork: t.mutzenbach design, München

unter Verwendung von © ullstein bild (Roither); Gettyimages (Rainer Schlegelmilch / Freier Fotograf)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-28401-5V002

www.heyne.de

Für M.

und

in Gedenken an die,

denen kein Recht widerfahren ist …

Personenverzeichnis

Familie Liefenstein

Wilhelm Liefenstein Großunternehmer, Großvater von Cosima, Vater von Theodor, Albert und Edmund

Anna Liefenstein Ehefrau von Wilhelm Liefenstein, Cosimas Großmutter, Mutter von Theodor, Albert und Edmund

Theodor Liefenstein Ältester Sohn von Anna und Wilhelm Liefenstein, Ehemann von Henriette, Vater von Erich und Ellen

Henriette Liefenstein Geborene Stein, Ehefrau von Theodor Liefenstein, Mutter von Erich und Ellen

Albert Liefenstein Zweitältester Sohn von Anna und Wilhelm Liefenstein, Ehemann von Magdalena

Magdalena Liefenstein Geborene Hofer, Ehefrau von Albert Liefenstein

Edmund Liefenstein Jüngster Sohn von Anna und Wilhelm Liefenstein, Ehemann von Rita, Vater von Cosima

Rita Liefenstein Geborene Tillmann, Ehefrau von Edmund Liefenstein

Erich Liefenstein Sohn von Henriette und Theodor Liefenstein

Greta Liefenstein Geborene Laubach, Ehefrau von Erich

Ellen Liefenstein Tochter von Henriette und Theodor Liefenstein

Cosima Liefenstein Tochter von Rita und Edmund Liefenstein

Weitere wichtige Figuren

Alexander Hellmann Verlobter von Cosima

Alfons FritschSA-Mann, später SS

Arthur Chauffeur von Wilhelm Liefenstein

Bertha Köchin der Liefensteins

Curt Leibwächter von Cosima

Elisa Kopper Haus- und späteres Kindermädchen von Cosima

Ernst Leibwächter von Cosima

Franz Kopper Bruder von Elisa, SS-Mann

Fredo Portier der Liefensteins

Gerda Hausmädchen der Liefensteins

Hagen Keller Berater von Reichsminister Göring, Freund von Wilhelm und Theodor Liefenstein

Johnny Chauffeur der Liefensteins

Leo Marktgraf Journalist

Frau Lemke Haushälterin der Liefensteins

Lisbeth Paulsen Witwe und alleinstehende Mutter, Bekannte von Cosima

Richard NiethammerSA-Mann, später SS

Richard Schneider Anwalt und Partner des verstorbenen Walter Weber

Tilda Hausmädchen der Liefensteins

Walter Weber Anwalt, Freund von Leo Marktgraf

Prolog

Pechschwarz zog sich der Rhein in einem breiten, glänzenden Band durch die Umrisse der Landschaft. Nur von der anderen Uferseite spiegelten sich die Lichter einiger Häuser im Fluss und ließen die starke Strömung erkennen, in der das Wasser sich nach den heftigen Regenfällen der letzten Januartage seinen Weg riss.

Aufgewühlt, wie getrieben, stapfte er vorwärts. Der Mond schien gerade hell genug, dass er einige Schritte weit sehen konnte. Der Boden unter ihm war aufgeweicht und noch immer voller Pfützen. Ein-, zweimal geriet er ins Rutschen, was jedoch nicht an dem matschigen Untergrund lag, sondern am Wein, den er schon seit dem Mittag getrunken hatte.

Als der Weg ein Stück anstieg, wurde sein Atem schwerer.

Von irgendwoher war der Ruf einer Eule zu hören. Er schwankte und blieb für einen Augenblick stehen, um mit den Händen die unebene hölzerne Brüstung zu umfassen, die den steilen Abhang absicherte. Unten klatschte das Wasser mit Kraft gegen einen Felsen, der in Ufernähe aus dem Fluss ragte.

Das Bild vor seinen Augen war unscharf. Er kniff die Lider zusammen, während er sich gleichzeitig bemühte, tief durchzuatmen. Er musste aufhören, so viel zu trinken. Es war unverantwortlich, dass er überhaupt ins Auto gestiegen und von Köln hier rausgefahren war. Doch die letzten Tage hätte er ohne Betäubung nicht überstanden.

Trotz des Alkohols waren seine Gedanken glasklar. Immer wieder sah er den Leichnam mit den eingekerbten roten Striemen um den Hals vor sich und wusste, dass er dieses Bild nie vergessen würde. Selbst im Tod hatte sich Resignation in die Züge des Toten gebrannt gehabt.

Er ließ die Brüstung los und griff mit zittrigen Händen nach den Zigaretten in seiner Manteltasche.

Wut, Trauer und Ohnmacht tobten in ihm – und das Gefühl, versagt zu haben. Er hätte es verhindern müssen. Doch woher hätte er ahnen sollen, was passieren würde?

Er steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Sie würden dafür bezahlen. Egal, wie mächtig sie waren. Das hatte er sich geschworen. Er musste jedoch mit Bedacht vorgehen und durfte nie wieder so einen Fehler begehen wie vor ein paar Tagen. Er hätte erst weitere Beweise sammeln müssen. Von nun an würde er nur noch versteckt aus der Deckung agieren.

Entschlossen tastete er in seiner Hosentasche nach dem Feuerzeug, aber anscheinend hatte er es im Auto vergessen.

In diesem Moment vernahm er hinter sich ein Geräusch.

Als er sich umdrehte, erblickte er in einiger Entfernung die hochgewachsene Gestalt eines Mannes. Zu dieser Zeit am Abend traf man hier nur selten andere Spaziergänger, erst recht im Winter, aber offensichtlich war er nicht der Einzige, der die Einsamkeit suchte.

Der Mann hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, sodass man ihn kaum erkennen konnte.

Seine Hoffnung, dass der Unbekannte einfach vorbeilaufen würde, erfüllte sich nicht, denn dieser wurde langsamer und blieb schließlich vor ihm stehen.

»Guten Abend!«

Er selbst nickte nur knapp, da die Zigarette noch immer in seinem Mundwinkel klemmte, und er den Fremden auf keinen Fall zu einer Konversation ermutigen wollte.

Der Mann musterte ihn. »Wenn Sie erlauben?« Er fasste in seine Manteltasche, und einen Augenblick später flammte ein Feuerzeug in der Dunkelheit vor ihm auf.

»Danke!« Er hielt seine Zigarette in die Flamme, die ein wenig flackerte, und nahm einen tiefen Zug. Im Schein des Lichts konnte er das Gesicht des Fremden deutlich sehen. Der Mann kam ihm bekannt vor, als wären sie sich schon einmal über den Weg gelaufen, aber vielleicht war es auch nur Einbildung. In seinem Beruf traf er viele Menschen. Er stieß den Rauch seiner Zigarette aus.

»Selten, dass man an diesem Stück Ufer jemanden trifft«, sagte er, bemüht, die eigenartige Anspannung zwischen ihnen zu durchbrechen.

Der Unbekannte nickte. »Das stimmt, aber Sie gehen regelmäßig an den Abenden hier spazieren, nicht wahr?«

Verwirrt runzelte er angesichts dieser Aussage die Stirn. Kannten sie sich doch? »Sind wir uns schon einmal begegnet?«

»Nicht hier«, bestätigte der Mann.

»Sondern?«

»Sie erinnern sich nicht«, stellte der Fremde fest, ohne seine Frage zu beantworten. Trotz des höflichen Lächelns lag ein unangenehm kalter Ausdruck in seinen Augen.

Er wich instinktiv ein Stück vor dem Unbekannten zurück, und wünschte erneut, er hätte weniger getrunken. Auf einmal wurde ihm auf unheilvolle Weise bewusst, dass sie ganz allein waren. Er musste hier weg. Ohne sich seine Angst anmerken zu lassen, täuschte er einen Blick auf seine Armbanduhr vor, obwohl man das Ziffernblatt in der Dunkelheit unmöglich erkennen konnte. »Es ist schon spät. Ich muss leider zurück. Danke fürs Feuer.«

Er wollte mit einem Schritt an dem Mann vorbei, doch dieser stellte sich ihm unerwartet in den Weg und sagte mit ausdrucksloser Miene: »Rauchen Sie ruhig noch zu Ende.«

Und plötzlich wusste er, wo er den Unbekannten schon einmal gesehen hatte. Er erstarrte.

Erst da sah er, dass die Mündung einer Pistole auf ihn gerichtet war.

Eine Woche später …

1

Cosima

Bonn, Bad Godesberg, Februar 1957

In dem stuckverzierten Beethovensaal im La Redoute hatten sich einflussreiche Unternehmer, Politiker und Diplomaten mit ihren Ehefrauen und eine Handvoll ausgewählter Journalisten eingefunden und auf den samtbezogenen Stühlen Platz genommen. Ihr Onkel hatte nicht zu viel versprochen. Sie waren alle gekommen. Jeder, der Rang und Namen in Bonn hatte, war der Einladung gefolgt.

