Die Erbschleicherinnen - Ernst von Wolzogen - E-Book

Die Erbschleicherinnen E-Book

Ernst von Wolzogen

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Beschreibung

... Ihr wisst doch, mein Vetter Alfred, der in Amerika ist, hat eine Riemschneider zur Frau, welche eine rechte Nichte eures Onkels und gleichzeitig Andergeschwisterkind mit der zweiten Frau des Bruders meines Mannes war - also eine doppelte Verwandtschaft! Ich bin entzückt, dass ihr so nette Mädchen seid, und wenn ihr mich nicht morgen früh gleich besucht, dann sollt ihr mal sehen! Ich habe übrigens schon gehört von euch durch eine Dame, die im selben Coupé mit euch von München hierher gefahren ist. Nette Geschichten, ihr Erbschleicherinnen, ihr!« Und lustig lachend klopfte sie die beiden Schwestern auf die Wangen und schwebte wieder zu ihrem verlassenen Tischnachbar zurück. Mittlerweile hatte männiglich seinen Platz gefunden. Das Stimmengewirr war verstummt, und man wartete nur auf die Frau Majorin, um sich setzen zu können. Das Wort von den »Erbschleicherinnen« musste von jedermann an der Tafel gehört worden sein. Einige von den Herrschaften lachten auch ganz ungeniert darüber, während andre ein wenig bedenklich lächelnd in den Mienen der Gastgeber zu lesen versuchten. Die beiden Schwestern erstarrten beinahe vor Schreck, denn sie sahen die Blicke der Tante mit einem so feindseligen Ausdruck auf sich gerichtet, dass sie alles Unheils gewärtig sein durften. Zum Überfluss fragte auch noch der schwerhörige Professor Rufus seine Tischnachbarin, Frau Zanthier, ganz laut, was denn die Dame in dem antiquarisch interessanten Kostüm so Komisches gesagt habe? ...

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Seitenzahl: 510

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Die Erbschleicherinnen

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Die Erbschleicherinnen

Ernst von Wolzogen

Roman

Band 1 und 2

Erstes Kapitel

Erklärt, warum die Schwestern Mödlinger aus München in Bitterfeld zu weinen anfingen, und warum die Frau Konsul sich vorläufig über die Frau Geheimrat nicht weiter äußerte.

In dem Damenabteil zweiter Klasse des durchgehenden Wagens Ala-Berlin waren alle Vorhänge zugezogen und die blauen Lichtschirme über der trüb flackernden Öllampe heruntergeklappt. Es war zwischen fünf und sechs Uhr morgens; draußen begann es zu dämmern, der Regen klatschte gegen die Scheiben und trommelte auf dem Dache des Wagens.

Auf der kürzeren der beiden Polsterbänke lag eine sehr dicke ältere Dame ausgestreckt. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst, und zwei dünne Zöpfchen baumelten über die Lehne hinaus vor der polierten Tür des Toilettenkämmerchens auf und nieder wie zwei ansehnliche Rattenschwänzchen. Sie hatte sich die Taille und das Korsett aufgeknöpft, eine Reisedecke über sich gebreitet und die Füße in formlosen schwarzen Samtpantoffeln stecken, von denen jedoch der eine heruntergefallen war und einen schwarzen Strumpf sehen ließ, aus dem die große Zehe ziemlich weit herausschaute. Diese gute Dame schnarchte fürchterlich. Sie hatte den Mund weit offen, und ihre feisten Hängewangen wackelten gleichmäßig im Takt, den der rasselnde Zug just angeschlagen hatte.

Jetzt gab es einen kleinen Ruck, der Zug bog in eine Kurve ein und schlug gleichzeitig einen andern Rhythmus an, flott hüpfende Anapästen nach der Melodie weiland König Ludwigs: »Wenn der Mut in der Brust seine Spannkraft übt«. Diese plötzliche Veränderung schien die dicke Dame in ihrer Behaglichkeit zu stören; der Mund schnappte zu, sie warf das Haupt mit einem tiefen Seufzer auf die andere Seite und stieß mit dem linken Fuß aus.

Die unglückliche junge Dame, welche auf demselben Polster am Fenster die ganze Nacht aufrechtsitzend in arger Bedrängnis hatte verbringen müssen, fuhr, von dem kräftigen Stoß in die rechte Hüfte getroffen, erschreckt zusammen, rieb sich die Augen und blickte verstört umher. Ein trauriger Blick streifte ihre umfangreiche Nachbarin, sie seufzte, zog sich die Handschuhe aus und begann ihr Genick, das ihr von dem langen Sitzen mit vorgebeugtem Kopf ganz steif geworden war, mit den Fingern zu reiben. Dann schob sie die Vorhänge ein wenig auseinander und schaute hinaus. Grau, grau! Weite Ebene ohne Baum und Strauch. Der Regen drückte den Rauchschweif aus der Lokomotive zu Boden nieder, dass er wie aufgeleimt auf dem öden Ackerfeld zur Seite des flachen Bahndammes klebte. Trostlos!

Fröstelnd drückte sie sich wieder in ihre Ecke, kreuzte die Arme über der Brust und gähnte. Sie schloss die Augen; aber an Schlaf war in ihrer unbequemen Stellung doch nicht mehr zu denken, und als bald darauf ein langgezogener, wehklagender Pfiff der Lokomotive anzeigte, dass sie sich einer größeren Station näherten, richtete sie sich wieder auf und schob die Gardine zurück.

»Du, Kathi«, klang's da vom gegenüberliegenden Polster her, und gleichzeitig bekam sie einen leisen Puff gegen das Knie, »magst nimmer schlafen?«

»I möcht' schon, aber die lasst mich ja net!«, gab die also Angeredete zurück und deutete mit einem drollig bekümmerten Blick auf ihre schnarchende Nachbarin. »Die ganze Nacht hat s' mi pufft mit ihre Elefantenfüß.«

»Ja, und schnarchen tut s' wie a Nilpferd«, erwiderte das andere junge Mädchen, das noch lang ausgestreckt dalag und gähnend die Arme aufwärts reckte.

»Na weißt, Lizzi, du kannst doch net klagen. Wie hast denn du dees ang'stellt, dass di so bequem niederg'legt hast?« versetzte die große Kathi. »I hätt' mi net traut, wo doch die Dame da sich z'erst ausg'streckt hat.«

Lizzi richtete sich leise kichernd auf, winkte die Schwester näher heran und flüsterte ihr, sich zu ihr hinüberbeugend, ins Ohr: »Du, des ham mir schlau g'macht: z'erst hab' ich bloß a biss'l die Knie 'raufzogen und dann nach 'er halben Stund hab' i ein Bein vorg'streckt und wieder nach 'er halben Stund dees andre – und dabei hab' i mi g'stellt, als ob i fest schlafen tät, hab' an tiefen Schnaufer getan und mi auf die andre Seiten 'rumgedreht, dass s' hat meinen müssen, i wüsst' von nix. I hab's wohl g'hört, wie's Au geschrien und g'schimpft hat, aber was kann denn i dafür, was i im Schlaf tu'! Mit beide Füß bin i auf ihr drauf g'legen, aber z'letzt is ihr dees doch z'viel worden und nah hat's ihre magern Steckerln fei 'runter tun müssen, siext's!«

Mit schadenfrohem Gekicher wandten sich die beiden verschlafenen Mädchenköpfe einer hageren, mittelalterlichen Dame zu, die in höchst unbequemer Stellung, den Kopf wie eine geknickte Lilie vornüber hängen lassend, halb hockend, in der rechten Ecke lag.

»A geh, du bist a rechte Kecke«, sagte Kathi, mit einem halb neidischen, halb bewundernden Blick an der jüngeren Schwester herabsehend, die sich eben anschickte, ihre verdrückten Gewänder glattzustreichen.

