Die Seilspringerin - Anna Enquist - E-Book

Die Seilspringerin E-Book

Anna Enquist

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von der Liebe zur Musik, einem unstillbaren Kinderwunsch und dem Gefühl, sich entscheiden zu müssen

Alice ist auf der Höhe ihres Schaffens. Vom Königlichen Symphonieorchester in Amsterdam erhält sie den Auftrag, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums ein Stück zu komponieren. Dass sie im Alltag ihr Geld mit dem Schreiben platter Werbemelodien verdient, weiß dank Pseudonym niemand, dennoch hinterlässt dieser Umstand tiefe Kratzer in ihrem Selbstbild. Auch ihre schwierige Kindheit und die Erinnerung an ihre ersten Beziehungen lasten schwer. Und dann drängt ihr Privatleben aus einem weiteren Grund in die Arbeit am Stück: Alice wird bald vierzig, und der Wunsch, Mutter zu werden, mit jedem Tag lauter. Doch die Sorge, dass ihre Musik unter einem Kind leiden könnte, lässt sie nicht los …

»Die Seilspringerin« ist ein Roman über Kunst und Liebe, Schaffen und Mutterschaft, und erzählt ein menschliches Leben in seiner ganzen Zerbrechlichkeit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 335

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Alice ist auf der Höhe ihres Schaffens. Vom Königlichen Symphonieorchester in Amsterdam erhält sie den Auftrag, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums ein Stück zu komponieren. Dass sie im Alltag ihr Geld mit dem Schreiben platter Werbemelodien verdient, weiß dank Pseudonym niemand, dennoch hinterlässt dieser Umstand tiefe Kratzer in ihrem Selbstbild. Auch ihre schwierige Kindheit und die Erinnerung an ihre ersten Beziehungen lasten schwer. Und dann drängt ihr Privatleben aus einem weiteren Grund in die Arbeit am Stück: Alice wird bald vierzig, und der Wunsch, Mutter zu werden, mit jedem Tag lauter. Doch die Sorge, dass ihre Musik unter einem Kind leiden könnte, lässt sie nicht los …

Autorin

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren. Sie wuchs in der niederländischen Stadt Delft auf, studierte Klavierspiel am Königlichen Konservatorium in Den Haag, anschließend Klinische Psychologie in Leiden und arbeitete als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Anna Enquist zählt neben Margriet de Moor und Harry Mulisch zu den bedeutendsten niederländischen Autoren der Gegenwart. Ihre Werke wurden in 15 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet. Anna Enquist lebt in Amsterdam.

Hanni Ehlers studierte Niederländisch, Englisch und Spanisch am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg und ist die Übersetzerin von u. a. Joke van Leeuwen, Connie Palmen und Leon de Winter.

Anna Enquist

Die Seilspringerin

Roman

Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers

Luchterhand

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Sloop« bei Uitgeverij De Arbeiderspers, Amsterdam.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Verlag dankt dem Nederlands Letterenfonds für die Förderung der Übersetzung.

Copyright © der Originalausgabe 2021 Anna Enquist

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 

Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

unter Verwendung einer Illustration von © Ruth Botzenhardt

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29811-1V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

1

Die Abrisskugel ist mit einer schweren Gliederkette an einem alten Autoreifen befestigt, der seinerseits mit einer ebensolchen Kette an dem hohen Kran hängt. Warum? Spannkraft, Gelenkigkeit, Schwenkmöglichkeiten? An dem Gerüst, das an der mächtigen Mauer aus dunklem Backstein steht, ist ein Schild festgeschraubt: »J. H. Sluyk, Abrissarbeiten«. Unten in der Straße versammeln sich Zuschauer: Männer in Regenmänteln, eine Mutter, die einen Kinderwagen schiebt, Hausfrauen mit Einkaufstaschen, die sie zu ihren Füßen auf den Boden stellen. Autos halten an. Ein Mann mit einem geschniegelten Herrenrad bleibt mit dem Fuß auf der Bordsteinkante stehen. Seine Aktentasche hängt mit der Verschlussklappe über der Stange. In der Höhe zittert die Abrisskugel. Der Maschinist betätigt in seiner Glaskabine einen Hebel.

Zwei Polizeiwagen fahren schleunig in die Straße hinein. Die aussteigenden Männer wenden sich mit Gesten, mit geöffneten Mündern an die versammelte Menge. Sie beginnen, einen weiten Halbkreis um die Mauer abzusperren, mit rot-weißem Flatterband. Halbherzig, ja unwillig treten die gaffenden Menschen einen Schritt zurück, doch nach Hause gehen sie nicht. Es kommen immer mehr, sie drängen sich zusammen und halten die Augen auf die Kugel gerichtet, auf die Mauer. Dort ist ein Mädchen, das seilspringt. Man sieht ihren Rücken, das volle Haar. Sie wendet sich von den Zuschauern ab und kommt zugleich auf sie zu, denn sie ist nicht flach abgebildet wie auf einem Fresko, sondern hat Volumen, sie ist eine Bildhauerarbeit, befestigt an dieser fünfundzwanzig Meter hohen Wand. Sie ist riesengroß, und sie ist klein, um die zehn Jahre erst. Sehr konzentriert springt sie, ihre Schuhsohlen sind in Höhe ihres Rocksaums sichtbar, aber ihre Beine, in graueren Tönen, stehen gleichzeitig auf dem Boden.

Die Abrisskugel beginnt, in immer weiter werdenden Bewegungen hin und her zu schwingen, beinahe berührt sie die Mauer, doch noch nicht ganz, beim nächsten Mal vielleicht? Es scheint, als hielten die Zuschauer die Luft an, Kopf im Nacken, Kinn nach oben. Dann stößt die Kugel mit Wucht gegen die rechte Schulter des Kindes. Die Menschen in der Straße schlagen die Hand vor den Mund, vor die Augen. Ein paar Ziegel fallen schon herab, und die Polizisten schieben die Zuschauer bis weit hinter das Band zurück. Der Maschinist, hinter seiner Schalttafel, blickt in regelmäßigen Abständen zur Abrisskugel auf. Kopf, Hände, das einen Bogen beschreibende Springseil. Das Mädchen ist wehrlos. Sie lässt sich angaffen und abreißen. Jetzt stürzen Kaskaden von zerbrochenen Ziegeln herab. Ihr Rock, ihre Füße. Es wird hell in der dunklen Straße. Geräuschlos und schnell ist die Mauer gefallen, und die Menschen starren in den zutage tretenden Himmel. Männer mit Schuttschiebern beginnen, die Trümmerteile zusammenzukehren. Die Frau mit dem Baby dreht sich um, der Mann mit der Aktentasche radelt davon, und die Autos fahren aus der Straße hinaus. Dann wird das Bild schwarz.