Cosima atmete tief durch und warf einen unauffälligen Blick um sich herum. Selbst der Kanzler war erschienen. Adenauer war als einer der Letzten eingetroffen und hatte ihr freundlich zugenickt, bevor er sich auf den Ehrenplatz in der ersten Reihe gesetzt hatte. Sie war ihm in den vergangenen Jahren ein-, zweimal bei offiziellen Gelegenheiten an der Seite ihres Onkels begegnet. Trotz seiner einundachtzig Jahre strahlte er noch immer eine beeindruckende Vitalität aus, und niemand bezweifelte, dass er im kommenden Herbst bei den Bundestagswahlen erneut zum Kanzler gewählt werden würde.

Cosima spürte, wie ihre Nervosität wuchs. Nach dem Oberbürgermeister von Bonn, der gerade auf der Bühne sprach, würde ihr Onkel, Theodor Liefenstein, einige Worte sagen, und dann war sie an der Reihe. Sie hatte ihre Rede so oft geübt, dass sie sie auswendig und wie im Schlaf konnte. Trotzdem befürchtete sie plötzlich, kein Wort herauszubekommen, wenn sie dort oben stand. Das letzte Mal, dass sie vor einem größeren Publikum gesprochen hatte, war drei Jahre her. Es war auf der Schulabschlussfeier ihres Internats in St. Gallen gewesen. Doch damals hatte sie vor einem vertrauten Kreis von Familienmitgliedern, Lehrern und Mitschülerinnen gestanden, während sie heute vor der gesellschaftlichen und politischen Elite des Landes reden würde – und diese auch noch überzeugen musste.

Cosima versuchte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Worte des Oberbürgermeisters zu richten, der von den schwierigen Lebensbedingungen nach dem Krieg sprach, dem Hunger und Mangel, den so viele in jener Zeit erlebt hatten, und wie dankbar man für den wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre sein müsse.

»Seien wir ehrlich, meine Damen und Herren, heute geht es uns so gut wie lange nicht mehr! Und trotzdem ist es nicht allen vergönnt, an diesem neuen Wohlstand und der Blüte der deutschen Wirtschaft teilzuhaben!«

Cosima sah unwillkürlich das erschöpfte Gesicht von Lisbeth vor sich. Das hier war ihre Chance, etwas für Frauen wie sie zu verändern. Angespannt strich sie den Rock ihres zartblauen Seidenkleids glatt. Sie hatte ihr hellbraunes Haar hochgesteckt und trug die schmale Perlenkette ihrer Großmutter. Elegant und vor allem seriös musste sie wirken.

Ihr Verlobter Alexander, ein dunkelhaariger junger Mann Ende zwanzig, lehnte sich zu ihr. »Nervös?«, flüsterte er.

»Ein bisschen«, gab sie leise zurück.

»Du schaffst das schon!« Er lächelte gönnerhaft.

In den letzten Tagen hatte er sich bemüht, sie zu unterstützen, musste Cosima zugeben, aber das war nicht immer so gewesen.

Als sie ihm vor knapp drei Monaten das erste Mal von ihrer Idee erzählt hatte, eine eigene Stiftung für bedürftige Frauen und Mütter ins Leben zu rufen, hatte Alexander sie nur mit ungläubiger Miene angesehen, laut gelacht und dann sofort versucht, ihr das Vorhaben wieder auszureden. Ob sie eine Ahnung habe, wie viel Arbeit und Verantwortung sie damit auf sich lade? Wenn sie beide erst verheiratet wären, würde sie als Ehefrau und Mutter keine Zeit für solche Aufgaben haben. Ganz zu schweigen von den Risiken. Wer wusste, ob sie sich bei diesen Armen nicht am Ende irgendwelche Krankheiten holen würde?

Aufgebracht hatte Cosima ihn angesehen. »Das meinst du nicht ernst?«, hatte sie erwidert, und zum ersten Mal kam es zum Streit zwischen ihnen. Der abschätzige Ton, in dem er mit ihr sprach, als habe sie keine Ahnung von der Welt, hatte sie getroffen und bis heute einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Dennoch hatte Cosima sich nicht von ihrem Plan abbringen lassen.

Zu ihrer Überraschung hatte ihr Onkel ihr nach einem Gespräch seine Unterstützung zugesagt, und daraufhin hatte auch Alexander nicht länger gewagt, Einwände zu erheben.

Auf der Bühne beendete der Oberbürgermeister soeben seine Rede, und ihr Onkel, Theodor Liefenstein, trat nun hinter das Mikrofon. Sein Haar war in den letzten Jahren silbergrau geworden, doch seine Haltung in dem maßgeschneiderten Anzug war aufrecht und kraftvoll. Eine Aura von Macht und Autorität umgab ihn, und er schaffte es mit seiner tiefen, vollen Stimme sofort, alle im Saal in den Bann zu ziehen.

»Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Dies ist ein besonderer Tag für mich! Wie einige von Ihnen wissen, ist es in der Familie Liefenstein seit jeher Tradition, sich für die Schwächeren und Ärmeren dieser Gesellschaft einzusetzen …«

Ein lautes Knarren, gefolgt von einem Wortwechsel an der Saaltür, unterbrach ihn.

Ihr Onkel hielt überrascht in seiner Rede inne.

Einige Gäste drehten sich um. Auch Cosima wandte sich zur Tür.

Eine plötzliche Angst erfasste sie, dass sich ein so unschöner Vorfall wie vor knapp zwei Wochen ausgerechnet heute, an diesem wichtigen Abend, wiederholen könnte. Auf einer Veranstaltung in Köln hatte ein Betrunkener ihrem Onkel ein Glas Sekt ins Gesicht geschüttet und ihn wüst beschimpft. Zwei herbeistürmende Wachleute hatten den Mann zwischen den tuschelnden Gästen mit Mühe nach draußen gezerrt.

Die Sicherheitsmaßnahmen waren heute jedoch schon wegen der Anwesenheit des Kanzlers in besonderer Weise verstärkt worden, versuchte sie sich zu beruhigen. Zu ihrer Erleichterung sah Cosima nun auch, dass es nur ein verspäteter Gast war, der anscheinend darauf gedrungen hatte, noch hereingelassen zu werden. Die Gestalt von Hagen Keller, einem alten Freund der Familie, wurde zwischen den Köpfen der übrigen Gäste sichtbar. Er nahm in einer der hinteren Reihen Platz.

Auf dem Gesicht ihres Onkels zeigte sich für den Bruchteil einer Sekunde ein angespannter Ausdruck. Doch dann fuhr er unbeirrt in seiner Ansprache fort: »Es erfüllt mich daher mit großem Stolz, dass meine Nichte Cosima diese Tradition im Namen meines verstorbenen Vaters und ihres Großvaters, Wilhelm Liefenstein, fortsetzen und eine eigene Stiftung gründen wird, die seinen Namen tragen soll. Und damit möchte ich das Wort auch an diejenige weitergeben, die Ihrer aller Anerkennung und Wertschätzung verdient. Meine Damen und Herren … Cosima Liefenstein!«

Mit einem warmen Lächeln deutete Theodor Liefenstein zu ihr.

Cosima blickte ihn dankbar an. Sie hatte eine enge Beziehung zu ihrem Onkel. Nach dem frühen Tod ihres Vaters hatte er sie wie eine Tochter behandelt, und seine eigenen Kinder, ihr Cousin Erich und ihre Cousine Ellen, waren wie Geschwister für sie.

Sie konnte spüren, wie ihre Hände vor Nervosität feucht wurden, als die Gäste applaudierten und sie sich erhob, um auf die Bühne zu gehen.

Alle Blicke im Saal waren mit einem Mal auf sie gerichtet, und die altbekannte Mischung aus Aufregung und Unsicherheit, die seit ihrer Kindheit gelegentlich von ihr Besitz ergriff, drohte sie zu überwältigen.

Cosima zwang sich zu einem Lächeln, als sie ins Publikum schaute, und beschwor das Bild von Lisbeth und den anderen Frauen vor ihre Augen, denen sie in den letzten Monaten begegnet war. Sie sah ihre abgekämpften, müden Gesichter vor sich, die armseligen Verhältnisse, in denen sie lebten: die engen Wohnungen, in denen es im Winter zog und sich Schimmelpilze breitmachten, weil die Öfen schlecht oder gar nicht funktionierten und die Fenster undicht waren. Etwas anderes konnten sich diese Frauen nicht leisten. Sie waren alleinstehend, meistens verwitwet, ihre Männer gefallen oder in den Nachkriegsjahren jung verstorben. Oft hatten sie zwei, drei, manchmal sogar vier oder mehr Kinder, die sie nun allein durchbringen mussten. Vom Staat bekamen sie nicht genug Geld, und eine volle Arbeitsstelle konnten sie wiederum wegen der Kinder nicht annehmen. Sie taten es trotzdem und waren froh, wenn sie als Hilfsarbeiterin in einer Fabrik, als Putzkraft oder ungelernte Verkäuferin irgendwo etwas fanden.

Und genau von diesen Frauen wollte Cosima erzählen.

Es war eine Welt der Armut, in der sie lebten, mit der wohl die wenigsten der anwesenden Gäste jemals persönlich in Berührung gekommen waren. Auch bei Cosima war es nur ein Zufall gewesen – eine Begegnung, die sie nicht hatte vergessen können, und die ihre Spuren hinterlassen hatte.