Da hatte jene das Loch im Strumpf der dicken Dame entdeckt und packte eifrig unter neuem Gekicher die Schwester am Arm. »Uijegerl, Kathi, da schau!«, flüsterte sie, auf die große Zehe deutend, »geh, nimm fürchterliche Rache und kitz'l dees Ungeheuer a weng an der Fußsohl'.«

Kathi fuhr ordentlich entsetzt zurück über eine solche Zumutung. »O mei, na, dees brächt' i net fertig!«

Lizzi zuckte die Achseln, streckte vorsichtig eine Hand vor und da – kribbel, krabbel – war die finstere Tat vollbracht! Die dicke Dame zuckte zusammen und stieß einen unwilligen Laut aus, der wie das Aufbellen eines großen Hundes im Traume klang, schnarchte aber gleich darauf ruhig weiter. Lizzi war von diesem geringen Erfolg ihres Unternehmens nicht recht befriedigt und wollte eben zu stärkeren Reizmitteln übergehen, als der Zug hielt und gleichzeitig die dürre Dame in der andern Ecke sich zu regen begann.

»Wo sind mer denn?«, rief Lizzi halblaut, indem sie sich dem Fenster zuwandte und die Gardinen zurückzog. Sie rieb sich noch einmal die Augen, und dann buchstabierte sie den Namen »Bitterfeld«.

Die beiden Mädchen traten an die Tür und blickten, einander umschlungen haltend, hinaus. Etwas Öderes hatten sie in ihrem Leben noch nicht gesehen als diesen Bahnhof in der grauen nebligen Morgendämmerung, diese Fabrikessen und diese traurige Ebene dahinter.

»Du, Kathi«, begann Lizzi, nachdem sie eine ganze Weile stumm hinausgeschaut hatten, »da wohnen auch Menschen! Unbegreiflich! Net amal begraben möcht' ich mich hier lassen. Je, was is denn, was hast denn, Kathi?«

Kathi weinte. Große Tränen liefen ihr über die blassen Wangen. Es zuckte ihr um Nase und Mund, und vergeblich suchte sie sich zu beherrschen. Es half auch nichts, dass sie eiligst das verknüllte, feuchte Taschentuch hervorzog und sich heftig schnäuzte. Sie musste ein paarmal laut aufschluchzen. Dann zog die jüngere Schwester sie neben sich auf den Sitz nieder, schlang ihren Arm unter dem Ihrigen durch, drückte sich eng an ihre Seite und fragte liebevoll: »Ja, was is denn mit dir, Kathi, was hast denn alleweil wieder? Jetzt sind mer doch bald da – das Weinen hilft doch auch z'nix mehr.«

»Freilich wohl, weiß schon«, schluchzte das große Mädchen, mit beiden Händen vor den Augen, »recht dumm is; aber mer weiß doch net, wie's kommt unter lauter fremde Leut'. Die ganze Nacht fahrt man immer weiter weg von der Heimat und nachher, wann mer d' Augen auftut und 'nausschaut, nah liest ma: Bi–i–i–itterfeld! Dees klingt so – so hoffnungslos.«

Lizzi machte einen schwachen Versuch die törichte Schwester auszuspotten, aber es gelang ihr schlecht, denn ihr standen selbst die Augen voll Tränen, und nun sie die Schwester darauf aufmerksam gemacht, kam es ihr selbst so vor, als ob in dem Namen »Bitterfeld« eine böse Vorbedeutung liegen müsse. So streichelte sie also nur still der Kathi über den Handrücken und half ihr weinen.

Die lange hagere Dame, die durch Lizzis Tücke so schnöde um ihre Nachtruhe gebracht war, begann jetzt munter zu werden, setzte sich steif aufrecht und starrte missbilligend die weinenden Schwestern von der Seite an, als ob sich so etwas in ihrer Gegenwart nicht schicke. Dann holte sie Kamm und Taschenspiegel hervor und begann ihre spärlichen Stirnlöckchen zu frisieren. Jetzt trapste ein Mann über das Wagendach und löschte die Lampe aus, denn es war allmählich leidlich hell geworden, und dann gab's einen Ruck, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Davon wachte auch die dicke Dame auf. Mit Anstrengung brachte sie sich in sitzende Stellung, schaute sich blöde und verschlafen um, sperrte ungeniert ihre üppige Fülle wieder in die bergenden Hüllen ein und verschwand dann, sich mühsam durch die enge Pforte drängend, in dem kleinen Kabinett – ein Anblick, der so lächerlich war, dass selbst die säuerliche Dame in der Ecke ein flüchtiges Grinsen nicht unterdrücken konnte und Lizzi trotz ihrer Tränen laut herauskicherte. Erst als die dicke Dame nach einigen Minuten von ihrem Morgenausflug zurückkehrte, bemerkte sie, dass ihr der rechte Pantoffel fehle. Sie zog einen Kneifer hervor, quetschte ihn auf das breite Näschen, spähte am Boden umher und setzte sich dann resigniert auf ihren Platz. »Ach, liebes Fräulein«, begann sie, »hätten Sie wohl die Freundlichkeit ...«

Ehe sie noch ausreden konnte, hatte Lizzi schon den Verlorenen unter der Bank entdeckt und sich danach gebückt.

»Danke schön, mein Kind, danke«, sagte die Dicke dann freundlich und klopfte dem Mädchen, als es sich erhob, auf die Schulter. »Je kiek, was ist denn das, wir haben wohl gar geweint?«

»Ja, ein bissel schon«, erwiderte Lizzi verlegen lächelnd, indem sie sich wieder neben die Schwester setzte.

»Hm, hm, hm«, machte die Dame, und dann bückte sie sich ächzend herab, um den Pantoffel über den Fuß zu streifen, dabei ward sie der herausschauenden großen Zehe gewahr und brummte ärgerlich: »Tje süh! Die gewebten Strümpfe taugen auch rein gar nichts. Lauter nichtsnutziges Zeugs, was man so kauft. Die selbstgestrickten sind doch immer noch die besten.«

Die Anstrengung des Bückens und der Zorn über die Leichtfertigkeit des Strumpfwirkergewerbes hatten der guten Dame einen hochroten Kopf eingetragen, und als sie sich pustend wieder aufrichtete, konnte sie bemerken, dass die beiden großen Mädchen mit Mühe das Lachen verbissen.

»Tja«, rief sie in gutmütiger Entrüstung sich auf die Knie schlagend, »darüber lacht ihr junges Volk nu; wahrscheinlich könnt ihr selber gar keinen ordentlichen Strumpf mehr stricken.« Die Kathi wollte etwas einwenden, doch ließ sie die freundliche Dame nicht zu Worte kommen, sondern fuhr mit einer begütigenden Handbewegung lächelnd fort: »Lasst man gut sein, Kinnings, es ist mir lieber, ihr lacht mich aus, als dass ihr Tag und Nacht sitzt und heult. Jawoll, ich hab' schon gleich ein Aug' auf euch gehabt, wie ihr gestern Abend in München eingestiegen seid. Wie ich euch da hab' Abschied nehmen sehen von der alten Frau ... Igittigitt, so was von Tränen – das war schon gar nicht mehr schön! Da hab' ich mir gleich gedacht: Na, die reisen auch nicht zu ihrem Vergnügen, und in Schwarz gehen sie auch – das werden woll so 'n paar arme Würmer sein, die zum ersten Mal in die weite Welt hinaus sollen und ihr Glück probieren. Hab' ich da recht in?«

Die beiden Schwestern nickten traurig und sahen einander an, und dann entschloss sich die ältere, die zaghafte Kathi, Antwort zu geben.

»Jawohl, 's is schon so, gnädige Frau haben ganz recht, wir sind Waisen. Der Vater is schon lang tot, den hab'n wir gar net gekannt, und d' Mutter is erst kürzlich g'storben. Die alte Frau, die uns am Bahnhof bracht hat, dees is unser alte Dienerin, die schon zwanzig Jahr lang bei uns g'wesen is. Geld hab'n mir keins, und da soll'n wir halt jetzt zu reiche Verwandte in Berlin, die wir noch gar net kennen. Und da is uns halt ... net wahr, Lizzi?« Sie fuhr sich wieder mit dem Taschentuch über die Augen und drückte die Hand der Schwester.