Wie versteinert bleibt sie am Computer sitzen. Ich könnte das mit Musik untermalen, denkt sie. Mit so einer quasi munteren Sowjetmelodie, freudige Arbeiter, und darunter eine fast verborgene, chromatisch absteigende Passacaglialinie. Für den Kenner. Sie ist schon damit befasst, der Kopf arbeitet, doch der Körper quengelt noch. Was habe ich gesehen, was nicht? Das Gesicht des Mädchens. Für immer verloren. Aber ja, brennende Augen, Tränen. Arme und Beine so schwer, dass Aufstehen nicht geht. Am Ende des Films, wenn eine Pfütze Licht auf die bis dahin schwarze Szenerie fällt – eine triumphierende Kadenz, Es-Dur? Die Gedanken an die Komposition helfen nicht. Kummer hat Besitz von ihr ergriffen.

Na ja, es ist auch nicht schön, ein Kunstwerk zu zerstören. Aber darum geht es natürlich nicht. Andere, verschwiegene Zerstörungen. Geheimnisse, die nicht gelöst werden. Reiß dich zusammen, tu etwas. Den Lebenslauf für diese CD schreiben, das hatte ich vor, ehe ich mich in diesen Stummfilm verirrte. Ich bin schon viel zu spät dran damit. Schließen, neue Datei öffnen, tippen. Haare aus dem Gesicht streichen.

2

»Alice Augustus ist Komponistin. Sie schrieb Kammermusik und Werke für Sinfonieorchester. Ihr Trompetenkonzert wird regelmäßig im In- und Ausland aufgeführt. Für ihr Oratorium Die Witwer erhielt sie im vergangenen Jahr den renommierten Großen Kompositionspreis. AA arbeitet als Dozentin am städtischen Konservatorium, mit einer lächerlich geringen Stundenzahl, und findet den Job grässlich, weil sie meist nicht weiß, was sie diesen Kindern erzählen soll. AA verdient heimlich haufenweise Geld, weil sie sehr kurze Musikstückchen für Radio- und Fernsehwerbung schreibt. Ein verlogenes Handwerk – man gewöhnt den Hörer in ein paar Sekunden an eine Klanglandschaft und durchkreuzt dann die entstandene Erwartung mit einem überraschenden Eingriff. Keine Kunst, nichts dabei, und doch Jahr für Jahr ein überwältigender Betrag an Tantiemen. AA betrachtet das als ein Geheimnis, das – wenn es bekannt würde – ihrer Reputation als Tonkünstlerin nicht guttäte. AA ist mit Mark van der Meulen verheiratet, der als Finanzjurist bei einem großen Büro auch schon Geld wie Heu einfährt. Von Musik versteht er nichts, aber das stört AA nicht. Er bewundert dagegen ihre Fähigkeit, mit den Werbejingles Geld zu verdienen. Er kann sie auch nachsingen. Tut er oft. AA versteht von seiner Arbeit nichts. Sie interessiert sie rein gar nicht, es ist eine ferne Welt, mit der sie nichts zu tun haben will. Die Ehe ist kinderlos.«

Sie reckt sich. Das Verfassen des Pseudolebenslaufs erleichtert sie, sie fühlt sich weniger bewegungslos, obwohl ihre Stimmung noch bedrückt ist.

»AA wuchs als einziges Kind in einer unterkühlten Familie auf«, fährt sie fort. »Ausgezeichnete schulische Leistungen in den falschen Fächern, früh auffallende musikalische Begabung auf dem falschen Gebiet. Auf dem Küchenfußboden aus schwarz-weiß karierten Fliesen stellte sie als Kleinkind eine Schlagzeugbatterie aus umgedrehten Kochtöpfen zusammen, die sie mit bewundernswertem Durchhaltevermögen aus den Küchenschränken herangeschleppt hatte, ermuntert von Mavis, der Haushaltshilfe, die ihr Kochlöffel und Schaumkellen reichte. Den Butterpinsel, den Seifenklopfer.«

Ich ufere aber schon sehr aus. Die Vorstellung ist verlockend, sie kann die Vorfreude aufs Trommeln beinahe fühlen. Das Losbrechen in rhythmische Tonfolgen, das Abwechseln der verschiedenen Klänge – großer Topf, Stieltopf, das Rasseln des Klopfers – purer Genuss, pure Konzentration. Dann das Auffliegen der Küchentür und das verstörte Gesicht der Mutter. Aufhören, aufräumen, Mavis hat ja wohl was Besseres zu tun, und du auch. Aber Mavis hatte doch gelacht und getanzt zu ihrer Musik, oder? Jetzt bindet sie sich beschämt eine Schürze um. Alice sucht ihren Blick – kein Lächeln, kein Augenzwinkern. Irgendetwas ist völlig falsch. Sie, Alice, ist völlig falsch.

»Der Komponist, den AA am meisten bewundert, ist Joseph Haydn. Nicht nur wegen seiner unermüdlichen Produktivität, seines Vermögens, kommerzielle und individuelle Tätigkeiten zu vereinbaren, seines Trompetenkonzerts …« Auch wegen etwas anderem also. Ihr Telefon klingelt. Mark, liest sie auf dem Display. Seine Stimme öffnet ein Türchen zum Alltag.

»Bist du noch bei der Arbeit?«, fragt er. »Hör mal, ich habe einen Kunden an Land gezogen, er bringt sein ganzes Hab und Gut bei uns unter. Ich werde der Manager seines Dossiers. Er hat gerade unterzeichnet. Ich muss heute Abend mit ihm essen gehen, um das zu feiern.«

»Okay«, sagt sie, »prima, gratuliere. Toll für dich.«

Unterdessen rasen Gedanken durch ihren Kopf: Wir wollten doch, du weißt doch, dass heute, nicht trinken, wir haben eine Vereinbarung, wie kannst du das vergessen? Ja, er hat ein eigenes Leben, wie auch sie ein gesondertes Dasein hat, aber woraus besteht dann das gemeinsame Leben? Doch so genau, so ausformuliert kann sie jetzt gar nicht denken. Das Gefühl, das die Abrissreportage in ihr wachgerufen hat, überfällt sie wieder, und sie sagt nichts, fragt nichts, lässt die kleinen Fünkchen Wut ausgehen. Mark wird bei einem Whisky mit seinem neuen Kunden aufgekratzt und zufrieden sein, und sie muss den Blödsinn ihres idiotischen Lebenslaufs löschen.