Sie beschrieb in ihrer Rede das Leben dieser Frauen, wie viel sie arbeiteten, wie wenig sie besaßen und welche Schwierigkeit es für sie bedeutete, sich um ihre Kinder zu kümmern. Doch sie konnte selbst hören, dass ihre Stimme zu leise und zurückhaltend klang. Nachdem sie eine Weile gesprochen hatte, musste sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass ihr aus dem Publikum kaum mehr als kühle, ein wenig gelangweilte, ja im besten Fall freundliche Höflichkeit entgegenschlug. Einer der Gäste schaute sogar auf seine Uhr. Es war ein Lokalpolitiker, den ihr Onkel unterstützte.

Ungläubig brach sie ab. Eine unerwartete Wut erfasste Cosima, weil ihr erneut bewusst wurde, wie gut es diesem Mann und allen anderen im Saal im Unterschied zu einer Frau wie Lisbeth ging.

»Diese Frauen sind Teil unserer Gesellschaft!«, sagte sie eine Spur lauter. Ein aufgebrachter Unterton hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Einige Zuschauer blickten sie überrascht an.

Cosima atmete tief durch. Kurz entschlossen entschied sie sich, ihre einstudierte Rede über Bord zu werfen. Was sie bisher gesagt hatte, war alles viel zu distanziert, sie musste diese Menschen emotional berühren. Das war ihre einzige Chance!

»Diese Frauen haben nach dem Krieg mit ihren eigenen Händen die Trümmer unserer zerbombten Häuser weggeräumt und geholfen, unser Land wieder aufzubauen! Aber im Gegensatz zu uns allen müssen sie und ihre Kinder trotz des Wirtschaftsaufschwungs in unserem Land auch heute noch Hunger und Entbehrung erleiden und sind auf sich allein gestellt«, sagte sie voller Leidenschaft.

In drängenden Bildern beschrieb sie weiter die Verzweiflung der Frauen, und was es bedeutete, an manchen Tagen nicht genug Essen für seine Kinder zu haben oder nicht zu wissen, wovon man im Winter ein neues Paar Schuhe für seine Tochter oder seinen Sohn kaufen sollte.

Und auf einmal nahm sie wahr, dass eine greifbare Stille im Saal eingekehrt war und ihr die Gäste aufmerksam zuhörten. Eine Frau starrte sie berührt an.

Cosima hätte nicht sagen können, wie lange sie geredet hatte, bis sie schließlich zum Ende kam: »Meine Damen und Herren, diese Frauen verdienen es, dass ihnen geholfen wird, und genau aus diesem Grund soll die Stiftung Wilhelm Liefenstein gegründet werden, um deren Unterstützung ich Sie heute Abend inständig und persönlich bitte! Danke.«

2

Die Veranstaltung war ein Erfolg. Erst nach und nach begriff Cosima das. Sogar Konrad Adenauer schüttelte ihr nach der Rede persönlich die Hand.

»Sehr schön und anständig, dass Sie sich für diese Frauen einsetzen, Fräulein Liefenstein!«, sagte er anerkennend. »Uns in der Regierung ist dieses Problem auch bewusst. Wir arbeiten an einem Gesetz, das Witwen und Waisen besser versorgen soll«, fügte er hinzu.

Das Licht der Kristallkronleuchter spiegelte sich in den silbernen Tabletts, auf denen livrierte Bedienstete Sekt und kunstvoll garnierte Häppchen servierten. Die Gäste standen in Grüppchen verteilt in dem an den Beethovensaal angrenzenden Salon zusammen, und Cosima bemühte sich, mit möglichst jedem der Anwesenden zu sprechen. Alexander war an ihrer Seite. Viele Menschen kannte sie von kurzen Begegnungen bei anderen Feierlichkeiten oder offiziellen Anlässen, manche auch nur vom Hörensagen oder von Bildern aus der Zeitung, dennoch wusste sie bei jedem Einzelnen, wen sie vor sich hatte. Ihr Onkel hatte ihr im Vorfeld eine Liste mit Fotos und detaillierten Informationen gegeben, die sie sich einprägen sollte. »Zum Erfolg gehört es, immer vorbereitet zu sein, Cosima. Das hat dein Großvater schon gepredigt«, hatte er gesagt.

Ihre Rede habe sie nachdenklich gestimmt, ja bewegt, gestanden ihr zahlreiche Gäste, und im Laufe des Abends wurden Cosima zu ihrer grenzenlosen Freude mehr und mehr Spenden zugesagt.

»Man muss für diese armen Frauen doch etwas tun! Mit drei oder vier Kindern kann man unmöglich erwarten, dass sie noch einmal einen Ehemann finden, der sie ernährt«, sagte die Gemahlin eines Fabrikanten.

Als Cosima sich etwas später im Gespräch mit einem englischen Diplomaten befand, kam ein älterer Herr in einem ein wenig altmodisch anmutenden schwarzen Frack auf sie und Alexander zu. Er stützte sich beim Gehen auf einen Stock mit einem aufwendig silberverzierten Knauf.

Mehrere Gäste nickten ihm höflich, fast ehrerbietend zu.

Cosima erkannte, dass es Ludwig von Schierstetten war, die graue Eminenz der Stahlindustrie. Auch ein bedeutender Teil der Liefenstein’schen Familienunternehmen gehörte dieser Branche an. Liefenstein Stahl war neben den L&S Batterien eines der Erzeugnisse, das sie international groß und bekannt gemacht hatte.

»Ich kann Ihnen zu Ihrer Verlobten nur gratulieren«, sagte er zu Alexander, bevor er sich ihr zuwandte. Mit durchdringendem Blick musterte er sie, als würde er sie einer Prüfung unterziehen, und nickte schließlich. »Jung und hübsch. Es ehrt Sie, Fräulein Liefenstein, dass Sie sich nicht auf dem Besitz und Namen Ihrer Familie ausruhen. Ich kannte Ihren Großvater noch. Es hätte ihm gefallen, was Sie tun.«

»Vielen Dank!« Eine leichte Röte schoss Cosima in die Wangen, denn sie ahnte, dass Schierstetten kein Mann war, der oft solche Komplimente vergab.

Sie fragte sich, ob er recht hatte. Hätte die Stiftung das Wohlwollen ihres Großvaters gefunden? Sie hatte nur vage Erinnerungen an ihn. Sie war noch ein Kind gewesen, als er verstorben war, und hatte sich vor seiner Strenge immer etwas gefürchtet. Erst später begriff sie, wie viel Dankbarkeit sie ihm alle schuldeten. Mit Ausnahme seiner letzten Lebensjahre hatte er bis ins hohe Alter jeden Tag gearbeitet. So legte er den Grundstein für das Vermögen der Liefensteins und baute das Firmenimperium zu einem der größten des Landes aus.

»Alle Achtung, auf diese Bemerkung von von Schierstetten kannst du dir wirklich etwas einbilden«, sagte Alexander, als der alte Herr sich wieder abgewandt hatte. Er war einige Schritte weiter von einem befreundeten Industriellen in ein Gespräch verwickelt worden.

Ihr Verlobter zündete sich eine Zigarette an. »Ich muss ehrlich gestehen, ich hätte nie gedacht, dass du mit dieser Stiftung solche Resonanz finden könntest, Cosima!«

Für den Bruchteil eines Augenblicks wusste sie nicht, ob sie sich über die überraschte Anerkennung in seiner Stimme freuen oder eher ein wenig getroffen fühlen sollte. Doch bevor sie dazu kam, etwas zu erwidern, schaute Alexander auf seine silberne Armbanduhr. »Ich fürchte, ich muss los!«

»Ja, natürlich!« Er hatte Cosima bereits im Vorfeld angekündigt, dass er früher aufbrechen würde, da er am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe beruflich nach Zürich reisen musste. Sie begleitete ihn zum Ausgang.

An der Garderobe nahm er seinen Mantel und Hut entgegen.

»Wenn ich zurück bin, nehmen wir uns einen Abend ganz für uns, ja? Nur wir beide«, versprach er.

Sie nickte. In den letzten Wochen hatten sie sich nur selten allein gesehen. Obwohl sie verstand, dass Alexander viele berufliche Verpflichtungen hatte, war sie insgeheim dennoch enttäuscht, dass sie so wenig Zeit miteinander verbrachten. Nach ihrer Verlobung vor drei Monaten hatte sie gehofft, dass das Gegenteil der Fall sein würde.

Als sie zur Eingangstür kamen und Alexander sie küsste, nahm sie wahr, dass die Leibwächter sie genau im Blick hatten. Die meiste Zeit hatte Cosima sich an sie gewöhnt. Sie verstanden es, sich so im Hintergrund zu halten, dass man sie kaum bemerkte, aber in einem Moment wie diesem, in dem sie ihren Verlobten verabschiedete, war ihr die Anwesenheit des Sicherheitspersonals unangenehm.

Vielleicht war Alexanders Kuss auch deshalb eher züchtig. Er schlüpfte in den Mantel und setzte seinen Hut auf. Sein Chauffeur hatte bereits den Wagen vorgefahren.

»Ich melde mich!«

»Pass auf dich auf!« Sie blickte ihm nach, wie er noch einmal winkend die Hand hob, in das Auto stieg und auch schon davonfuhr.