»Aha, so ist die Geschichte also. Na, und da is euch nu 'n bisschen bang vor«, versetzte die Alte teilnahmsvoll. »Na, Kopf hoch, Kinnings, das wird jawoll allzu schlimm nicht werden. Es ist ganz gut, wenn man in jungen Jahren ein bisschen in der Welt herumkommt. Ich bin auch mit achtzehn Jahren schon zu Verwandten nach Carracas in Venezuela geschickt worden, also noch 'n bischen weiter als bloß von München nach Berlin. Igittigitt! Was hab' ich da geheult! Und dann wurd's doch ganz fidel – und dann kriegt ich ja auch bald meinen seligen Mann da draußen. Ich bin nämlich die Frau Konsul Thormälen aus Hamburg, und jetzt komm' ich eben zurück von Besuch bei meinem Schwiegersohn. Der hat 'n Geschäft in Mailand. Tja, so kommt man herum in der Welt. Das ist ganz nett, dabei bleibt man hübsch mobil. Na, nu kommt mal her, setzt euch hier zu mir, nu wollen wir mal erst 'n bisschen frühstücken und dann woll'n wir uns was erzählen – dabei kommt man auf andre Gedanken.«

Sie holte aus ihrer Reisetasche eine Flasche Wein mit Glas, belegte Brötchen, sowie einiges Obst hervor, und die beiden Schwestern ließen sich denn auch nach einigem bescheidenen Zögern bewegen, an der frühen Mahlzeit – es war kaum sechs Uhr – teilzunehmen. Die Butterbrote waren wohl ein wenig trocken geworden, das hinderte aber nicht, dass sie mit gutem Appetit verzehrt wurden. Der schwere Wein erwärmte ihnen das Blut und löste ihre Zungen, sodass bald eine lebhafte Unterhaltung im Gange war. Die steife, hagere Dame in der Ecke blickte einigermaßen neidisch hinüber; sie hatte säuerlich dankend die freundlich angebotene Mahlzeit abgelehnt.

»Na, nun sagt mir auch mal, wie ihr heißt, Kinnings«, fragte die Frau Konsul im Laufe des Gesprächs; »die Welt ist ja schließlich gar nicht so groß, und man findet überall Beziehungen heraus.«

Die beiden jungen Mädchen empfanden die Wissbegier der alten Dame durchaus nicht als unangenehme Zudringlichkeit, sondern waren im Gegenteil recht froh, von sich und ihren Verhältnissen sprechen zu dürfen, und so hatten sie bald ihre ganze einfache Lebensgeschichte zum Besten gegeben. Sie hießen Katharina und Elisabeth Mödlinger, der Vater war ein viel an deutschen Theatern herumgekommener Sänger und Schauspieler gewesen, die Mutter, eine Norddeutsche, Tochter eines höheren Beamten, die dem schönen Manne und liebenswürdigen Künstler aus romantischer Neigung gefolgt und dadurch mit ihrer bürgerstolzen, tugendhaften Familie ganz zerfallen war. Auch als nach wenigen Jahren einer glücklichen Ehe der Gatte in München starb, hatte sich die wohlhabende Familie nicht mehr viel um die Frau gekümmert, sodass sie sich und ihre beiden Töchter nur in harter Arbeit, durch Unterricht in Sprachen und Musik, leidlich anständig durchzubringen vermocht hatte. Die Mutter war erst vor wenigen Monaten gestorben, ohne Vermögen zu hinterlassen, und nun waren sie darauf angewiesen, die ihnen angebotene Zuflucht im Hause des ältesten Bruders ihrer Mutter, des Geheimrats und Professors Doktor Riemschneider in Berlin anzunehmen, der durch eine Heirat mit einer reichen Kaufmannstochter sehr wohlhabend geworden war und keine Kinder hatte.

Die Frau Konsul Thormälen besann sich: »Riemschneider, hm, nee, Riemschneider kenn' ich nich. Ich kenn' sonst viele Menschen in Berlin, aber unter der Gelehrtenwelt freilich ... die Leute halten sich gar so exklusiv. Unsre Bekannten sind alle Kaufleute oder Industrielle, auch ein paar Beamte natürlich, sogar zwei Offiziersfamilien – so was hat man ja immer in die besseren Kreise. Aber wartet mal: Was ist denn die Frau Professor Riemschneider für eine Geborene?«

Die beiden Mädchen besannen sich, konnten aber nicht auf den Namen kommen, und sie wussten nur, dass der Vater der Tante eine Leinenfabrik oder so etwas in Bielefeld gehabt hatte.

»Na seht ihr, den hätt' ich nu sicher gekannt!«, sagte die alte Dame. »Vor Professoren und so etwas hab' ich selbst 'n bisschen Bange, besonders vor den glattrasierten, die einen so über die Brille ankieken. Aber heutzutage gibt es ja auch unter solche Leute ganz menschliche Individibums, hehehe! – Das wird wohl allzu schlimm nich werden, und wenn der Mann viel Geld und keine Kinder hat, na, denn würd' ich mich an eurer Stelle fein und schlau aufs Erbschleichen verlegen.«

»O mei!«, rief Kathi ganz erschrocken.

Die dürre Dame rümpfte verächtlich die Nase und murmelte etwas vor sich hin, während Lizzi vergnügt auflachte und sagte: »Wissen S', Frau Konsul, dees trau'n wir uns net. Der Onkel hat uns vor a paar Jahr in München b'sucht, das erste und einzige Mal, und da hab'n mir so Angst kriegt, dass mir uns gar net amal zum lachen getraut hab'n, wann er uns so wohlwollend über d' Brillen ang'schaut hat. Wissen S', dees is so aner.«

»Was is er denn für ein Professor?«, warf die Alte dazwischen.

»Jurist, glaub' ich«, erwiderte Kathi.

Da räusperte sich die Hagere in der Ecke und sagte mit spitzer, hoher Stimme das eine Wort: »Kirchenrecht«.

»Hu!« machte die Frau Konsul komisch erschrocken, und starrte die Sprecherin an, »Sie kennen ihn also?«

Die zuckte die Achseln und rümpfte wieder die Nase. »Ein so berühmter Name in der wissenschaftlichen Welt! Persönlich habe ich leider nicht die Ehre. Aber ich habe Beziehungen zu nahestehenden Kreisen."

Die beiden Mädchen hatten sich in die Ecke gedrückt und flüsterten miteinander, und die Frau Konsul rückte ihnen nach, klopfte Kathi auf den Arm und lachte gutmütig.

»Na, man keine Bange, Kinnings, das Fräulein da wird jawohl nicht gleich petzen. Und dann« – fuhr sie leiser fort, denn sie mochte jetzt auch nicht mehr gern von der gefährlich dreinblickenden Dürren gehört werden – »mit dem Erbschleichen da hab' ich natürlich man Spaß gemacht; am besten ist's immer, man kann sich auf eigene Füße stellen. Ob man 'n Mann kriegt, das ist schließlich auch 'ne unsichere Geschichte, wenn man kein Vermögen hat. Aber ihr habt doch gewiss etwas gelernt, und Talente müsst ihr doch auch haben von den Eltern her, so was ist schließlich auch 'n Vermögen.«

Die Schwestern sahen einander zweifelnd an, und Lizzi erwiderte nach kurzem Bedenken für beide: »Ich glaub', damit ist's grad net weit her bei uns, gelt, Kathi? G'lernt hab'n mir schon was, aber vom Klavierspielen hat d' Mutter grad außerm Haus schon g'nug g'habt, und dass wir uns für die Bühne ausbilden lassen hätten, dees hat's net leiden mög'n, weil's sonst mit die vornehmen Verwandten draußen im Reich gleich gar g'wes'n wär'.«

»Hm, hm«, machte die Alte nachdenklich, »na, da heißt's eben abwarten und Tee trinken. Zum Davonlaufen ist's ja immer noch Zeit, wenn's anders gar nicht mehr gehen will. Wenn ihr mal nicht mehr ein und aus wisst, dann schreibt mal an mich, Kinnings. Für so hübsche junge Mädchens, wie ihr seid muss sich doch schließlich immer noch irgendwo ein warmes Plätzchen finden lassen.«

Die Schwestern waren sehr gerührt über die ihnen so warm entgegengebrachte Teilnahme, und Kathi nahm mit vielem Danke die ihr überreichte Visitenkarte der Frau Konsul entgegen und brachte sie sorgfältig in ihrem Umhängetäschchen unter.