»AA wartet schon seit Jahren auf einen großen Auftrag vom Königlichen Sinfonieorchester oder von der Oper. Die Witwer eignet sich gut für eine Theaterbearbeitung, davon ist sie überzeugt. Ein abstraktes Orchesterstück wäre noch schöner. Pauken, Trompeten. Vermutlich aber kann sie noch zwanzig Jahre warten, bis so ein Auftrag an eine Frau geht.«

Nicht nörgeln jetzt. Den Unsinn löschen und raus, unter die Menschen. Es ist nicht gut, wenn ich so viel mit mir allein bin. Ich kann verschwinden, das ist meine Zuflucht und meine Geheimwaffe. Aber gefährlich ist es schon. Sie konnte es schon als Kind: Völlig in einer fantasierten Situation aufgehen, so stark, dass für die Realität keine Aufmerksamkeit mehr verfügbar war. So wie mit der tanzenden Mavis bei den umgedrehten Töpfen auf dem Küchenfußboden. In die Szenerie war sie ganz und gar abgetaucht, und es kostete sie geraume Zeit, ihre hereinstürmende Mutter, mit dem missbilligenden Blick, in ihr Bewusstsein einzulassen. Kinderfantasie, sollte man meinen, legt sich schon auf die Dauer. Nicht bei ihr, sie kann es noch immer. Das kommt ihr zupass, wenn sie eine Komposition entwirft, sie im Kopf überblickt, sämtliche Details bedenkt, ohne das Ganze loszulassen. Da ist sie mittendrin, und außerhalb davon ist nichts. Seit sie weiß, dass das nicht jeder kann, betrachtet sie es als eine Gabe, als ein beunruhigendes Talent.

3

Sie löscht alles bis auf die ersten drei Sätze, zieht ihre Stiefel an und geht ins Freie. Bewölkter Himmel, feuchtes Wetter, aber nicht kalt. Während sie so läuft, weiß sie auf einmal, dass sie bei ihrer Freundin Svea vorbeischauen wird. Ja, gute Idee, das ist fein. Svea ist zwar Kinderchampion – fünf Kinder innerhalb von zehn Jahren, von denen das jüngste erst vier Monate alt ist –, aber auch die liebste Freundin, noch aus der Studienzeit.

Vielleicht kann ich zu ihr etwas sagen, denkt sie, etwas über Enttäuschung, über heute Abend, darüber, wie eigenartig und wackelig ich mich fühle. Wenn ihr Mann da ist, halte ich den Mund. Den geht das nichts an. Oder würde Svea ihm ohnehin alles erzählen, sobald sie sich wieder getrollt hatte?

Das Haus von Svea und Sven – was für ein komisches Paar eigentlich, mit diesen Namen wie aus einem skandinavischen Kinderbuch – sieht schon von draußen warm und gemütlich aus. Gelbliches Licht fällt in den Garten, schwarze Baumstämme beschützen das frei stehende Gebäude. Sie klingelt voller Erwartung und ist froh, als sie Sveas freundliches Gesicht sieht. Baby auf dem Arm mit dem Kopf an ihrem Hals und schlaff gegen ihren Bauch baumelnden Beinchen, ein etwa zweijähriges Mädchen an ihrem Hosenbein festgeklammert. Macht nichts. Alice ist willkommen, zieht die Stiefel aus und läuft hinter der kleinen Gesellschaft her in die Küche. Was Alkoholisches, denkt sie, aber das geht nicht. Allein schon dieses Stillen. Dann eben Tee, diese seelenlose Plörre, mit der man alles überschwemmen kann. Nicht so kritisch, du bist bei deiner Freundin, und die sieht dich gern, es ist hier behaglich, das macht alles nichts. In einer Ecke der Küche beginnt ein Baby zu kreischen. Sie ist kurz verwirrt – das Kind auf Sveas Arm scheint doch zu schlafen.

»Von meiner Schwester, knapp einen Monat jünger als meins.« Svea hat eine Nuckelflasche aus dem Kühlschrank genommen und stellt sie in einen Topf heißes Wasser. »Bring es vorbei, hab ich zu ihr gesagt, ich bin sowieso zu Hause, brauch erst in zwei Monaten wieder anzufangen. Und dann übernimmt Sven, der kriegt ein halbes Jahr Elternzeit. Na ja, kriegt, er nimmt sie. Schule, hm, das ist für uns jetzt ein Segen.«

Das Baby auf ihrem Arm wird wach und beginnt mitzuschreien. Verschiedene Tonhöhen, sie passen sich einander nicht an. Noch nicht.

»Fühl mal, ob das Ding warm genug ist? Gut schütteln und dann einen Tropfen auf deinen Handrücken.« Svea legt ihr Kind kurz auf die Küchenbank, um aus der Reisewiege, die in die Ecke gequetscht ist, das kreischende Baby hochzunehmen. Das landet auf Alices Schoß. Die Milch hat eine Spur weißer Tränen auf ihrer Hand zurückgelassen. Lau. Gut. Sie bettet das Kind auf ihren linken Arm und blickt in das böse Gesichtchen. So viel Unlust, so viel Anstrengung für ein Problem, das einfach gelöst wird, stets wieder. Den Umgang mit Zeit muss man lernen. Es ist schwer. Es braucht Jahre. Es ist wahrscheinlich nie abgeschlossen.

Nun saugt das Baby an dem Plastiknuckel. Zuerst sehr gierig, mit geschlossenen Augen, aber dann scheint es Vertrauen zu fassen, trinkt mäßiger und schaut seine Fütterin an. Unwillkürlich lächelt Alice. Zu ihrem Schrecken erwidert es das Lächeln und verliert dadurch den Kontakt zur Flasche. Sie spricht ihm leise zu: Nichts passiert, hier, du hast noch eine halbe Flasche vor dir. Svea sitzt ihr gegenüber am Küchentisch und stillt ihr eigenes Baby aus einer prallen Brust.