Als Cosima zurück zum Salon ging, fragte sie sich, wie das Leben an Alexanders Seite wohl sein würde, wenn sie erst verheiratet wären. Bildete sie sich die Distanz nur ein, die es manchmal zwischen ihnen gab? Als Alexander ihr vor drei Monaten den Antrag gemacht hatte, schien ihr größter Traum in Erfüllung zu gehen. Cosima hatte für ihn geschwärmt, solange sie zurückdenken konnte. Sein Vater, Balduin Hellmann, war ein Geschäftsfreund ihres Onkels Theodor, und ihr Cousin Erich und Alexander waren seit der Schulzeit eng befreundet. Sie war dreizehn gewesen, als Erich den Freund das erste Mal mit nach Hause gebracht hatte. Mit seinen dunklen Haaren und den graublauen Augen war Alexander der bestaussehende Junge, den Cosima jemals gesehen hatte. Sie war vor Verlegenheit ganz rot geworden und hatte keinen Ton herausbekommen. Alexander, der siebzehn und damit vier Jahre älter als sie war, hatte sie dagegen wie ein Kind behandelt und natürlich kaum beachtet.

In den Jahren darauf hatten sie sich regelmäßig in den Ferien gesehen. Sie gingen alle in der Schweiz aufs Internat, auf unterschiedliche Schulen, aber die Sommerwochen verbrachte Cosima mit ihrem Cousin und ihrer Cousine oft zusammen im Landhaus ihrer Großtante, in der Nähe von Garmisch, wohin Erich auch Alexander mitbrachte.

Es waren unbeschwerte, glückliche Tage – eine Zeit, in der die Anspannungen und Probleme zu Hause genauso wenig zu existieren schienen wie die düsteren Erinnerungen an den Krieg. Sie waren einfach nur jung und wollten leben: An den heißen Tagen fuhren sie mit dem Fahrrad an den Bergsee, badeten oder ruderten mit einem alten Boot aufs Wasser hinaus. Bei der Erinnerung daran spürte Cosima noch heute das Brennen der gleißenden Sonne auf ihrer Haut und die klebrige Limonade an ihren Fingern. Ihre Cousine Ellen und sie lachten, bis sie Bauchschmerzen bekamen, wenn Erich und Alexander voller Übermut auf die alten Bäume am Uferrand kletterten, deren dicke Äste weit übers Wasser ragten, und sich dann mit Kampfgeschrei in den eiskalten See stürzten. An den Nachmittagen spielten sie im Garten Boccia oder Federball, abends machten sie gerne ein Lagerfeuer.

Und nie konnte Cosima ihren Blick von Alexander abwenden. Mit seiner durchtrainierten Figur sah er aus wie ein Filmschauspieler, fand sie. Als sie das Ellen einmal gestand, lachte ihre Cousine ungläubig.

»Schlag ihn dir mal gleich wieder aus dem Kopf. Er ist doch viel zu alt, und außerdem sagt Erich, dass er in jeder Stadt eine andere Freundin hat.«

Betroffen hörte Cosima ihre Worte. Eine Welt brach für sie zusammen, als sie nur Tage später feststellen musste, dass Ellen recht hatte. Vom Schlafzimmer aus konnte sie beobachten, wie Alexander sich am Abend mit einem der Mädchen aus dem Dorf traf und die beiden sich an der Scheune voller Leidenschaft küssten. Selbst aus der Ferne erkannte sie die Gier, mit der seine Hände über ihren Körper wanderten.

Fortan versuchte Cosima, Alexander aus ihrem Kopf zu verbannen, und war fast erleichtert, dass die gemeinsamen Ferien im Sommer darauf ein Ende fanden. Erich und Alexander hatten Abitur gemacht und studierten nun.

Einige Jahre sah sie ihn nicht mehr, bis er ihr im vergangenen Frühjahr auf einmal unerwartet auf einem Ball wieder gegenüberstand. Im ersten Augenblick erkannte er Cosima nicht. »Ich kann nicht glauben, wie sehr du dich verändert hast«, sagte Alexander staunend.

Er dagegen sah noch immer genauso attraktiv aus wie vor sechs Jahren, auch wenn seine Züge eine Spur männlicher und erwachsener geworden waren.

Etwas in seinem Blick gab ihr an jenem Abend das Gefühl, als würde er sie das allererste Mal anschauen.

Sie unterhielten sich, tanzten, und zu später Stunde gestand Cosima ihm lachend, wie sie als Backfisch einst für ihn geschwärmt hatte. Die Vorstellung schien ihm zu gefallen, und als sie sich verabschiedeten, bat er, sie anrufen zu dürfen. Wenig später begannen sie, miteinander auszugehen. Alexander war charmant, aufmerksam, und als er sie das erste Mal küsste, war Cosima wie euphorisiert, dass sich der Mann, von dem sie schon immer geträumt hatte, für sie interessierte. Die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Jugend schufen von Beginn an eine besondere Nähe und Vertrautheit zwischen ihnen. Sie verstanden sich, verbrachten gerne Zeit miteinander, und Cosima verliebte sich auf neue, erwachsene Weise in ihn.

Im November hatte Alexander schließlich um ihre Hand angehalten, und sie gaben ihre Verlobung bekannt. Sie schienen das perfekte Paar zu sein. Beide Familien waren glücklich über die Verbindung, da auch die Geschäfte davon profitieren würden. Die Hellmanns besaßen Förderungsrechte für Zechen, betrieben ein eigenes Eisenwerk und besaßen eine Mine in Südamerika. Damit verfügten sie genau über die Rohstoffe, die in den Unternehmen der Liefensteins gebraucht wurden. Es war ein gelungener Zusammenschluss.

Als Cosima jetzt nach der Verabschiedung von Alexander zurück in den Saal mit den anderen Gästen kam, versuchte sie, den leisen Zweifel wieder aus ihrem Kopf zu verbannen. Bestimmt bildete sie sich die Distanz zwischen ihnen nur ein, weil sie sich in letzter Zeit so selten allein gesehen hatten. Oder war es die Angst vor der Endgültigkeit, seine Frau zu werden?

»Ist Alexander schon gegangen?«, riss sie die Stimme ihres Onkels aus ihren Gedanken.

»Ja. Er muss morgen früh geschäftlich in die Schweiz.«

Theodor Liefenstein nickte. »Nun, die Reihen lichten sich eh«, sagte er mit Blick auf die Gäste. Er legte den Arm um sie. »Von Schierstetten hat mir gerade gesagt, dass er eine stattliche Summe spenden wird. Ich bin sehr stolz auf dich!«

»Ohne dich wäre dieser Abend hier nie zustande gekommen, Onkel Theodor!«

Er schüttelte den Kopf. »Du allein hast sie überzeugt, Cosima!«

Sie freute sich über sein Lob. Seitdem sie ein Kind war, hatte er sie immer unterstützt, egal worum es ging. »Vati kann dir einfach nichts abschlagen«, behauptete ihre Cousine Ellen oft, und hatte sie deshalb früher, als sie noch Kinder waren, auch immer vorgeschickt, wenn sie etwas angestellt hatten oder seine Erlaubnis für etwas erhalten wollten.

Eine gute halbe Stunde später hatten sich auch die letzten Gäste verabschiedet. Bedienstete schwirrten durch die Salons und räumten Gläser und gefüllte Aschenbecher ab. Cosima holte ihre Handtasche und den hellblauen Mantel, die sie in einem der hinteren Räume eingeschlossen hatte.

Als sie zurückkam, sah sie, dass ihr Onkel mit Hagen Keller zusammenstand. Er hatte ihr zuvor wie alle anderen zur Gründung der Wilhelm-Liefenstein-Stiftung gratuliert und eine größere Spende in Aussicht gestellt. Die beiden Männer sprachen leise miteinander, aber zu Cosimas Erstaunen wirkte ihre Mimik angespannt, als würde es eine Auseinandersetzung zwischen ihnen geben.

»Ich werde mich dann mal auf den Weg machen!«, verkündete sie, laut genug, dass die zwei sie hören konnten.

Die Männer brachen abrupt ihr Gespräch ab.

»Danke, dass du gekommen bist, Hagen!«, sagte sie.

Hagen Keller neigte mit einem Lächeln den Kopf.

Sie spürte, dass er ihnen hinterherblickte, als ihr Onkel sie zum Ausgang begleitete.

»Willst du wirklich mit deinem Wagen fahren, Cosima?«, fragte Theodor Liefenstein.

»Ja!« Sie sagte es mit Nachdruck, denn sie wusste, dass ihm die Vorstellung nicht gefiel. Im letzten Jahr waren die Sicherheitsvorkehrungen für alle Familienmitglieder verstärkt worden. Es war schlimm genug, dass ihr ständig ein Wagen mit zwei Leibwächtern folgte, aber auf keinen Fall würde sie aufhören, selbst zu fahren. Zu lange hatte sie für die Erlaubnis gekämpft, den Führerschein machen zu dürfen. Es hatte darüber lange Diskussionen und Auseinandersetzungen gegeben. Ihr würde doch genau wie ihrer Cousine Ellen und ihrer Mutter jederzeit ein Chauffeur mit Wagen zur Verfügung stehen. Eine Frau sollte nicht selbst hinter dem Steuer sitzen.