Wittenberg und Jüterbog waren passiert, und der Eilzug näherte sich der Reichshauptstadt. Die Sand- und Kiefernheide verschwand, und es begann das weite Gebiet der Vororte mit ihren Villenkolonien und Fabrikschloten. Immer häufiger und aufgeregter schrillten die Pfiffe der Lokomotive, so oft der Zug über die zahlreichen Weichen hinwegrasselnd an den kleinen Stationen vorübersauste. Kathi und Lizzi hatten beide die Fensterplätze eingenommen und schauten eifrig hinaus. Der Regen hatte aufgehört, aber die Sonne war noch nicht durchgedrungen. Grau und unfreundlich blieb's da draußen wie bisher, und mit keinerlei landschaftlichen Reizen vermochte die neue Heimat das Herz der frischen Ankömmlinge für sich einzunehmen. Sie hatten nicht übel Lust, sich aufs Neue ihrer trostlosen Stimmung hinzugeben, aber sie schämten sich vor ihrer freundlichen Hamburger Trösterin, und dann war es auch hohe Zeit, ein bisschen Toilette zu machen. Mit dem angefeuchteten Taschentuche wurden die Augen geputzt, das zerzauste Haar ein wenig glattgestrichen, die Hüte aufgesetzt und das Handgepäck zurechtgelegt. Und nun donnerte der Zug in die mächtige, weite Halle des Anhalter Bahnhofes hinein.

Die dürre Dame verließ zuerst mit einem steifen Kopfnicken das Coupeé und hüpfte auf den Bahnsteig hinunter. Dann ergriff die Frau Konsul die beiden Mädchen bei der Hand, drückte sie fest und sagte herzlich: »Nanu atjüs, Kinnings. Fliegt in die Arme eures liebenden Onkels – soll mich sehr freuen, wenn wir uns mal wiedersehen. Macht's gut, und Gott schütze euch!« Damit drängte sie die gerührt ihren Dank stammelnden Mädchen zu der schmalen Tür hinaus.

Da standen sie nun auf dem Bahnsteig und schauten ängstlich rechts und links um, aber die hohe, steif emporgestreckte Gestalt ihres Onkels, sein würdevolles Haupt mit dem grauen Backenbart und der goldenen Brille konnten sie nirgends entdecken. Schon wollten sie dem Ausgang zuschreiten, um nach der Wohnung des Professors zu fahren, als eine große, sehr starke Dame mit einem etwas grobknochigen Gesicht, sehr nobel in Plüsch und Seide gekleidet, auf sie zurauschte und sie fragte, ob sie nicht die Schwestern Mödlinger aus München seien. Auf ihre Bejahung legte die Dame ihre fleischigen Züge in möglichst freundliche Falten und sagte: »Dann heiße ich euch in eurer neuen Heimat willkommen. Ich bin eure Tante, liebe Kinder; euren Onkel müsst ihr schon entschuldigen, er ist gestern Abend erst spät von einem Souper bei Seiner Exzellenz dem Kultusminister nach Hause gekommen und hat sich eine kleine Indigestion zugezogen.« Sie beglückte jede der Nichten mit einem kühlen Kuss auf die Wange, und dann fuhr sie fort: »Ihr habt doch hoffentlich euren Gepäckschein nicht verloren – nein? So, das, ist recht, dass ihr ordentlich seid; junge Mädchen sind oft so ...« Ein jämmerliches, dünnes Gequiek verhinderte sie an der weiteren Ausführung ihrer Betrachtung, und gleichzeitig schwirrte ein kleiner weißer Wollkloß auf vier Beinen ein-, zwei-, dreimal um sie herum und wickelte die rote Schnur, an der er befestigt war, spiralförmig um ihr schwarzseidenes Gewand.

»O, mein armer kleiner Dolli, was haben sie dir wieder getan?«, rief die Geheimrätin in jenem mitleidigen Jammerton, wie man zu ganz kleinen Kindern spricht. »Wollen wir die bösen Menschen hauen? Hau, hau!« Dabei machte sie die Gebärde des Klapsens in unbestimmter Richtung und holte dann mit einiger Anstrengung ihren Liebling unter ihrem Kleidersaume hervor, worunter er sich in seiner Angst verkrochen hatte. Lizzi sprang herbei und wickelte sie aus der Umschlingung der roten Schnur heraus, denn sie sah ganz richtig voraus, dass der Tante ohne diese Hilfeleistung allerlei Schwierigkeiten und Verlegenheiten erwachsen mussten. »Danke schön, mein Kind«, sagte die große Dame, als sie ihr Kleinod glücklich auf den Armen hielt, und dann untersuchte sie durch ängstliches Betasten das kleine Hundevieh. »Gott sei Dank, du habchen tein Beinchen debrochen, du binschen ganzchen heil, mein süßer Verzug! – Hier stelle ich euch meinen Freund Dolli vor; das heißt, eigentlich heißt er Joli –parce qu'il est si joli, vous savez– ihr versteht doch wohl Französisch? Die Menschen sind immer so grässlich roh so kleinen, zarten Geschöpfen gegenüber – nicht wahrchen, mein Schneeballchen? Du binschen so klein und niedlich, dass man dich gar nicht sieht.«

Kathi hielt es für angemessen, dem süßen Joli einige Höflichkeit zu erweisen und sagte: »Je, du bist aber a nett's Viecherl«, indem sie das weiße Wollknäuel an derjenigen Stelle zu streicheln versuchte, wo sie den Kopf vermutete. Aber da kam sie übel an. Mit einem wütenden, schrillen Geknurr fuhr das stumpfe Schnäuzchen aus dem Lockenwust heraus, und die spitzen Zähnchen schnappten nach ihren Fingern, die sie kaum schnell genug zurückziehen konnte. Die Geheimrätin lachte hell auf – ein sonderbares Lachen war es, so etwa: »Bruh hi-i-i-i-i-i! Pfui, du böser Süßling, wer wird denn gleich! ... Ja, da seht ihr, mein Joli ist nicht wie andere Hunde, dass er sich von jedem ersten besten schön tun ließe, ihr müsst euch sein Vertrauen erst verdienen. – Geh, sei gut, Mama hat zu tun.« Und damit setzte sie das kleine Ungeheuer sorgfältig wieder auf den Boden und winkte einen vorübergehenden Gepäckträger herbei, um ihm die Besorgung des Gepäcks ihrer Nichten aufzutragen.

In diesem Augenblick bemerkten die beiden Mädchen ihre korpulente Reisegefährtin, die, mit einer Menge Handgepäck beladen, dicht an ihnen vorbeiwatschelte.

»O, Frau Konsul, darf ich Ihnen net 'was abnehmen?« rief Lizzi aus, indem sie ihre freie Hand dienstbereit ausstreckte, um eine Hutschachtel zu ergreifen.

»Ja, wenn Sie so gut sein wollen, mein Kind; da, bitte, nehmen Sie das.«

Sei es nun, dass die Frau Konsul das Band der Hutschachtel zu früh losgelassen oder Lizzi ungeschickt zugefasst hatte, kurz und gut, die umfangreiche Pappschachtel fiel herunter und unglücklicherweise gerade auf das Hinterteil des liebenswürdigen Joli, der just im Begriff war, einen neuen Rundlauf um die junonische Gestalt seiner Herrin anzutreten. Der »Süßing« stimmte ein noch ärgeres Wehgeschrei an als vorhin, und die Geheimrätin flog ihm zu Hilfe, indem sie die Hutschachtel mit dem Fuß weit fortstieß und, sich rasch herniederbeugend, ihren Liebling in die Arme nahm. Sie richtete sich hoch auf und maß die Übeltäterin, während sie Joli fest an ihren Busen drückte, mit einem vernichtenden Blicke.