»Es steht dir«, sagt sie. »Echt, das lässt sich nicht verleugnen, du könntest eine Mutter sein, wenn du willst.«

Ist doch egal, denkt Alice, was ich will. Es wird passieren. Oder nicht. Lass einfach los. Eine angenehme Trägheit hat Besitz von ihr ergriffen. Sie verliert sich in dem Kontakt zu dem fremden Baby in ihren Armen. Die Flasche ist fast leer, das Bäuchlein unter ihrer linken Hand fühlt sich allmählich gespannter an, das Kind fixiert sie weiterhin mit seinen blauen Augen. Svea verlagert ihr Kind auf die andere Seite und fuhrwerkt mit einem Lappen herum, bis sie ihre Position findet. Die Stuhlbeine schrappen laut über den Fußboden. Alices zeitweises Baby erschrickt darüber und verzieht sein Mündchen. Sch, denkt sie, gleich kehrt wieder Ruhe ein, bestimmt. Auf einmal merkt sie, dass sie etwas für das Baby summt, etwas Trauriges, aber nicht zu sehr. Was?

Natürlich, Haydn. Der mittlere Teil aus der Klaviersonate in F-Dur. Ein ungreifbares Lied, der Mann war genial. So traurig, so bedeckt verzweifelt, und doch eine disziplinierte Liedform, nichts daran auszusetzen. All die Wiederholungen dieses absteigenden Themas, alles eine Spur anders, alles schlimm. Und mündend in Ergebenheit. Davon kann ich was lernen, wenn ich es wollte. Aber das ist nicht der Fall, ich werde mich nicht ergeben. Wenn man sich ergibt, ist man doch verloren, oder?

Sie ist davon überzeugt, dass man bekommen kann, was man wirklich will, was man benötigt – wenn der Wunsch nur stark genug ist und man bereit ist zu warten. Als sie etwa dreizehn war, besuchte sie ein Konzert (mit wem? Nachbarsmädchen Els. Wie kamen sie an Karten?), bei dem ein neues Stück von Duk van Dijk, dem berühmtesten zeitgenössischen Komponisten, aufgeführt wurde. Sie sah ihn am Rand der zweiten Reihe sitzen, keine Partitur auf dem Schoß, sondern konzentriert auf das Orchester spähend. Im Anschluss winkte der Dirigent ihm, aufs Podium zu kommen. Das tat er, ohne Geziere und Triumph, sondern freundlich und offenkundig beglückt über die Aufführung. Sorgfältig lief er alle Musiker ab, die ein Solo gespielt hatten, um ihnen die Hand zu geben. Zu jedem sagte er etwas, sah sie. Ein netter Mann, der so ein schönes Stück schreibt und nicht vor Stolz und Eitelkeit strahlt, sondern einfach dankbar ist. Wenn man mit so einem Mann, mit diesem Mann zusammen wäre; wenn er am Sonntagmorgen Spiegeleier für dich braten würde, während du zufrieden in seinem Bett liegst – das muss Glück sein. Das will ich.

Denkt man so, wenn man erst dreizehn ist? Sie schon. Ein starker Wunsch. Und Aufschubtoleranz. Etwa zehn Jahre später wurde die Fantasie Wirklichkeit. Van Dijk war Leiter der Fachgruppe Komposition und begann, sich für sie zu interessieren. Ließ sich von ihr fesseln. Wenn man nur will, denkt sie jetzt, wenn man nur warten kann. Langsam kommt sie tief aus ihren Gedanken zurück an die Oberfläche, in die Küche. Baby. Svea. Die etwas gefragt hat, jetzt aber mit dem Rücken zu Alice steht und ihr Kind wickelt. Wenn ich, denkt Alice, wenn ich sie wäre? Der kleine Junge auf ihrem Schoß ist eingeschlafen. Kein Gedanke daran, dass ich ihm gleich die Windel wechsle. Einfach sitzen bleiben. Missgunst ist zu nichts gut. Sie hat keinen Sinn. Energieverschwendung. Hör auf damit. Jetzt.

Haydn, der hatte genug Grund, missgünstig zu sein. Das begabte jüngere Brüderchen, das ihn aus dem renommierten Chor des Wiener Stephansdom vertrieb. Komponistenkollegen, die wohl eine solide Ausbildung erhielten und sich nicht wie Bedienstete von einem drittrangigen Dozenten malträtieren zu lassen brauchten, der als Gegenleistung verlangte, dass seine Schuhe geputzt und seine dreckigen Perücken gebürstet wurden. Haydn hätte sich vom Erfolg aller, die es leichter hatten als er, mundtot machen lassen können. Er tat es nicht, denn er hatte einen Wunsch, der stärker war als das verzehrende Feuer der Missgunst.

4

Als sie am späten Abend nach Hause geht, denkt sie noch immer an die Lektionen, die sie von Haydn gelernt hat. Nicht aufgeben, auch wenn dich niemand ermutigt. Im Gegenteil, sie machen schlecht, was du so inbrünstig wünschst.

»Elsje bekommt Flötenunterricht«, sagte Alices Mutter. »An der Musikschule. Ist das nicht etwas für dich?« Alice durfte gar nicht an den gefallsüchtigen Klang der Flöte denken. Auch nicht an die Faltenröckchen der Flötenspielerinnen und ihre Schuhe mit den kleinen Münzen. Aber »Musikschule«? Was mochte dort außer dem Blasen seichter Liedchen noch passieren?

Sie durfte einmal ihre Freundin begleiten, das hielt Mutter für eine gute Idee. Gemeinsam erstiegen sie die hohe Eingangstreppe und gingen durch die schwere Tür. Einen Augenblick blieben sie in dem Gang mit Marmorfliesen stehen. Von allen Seiten drang Musik zu ihnen, hinter jeder Tür wurde gespielt. Sie lief hinter Els her zum Zimmer der Flötenlehrerin. Saß dann still in einer Ecke, während ihre Freundin zu tun versuchte, was die Lehrerin sagte. Ganz leise hörte sie andere Klänge, ein Klavier, etwas anderes, etwas Rhythmisches. »Muss mal kurz zur Toilette«, sagte sie. Aufstehen, zur Tür hinaus, die Klänge waren jetzt weniger gedämpft, und sie ging auf die Suche nach dem Ursprung. Trommeln! Sie legte das Ohr an eine Tür und entdeckte, dass es Trommeln gab, auf denen man ein Lied spielen konnte, mit verschiedenen Tönen. Sie konnte sich nicht zurückhalten und öffnete die Tür vorsichtig einen Spaltbreit. Nach einer Weile verstummte das Lied, und sie hörte eine Männerstimme.