Doch sie hatte nicht lockergelassen, gebeten und gebettelt, bis Onkel Theodor schließlich widerstrebend nachgab. Sie hatte den Führerschein gemacht, und als sie, genau wie Erich und Ellen, zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag im letzten Jahr Zugriff auf einen Teil ihres Vermögens erhielt, hatte sie sich ihren ersten eigenen Wagen gekauft – einen Mercedes 190 SL.

3

Es war ein Gefühl von Freiheit, das Cosima jedes Mal aufs Neue durchströmte, wenn ihr Fuß das Gaspedal hinunterdrückte und der Wagen durch die Straßen glitt. Die eine Hand am Steuer, zog sie mit der anderen die Haarnadeln aus ihrer Frisur, die sich schon den gesamten Abend über unangenehm in ihre Kopfhaut bohrten.

Das Fahrzeug mit den beiden Leibwächtern, Ernst und Curt, folgte ihr in geringem Abstand. Es war kurz nach zehn, und im abendlichen Bonn waren kaum noch Menschen unterwegs.

Das Anwesen der Liefensteins, das Herrenhaus Augusta, befand sich einige Kilometer außerhalb in Richtung Köln auf einer hügligen Erhebung, von der aus man über den Rhein blicken konnte. Das ehemalige Gutshaus war von ihrem Großvater noch weiter ausgebaut worden. Das elegante, u-förmige Gebäude verfügte über zwei Seitenflügel und eine Reihe von Nebenhäusern für Personal und Gäste. Manche behaupteten, dass es einem Schloss glich. Weiter hinten auf dem Grundstück befanden sich Reitställe, ein Tennisplatz und ein kleiner Park, an den sich ein Stück Wald anschloss. Früher hatte sich nicht weit vom Herrenhaus auch eine der Fabriken der Liefensteins befunden. Doch sie war im Krieg zerstört und später an einem anderen Ort wieder aufgebaut worden.

Obwohl inzwischen alle erwachsen waren, lebte die Familie weiterhin zusammen auf dem Anwesen. Es war groß genug, dass jeder über seine eigenen Räumlichkeiten verfügte und für sich sein konnte, wenn er wollte. Die Mahlzeiten am Morgen und Abend nahmen sie, wenn es ging, jedoch meistens gemeinsam ein. Neben ihrem Cousin Erich, der seit letztem Jahr verheiratet war und mit seiner Ehefrau Greta gerade für zwei Wochen in den USA weilte, wohnten ihre Cousine Ellen, Onkel Theodor – dessen Frau Henriette früh verstorben war – und ihre Mutter hier. Ursprünglich hatte auch Onkel Albert, der zweitälteste Bruder ihres Vaters, mit seiner Frau Magdalena bei ihnen gelebt, aber er war mittlerweile nach Zürich gezogen, wo er sich um die Vermögensverwaltung der Liefensteins kümmerte.

Ihre Mutter hatte an der Veranstaltung heute nicht teilnehmen können, weil sie leider wieder einmal unpässlich war. Im Laufe der Jahre hatte Cosima sich daran gewöhnt, dass sie diese dunklen Phasen durchlebte, in denen sie kaum aus ihrem Zimmer herauskam. Selbst wenn es ihr gut ging, konnte ihre Mutter Veranstaltungen mit so vielen Menschen jedoch nichts abgewinnen und mied sie.

Cosimas Gedanken kehrten zu dem heutigen Abend zurück, und ihr wurde mit einem Hochgefühl bewusst, wie viele Spendenzusagen sie erhalten hatte und was sie mit dem Geld alles für die Frauen würde tun können. Glücklich schaltete sie das Autoradio ein.

Am Stadtrand von Bonn bog sie nach links um die Kurve und gab Gas. Übermütig genoss Cosima es, dass der Wagen der Leibwächter ein wenig zurückfiel und Ernst Mühe hatte, ihr zu folgen. Die Scheinwerfer wurden im Rückspiegel kleiner. Sie drehte den Radioknopf, bis sie ihren Lieblingssender fand.

Als sie nach vorne schaute, sah sie zu spät, wie ein mintgrüner Käfer aus der Ausfahrt einer Gaststätte herausschoss.

Cosima trat mit aller Kraft auf die Bremse, doch sie fuhr viel zu schnell. Die Reifen quietschten, und dann geschah alles so rasch, dass sie später nicht mehr hätte sagen können, was zuerst passierte. Sie riss das Steuer herum, um auf die andere Straßenseite auszuweichen, aber der Käfer, der ebenfalls nach links abbog, war schon zu weit vorgefahren. Ein unschönes Geräusch war zu hören, als ihr Kotflügel gegen den des anderen Wagens krachte und an ihm entlangschrammte. Sie stemmte sich mit beiden Händen gegen das Lenkrad, um nicht gegen die Scheibe zu fliegen. Ein Stück weiter kam ihr Mercedes endlich zum Stehen.

Ihr Herz raste. Voller Schreck drehte sie sich zu dem Fahrer des Käfers um. Der Mann blickte sie entsetzt durch sein Wagenfenster an. Gott sei Dank schien ihm nichts geschehen zu sein!

Als er ausstieg, hörte sie laute Rufe.

Die beiden Leibwächter waren aus ihrem Wagen gesprungen und liefen mit gezogener Waffe auf ihn zu.

Cosima unterdrückte einen Fluch und riss die Tür auf, um ebenfalls auszusteigen.

»Hände hoch, sofort!«, forderte Ernst, der mit finsterer Miene vor dem Käfer-Fahrer zum Stehen gekommen war.

»Was?« Der Mann, der ungefähr Ende zwanzig war, sah ungläubig zwischen Cosima und den zwei Leibwächtern hin und her.

»Ich wiederhole mich nicht noch einmal. Hände hoch!«, befahl Ernst drohend, während Curt sich gleichzeitig schützend vor Cosima schob.

Der Fremde hob tatsächlich seine Arme.

Cosima fand endlich ihre Sprache wieder, als ihr klar wurde, wie absurd die Situation war.

»Lassen Sie ihn. Es war meine Schuld«, sagte sie zu den Leibwächtern, erleichtert, dass es dem Mann gut ging, und schob Curt dabei resolut zur Seite. Sie nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass aus der Gaststätte zwei Männer angerannt kamen, die jedoch genauso hastig wieder zurückwichen, als sie die Leibwächter mit den gezogenen Waffen bemerkten.

Der Käfer-Fahrer drehte sich zu Cosima. »Ganz genau. Sie sind viel zu schnell gewesen – und haben meinen Wagen zu Schrott gefahren, werte Dame!«, stieß er empört hervor.

Sie blickte ihn an. Der Mann hatte dunkelblonde Haare, intelligente, markante Gesichtszüge und trug eine schwarze Lederjacke. Cosima wandte den Kopf von ihm zu dem mintgrünen Fahrzeug, dessen Kotflügel völlig zerschrammt und eingedrückt war. Allerdings zeigte die Karosserie auch an anderen Stellen schon etliche Beulen und Rostflecken, es war klar, dass der Käfer seine besten Zeiten lange hinter sich hatte.

»Bitte treten Sie zurück, Fräulein Liefenstein, bis wir wissen, ob der Mann eine Waffe hat«, forderte Ernst.

»Eine Waffe?« Der Mann lachte laut auf. »Jetzt machen Sie mal halblang und sich nicht lächerlich. Ich bin Journalist. Warum sollte ich eine Waffe bei mir tragen?«

»Sie haben sicherlich kein Problem damit, wenn wir uns selbst vergewissern«, entgegnete Curt und tastete auch schon mit professionellen Griffen seine Lederjacke und Hose ab. Der Unbekannte wirkte, als würde er gleich vor Wut explodieren. Ernst hielt noch immer seine Pistole auf ihn gerichtet.

»Um Gottes willen, nehmen Sie endlich Ihre Waffe runter und lassen den Mann in Ruhe«, herrschte Cosima die Leibwächter an. Die ganze Situation wurde immer peinlicher. Ein vorbeifahrender Wagen hatte auf der anderen Straßenspur angehalten. Der Fahrer schaute kurz zu ihnen und entfernte sich eiligst wieder im Rückwärtsgang.

»Er ist sauber«, sagte Curt zu Ernst.

Cosima rollte mit den Augen.

Ernst nickte und steckte zögernd seine Pistole wieder ein.

»Unglaublich«, murmelte der Unbekannte. Entrüstet zog er seine Lederjacke zurecht. Dann wandte er den Kopf zu dem verbeulten Kotflügel seines Wagens.

»Es tut mir entsetzlich leid«, beeilte sich Cosima zu versichern. »Ich werde natürlich für den Schaden aufkommen.« Sie wollte ihre Handtasche aus dem Mercedes holen, als Ernst sie am Arm fasste.

»Curt wird Sie nach Hause fahren, und ich regle das für Sie, Fräulein Liefenstein!«

Cosima fuhr zu ihm herum, weil sie nicht zum ersten Mal das Gefühl hatte, weniger beschützt als vielmehr bevormundet zu werden. »Das werden Sie ganz sicher nicht. Sie haben den Mann behandelt, als wäre er ein Schwerverbrecher! Ihre Reaktion war völlig überzogen«, zischte sie leise.