»Sie hätten Ihren Koffer doch wohl irgendwo anders hinschleudern können, meine Dame, als gerade auf mein unschuldiges Hündchen«, knirschte sie empört.

Die Frau Konsul bekam einen roten Kopf, blickte ihre Gegnerin fest an und versetzte prompt: »So, meinen Sie? Erstens mal Pflege ich meine Sache nicht zuschleudern, und zweitens ist das gar keinKoffer, sondern man bloß eine federleichte Hutschachtel, wo Ihr miserabler Köter durchaus keinen Schaden von nehmen kann, selbst wenn ich sie faktisch geschleudert hätte! – Empfehle mich, Frau Geheimrätin; es war mir angenehm, Ihre werte Bekanntschaft zu machen.«

Die Professorin blickte der rasch davonstapfenden kleinen Dame mit verächtlich aufgeworfenen Lippen nach. »Ordinäre Person!«, murmelte sie. »Wie kommt ihr bloß zu solcher Bekanntschaft?«

Lizzi war inzwischen vorausgeeilt und hatte die so übel behandelte Hutschachtel aufgenommen. Sobald die Frau Konsul sie eingeholt hatte, riss sie ihr das Gepäckstück aus der Hand und sagte: »Lassen Sie man gut sein, mein Kind, ich will Sie Ihrer lieben Tante nicht entziehen. Wünsche viel Vergnügen und ... Ja, was ich sagen wollte, verliert man ja meine Adresse nich, man kann doch nich wissen ...«

»Wie meinen S', Frau Konsul?«

»Na, ich meine man!« Und mit einem freundlichen Abschiedsblick, von vielsagendem Zwinkern begleitet, schob die dicke Dame eilig dem Ausgange zu.

Zweites Kapitel

In welchem zu lange Reden und zu kurze Betten vorkommen.

Der Geheimrat Professor Doktor Riemschneider bewohnte die erste Etage eines vornehmen, neuen Hauses am Schöneberger Ufer. Die bunte Marmorpracht des Einganges und das vergoldete Treppengeländer imponierte den an die Münchener Einfachheit gewöhnten Schwestern ganz gewaltig, und Lizzi konnte sich nicht enthalten, bewundernd auszurufen: »Jesses, Kathi, schau, dees is aber nobel! Wenn ich da an unsere finstere Münchner Stieg'n denk', ui jeh! Gehört das Haus dem Onkel?« fragte sie die vorausschreitende Geheimrätin.

Die wandte sich, geziert lächelnd, zu ihr und erwiderte: »Nein, so weit haben wir's noch nicht gebracht. Wir wohnen hier nur zur Miete und schrecklich teuer, kann ich euch sagen. Ach ja, das bringt unsere Stellung so mit sich! Die Leute sind zu beneiden, die keine so kostspieligen Rücksichten zu nehmen brauchen. Wir müssen eben entsprechende Räumlichkeiten haben für größere Gesellschaften, und die nehmen natürlich den meisten Raum in Anspruch. Vor einem Jahr, als wir hierherzogen, konnten wir ja freilich nicht wissen, welch ein trauriges Ereignis uns nötigen würde, euch zu uns zu nehmen. Wir haben gleich auf drei Jahre gemietet – da werdet ihr euch eben solange behelfen müssen. Ihr müsst nicht etwa denken, dass wir euch jeder ein Schlafzimmer und einen Salon zur Verfügung stellen können. Ich habe euch das Zimmer der Stütze zum Schlafen eingerichtet – die hab' ich natürlich jetzt entlassen, denn wenn man zwei junge Nichten ins Haus bekommt, nicht wahr, braucht man doch wohl keine fremde Hilfe mehr. Ihr seid ja auch, Gott sei Dank, nicht verwöhnt! – So, da wären wir, liebe Kinder. Willkommen in der neuen Heimat! Putzt euch, bitte, die Schuhe recht ordentlich ab, erst auf dem Kratzer und dann auf der Bürste, und dann tretet ein bisschen leise auf, falls euer armer Onkel noch schlummern sollte; er hat eine recht böse Nacht gehabt. Dreimal ist ihm übel geworden. Ich habe auch kein Auge zutun können – ich denke, ich werde mich auch noch 'n bisschen hinlegen.«

Sie waren inzwischen vor der prächtig geschnitzten eichenen Korridortür angekommen, und ein junges, etwas verdrossen aussehendes Dienstmädchen in weißer Latzschürze und einem Hamburger Häubchen auf dem Kopfe hatte auf das energische Klingeln der Gnädigen geöffnet.

Nachdem sie die Prozedur der Fußreinigung nach Vorschrift und unter Aufsicht der Tante vollzogen hatten, traten die jungen Mädchen ein. Der Vorraum war stockfinster, denn die Gasampel, die ihn erleuchten sollte, war heruntergeschraubt bis auf ein Nichts von einem Flämmchen.

»Machen Sie doch Licht, Minna«, fuhr die Geheimrätin im Flüstertöne das Mädchen an. »Sie haben wohl wieder keine Streichhölzer mitgenommen? Sie wissen doch ...«

»Der Jas brennt ja noch«, erwiderte Minna etwas schroff, indem sie auf einen Stuhl stieg und den Gashahn an der Ampel aufdrehte.

»Ich hab' Ihnen doch hundertmal gesagt«, begann die Geheimrätin etwas lauter, dämpfte aber gleich darauf die Stimme wieder herab und fuhr fort: »Mit Streichhölzern natürlich, da sparen Sie, weil es Ihnen eine kleine Mühe macht, aber das teure Gas wird verschwendet wie unsinnig.«

»Herrjott, Madamken, so kleene wie des Flämmchen war, da können Sie sechs Stunden für 'n Dreier brennen.«

»Minna, Sie werden wieder unverschämt – ein anständiges Benehmen werden Sie wohl nie lernen! Dieses ordinäre ‹Madamken› habe ich mir doch ein für alle Mal verbeten.«

»Nu ja, von mein'swegen kann ich ja auch ‹jnädige Frau› sagen. Mich is es ja schließlich einjal.«

Die Geheimrätin stieß einen verzweifelten Seufzer aus und wollte eben die Eigenart dieses dienstbaren Geistes vor ihren erstaunt dreinblickenden Nichten entschuldigen, als eine Tür sich öffnete und die hohe Gestalt des Professors scharf, wie aus schwarzer Pappe geschnitten sich vom Tageslicht abhebend, auf der Schwelle erschien.

»Ah, da seid ihr ja endlich«, rief er, den Nichten beide Hände entgegenstreckend: »Na, kommt nur herein und lasst euch anschauen, meine lieben Kinder.« Damit zog er sie über die Schwelle in sein prächtig ausgestattetes Studierzimmer hinein und führte sie bis dicht an eines der hohen Fenster.

Und seine Gattin trat hinter ihn, strich ihm mit der Hand zärtlich über die Schulter und flötete: »Aber nein, Adolfchen, wie lieb von dir! Hast du dich trotz deines leidenden Zustandes herausgemacht, um deine Nichten zu begrüßen! Ist dir auch wirklich besser?«

»Ja, danke, liebe Ida, ich befinde mich den Umständen nach leidlich. Ich habe vor einer halben Stunde einen Löffel doppelkohlensaures Natron eingenommen.«

»Dochwieder Natron!«, rief Ida besorgt; »du weißt doch, das verschleimt den Magen auf die Dauer. Du hättest lieber den heißen Umschlag noch eine Stunde lang auf dem Unterleibe liegen lassen sollen.«

»Nun ja, mein Herzchen, freilich«, wehrte der Professor die Gattin milde ab. »Euer liebes Tantchen ist immer gleich so besorgt um mich, hehe! Aber ich werde mich ja wohl mit Gottes Hilfe auch so erholen; ich konnte euch doch nicht mein Haus betreten lassen, ohne euch herzlich willkommen zu heißen. Potztausend, wie seid ihr gewachsen! Und beide fast gleich groß! Ich muss gestehen, hehe, ich weiß gar nicht mehr, welches die Katharina und welches die Elisabeth ist.«

Er sprach Elisabehtaus und glaubte offenbar etwas sehr Scherzhaftes gesagt zu haben, denn er schnitt sehr merkwürdige Grimassen und japste dazu mit sonderbar nach innen gezogenen Schluckstönen. Vermutlich sollte dieses eigentümliche Geräusch ein herzliches Gelächter vorstellen, denn seine zärtliche Gattin fiel sofort mit ihrem lauten, harten »bru-hi-i-i-i-i« ein, das sie aber plötzlich erschrocken abbrach, als sie bemerkte, wie das ledergelbe, langfaltige Gesicht des Geheimrates sich rötete und der Atem ihm röchelnd in der Kehle stecken blieb. Seine zarte Konstitution schien der ungewohnten Anstrengung eines Heiterkeitsausbruches nicht gewachsen zu sein.

