Die Erbschaft des Herrn de Leon - Anna Enquist - E-Book

Die Erbschaft des Herrn de Leon E-Book

Anna Enquist

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Beschreibung

Als Kind schon fühlte sich Wanda Wiericke in der Musik vollkommen aufgehoben. Später, als gefeierte Konzertpianistin, vermisste sie nichts und niemanden, auch nicht ihren Mann. Jetzt, in einem Dorf in den französischen Pyrenäen, spielt sie nur noch für sich. Und doch ist ihr, als fehlte etwas, als habe ihr geliebter Klavierlehrer Max de Leon, der eines Tages für immer verschwand und ihr einen Koffer voller Noten hinterließ, ein Geheimnis mit sich genommen, das alles erklären könnte …

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Seitenzahl: 284

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Buch

Den wenigen Freunden sagt sie, sie fühle sich gut aufgehoben in ihrer Ehe, aber auf den langen Konzertreisen ohne ihren Mann vermisst sie nichts und niemanden. Wenn Musiker mit ihr einen Konzerterfolg feiern wollen, wehrt sie irritiert ab: »Worüber soll ich mit den Leuten denn reden?« Wirklich zu Hause und sicher fühlt sich die Pianistin Wanda Wiericke nur in der Musik, und manchmal hat sie dabei das Gefühl, er säße neben ihr, der wunderbare Klavierlehrer Herr de Leon. Er hat ihr Talent erkannt und gefördert, und wenn die kleine Wanda spielte, dann war die immer bedrohlicher werdende Welt draußen weit weg: der Krieg, die ängstliche Nervosität des Vaters, die Besetzung der Niederlande, die Sorge der Mutter. Als Herr de Leon von den Deutschen abgeführt wird, bleiben Wanda von diesem Klavierstundenglück lediglich zwei Koffer voller Noten mit seinen Randbemerkungen. Inzwischen lebt Wanda allein in einem südfranzösischen Dorf in den Pyrenäen und spielt nur noch für sich. Und doch ist ihr, als fehlte etwas in ihrem Leben. Etwas, das vielleicht schon mit Herrn de Leon damals verschwunden ist.

Autorin

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Erzählungen und Romane und gehört zu den bekanntesten und angesehensten Autorinnen der Niederlande. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und sind in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinErster Teil
12345678910
Zweiter Teil
11121314151617181920
Dritter Teil
21222324252627282930
Copyright

Erster Teil

1

Der in der Luft baumelnde Flügel zeichnete sich wie ein verbranntes Kotelett gegen die schneebedeckten Bergspitzen ab. Zwischen das schwarzlackierte Holz und die Taue, die das Instrument hielten, war eine graue Möbeldecke gezogen. Langsam und wie ein einarmiger, steifer Riese ließ der gelbe Kran seine Last herunter, bis sie dicht über dem Balkon schwebte und leicht hin- und herschaukelte. Die Taue knarrten leise.

Unten, im Schatten der Häuser, füllte das Fahrgestell des Kranwagens die ganze Breite der ansteigenden Straße aus. Ein Vierkantbalken blockierte die Hinterräder.

Als der Flügel sich nicht mehr bewegte, fingen die Leute wieder an zu reden, Kinder und Hunde tollten umher, stämmige Frauen stellten ihre Einkaufskörbe ab und legten die Köpfe in den Nacken.

Die Möbelpacker waren zu dritt. Einer bediente den Kran, die beiden anderen trugen die massiven Beine des Flügels ins Haus. Ein Rädchen schrammte gegen das ungestrichene Eichenholz der Haustür.

Als einer der Männer wieder herauskam, um den Rollschlitten zu holen, drängten sich die Kinder vor dem Eingang.

Dann flogen die Balkontüren auf, und der zweite Packer stand plötzlich zwischen den blauen Blumen. Er blickte über die Schieferdächer, die hügeligen Wiesen, die mit grauem Stein abgesetzten Terrassen, die Weiden mit den mageren Kühen und den schmalen Silberstreifen des Flusses im Talgrund.