Ohne seine Antwort abzuwarten, wandte sich Cosima wieder zu dem Unbekannten.

Sie deutete zu der Gaststätte, über der ein altertümliches Schild mit der Aufschrift Das Goldene Eck hing. »Erlauben Sie, dass ich Ihnen auf den Schreck etwas ausgebe? Dann können wir dabei auch die Formalitäten für die Versicherung besprechen. Ich bin übrigens Cosima Liefenstein.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Für den Bruchteil eines Augenblicks konnte sie sich nicht des Eindrucks erwehren, dass ein amüsierter Ausdruck in seinen Augen aufflackerte, als er von den Leibwächtern zu ihr schaute. Schließlich ergriff er ihre Hand und schüttelte sie.

»Leo Marktgraf. Und die Einladung nehme ich gerne an. Allerdings wäre es nett, wenn Ihre beiden Gorillas mir vielleicht vorher dabei helfen könnten, den Wagen von der Straße zu schieben!«

4

Sie versuchte, die Blicke zu ignorieren, die ihr folgten, als sie mit Leo Marktgraf Das Goldene Eck betrat. Der Schreck saß ihr noch immer in den Gliedern. Erst jetzt drang langsam in ihr Bewusstsein, wie leicht alles hätte anders ausgehen können. Hätte sie nur etwas später gebremst … Sie verdrängte den Gedanken eilig und sah sich um. Es war voll, und in dem Lokal hing der Geruch von Rauch und Alkohol in der Luft. Lautes Stimmengewirr erfüllte den Raum. Hinter der Bar zapfte der Wirt, ein kräftig gebauter Mann mit Lederschürze, mehrere Gläser Bier.

An einigen Tischen wurde Skat gespielt. Die meisten Gäste waren Männer, wie Cosima bemerkte, und natürlich hatten sie den Vorfall draußen verfolgt, wie ihre Mienen erkennen ließen. Durch die vorderen Fenster konnte man direkt auf die Straße blicken und durch das seitliche auf den Parkplatz, auf dem Ernst und Curt jetzt in ihren dunklen Mänteln Wache standen und den Ausgang im Auge behielten. Cosima hatte ihnen untersagt, sie nach drinnen zu begleiten.

Zwei Männer mit hochgekrempelten Hemdsärmeln musterten sie mit unverhohlener Neugier von der anderen Seite der Bar, als sie neben Leo auf einem der hohen Hocker am Tresen Platz nahm. Cosima gab sich Mühe, so zu tun, als wäre es für sie das Normalste der Welt, im eleganten Mantel und mit Abendhandtasche in eine Kneipe zu gehen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der ganze Vorfall morgen nicht in irgendeiner lokalen Gazette landete, war gering, vermutete sie bei der Menge an Zeugen. Zumal Leo Marktgraf auch noch Journalist war.

Der Wirt, der die Biere fertig gezapft hatte, beugte sich über den Tresen zu ihnen.

»Um Ihre alte Blechkarre ist es ja nicht sonderlich schade, mein Herr, aber Ihr schöner Mercedes kann einem wirklich in der Seele leidtun, Fräulein. Bisschen schnell unterwegs gewesen, was?«

Mehrere Männer lachten.

»Frauen am Steuer, immer teuer!«, rief jemand.

Cosima ignorierte den Zwischenruf. »Ja, ein bisschen«, gab sie unumwunden zu.

Der Wirt nickte. »Und, was darf’s denn für Sie beide auf den Schreck sein?«

Ihr Blick blieb an einem Werbeplakat an der Wand hängen, das einen Moselwein anpries, und sie deutete darauf. »Ein Glas von dem Wein, bitte!«

»Und für mich ein Bier!«, bat Leo. Er hatte eine angenehm tiefe Stimme.

Als sich der Wirt abgewandt hatte, blickte Cosima Leo Marktgraf mit schuldbewusster Miene an. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut – dass Ihr Wagen zu Schaden gekommen ist und wie sich dann auch noch die beiden Herren Ihnen gegenüber draußen aufgeführt haben. Es ist mir wirklich unangenehm, Herr Marktgraf! Ich hoffe, Sie nehmen meine Entschuldigung an! Wie ich schon sagte, ich werde selbstverständlich für alles aufkommen.« Sie deutete zu seiner Aktentasche, die er neben sich auf einem leeren Barhocker abgelegt hatte. Aus der Vordertasche ragte eine Zeitung.

»Wenn Sie ein Blatt Papier dabeihaben, bestätige ich Ihnen das gerne alles schriftlich.«

»Das brauchen Sie nicht.« Sein rechter Mundwinkel hob sich leicht. »Sie wirken mir nicht wie jemand, der seine Rechnungen prellt.«

Er schien ihr überraschend entspannt dafür, dass sein Auto demoliert worden war, und man ihn anschließend bedroht hatte. Sein Blick wanderte zum Fenster zu Ernst und Curt. »Ihre beiden Begleiter wirken ein bisschen nervös. Sind die immer mit dabei?«, erkundigte er sich neugierig.

»Meistens … Mein Onkel ist ein sehr besorgter Mensch«, erwiderte sie auf seinen fragenden Gesichtsausdruck hin und war dankbar, dass der Wirt ihnen die Getränke brachte, und sie ihre Erklärung nicht weiter ausführen musste.

Leo Marktgraf hob das Glas. »Also darauf, dass keiner von uns bei diesem Unfall persönlich zu Schaden gekommen ist!«

Sie stießen an und tranken beide einen Schluck.

Als Cosima ihr Glas abgestellt hatte, rieb sie unbewusst ihr Handgelenk. Es schmerzte gelegentlich noch immer.

Er musterte sie besorgt. »Haben Sie sich doch etwas getan?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist eine alte Verletzung. Ich hatte vor einigen Monaten einen Reitunfall, aber manchmal spüre ich die Hand noch.«

»Verstehe.«

Seine Augen blieben an dem hellblauen Seidenkleid hängen, das unter ihrem geöffneten Mantel zum Vorschein kam. Schließlich beugte er sich ein Stück zu ihr und senkte seine Stimme: »Also, unter uns, sind Sie berühmt oder zumindest bekannt, und ich weiß es nur nicht? Und bevor ich ins Fettnäpfchen trete – sollte mir Ihr Name etwas sagen?«

Sie lachte und nippte erneut an dem viel zu lieblichen Moselwein. »Nicht unbedingt – und nein, ich persönlich bin nicht bekannt. Eher mein Onkel – Theodor Liefenstein.«

Er nickte, aber der Name schien ihm nichts zu sagen, und er schien ihn auch nicht in Zusammenhang mit den Liefenstein-Produkten zu bringen, die vielen Menschen durchaus ein Begriff waren.

Das verriet ihr zwei wichtige Dinge über Leo Marktgraf: erstens, dass er nicht im Bonner Politikzirkel zu verkehren schien, sonst hätte er ihren Onkel gekannt, und zweitens, dass er auch nicht für die Tratschblätter der Regenbogenpresse arbeitete oder sie las. Sonst hätte ihn der Name Liefenstein auf jeden Fall aufmerken lassen. Cosima wurde plötzlich bewusst, wie befreiend diese Erkenntnis war, und dass es Jahre her war, dass sie einfach so in einer Kneipe gesessen und sich mit jemandem unterhalten hatte.

»Und Sie sind Journalist? Für welche Zeitung schreiben Sie?«

Leo hatte seine Unterarme auf dem Tresen abgelegt und wandte sich ihr zu. »Ich arbeite frei für einige Zeitungsmagazine, aber auch Tageszeitungen. Meine Spezialgebiete sind Architektur und Landschaftsgestaltung.«

»Wirklich?«, entfuhr es ihr. Cosima hätte eher auf ein Ressort wie Sport oder Technik getippt. Sie war neugierig. »Worum ging es denn in Ihrem letzten Artikel?«

Er starrte sie mit einem seltsamen Ausdruck an, und für einen Moment befürchtete sie, dass er ihre Frage als indiskret empfand.

»Die Stadtplanung von Köln«, sagte er dann jedoch. Er zog aus der Vordertasche seiner Aktentasche die Zeitung und legte sie auf den Tresen. Es war ein Exemplar der Kölnischen Nachrichten. Er deutete auf die umgeschlagene Seite des Lokalteils. »Kölns Zukunft als Stadt« stand dort in großen Buchstaben und etwas kleiner darunter »von Leo Marktgraf«. Der Artikel schien sich mit den neuesten architektonischen Entwicklungen zu befassen. Cosima wollte gerade interessiert ansetzen zu lesen, als sie stutzte, weil sie das Foto bemerkte, das weiter unten auf der Zeitungsseite abgedruckt war. »Tragischer Unfall am Rhein – Rechtsanwalt tot«, stand über dem Bild. Ungläubig nahm sie die Zeitung in die Hand, aber es bestand kein Zweifel. Cosima erkannte den Mann sofort wieder. Bestürzt überflog sie die Zeilen des kurzen Artikels:

Der Kölner Anwalt Walter Weber ist vergangenen Freitag in den Rhein gestürzt und wurde von der Strömung mitgerissen. Laut medizinischem Gutachten hatte er zuvor größere Mengen Alkohol genossen. Seine Leiche wurde zwei Kilometer flussabwärts von der Unfallstelle gefunden …

Cosima schaute auf das Foto. Es musste bei irgendeinem offiziellen Anlass aufgenommen worden sein. Walter Weber trug einen Anzug mit einer dazu passenden Krawatte und einem Einstecktuch. Ein gewinnendes Lächeln umspielte seine Lippen. Er wirkte gepflegt, hatte einen akkuraten Haarschnitt und war rasiert. Ganz anders als an jenem Abend, an dem sie ihn gesehen hatte. Er war Anwalt gewesen?