»Adolfchen, du tust dir Schaden, denke an dich!« mahnte sie besorgt, indem sie den großen Mann bei beiden Schultern packte und liebevoll auf den nächsten Stuhl, einen weiten, bequemen Ledersessel, niederdrückte. »Ihr müsst euch in acht nehmen, dass ihr euren lieben Onkel nicht mutwillig zum Lachen reizt«, wandte sie sich an die Nichten, »er hat ein so heiteres Gemüt, aber seit er vor drei Jahren die Brustfellentzündung gehabt hat, muss er sich sehr in acht nehmen, dass die inneren Teile nicht erschüttert werden. Aber wir wollen doch ablegen – macht's euch bequem, liebe Kinder, und hängt eure Sachen gleich ordentlich draußen auf. Da, bitte, ihr könnt meinen Mantel auch mit hinausnehmen. Das Futter bitte nach außen kehren.«

Stumm, auf den Zehen fast, schlichen die beiden Mädchen über den weichen Teppich nach der Tür, um ihre bescheidenen Jacken und Hüte sowie den kostbaren, innen mit gestepptem bronzefarbenem Atlas gefütterten Samtdolman der Frau Tante aufzuhängen. Außer einem leisen »Grüß Gott« beim Eintritt war bisher noch kein Laut über ihre Lippen gekommen. Auch während der Fahrt in der Droschke hatten sie keine drei Worte zu sprechen gebraucht, da es der Tante am Herzen lag, sie zunächst einmal mit den vortrefflichen Eigenschaften, Tugenden, Lebensgewohnheiten, Liebhabereien und kleinen Schwächen ihres Joli, des »Süßings«, eingehend bekannt zu machen. Nun standen sie also draußen in dem mattgelb erleuchteten Vorraum allein und drückten leise die Tür hinter sich zu. Mit kläglichen Mienen guckten sie einander in die Augen.

Lizzi puffte die Kathi in die Seite: »Na du, was meinst?«

»I möcht' wieder heim, i fürcht mi so!« Und das große, starke Mädchen, das aussah, als ob es junge Bäume ausreißen könnte, machte ein gar jämmerliches Gesicht und schien nicht übel Lust zu haben, wieder in Tränen auszubrechen.

»A so geh, Kathi, sei stad«, raunte ihr die Lizzi zu, ob ihr gleich selber nicht viel lustiger zumute war, und drückte den vollen Arm der älteren Schwester zärtlich an sich.

Sie standen gerade vor einem Spiegel, und wie sie, zufällig beide gleichzeitig aufschauend, ihre kräftigen Gestalten eng aneinander geschmiegt darin erblickten, hellten sich ihre trüben Mienen auf. Sie bogen die Schultern zurück und reckten die Brust heraus, dann atmeten sie beide gleichzeitig tief auf, lehnten Wange an Wange und standen so ein kleines Weilchen im Anblick ihres Spiegelbildes verloren. Und dann, als ob sie daraus Trost geschöpft hätten, küssten sie sich und gingen wieder in das Studierzimmer des Professors hinein.

Der Großwürdenträger der Wissenschaft war allein. Die große, breitschultrige, aber doch schon ein wenig schwächlich vornüber gebeugte Gestalt in einen langen Schlafrock gewickelt, schritt er in dem hohen, rings mit Bücherregalen umstellten Zimmer langsam einher, gerade auf die Nichten zu. Seine schlaffen, bleichen Züge hellten sich auf, als er die hübschen Kinder, Arm in Arm, hereintreten sah. Er blieb dicht vor ihnen stehen und musterte sie, über die Brille guckend, mit wohlgefällig gespitzten Lippen: »Aha«, begann er gedämpften Tones, »so präsentiert ihr euch gleich ganz anders. Man sieht doch wo und wie, hehe! Übrigens wir haben uns ja noch gar keinen Kuss gegeben. Also, mein liebes Käthchen – meine liebe Elisabeth, nochmals herzlich willkommen! Und möge euch mein Haus in Wahrheit eine neue Heimat werden.« Er warf einen raschen Blick über die Brille nach jeder der drei Türen und dann zog er erst die Kathi und dann die Lizzi väterlich an sich und küsste sie bedächtig auf den Mund.

Die beiden Mädchen ließen sich's stumm gefallen, wenn sie auch die schmalen, bläulichen Lippen des Oheims etwa mit denselben angenehmen Gefühlen ihrem Mund sich nähern sagen, wie die Zange eines Zahnarztes oder einen Löffel voll bitterer Medizin. Und dann nahmen sie auf die Aufforderung des großen Mannes auf dem Sofa Platz, während er sich ganz in der Nähe auf dem Drehsessel vor seinem Schreibtische niederließ.

»So, nun wollen wir uns einmal etwas erzählen«, begann der Geheimrat, indem er die Beine übereinanderschlug und die Schlafrockenden über die Knie breitete. Er fragte nach ihrem Befinden, nach ihrer Reise, und die Mädchen antworteten kurz und schüchtern. Dann hatte die Unterhaltung vorläufig ein Ende, und der Professor saß nachdenklich da, rieb sich langsam die schmalen, durchsichtigen Finger und begann erst nach geraumer Weile wieder, die hohe Stirn runzelnd und die schlaffen Wangen in lange Falten legend: »Mnja – was ich sagen wollte. ... Es ist ja ein sehr trauriges Ereignis, das mir und meiner lieben Frau die Freude verschafft, euch in meinem Hause zu sehen. Der Tod eurer guten Mutter, obwohl nur eine Erlösung von langem Leiden, wird natürlich nicht verfehlt haben, euch, meine lieben Kinder, sehr nahezugehen. Es war ihr nicht vergönnt, euch angemessen versorgt zurückzulassen, in gesicherten äußeren Verhältnissen, meine ich. Nach dem schroffen Bruch mit ihrer ganzen Familie durfte sie sich allerdings nicht wundern, wenn sie nach dem Tode ihres Gatten auf ihre eigenen Kräfte und Fähigkeiten angewiesen blieb. Eure liebe Mutter war sehr ..., wie soll ich sagen: Stolz ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Diejenigen von uns, die Gott mit weltlichen Gütern gesegnet hat, wären ja selbstverständlich bereit gewesen, ihr in ihrer Not beizustehen, aber sie zog es leider vor, ihrer Familie gegenüber überhaupt nichts davon zu erwähnen.«

Da der Onkel hier eine kleine Pause machte, die er benutzte, um sich die Nase zu putzen, so hielt es Lizzi für angemessen, einige Worte einzuwerfen, und sagte ganz bescheiden: »Aber, lieber Onkel, wir hab'n doch nie e' Not g'litt'n.«

»Nun ja, wenn ihr auch nicht habt Hunger leiden müssen«, sagte der Geheimrat ein wenig ungeduldig: »Ich meine nur, ihr hättet es doch immerhin besser haben können, wenn eure liebe Mutter nicht in ihrem Trotz ... mnja,de mortuis nil nisi bene!Ich weiß nicht, wie meine gute Schwester euch die Verhältnisse dargestellt haben mag – jedenfalls seid ihr nun erwachsene Mädchen, mit denen man wohl diese Dinge besprechen kann. Du bist zwanzig, liebe Käthe, und du achtzehn, liebe Elisabeth, nicht wahr?«