»Ich laß ihn jetzt runter«, rief der, der den Kran bediente.

Auch der Mann mit dem Rollschlitten kam nun auf den Balkon hinaus; mit ausgestreckten Armen reichten die Packer hinauf, um den Flügel zu fassen zu bekommen, und bugsierten ihn dann langsam auf den Schlitten.

Von drinnen stieß jemand die Balkontüren noch weiter auf. Weiße Vorhänge flatterten im Durchzug nach draußen. Die Männer in ihren kornblumenblauen Jacken stemmten sich gegen das Instrument und schoben es über zwei parallel liegende Bretter polternd ins Haus.

Unten juchzten die Kinder.

2

Der Raum, der gerade noch groß genug war, ist zu eng geworden. Es gibt keine Ruhe mehr, das alles durchdringende Ta-dung,Ta-dung wird von einem lauter werdenden Rauschen überspült.

Metall knallt auf Marmor, die Schere auf die Ablage, Schritte hallen, weit entfernt plätschert Wasser in ein Waschbecken, anders als vorher. Stechendes Licht, kalter Wind und warme Hände, und keine Luft, keine Luft.

Mit dem Kopf nach unten hängt das Kind über den gespreizten Beinen der Mutter. Lange dauert der Kampf, sträubt sich das Neugeborene gegen die Schwerkraft, während die Umstehenden den Atem anhalten und gebannt auf das glühende Gesichtchen starren. Auf einmal beginnt das Kind zu schreien.

Die Schwester wäscht es und wickelt es in ein Flanelltuch. Sie legt es in die Arme der Mutter, das Köpfchen liegt in der linken Armbeuge, mit der rechten Hand wischt sich Emma Wiericke das verschwitzte blonde Haar aus dem Gesicht.

Ganz leise hört das Kind das Geräusch: ta-dung, ta-dung. Das kleine Gesicht entspannt sich, und die Augen gehen auf; tiefe graublaue Teiche, sagt Emma später. Das ist mein Kind, meine Tochter, meine Tochter.

Egbert Wiericke hat während der Entbindung draußen auf dem Flur gesessen und abwechselnd auf die vorbeigehenden Leute und auf seine Uhr geschaut. Als die Schwester endlich aus dem Kreißsaal kommt, läßt er die Uhr in die Westentasche gleiten, steht auf, zupft sein Jackett zurecht und folgt ihr schweigend. Der Arzt, den man gerade von seiner Schürze befreit hat, streckt ihm die Hand hin.

Auf einem weißen Metalltischchen liegt – für ihn auf dem Kopf stehend – der Geburtsschein. Vater: Egbert Wiericke, Richter am Obersten Gerichtshof zu Leiden. Mutter: Emma Wiericke, geborene Orlebeke. Geburtsdatum des Kindes: 18. April 1933. Uhrzeit: 9.15 Uhr. Das Feld hinter Name des Kindes ist noch frei.

»Sie können jetzt ruhig zu Ihrer Frau gehen, sie ist gewaschen«, sagt die Schwester, »dritte Tür rechts.« Er dreht sich um, verwirrt, geblendet von dem grellen Licht.

Im angegebenen Zimmer sitzt Emma aufrecht im Bett, das Kind an der Brust. Egbert beugt sich über das Bett und küßt seine Frau auf die Stirn. Er bewegt seine gepflegte, schlanke Hand zum Köpfchen des Kindes hin, als wollte er ihm über die schwarzen Härchen streicheln. Sein Gesicht mit der Goldrandbrille ist nur wenige Zentimeter von Emmas Mund entfernt. Sie küßt ihn aufs Ohr.