»Alles in Ordnung?«, riss Leo Marktgraf sie aus ihren Gedanken.

Sie blickte mit bleichem Gesicht auf. »Ja.«

»Ach, kommen Sie! So schlecht kann der Artikel gar nicht sein«, scherzte er.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Aber nein, Sie schreiben sogar sehr gut.«

Seine grünen Augen musterten sie eindringlich, als würde er genau wissen, dass sie seinen Artikel gar nicht gelesen hatte.

Sie wich seinem Blick aus. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dass sie hier rausmusste. Sie griff sie nach ihrer Handtasche und zog ein Kärtchen hervor.

»Über diese Telefonnummer meines Sekretariats erreichen Sie mich und bekommen dort auch die Adresse, an die Sie Ihre Rechnung für die Autoreparatur schicken können.«

Sie erhob sich vom Barhocker, ohne Leos irritierte Miene zu beachten, und legte einen Geldschein neben den Bierdeckel.

»Auch wenn die Umstände unschön waren: Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Herr Marktgraf!« Sie streckte ihm die Hand entgegen, doch anstatt sie zu ergreifen, stand er ebenfalls auf.

»Ich werde Sie noch zu Ihren Aufpassern begleiten.« Er war ein Stück größer als sie, und sie spürte, wie er seine Hand auf ihren Rücken legte, als sie zwischen den Gästen zum Ausgang gingen.

Draußen kamen Ernst und Curt erleichtert auf sie zu.

Leo wandte sich zu ihr. »Ich melde mich, wenn ich weiß, wie hoch die Reparaturkosten sein werden. Kommen Sie gut nach Hause, Fräulein Liefenstein!« Sein Tonfall war auf einmal kühl. Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er sich auch schon umgedreht und war wieder in die Gaststätte hineingegangen.

Einen Augenblick blieb sie bewegungslos stehen.

»Fräulein Liefenstein?«

Curt hatte die Wagentür geöffnet. Wortlos stieg sie ein.

5

Das Sicherheitspersonal hatte das Gittertor geöffnet, und sie fuhren die Einfahrt bis zum Anwesen des Herrenhauses hoch. Ernst folgte ihnen in dem beschädigten Mercedes.

Cosima ließ sich am Seiteneingang absetzen und nahm die Dienstbotentreppe, da sie keine Lust verspürte, heute noch irgendeinem Familienmitglied zu begegnen. Der Unfall würde früh genug Gesprächsthema werden. Sie hatte die beiden Leibwächter gebeten, Stillschweigen zu bewahren, aber sie machte sich keine Illusionen. Ernst würde den Wagen am Montag zur Werkstatt bringen, und natürlich würde ihr Onkel erfahren, was geschehen war. Insgeheim wappnete sie sich bereits für eine weitere Diskussion über ihre Sicherheit. Wenigstens war ihr Cousin Erich zurzeit noch in den USA. Sie konnte sich genau vorstellen, wie sarkastisch er den Unfall kommentieren würde.

Sie stieg die schmalen Stufen bis in den zweiten Stock hoch. Ein leichter Duft von Seife und Lavendel durchzog das enge Treppenhaus, da sich im Untergeschoss die Waschküche befand. Die alten Tapeten stammten noch aus der Zeit ihres Großvaters. Cosima öffnete die Tür zum Flur, in dem sich ihr Wohntrakt befand. Martha, die Haushälterin, hatte vorsorglich einige Lampen angeschaltet, damit Cosima in der Dunkelheit nicht nach dem Lichtschalter suchen musste. Die Gardinen waren bereits zugezogen, und im Schlafzimmer war das Bett für die Nacht gemacht. Auf ihrem Nachttisch stand ein Stövchen mit Tee.

Sie legte ihren Mantel ab und ging ins Wohnzimmer, einen Raum mit hohen Fenstern, vor denen ein einladendes rotes Kanapee stand. Auf der anderen Seite befand sich eine Sitzgruppe mit Sesseln, ein niedriger Nierentisch, eine Musiktruhe mit Radio und Plattenspieler und Regale mit Büchern und Sammelstücken von ihren Reisen. An der Wand hatte Cosima gerahmte Fotos von ihrer Familie, von Alexander und engen Freunden aufgehängt. Das Wohnzimmer war durch zwei große Flügeltüren mit ihrem Schlafzimmer verbunden, an das sich ein Ankleidezimmer und das Bad anschlossen.

Im Vergleich zu den repräsentativen Räumen und alten herrschaftlichen Salons im Erdgeschoss, die die Familie gemeinsam und auch für den Empfang von Besuch nutzte, verströmte ihr Wohntrakt eine eher schlichte, zurückhaltende Eleganz. Doch Cosima fühlte sich hier wohl. Diese Räume waren ihr persönlicher Rückzugsort. Ihr Blick blieb an dem Stapel Hochzeitsjournale auf dem Nierentisch hängen, den Ellen ihr neulich mitgebracht hatte. In nicht allzu ferner Zukunft, wenn sie erst mit Alexander verheiratet wäre, würde sie nur noch für Besuche hierherkommen, wurde ihr bewusst.

Nachdenklich trat sie ans Balkonfenster und zog die schwere Gardine zur Seite, um nach draußen zu treten. Der Park lag dunkel vor ihr. In der Ferne schimmerte der Rhein, auf dem die Lichter eines vorbeifahrenden Schubboots zu erkennen waren. Sie verspürte eine seltsame Unruhe. Das Zeitungsfoto von Walter Weber wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Sie kannte den Mann nicht, und trotzdem hatte sie die Nachricht betroffen gemacht, dass er verunglückt war. Wie stürzte man in den Rhein? Hatte er den Weg verfehlt und war abgerutscht? Der Wasserstand des Flusses war hoch und die Strömung reißend, nachdem es in den letzten Wochen so ausdauernd geregnet hatte – und es war Winter. Selbst ein guter Schwimmer hätte kaum eine Chance gehabt. Sie schauderte. Unwillkürlich sah sie Walter Weber wieder vor sich, wie er auf dem Ball vor knapp zwei Wochen auf ihren Onkel zugekommen war und ihm den Sekt ins Gesicht geschüttet hatte. Cosima hatte auf der Terrasse mit einer Bekannten etwas frische Luft geschnappt und war gerade wieder in den Saal zurückgekehrt, als sie Zeugin des Vorfalls geworden war. »Du widerliches Schwein. Dafür werdet ihr alle bezahlen!«, hatte Weber geschrien. Sein Gesicht war hochrot gewesen, seine Augen wirkten glasig, und er strahlte einen solchen Hass aus, dass sie schockiert stehengeblieben war.

Die Gespräche um sie herum waren verstummt und sogar die Musik hatte ausgesetzt. Für alle Gäste war offensichtlich, dass der Mann zu viel getrunken hatte. Die Beherrschung ihres Onkels war dennoch beeindruckend. Während zwei Sicherheitsbeamte den wütenden Eindringling mit Gewalt nach draußen brachten, zog Theodor Liefenstein ein Taschentuch hervor und tupfte sich ungerührt den Sekt vom Gesicht und seiner schwarzen Anzugjacke. Mit einem Lächeln wandte er sich dann zu den Gästen. »Bitte entschuldigen Sie die Störung durch diesen armen Betrunkenen, meine Damen und Herren! Wie Sie sehen konnten, war der Mann nicht mehr Herr seiner selbst.«

Auf ein Zeichen von ihm setzte die Musik wieder ein, und einige Augenblicke später schien es, als habe es den Vorfall nie gegeben.

»Kanntest du den Mann?«, fragte sie ihren Onkel später zu Hause.

»Nein.« Er schüttelte den Kopf.

»Aber wie kommt er dazu, solche Dinge zu dir zu sagen?«

Ihr Onkel seufzte. »Ich weiß es nicht. Eine Familie wie die unsere wird immer Neider haben, Cosima, und es wird auch immer Menschen geben, die uns für alles verantwortlich machen. Vielleicht wurde ihm in einem unserer Betriebe gekündigt, weil er getrunken hat. Anscheinend hat der Mann ein Alkoholproblem.« Er zuckte die Achseln.

Sie hatte trotzdem die ganze Nacht nicht schlafen können, und als sie im Morgengrauen nach unten in die Küche gegangen war, um sich ein Glas Milch warm zu machen, hatte sie gesehen, dass auch im Büro ihres Onkels, im ersten Stock, noch Licht brannte.

Wahrscheinlich war Walter Weber tatsächlich Alkoholiker, dachte Cosima jetzt. Der Zeitungsartikel schien das zumindest zu bestätigen.