»Komm ruhig herein«, sagte er. »Gefällt es dir?« Sie nickte und betrachtete sprachlos die riesigen Halbkugeln, zwischen denen er saß. Der Mann lachte, er hatte lange Haare und einen Schnurrbart. Er war mager. Mit hochgekrempelten Ärmeln schwenkte er seine Stöcke durch die Luft. Er erklärte ihr, was sie sah: Pauken. »Das edelste Schlagzeug«, sagte er. Da konnte Alice auf einmal reden, und sie fragte, ob man das auch hier lernen könne, erzählte, dass ihre Mutter nichts davon wissen wolle, dass Mädchen Geige oder Flöte spielen müssten, aber dass sie das nicht leiden könne. Der Paukenmann spielte unterdessen leise einen Rhythmus auf ein paar kleinen Trommeln, die in einer Ecke standen. Er gab Alice zwei Schlägel mit schönen Köpfen aus gespanntem Baumwollfaden. Sie spielten gemeinsam, sie wechselten Krach und Stille ab und kamen lachend zu einem Abschluss. Vielleicht könne sie mit Klavierunterricht anfangen, dachte der Mann, ein Klavier sei auch ein Schlaginstrument, mit all den Hämmerchen, die gegen die Saiten schlagen. Und man lerne Noten lesen, Rhythmen notieren, lauter nützliche Dinge. Nach einer Weile, wenn es gut laufe, nehme man dann Schlagzeug hinzu.

»Ich muss zurück zum Flötenunterricht«, sagte Alice. »Vielleicht sind sie schon fertig.« Sie schnellte zur Tür hinaus, ohne sich bei dem mageren Mann zu bedanken. Sie hatte zu viele neue Dinge im Kopf. Das hieß nicht, dass sie nicht dankbar war. Der Paukenspieler hatte ihr auch von Haydn erzählt, der als kleiner Junge die Pauken gehört und gesehen und keine Ruhe hatte, ehe er sich selbst so etwas bauen konnte. Eine Kuhhaut über einem Waschbottich, eine Decke über einem leeren Schränkchen? Das Kind schleppte die schweren Sachen, probierte sein improvisiertes Instrumentarium mit allerlei Schlagwerkzeug aus, doch es gelang ihm nicht, Klänge herauszubekommen. »Spannung«, sagte der magere Mann, »das ist das Geheimnis. Die Häute müssen gespannt sein, siehst du, das machst du hiermit, mit diesen Schrauben. Das wusste Haydn noch nicht. Er war sechs Jahre alt. Ich habe irgendwo gelesen, dass er schon genau die richtigen Bewegungen nachmachen konnte. Und er merkte sich alles. Sehr viel später schrieb er seine Sinfonie mit dem Paukenschlag. Die müsstest du mal hören.«

~

Fast zu Hause, aber in Gedanken noch bei diesem Abend und nicht bei dem, was sie erwartet, wenn sie durch die Tür ist. Warum gelingt es nicht mehr, sich mit Svea allein zu verabreden, so wie früher? Aber was erwartet sie denn eigentlich von so einer Verabredung, was würde anders laufen als bei dem Treffen von vorhin? Aufmerksamkeit für mich, dass sie fragt, wie es mir geht, was ich denke, was ich schreibe. Ist es das? Will ich einfach Zuspruch? Ich brauche doch keinen Beifall, um rührig zu bleiben? Vielleicht. Freundschaft bedeutet auch, dass man sich zu erkennen gibt, zu erzählen versucht, was man wirklich empfindet, was wichtig für einen ist. Gegenseitig. Ich über mein Leben und Svea über das ihre. Dass sie wirklich sagt, wie es ihr geht, und mir nicht bloß ihre Lebensweise aufdrängt. Hat sie das getan? Habe ich es nur so empfunden? Früher hatten wir schon echte Gespräche. Echt, wieso echt? Sie hat mir heute Abend vorgeführt, wie ihr Leben jetzt ist, hat mir gezeigt, wie zufrieden sie mit all den Kindern ist, mit diesem Saustall, diesem Lärm. Sie saß strahlend und lachend mittendrin. Sven war mit einem Tross lärmender Kinder hinter sich nach Hause gekommen. Sie hatten alle zusammen an dem riesigen Tisch gegessen, die Babys schliefen trotz des aufgeregten Geplappers. Sie hatte gesehen, wie ihre Freundin die Erzählungen genoss, die Faxen, die die Kinder miteinander anstellten, die selbstverständliche Gutmütigkeit am Tisch. Wie bieder, wie bescheiden auch – Svea hatte ihr Glück gezeigt.

Schlüssel, Tür öffnen. Mark ist noch nicht zu Hause, dunkel, kein Mantel an der Garderobe. Flurlicht anmachen, bald wird er wohl kommen, voller Alkohol und triumphaler Jagdbeutegefühlen. Sie ist müde, sie schleppt sich die Treppe hinauf, absolviert Gesichts- und Zahnpflege so schnell wie möglich. Liegen. Hatte sie Svea von der Backsteinmauer erzählen wollen, von der Kugel im Mädchenrücken, von ihrem bekümmerten Entsetzen nach dem Abriss? Decke über den Kopf, wegsinken, so tief, so weit wie möglich weg von dem, was hier los ist.

Wie wird man eigentlich Komponist? Wie wurde sie Komponistin, und warum? Der Schlagzeuglehrer an der Musikschule hatte sicher etwas damit zu tun. Es gebe alte Musik, und es gebe neue Musik, erzählte er. Früher sei das Publikum neugierig auf neue Kompositionen gewesen, und heute wollten die Menschen lieber alte Musik hören. Aber wir müssen weiter, hatte er kurz auflachend gesagt, die Musik steht nie still, und es gibt immer Musiker, die in ihrem Kopf die Musik hören, die noch nicht existiert. Die kannst du aufschreiben. Das tut der Komponist. Die kleine Alice begriff. Auf einem Urlaub in den Bergen mit der Familie ihrer Freundin Els lauschte sie einer Herde Schafe am Hang des Tals. Zuerst war das Bimmeln der Schafsglocken ein Chaos, doch wenn man weiter lauschte, entdeckte man einen sich verschiebenden Rhythmus, ein überraschendes Spiel mit verschiedenen Tönen, einen faszinierenden Wechsel zwischen Geräusch und Stille. Abends im Bett spielte sie in ihrem Kopf ab, was sie gehört, bedacht, erlebt hatte.