Kathi nickte nur bestätigend mit dem Kopfe, aber Lizzi berichtigte eifrig: »Doch net ganz, lieber Onkel, mein Geburtstag is erst heut über acht Tag!«

»So, so, so«, versetzte der Geheimrat, etwas mühsam lächelnd, »da werden wir also die Freude haben, ein kleines Familienfest zu begehen? – Hmn ja, was ich sagen wollte: Der Ernst des Lebens ist ja auch an euch, meine lieben Kinder, schon herangetreten, und ich halte es daher für angemessen, ganz offen mit euch zu reden. Ich weiß ja nicht, ob eure liebe Mutter mit euch von der Vergangenheit gesprochen hat und wie sie euch das Verhalten ihrer Angehörigen dargestellt hat, aber ihr werdet jedenfalls wissen, dass ich der Einzige von ihrer ganzen Familie war, der, ohne dass von ihrer Seite aus irgendwelche Annäherung erfolgt wäre, gelegentlich seiner letzten Anwesenheit in München den ersten Schritt zur Versöhnung getan hat, obwohl gerade ich – das darf ich wohl sagen – sowohl in meiner früheren Stellung als Konsistorialrat, wie auch in meiner jetzigen als Lehrer des Kirchenrechtes vielleicht mehr Ursache gehabt haben dürfte, mich durch die unbesonnene Heirat meiner guten Schwester verletzt zu fühlen, als sonst irgendjemand von ihrer Familie.«

Der Professor hatte, ohne zu stocken, dieses Ungeheuer von einem Satze bewältigt und lehnte sich nun, ein wenig erschöpft zwar, doch ersichtlich befriedigt, in seinen Sessel zurück. Er blickte die beiden Nichten triumphierend, eine um die andere, an, also, dass die armen Hühner kaum zu atmen wagten. Sie hatten von ihrem längst verstorbenen Vater nie etwas anderes als Gutes gehört und konnten darum schlechterdings nicht begreifen, wie ihre Mutter durch die Heirat ihre Verwandten verletzt haben sollte, aber zu fragen getrauten sie sich natürlich nicht.

Sobald der Onkel wieder zu Atem gekommen war, räusperte er sich aufs Neue und ließ sich weiter also vernehmen: »Es freut mich, konstatieren zu können, dass eure Mutter meine gute Absicht anerkannt hat. Sonst hätte sie wohl auch nicht in ihrem letzten Brief die Sorge für eure Zukunft gerade in meine Hand gelegt, wenn auch allerdings die Erwägung ins Gewicht fallen mochte, dass ich kinderlos und, nach bescheidenen Begriffen wenigstens, in guten Verhältnissen bin. Nun aber, meine lieben Kinder, komme ich zu dem wichtigsten Punkt, mnja ..., ich halte mich für moralisch verpflichtet, euch von vornherein die Illusion zu nehmen, als ob ihr nun etwa in das üppige Heim eines reichen Mannes gekommen wäret und euch einem schwelgerischen Müßiggang hingeben könntet. Ich bin erstens einmal nicht der reiche Mann, für welchen ich vielfach angesehen werde, denn ich muss euch sagen, dass die Brüder meiner lieben Frau es nicht verstanden haben, das ererbte Geschäft des Vaters auf der alten Höhe zu erhalten und infolgedessen vielfach meine finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen genötigt sind. Wäre das aber auch nicht in dem Maße der Fall, so würde ich es doch für pädagogisch unrichtig halten, euch durch einen Luxus zu verwöhnen, der weder mit eurer gegenwärtigen Lage noch mit euren zukünftigen Aussichten im Verhältnis steht. Ich werde es mir angelegen sein lassen, euch zu nützlichen Studien anzuleiten, und eure liebe Tante wird das Ihrige dazu tun, euch zu tüchtigen, bürgerlichen Hausfrauen und Müttern zu erziehen. In diesem Sinne, meine lieben Kinder, heiße ich euch also nochmals unter meinem Dache herzlich willkommen.«

Damit erhob er sich langsam von seinem Sessel und ging mit ausgebreiteten Armen auf die Nichten zu, die ebenfalls, wie auf Kommando, aufstanden. Er spitzte eben die schmalen Lippen zu einem abermaligen väterlichen Kusse, als durch die linke Seitentür Frau Ida im schwarzseidenen Kleide hereingerauscht kam, wodurch sich der Professor bewogen fühlte, sein Vorhaben aufzugeben.

»Mein Gott, Adolfchen, wie siehst du denn aus?«, rief die stattliche Dame, rasch auf ihn zutretend und wie beschwörend die Hände faltend: »Ganz aufgeregt! Du hast gewiss wieder zu lange gesprochen. Du weißt doch, das tut dir am frühen Morgen nie gut, und besonders, wenn du etwas mit dem Magen hast. Du hast gewiss vergessen, dass du um elf dein zweistündiges Publikum hast? Du musst dich wirklich mehr schonen, Adolfchen! Komm, leg dich noch ein Stündchen; ich will dir einen Pfefferminztee kochen, der tut dir immer so gut.«

»Ja, wenn du meinst, liebe Ida«, versetzte der Geheimrat schwach und ließ sich folgsam von der zärtlichen Gattin nach der gegenüberliegenden Tür führen. An der Schwelle wendete er sich noch mal um und fragte: »Ja, habt ihr denn auch schon Kaffee getrunken, ihr Mädchen?«

Die Schwestern verneinten, und Frau Ida rief: »Was noch keinen Kaffee? Ich dächte, ihr hättet in Wittenberg Zeit dazu gehabt. Die Köchin soll euch schnell welchen wärmen, kommt nur mit ins Esszimmer.«

Während die Geheimrätin ihren Gatten zu Bette brachte und die Köchin den Kaffee wärmte, blieben die Schwestern allein und hatten Muße, sich in dem großen Esszimmer umzusehen. Außer dem stattlichen, geschnitzten Eichenbüfett, dem Ausziehtisch und zahlreichen hochlehnigen Stühlen waren keine Möbel darin, aber die Wände waren ganz bedeckt mit großen Fotografien klassischer und frühchristlicher Skulpturen und Bauwerke unter Glas und Rahmen. Die Mädchen vertrieben sich die Zeit damit, diese Fotografien zu besehen, dabei gähnten sie einmal über das andere, denn sie waren gar sehr müde, und die dargestellten Gegenstände interessierten sie wenig.

»Jesses, jesses, aber auch gar net a bissl 'was Netts!«, seufzte Kathi nach längerem Stillschweigen ganz verzweifelt.

Lizzi legte die Stirn in Falten und stimmte ihr wehmütig bei: »Du, weißt, mir scheint, hier im Haus wird'

s überhaupt net viel Lustiges geben. Der Onkel – ui je, der red't wie a Buch, da 'traut man sich kein Wörtl z' sag'n! Jetzt bin ich bloß neugierig auf unser Zimmer. Grad ins Bett leg'n möcht' ich mi und vierundzwanzig Stund schlafen wie a Ratz!«

»Ja, dees wann mer dürften«, rief Kathi matt lächelnd, und ihre sanften grauen Augen leuchteten auf vor Begehrlichkeit.

Bald darauf brachte die Minna den Kaffee und teilte ihnen mit, dass sie beauftragt sei, sie nach Beendigung ihres Frühstücks auf ihr Zimmer zu führen.

Die Schwestern wurden um so rascher damit fertig, als sich der Kaffee als eine jämmerliche, dünne Brühe erwies, dergleichen sie aus den Händen ihrer braven alten Gretl niemals empfangen hatten.