Fröstelnd rieb sie sich die Arme auf dem Balkon. Es war kalt. Sie ging zurück ins Zimmer und verdrängte jeden weiteren Gedanken an den Mann, als sie die Tür hinter sich schloss. Es war ein so erfolgreicher Abend gewesen. Nur daran wollte sie jetzt denken. Mit den Spenden würde sie den Frauen auch langfristig helfen können. Sie schlief mit den Gedanken an Lisbeth und ihre Begegnung mit Leo Marktgraf ein. Cosima hatte den Journalisten sympathisch gefunden. Warum hatte er sich wohl so kühl verabschiedet? Aber wahrscheinlich würde sie ihn ohnehin nie wiedersehen.

6

Draußen kämpften sich ein paar spärliche Sonnenstrahlen durch den bedeckten Februarhimmel, als Cosima am Morgen aufstand.

»Vati hat mir schon erzählt, wie gut es gelaufen ist«, begrüßte Ellen sie wenig später im Speisezimmer, wo sie bereits allein vor einer Tasse Kaffee saß. Ihre langen hellblonden Haare, die ihr Gesicht umrahmten und ihr bis auf die Schultern hinunterfielen, gaben ihrer zierlichen Gestalt etwas Elfenhaftes. »Ich freue mich so für dich!«

»Danke, Ellen!«, erwiderte Cosima, während sie sich neben ihre Cousine setzte. Der Tisch war für mehrere Personen eingedeckt, aber am Wochenende nahmen sie ihr Frühstück alle zu unterschiedlichen Zeiten ein.

Ellen schenkte ihr ein Lächeln. »Ich wäre gerne auch gekommen, das weißt du, oder?«, sagte sie eine Spur leiser. Sie sah müde aus. Nachts wurde sie nach wie vor von Albträumen geplagt. Seit dem letzten Herbst war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Es gab Cosima einen Stich, wenn sie daran dachte, wie Ellen früher gewesen war – die fröhlichste und unbeschwerteste von ihnen allen. Die Sonne schien jedes Mal aufzugehen, wenn sie den Raum betrat – bis zum letzten Oktober. Auf dem Weg von ihrem Tanzunterricht zum Wagen war sie von Unbekannten überwältigt und verschleppt worden. Fünf Tage blieb sie spurlos verschwunden. Die Familie und Polizei vermuteten eine Entführung, doch die Tage verstrichen, und sie erhielten weder eine Nachricht noch eine Lösegeldforderung. Es war schrecklich. Cosima erinnerte sich noch gut, wie die Familie damals erstarrt vor Angst im Salon zusammensaß, ohne dass irgendeiner ein Wort sprach. Die Minuten schienen sich zu quälenden Stunden auszudehnen, in denen sie nichts taten, außer voller Furcht zu warten und bei jedem Telefonklingeln aufzuspringen. Und dann tauchte ihre Cousine auf einmal wieder auf: bleich, mit strähnigen Haaren, verweinten Augen und in einem Schockzustand, den Cosima nie vergessen würde. Bis heute sprach Ellen kaum darüber, was in jenen fünf Tagen geschehen war.

Cosima drückte ihre Hand. »Natürlich weiß ich, dass du gerne gekommen wärst!«

Dankbar blickte Ellen sie an. Selbst wenn ihre Leibwächter sie begleiteten, ging sie nur noch ungern aus dem Haus, doch zugleich litt sie unter ihrer Isolation.

Ilse, das Dienstmädchen, goss Cosima eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee ein.

»Weißt du, was ich mir überlegt habe? Vielleicht sollte man den alten Kram oben auf dem Dachboden mal durchgehen?«, schlug Ellen vor. »Die Schränke und Kisten sind vollgestopft mit Kleidung, Kinderspielzeug und Haushaltsgegenständen. Ich bin sicher, darunter wird einiges sein, worüber sich deine Frauen freuen würden. Möglicherweise kann man sogar noch die alten Möbel gebrauchen? Von uns wird das Zeug doch niemand mehr nehmen.«

Cosima war sich nicht sicher, ob die Sachen noch zu verwenden waren, aber das war unwichtig. Die Augen ihrer Cousine glänzten, und das hatten sie lange nicht mehr. »Die Idee ist gut. Ich weiß gar nicht, warum ich nicht selbst darauf gekommen bin. Hilfst du mir dabei?«

Einen Augenblick zögerte Ellen, doch dann willigte sie ein.

»Morgen Nachmittag?«

Cosima nickte. Am Sonntag hatte sie ohnehin nichts vor. Schwere Schritte waren vor dem Esszimmer zu hören, als im selben Moment auch schon Onkel Theodor in Reitkleidung und Stiefeln hereinkam. Unter seinem Arm klemmten einige Zeitungen, und seine Wangen waren von der kalten Luft draußen gerötet. Er ritt regelmäßig jeden Samstag und Sonntag vor dem Frühstück aus, unabhängig vom Wetter und egal zu welcher Jahreszeit.

»Guten Morgen, ihr beiden!« Er wandte sich zu dem Dienstmädchen. »Bringen Sie mir bitte einen Tee!«

»Sehr wohl, Herr Liefenstein.« Ilse entschwand mit einem Knicks in die Küche.

Ihr Onkel legte die Zeitungen neben seinen Teller und nahm am Kopfende Platz. Cosima fragte sich, ob er wohl den Artikel über Walter Weber gelesen hatte, aber vor Ellen wollte sie das Thema nicht anschneiden.

Ihr Onkel wandte sich ihr mit ernster Miene zu. »Du hast einen Unfall gehabt, Cosima? Ich bin heute früh an den Garagen vorbeigekommen und habe den Schaden an deinem Mercedes gesehen!«

»Ja«, gab sie zu und wich seinem Blick aus.

»Was für ein Unfall?«, entfuhr es Ellen.

»Nur ein Blechschaden. Ich bin etwas zu schnell gefahren und habe einen anderen Wagen gestreift«, gestand Cosima, die gegen ihren Willen wieder den schrecklichen Moment vor Augen hatte, als sie auf den Käfer zugerast war. »Aber keinem von uns ist etwas passiert«, fügte sie eilig hinzu.

Theodor Liefenstein blickte sie streng an. »Aber es hätte dir etwas passieren können, Cosima!«

Plötzlich kam sie sich vor, als wäre sie wieder zehn Jahre alt. »Ich weiß, ich werde vorsichtiger fahren, Onkel Theodor! Ich verspreche es … Wie geht es Mutti, hast du heute schon etwas von ihr gehört? Ich wollte nachher hochgehen«, versuchte sie das Thema zu wechseln.

»Martha sagt, sie habe ihre Medikamente genommen. Es scheint ihr besser zu gehen. Aber sie wird noch schlafen.«

Cosima nickte. Wenn sie ihre dunklen Phasen hatte, schlief ihre Mutter oft bis zum späten Mittag.

Martha kam mit frisch gebackenen Brötchen ins Esszimmer, und während sie ihr Frühstück aßen, unterhielten sie sich über die Spendenveranstaltung des gestrigen Abends. Ellen wollte alles bis ins kleinste Detail wissen.

Als ihre Cousine etwas später aufstand und das Esszimmer verließ, blieb Cosima noch am Tisch sitzen.

Sie beobachtete, wie Onkel Theodor die Zeitung aufschlug. »Wusstest du, dass dieser Mann, der vor zwei Wochen so eine Szene auf dem Ball gemacht hat, verunglückt ist?«

Er hob irritiert den Kopf. »Wer?«

Konnte es sein, dass er den Vorfall vergessen hatte? »Der Mann, der dir den Sekt ins Gesicht geschüttet hat. Es stand in der Zeitung.«

Seine Brauen hoben sich. »Er ist verunglückt?«

»Ja, er ist in den Rhein gestürzt und ertrunken. Der Mann hieß Walter Weber.«

Ihr Onkel starrte sie an. Für einen kurzen Moment glich sein Gesicht einer ausdruckslosen Maske. »Nein, das wusste ich nicht. Wie schrecklich!«, sagte er dann.

7

Leo

Der Weg führte zwischen hohen Tannen entlang. Feiner Schweiß perlte auf seiner Stirn, während seine Füße in gleichmäßigem, federndem Rhythmus auf die Erde auftraten. Der Waldboden war vom Regen der letzten Wochen noch weich, aber die großen Pfützen waren weitestgehend getrocknet. In tiefen Zügen sog er die kalte Luft ein und stieß sie in dunstigen Schwaden wieder aus. Er war ein routinierter Läufer und wechselte seine Strecken gerne ab, lief am Rhein genauso wie im Park oder so wie heute im Wald. Leo mochte die Einsamkeit beim Laufen und das Gefühl, ganz bei sich zu sein. Nirgends konnte er so gut seinen Gedanken nachhängen. Er ging dann gern den vor ihm liegenden Tag durch, überlegte, was er zu tun hatte, und verfasste im inneren Monolog bereits Bruchstücke seines nächsten Artikels. Heute aber geisterten andere Dinge durch seinen Kopf – er musste an Cosima Liefenstein denken.

Der gestrige Abend hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Er hatte Glück gehabt. Den Augenblick, als der Mercedes auf ihn zuschoss, würde er nie vergessen, genauso wenig wie den Leibwächter, der etwas später seine Waffe auf ihn richtete. Leo hatte nicht gezweifelt, dass der Mann es ernst meinte, und seine Arme gehoben.