Der Schlagzeuger ließ sie kleine Stücke machen und aufschreiben, sprach mit ihr über Struktur, Zeitverlauf, Dynamik. Auf einem alten Grammofon ließ er sie Musik von früher und von heute hören. Er gab ihr Bücher zu lesen, darüber, wie die Musik aus Kirchen über Paläste bis in Wohnzimmer und Konzertsäle gewachsen war. Sie stellte sich vor, wie die Welt unsichtbar unter einer immer stärkeren Klangwolke begraben wurde. Nichts verschwand. Es kam stets mehr hinzu. Und sie war sich dessen bewusst, sie trug die Musik immer mit sich. Das war nicht verrückt, der Schlagzeuger begriff das. So war sie einfach. Über die Unmöglichkeiten, die zum Beruf gehörten, sprach er nicht: keine Aufträge, kein Einkommen, kein Interesse seitens der breiten Öffentlichkeit. Er ermunterte sie, indem er von der Freude erzählte, die eine gelungene Komposition beim Erschaffer selbst auslöste. Alice brauchte keine Ermunterung. Kurz vor ihrem Abschluss der weiterführenden Schule trat sie durch die Pforte des Konservatoriums.

Eigentlich genauso wie damals an der Musikschule, dachte sie, nur größer, nur virtuosere Musik, die durch die Flure schwebte, bekanntere Namen auf der Tafel am Eingang, auf der die Dozenten ihre Anwesenheit vermerken konnten. Sie blieb in der Eingangshalle stehen – um zu fühlen, ob sie hier heimisch werden konnte? Das war unumgänglich, das wusste sie sofort. Sie folgte einem Pfeil Richtung »Sekretariat«, ging durch eine halb geöffnete Tür und traf auf eine Frau hinter einem breiten Empfangstisch, die einen Stapel Formulare vor sich liegen hatte. Sie hatte einen Stift in der Hand, einen Stift hinter dem Ohr und einen Stift im Mund. Auf jedes Papier setzte sie Häkchen, bevor sie es auf einen zweiten Stapel ablegte. Alice blieb stehen. Es dauerte. Endlich schaute die Frau auf. Geradewegs fragte Alice, ob man hier Komposition studieren könne. Nicht erst »Guten Tag, darf ich Sie etwas fragen, haben Sie einen Moment Zeit?«, sondern gleich: Das ist mein Wunsch.

»Ja sicher«, sagte die Frau, als sie den Stift aus dem Mund genommen hatte, »hier sind eine Menge Komponisten ausgebildet worden. Es ist aber schon ein komplizierter Studiengang, muss ich sagen, sie denken sogar darüber nach, ihn anders aufzuziehen. Warum willst du das wissen? Sollst du es für jemanden fragen?« Alice verstummte wieder. Wenn ein Gespräch anders verläuft, als man erwartet hatte, muss man sich sammeln.

»Ich möchte Komposition studieren.« Die Frau lächelte und legte nun auch den Stift beiseite, den sie in der Hand hielt. »Das erleben wir hier nicht oft«, sagte sie, »ein Mädchen, das sich für diesen Studiengang anmeldet. Bist du dir sicher?« Alice nickte, denn für sie bestand in diesem Punkt kein Zweifel. Zweifeln ließen sie nur dieses Gebäude, die Zulassungsanforderungen, die Billigung seitens ihrer Eltern und der Dozenten hier. An ihrem Wunsch zweifelte sie nicht.

»Du musst mit einem anderen Hauptfach anfangen«, erklärte die Frau. »Die meisten machen Klavier, aber etwas anderes geht auch. Nach drei Jahren, wenn du die Theoriefächer abgeschlossen hast, kannst du zur Kompositionsklasse dazukommen. So war es bis jetzt, aber das wird sich ändern. Es soll ein eigenständiges Hauptfach werden, mit mehr Theorie, als die Instrumentalisten sie bekommen, Pflichtnebenfach Klavier und noch sehr viele andere Sachen. Sie beraten noch darüber. Ich kann dir die alte Broschüre mitgeben, aber davon hast du eigentlich nichts mehr.«

Offenbar sah Alice enttäuscht und entmutigt aus. Sie hatte sich so weit vorgewagt, und es hatte so wenig gebracht. Die Frau sah sie freundlich an. »Weißt du was«, sagte sie tröstend, »ich mache einen Termin für dich bei Herrn van Dijk. Der ist Leiter der Fachgruppe. Er kann dir mehr erzählen. Zum Termin nimmst du mit, was du bis jetzt gemacht hast, dann kann er einen Eindruck von dir gewinnen. Ist das eine gute Idee?« Die Frau wählte eine Nummer auf einem schwarzen Telefon. Alice war schwindlig, sie hätte sich setzen müssen, aber nirgendwo war ein Stuhl. Diffus und weit entfernt hörte sie die Sekretärin: »Ich weiß nicht, was ich sagen kann, das musst du selbst tun, nein, aufschieben geht nicht, damit kann ich ihr nicht kommen, ja, es ist eine Frau, ein Mädchen, sie steht hier und wartet.«

~

So ist es gelaufen. Schwitzend ist sie zu dem Termin bei Duk van Dijk geradelt, er war es, der gefeierte Komponist, den sie als Kind so bewundert hatte. Jetzt hatte sie ihre »Kompositionen« in einer Einkaufstasche hinten auf ihr Fahrrad gebunden und übte in Gedanken, was sie sagen sollte. Sobald sie dem Dozenten gegenübersaß, dachte sie nicht mehr daran, und das Gespräch lief wie von selbst. Er fand es ganz schön, diesen Einstieg über das Schlagzeug, und er besah sich amüsiert ihr Schafsglockenstück. Er gab ihr die Aufgabe, für ihre Zulassung etwas Neues zu machen, es würde ein Gespräch mit den Lehrern der Fachgruppe geben, eine Solfeggioprüfung und ein Diktat. Sie hatte sich ernst genommen gefühlt und war voller Energie nach Hause gegangen. »Sind deine Eltern einverstanden?«, hatte van Dijk noch gefragt. Sie hatte die Achseln gezuckt. Im Grunde war ihr schleierhaft, was ihre Eltern von ihr erwarteten. Schwer genug, selbst zu wissen, was man nun genau wollte. Und gut ist es ja doch nie; besser nicht darüber nachdenken.