»Das hat vielleicht Wollhaar, was!« ruft die Schwester, die die Waschschüsseln ausleert, über die Waschbeckengeräusche hinweg. »Fällt aber bald aus, und dann kommt erst das richtige Haar. Da haben Sie dann ein paar Tage lang ein kahles Kind.«

Emma schaut das Kind an, Egbert schaut Emma an. Das Kind runzelt die Stirn und bewegt die kleinen Hände, an denen die Finger mit den runzligen Gliedern und den muschelfarbenen Nägeln viel zu groß wirken.

Ein Knirschen und Knacken bei jeder Bewegung. Ein intensives Mißvergnügen tief drinnen, im Kern. Ein Mangelgefühl, das den Mund weit aufzieht, ein Verlangen, das hinaus muß. Erschrecken. Stille. Dann wieder die schmerzliche Leere. Brüllen, mit den Händen durch die Luft schlagen. Den Mund um das Weiche und Warme schließen, hämmern und schlagen und ziehen und saugen, bis die Leere ausgefüllt ist.

Egbert putzt mit einem großen Taschentuch seine Brille, küßt seine Frau aufs Haar und geht leise aus dem Zimmer.

3

Bouw Kraggenburg war müde. Die Sitzung in dem klimatisierten Büropalast hatte den ganzen warmen Sommertag lang gedauert. Sein Mund war trocken, und es prickelte ihn in der Nase. Als sich um halb sieben die automatische Eingangstür hinter ihm schloß, roch er den schwachen Fäulnisgestank, der über dem Parkplatz hing, und wandte sein Gesicht der Sonne zu. Die schwere Tasche stellte er neben sich auf den Beifahrersitz und fuhr statt über die Autobahn auf der alten Landstraße nach Hause, wartete geduldig vor zahllosen Ampeln und zuckelte durch Voorburg und Leidschendam nach Voorschoten, immer mit Blick auf das Weideland und das Wasser des Vliet.

Im Garten hinterm Haus war alles mächtig ins Kraut geschossen, der Rasen zu trocken. Bouw öffnete die Terrassentüren, befreite sich von den Schuhen, ohne die Schnürsenkel aufzumachen, und holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Ein Fingerbreit Whisky. Drei Eiswürfel. Die Zeitung.

Zwei Wochen allein zu Hause. Wäre er zwanzig Jahre jünger gewesen, hätte er die Abende mit Verabredungen zugebracht, die er Johanna gegenüber kaum als Geschäftsreisen hätte tarnen können, hätte all das gemacht, was sie, wäre sie nicht auf Dienstreise gewesen, sicher verletzt hätte. Einschließlich zuviel Alkohol und voller Aschenbecher im Schlafzimmer. Jetzt, da er die Sechzig überschritten hatte, saß er ausgepumpt und doch zufrieden auf der Terrasse, war froh, daß er keinen Notdienst mehr hatte, nicht mehr in Bereitschaft sein mußte. Es lebe die Beamtenlaufbahn; lieber drei dicke Berichte lesen, als mitten in der Nacht ins Auto steigen, weil jemand sich vor Schmerzen krümmte oder ein Kind zu hohes Fieber hatte. Johanna dagegen arbeitete noch genauso hart wie früher und reiste gerade für ihren Pharmakonzern nach Kopenhagen und Stockholm, um seine Arztkollegen von der Überlegenheit der neusten Antidepressiva zu überzeugen, Pillen, die sie selber nie brauchen und nehmen würde.

Kein Lüftchen regte sich. Der Apfelbaum spendete wohltuenden Schatten. Bouw nahm den ersten Schluck von seinem Whisky. Er amüsierte sich wieder einmal über das Firmenzeichen der zwei ineinander verschlungenen Hände mit der Unterschrift »De Leidsche Courant reicht die helfende Hand« im Kopf der Zeitung und begann träge die Seiten umzublättern. Ein Foto der mit Teichrosen übersäten Rapenburg-Gracht. Reptilienschau im Botanischen Garten. Der Preis von Brechbohnen auf dem Gemüsegroßmarkt. Kunst. Musiktips. Er faltete die Zeitung in der Mitte zusammen und begann zu lesen:

HÖHEPUNKTE DER NIEDERLÄNDISCHEN KLAVIERKUNST AUF CD

Die Landschaft der holländischen Klavierkunst hat kaum hohe Berge zu verzeichnen. In jeder Generation hat es bestenfalls einen Virtuosen gegeben, dem der internationale Durchbruch gelang, doch tonangebend waren die Niederlande auf diesem Gebiet nie. Interessanter als die wenigen herausragenden Ausnahmeerscheinungen im Mainstream sind jedoch Pianisten gewesen, die – wie Gold, Biermans und Laagland – zwar selten über unsere Grenzen hinaus bekannt wurden, aber durch eigenwillige Interpretationen zu begeistern wußten. Zu dieser Gruppe gehört zweifellos auch Wanda Wiericke. Im Gegensatz zu ihren Kollegen wurde sie in den siebziger Jahren auch international zu den absoluten Topvirtuosen gerechnet. Der ältere Musikliebhaber wird ihr Repertoire für Soloklavier, von Classic Records auf Schallplatte gebannt, sicher noch im Schrank haben. Wiericke wurde vor allem mit ihrer Interpretation der Goldberg-Variationen berühmt, und keinem gelang es wie ihr, in fragmentierten Kompositionen wie den Études tableaux von Rachmaninow und, ihr größtes Verdienst, den Préludes von Chopin die große Linie beizubehalten.

CR, wo sie unter Vertrag stand, plante eine CD mit diesen Préludes und dem Wohltemperierten Klavier von Bach. Leider kam es nicht mehr dazu, da Wanda Wiericke Anfang der achtziger Jahre krankheitsbedingt gezwungen war, sich aus dem Musikleben zurückzuziehen.

Die Wiericke-Edition, die nun auf CD erscheint, wurde aus analogen Schallplattenaufnahmen zusammengestellt. Sie läßt uns eine leidenschaftliche Pianistin hören, die ihr Temperament zu zügeln versteht und sich durch eine perfekte, immer im Dienste der Musik stehende Technik auszeichnet. Im Laufe der kommenden Jahre wird CR insgesamt zehn CDs mit den besten Einspielungen dieser faszinierenden Künstlerin auf den Markt bringen. Sehr empfehlenswert!

Wanda. Bouw legte die Zeitung auf den Tisch. Mußte man über das Wohl und Wehe seiner geschiedenen Ehefrau auf dem laufenden sein? Lieber nicht, vielleicht. Er hatte ihre Musik seither nicht mehr gehört, er konnte es nicht ertragen. Wanda. Wie hieß dieses Schlitzohr, dieser Agent von ihr? Den würde er morgen anrufen. War sie immer noch in Amerika? Hatte sie wieder geheiratet?

Er stand auf und reckte sich. Es ging bereits auf acht Uhr zu, und dennoch war der Himmel so gleißend blau, daß seine Augen plötzlich in Tränen schwammen.

4

Die Fußbodenfliesen der Diele sind glatt, schwarz und weiß. Sie riechen verschieden, und mit der Zunge kann das Kind fühlen, wo eine schwarze Fliese an eine weiße grenzt. Morgens wischt Stina den Dielenboden mit Seifenwasser und schrubbt mit einem Stück von einer alten Decke über die Fliesen, bis sie glänzen. Stina kniet. Wanda krabbelt neben ihr auf dem Boden.

»Na komm«, sagt Stina. Wanda darf sich auf ihren breiten Rücken setzen: Stina, das Pferd. Die Sonne scheint durch das farbige Glas über der Tür und wirft wässrige Flecken auf den Boden. Sie wandern von einer Fliese zur nächsten, klettern am schwarzen Schirmständer empor, die Garderobe hinauf, verfärben Wandas Mäntelchen und, weiter oben, die Mäntel der Mutter.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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