Eine kleine, eingeschworene Gruppe von Studenten, hatte er gesagt. Lauter Jungen. Mädchen schienen nicht zu komponieren. Warum das so war, wusste er nicht, darüber müssten sie später noch einmal reden, das war doch eine interessante Frage. Ob sie außer Hildegard von Bingen noch weibliche Komponisten kenne? Ja, Clara Schumann natürlich, das wusste jeder, und vielleicht diese Schwester von Mendelssohn, aber sonst? Alice hatte geschwiegen. Es kümmerte sie nicht, darum konnte sie sich nicht auch noch einen Kopf machen, wenn sie ihre eigenen Ambitionen weiterhin spüren und für sich selbst aufkommen sollte. Wenn sie über ihre Stellung in dieser Klasse voller junger Männer zu zweifeln begann, wenn sie sich bewusst machen würde, dass es für sie keine Vorbilder gab, würde sie vielleicht jetzt schon weglaufen. Es war eine Form von Freiheit, so musste sie es sehen. Keine pflichtgemäße Identifikation mit ihren Mitstudenten, keine Verzweiflung darüber, dass sie sich nicht in Bach oder Beethoven würde spiegeln können. Dieser Duk van Dijk widmete ihr Aufmerksamkeit, und das bedeutete, dass er etwas in ihr sah. Alice unter seinen Schülern. Alice, die Komponistin werden wollte, Alice, die nicht viel sagte, aber schon ihr Werk vor ihm auf den Tisch legte.

Sie sitzt in ihrem Arbeitszimmer, dem Zimmer mit den zwei großen Fenstern, wo ihr Tisch steht, der Schrank mit Fachbüchern, der kleine Flügel. Ausblick auf Baumkronen durch das eine Fenster, auf den Garten durch das andere. Das Zimmer ist so groß, dass sie sogar ein wenig hin und her laufen kann. Warum jetzt die Erinnerungen an ihren Einstieg am Konservatorium? Kommt bestimmt durch diesen Film gestern, denkt sie. Ich war wie das Mädchen an der Mauer, ich habe den anderen den Rücken zugewandt. Und jetzt? Menschen verändern sich nicht so leicht. Sie blättert ein wenig durch die Papiere, die auf dem Tisch liegen. Bauchschmerzen. Sie verschränkt die Arme über ihrer Körpermitte. Schlecht geschlafen auch. Mark hat neben ihr geschnarcht und ist ächzend aus dem Bett gestiegen, als sein Wecker geklingelt hat. Sie hat Kaffee für ihn gemacht, trotz ihrer Wut. Wut? Die war schon verflogen, überdeckt, unwirklich geworden. Svea und Sven, die haben eine Ehe, in der sie alles teilen, ihre fünf Kinder und ihre Arbeit als Lehrer an derselben Schule. Ihre Wünsche laufen in allem parallel. Mark und sie lassen einander in Ruhe, der eine nötigt dem anderen keine Aufmerksamkeit ab, und sie respektieren ihren jeweiligen Einsatz und das Interesse für ihre vollkommen verschiedenen Welten. Ich würde es nicht anders wollen, denkt sie, ich würde verrückt werden ohne eigenes Betätigungsfeld. Und doch will ich ihn an Vereinbarungen binden, verlange von ihm, dass er meine Sehnsucht teilt, mit der Inbrunst, die mir eigen ist. Das ist eigentlich hundsgemein, ich kann das überhaupt nicht von ihm verlangen. Aber ich brauche ihn, ich kann das nicht allein. Meine Mutter hat recht, ich habe einen schlechten Charakter. Das ist angeboren, unabänderlich. Zum Glück kann ich noch schöne Dinge machen. Es könnte schlimmer sein.

Man nehme die Frau von Haydn – allen Biografen nach war sie eine Schlange, eine bigotte, desinteressierte und viel zu frömmlerische Frau, der das Geld durch die Finger rann. An ihr taugte wirklich nichts. Noch dazu war sie hässlich. Und unfruchtbar. Die Bücher von Carpani, Griesinger und Dies, den treuen Bewunderern, die nach Haydns Tod ihre Erinnerungen und Meinungen aufschrieben, stehen nebeneinander in ihrem Bücherschrank. Alle drei lassen sich erbarmungslos über Frau Haydn aus. Man könnte Mitleid mit ihr bekommen. Musste etwas ins Gleichgewicht gebracht, musste eine akzeptable Erklärung erfunden werden, damit Haydn keine Schuld traf? Er hatte Affären und Freundinnen. Gezwungenermaßen, denn zu Hause war es nicht auszuhalten. Das befanden zumindest die biografierenden Herren. Und: Haydn war verrückt nach Kindern. Die bekam er von seiner Frau nicht. Also war sie ein Monster.

Was denke ich nur für komische Sachen, was lasse ich mich ablenken. Mark ist ein lieber Mann. Man vergisst Dinge, wenn sie einem nicht wichtig erscheinen. Das kann sein, das bedeutet nicht, dass er ein Mistkerl ist. Es bedeutet, dass er anders ist als ich. Er sehnt sich nicht. Er teilt meine Obsession nicht. Sonst würde er vielleicht, genau wie Haydn, auf die Suche nach fruchtbaren Sängerinnen gehen, um seine immense Enttäuschung zu lindern. Oh, hör doch auf mit diesem Ruminieren. Geh ein Stück laufen, geh Einkäufe machen, spiel Klavier.

Ab August haben Bäume und Sträucher denselben Grünton. Dunkelgrün. In den Monaten davor ist das Grün differenziert, von fast gelb bis fast schwarz. Während der Phase von Wachstum und Entfaltung gibt es eine Vielfalt von Erscheinungsformen, verlegt man seine Aufmerksamkeit vom einen aufs andere, fliegt man mit seinem Interesse zwischen verschiedenen Gebieten hin und her. Verliebtheiten, Identität, Berufswahl, Meinungen. Jetzt ist alles um mich herum ein und dasselbe. Es gibt nur ein einziges Thema von Bedeutung, ein dunkles, unerfülltes Verlangen. Dass Mark das nicht teilt, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, aber so ist es. Hat sich Frau Haydn auch so heftig gesehnt? Und wie stand es mit dem Komponisten selbst? Er ertrank in der Arbeit, er entschied sich dafür, andauernd beschäftigt zu sein, lange, lange Tage. Die Anstellung bei Fürst Esterházy war ein Segen, denn sein Brotherr war ein mehr als zugewandter Musikfanatiker. Mit seinem unendlichen Reichtum finanzierte er ein komplettes Orchester, Bläser, Streicher, und eine Gruppe Sänger, die bei Opernaufführungen eingesetzt werden konnten. Bühnenmeister, Kostümnäherinnen, Kulissenbauer. Esterházy errichtete große und kleine Konzertsäle in und um sein Palais und entwarf für jede Saison ein anspruchsvolles Programm. Die Musiker wohnten auf dem prächtigen Landsitz und durften nur selten nach Hause.

Haydn arbeitete an einer Sinfonie, alles musste stets neu sein, Wiederaufnahmen waren eine Schwäche. Er rief seinen Diener, der zugleich sein Kopist war und auch die Partien herauszuschreiben pflegte.

»Fang schon mal an. Lass dir von diesem jungen Burschen bei den ersten Geigen helfen, der schreibt recht sauber. Drei Exemplare für die ersten, zwei für die zweiten Geigen und auch für die Bratschen.«

»Wirklich? So viele?«

»Gewiss. Ich spreche später mit dem Fürsten. Wir brauchen weitere Geiger, gute Geiger. Nicht diese Trompetenspieler, die denken, auch ein bisschen streichen zu können. Und viele, viele Bratschen. Weißt du, die Mittelstimmen sind oft viel wichtiger als die erste Stimme und die Basslinie. Mit den Mittelstimmen kann man die Affekte auslösen, die das Stück beim Zuhörer hervorruft. Man kann Modulationen vorbereiten, ganz subtil. Man kann den Herzschlag der Musik deutlich machen. Es ist ein Fehler zu denken, dass ausrangierte erste Geiger stattdessen die Stimme der zweiten spielen können oder mit einer Bratsche zurechtkommen. Nein! Ich will für die Mittelstimmen gute Musiker haben. Ich bin mir sicher, dass der Fürst seine Börse zücken wird. Warum nicht? Ich habe doch recht, oder?«

»Die gnädige Frau lässt fragen, ob Sie zum Mittagessen kommen«, sagte der Diener. Haydn schüttelte den Kopf. Kam nicht infrage. Die Sinfonie musste fertig werden, und heute Abend stand ein Zusammenspiel mit dem Fürsten auf dem Programm. Esterházy spielte ein unmögliches Streichinstrument, das Baryton, mit unhandlichen Resonanzsaiten, die auch gezupft werden konnten, was die Zahl der Tonarten, in denen das Instrument einigermaßen akzeptabel klang, drastisch beschränkte. Esterházy hatte sich in das Baryton verliebt, unbegreiflich. Auch eine hässliche Frau ohne gute Eigenschaften konnte man lieben. Darüber dachte Haydn nicht nach. Er war verpflichtet, jede Woche ein Trio zu schreiben: Geige, Bratsche und das vermaledeite Baryton in einer Solo-Rolle. Und die Fähigkeiten des Fürsten waren ziemlich begrenzt. Es war eine Herausforderung.

7

Alice setzt sich an die schräg gestellte Schreibtischplatte und schaut auf die Papiere, die darauf ausgelegt sind. So kann sie ohne Rückenschmerzen alles überblicken. Es ist ein Auftragsstück für einen Jubiläum feiernden Harmonieverein. Berufsmusiker sehen schon mal auf solche Klubs herab und machen sich über die sogenannte Hafabra-Welt lustig, doch so gut wie alle begnadeten Blechbläser haben in der Blaskapelle angefangen. Gut, dass sie an mich geraten sind, ich komme für das Blech auf, immer. Als sie durchgeht, was sie bis jetzt geschrieben hat, versinkt sie in ihre Komposition und beginnt weiterzupuzzeln, mit Bleistift, Radiergummi griffbereit. Ganz weit entfernt hört sie das Telefon. Lass es klingeln. Wo liegt das Ding? Keine Ahnung. Egal. Will nicht unterbrochen werden. Ernsthafte Männer werden diese Melodie spielen. Frauen auch. Posaunen, Trompeten, Hörner. Es muss schwierig sein, aber nicht zu schwierig, so, dass es machbar ist, wenn sie gut üben. Nicht länger als etwa fünfzehn Minuten. Dann ist die Konzentration erschöpft. Es spielen Kinder mit, ich muss dafür sorgen, dass in jeder Instrumentengruppe auch ein etwas einfacherer Part ist, für die Anfänger, für die Alten, die schon fast ihren Ansatz verloren haben, für diejenigen, die gern wollen, aber kaum können.

Sie muss pinkeln und schaut danach aufs Telefon. Auf dem Anrufbeantworter ist eine Nachricht: »Hiermit erinnern wir Sie an den Termin morgen um 9.30 Uhr bei Doktor van Pasen in der Fertilitätsklinik. Seien Sie bitte eine Viertelstunde vorher anwesend. Mit freundlichen Grüßen.«

Jetzt zerbricht der sichere Kokon, in den sie während der Arbeit gehüllt gewesen ist, und sie fühlt, dass ihr Hosenbund schmerzhaft zwickt. Zehn Tage nach der in Trunkenheit und Ohnmacht verdampften Befruchtung ist sie blutend wach geworden. Sofort die Klinik angerufen, Termin bekommen, für morgen. Der Ärger auf Mark braust siedend auf. Ganz allein stehe ich da, radle morgen Vormittag zu diesem Folterinstitut, das zugleich meine Hoffnung ist, meine Rettung sein soll. Vorgaben nicht erfüllt, sie werden sich danach erkundigen, und ich werde schuldbewusst den Kopf schütteln. Es hat keine Befruchtung stattgefunden, denn mein Mann war betrunken. Er hatte es vergessen. Es ist doch an Ihnen, ihn daran zu erinnern, wird die Frau am Empfang zu ihr sagen, während sie auf ihren Bildschirm blickt. Die Menstruation hat gestern eingesetzt, sagten Sie, dann ist morgen Tag drei des neuen Zyklus, ein neuer Anlauf. Sie bekommen nachher ein Rezept für die Injektionen des kommenden Monats, ich werde die Apotheke anrufen, dann liegt es für Sie bereit. Wenn Sie jetzt kurz im Wartezimmer Platz nehmen, holt Doktor van Pasen Sie gleich ab. Nicht weiterdenken jetzt, ein erniedrigendes Gräuel ist es.

Sie schlendert mit über dem Bauch verschränkten Armen durch das stille Haus. Langsam, kleine Schritte. Das Schlafzimmer, oder ist es eine Kampfarena? Marks sogenanntes Studierzimmer, die Tür steht offen, sie schaut hinein, aber tritt nicht über die Schwelle. Treppe hinunter, das Wohnzimmer mit der Pflanzenfülle im Erker, die Küche mit dem großen Tisch und der Bank, auf die man sich legen kann, wenn einem alles zu viel wird. Die Tür zum Garten. An Essen darf sie jetzt wirklich nicht denken. Zur Ruhe kommen. Wo? Hier bin ich nicht zu Hause. Ja, oben vielleicht, am Komponiertisch. Mein Gott, dies ist mein eigenes Haus, warum bin ich hier eine Fremde? Was will ich denn?