Auf ihr Klingeln erschien die Minna wieder und erkundigte sich freundlich, wie es geschmeckt habe. Und dann, als die Schwestern etwas verlegen, da sie nicht gewohnt waren, zu lügen, »Danke, ganz gut« geantwortet hatten, flüsterte ihnen die Minna leise kichernd zu: »Die Herrschaft trinkt 'n stärker. Die Frau Jeheimrätin war extra in der Kiche und hat der Kechin jesagt, sie sollte man nich erst nei ufbrüh'n, sondern den alten ufwärmen und 'n bißken Wasser mang planschen, damit dass et nich so lange dauerte. Na, wissen Se, iberhaupt: was die Frau Jeheimrätin is! So ville Jeld – und dabei so 'n Jeizkragen! Na, ick danke! Wenn se ihre feine Jesellschaften geben, denn wird man so jeaast mit 's Jeld, und unsereinen, was 'n anständijer Dienstbote is und sich 'n janzen Tag schinden und abrackern muss, uns jönnt se nich mal de Butter aufs Brot. Det heeßt, ick habe nischt jesagt! Sie wer'n ja schon selber sehen. Na, nu kommen Se 'mal, ick werde Ihnen die betreffende Reimlichkeit zeijen. Wie lange bleiben denn die jung'n Damen da, wenn man fragen derf?«

»Ich weiß net, kann schon sein, für immer«, antwortete Kathi verlegen, und die Minna schlug die roten Hände verwundert zusammen und sagte mitleidig: »Ne – is wahr!? Na, det heeßt, mir jeht's ja nischt an, aber wenn Se det aushalten, denn kennen Se mehr verdragen wie andere Leite. Was de Dienstmädchen sind, die haben mehrenteils schon nach een, zwee Monate jenug! – Det heeßt, wissen Se, der Herr Jeheimrat, des is 'n janz juter Mann – er kann man bloß nicht immer so wie er wohl mechte.« Damit schritt sie vergnügt kichernd zur Tür hinaus.

Die beiden Mädchen folgten ihr auf dem Fuße. Erst ging's ohne Aufenthalt durch einen üppig ausgestatteten Salon, dann kam das ziemlich finstere, sogenannte »Berliner Zimmer« mit einer breiten Glastür nach dem Salon und einem großen Fenster in der abgestumpften Ecke nach dem Hof hinaus – es stellte wohl so eine Art Wohnzimmer zweiter Klasse dar – und dann betraten sie einen langen, schmalen, fast ganz finsteren Gang, der mit Schränken und sonst allerlei Hausgerät so erfüllt war, dass nur eine schmale Gasse frei blieb. In diesem Gang öffnete das Mädchen eine Tür und lud die jungen Damen ein, näherzutreten, mit den freundlichen Worten: »So, bitte. Des war' nu also Ihr Schlafzimmer. Sehr breitmachen derfen Sie sich nu freilich nich, für zweie is es en bißken jedrange. Die Stütze, die hatt' es ja besser, die schlief hier alleene. Jott sei Dank, dass se weg is, so 'n quatsches Frauenzimmer wie des war! Den Schrank hab'n wer missen 'raussetzen von wejen die zwei Betten. Sehn Se, da draußen in'n Jang, steht er janz bequem, jleich die Tire jegenüber, damit Se nich lange ins Hemde 'rumlaufen brauchen, wenn Se sich morjens 'n andres Kleid holen wollen. In die Kommode is auch 'ne Masse Platz, bloß mit die Waschtoilette, da missen Se sich 'n bißken inrichten, wissen Se. Da kennen Se ja immer mit abwechseln, dass immer eene noch 'n bißken liejen bleibt, bis die andre sich jewaschen hat. So, nanu machen Se sich's bequem, Freileinchen, und wenn Se sonst noch was wollen, vielleicht Wasser oder so was, denn drücken Se jefälligst zweemal uff 'n Knopp. Zweemal bin ick, eenmal ist de Kechin.«

Den beiden Schwestern sank das Herz, als sie sich in dem engen, unbehaglichen Raume umsahen, der sie nun für unabsehbare Zeit beherbergen sollte und der nicht einmal die bescheidenen Bequemlichkeiten aufwies, die sie von der mütterlichen Wohnung her gewohnt waren. Zwischen den beiden Betten blieb nur ein zwei Schritt breiter Gang frei, der außerdem durch ein quer vor das Fenster gestelltes Tischchen und einen alten Polstersessel, sowie zwei Rohrstühle so ziemlich ausgefüllt war, und den noch übrigen Raum nahm der Waschtisch und die Kommode ein.

Ach, die Kathi, die sich gern mit ihrem Handarbeitskram so recht behaglich breitmachte, und die Lizzi, die sich so gern schmökernd auf dem Sofa rekelte, wo sollten die da bleiben? Es dauerte eine ganze Weile, bis sie von dem sprachlosen Entsetzen sich so weit erholten, um ein paar Bemerkungen austauschen zu können.

Es zuckte der Lizzi krampfhaft im Gesicht, sie hätte am liebsten laut aufgeschluchzt, aber sie verbiss sich tapfer die Tränen und sagte, grimmig lächelnd: »Du, weißt, die Müh', unsere Koffer auszupack'n, die könn' mir uns hier spar'n. Das Beste is, mir gehn ins Bett.«

»Ja, aber wenn d' Tante nachher was von uns will?« wandte Kathi zaghaft ein.

»Dees is mir ganz gleich, ich schlaf' jetzt«, versetzte Lizzi und riss mit einem energischen Ruck die ganze Reihe ihrer Taillenknöpfe auf einmal auf.

Zwei Minuten später lag sie schon im Bett, und Kathi folgte etwas langsamer ihrem Beispiel.

Aber nein, das war doch auch für ihre Engelsgeduld zuviel! Wütend stieß sie mit ihren Füßen gegen die untere Bettwand und rief mit ausbrechenden Tränen: »Ja, was denken denn die Leut', dees is ja a Bettlad wie für ein zwölfjähriges Dirndl! G'rad 'nausfluchen möcht i jetzt. Die ganze Nacht sitzen müssen, und jetzt kann mer net amal seine Baner ausstrecken. Dees, wann i g'wusst hätt'! I glaub', i hätt' lieber den dalketen Tauerl g'heiratet, der mir so lang nachg'stieg'n is, den vom Hirschenwirt, weißt?«

»Und ich«, schluchzte die Lizzi, sich im Bett halb aufrichtend, »i möcht' gleich katholisch wer'n und ins Kloster gehn!«

Und beide schlugen sie halb närrisch vor Zorn und Verzweiflung auf ihre Deckbetten los und schluchzten um die Wette, bis endlich die Müdigkeit doch ihr Recht forderte und sie allmählich einschlafen ließ – freilich mit aufgezogenen Knien, jämmerlich zusammengekrümmt in den kurzen Kinderbetten, die Unglückswürmer, die sie waren.

Drittes Kapitel

In welchem die Lizzi ihren Geburtstag feiert und ein lieber Besuch eintrifft.

Die zungenfertige Minna hatte mit ihrem Urteil über ihre Herrschaft nicht so unrecht gehabt. So viel war den guten Mödlinger Mädeln schon nach achttägigem Aufenthalt in ihrem neuen Heim klar geworden. Der Onkel Geheimrat war allerdings ein guter Mann, aber er konnte eben nicht so wie er wollte, das Vollbringen stand bei der stattlichen Frau Ida. Nicht etwa, dass sie ihr Übergewicht in plumper Weise zur Anwendung gebracht, den großen breitschultrigen und dabei doch so schwächlichen Mann herumgestoßen hätte nach ihrem Belieben – o nein, im Gegenteil! Mit sanfter Flötenstimme und freundlichem Lächeln bewog sie ihn zu tun, was sie begehrte, und wollte er auf den ersten Wink nicht gleich folgen, so genügte wohl ein schiebender Druck mit den Fingerspitzen, um ihn in der gewünschten Richtung fortzubewegen. Obwohl die Geheimrätin ihren Mann eigentlich wie ein unmündiges Kind behandelte, verstand sie es doch vortrefflich, zugleich stets die verehrungsvoll zu ihm Aufblickende zu spielen und seiner Eitelkeit, allen seinen kleinen Schwächen so zu schmeicheln, dass er selbst die mancherlei häusliche Plackerei, der sie ihn unterwarf, nur als einen Beweis ihrer zärtlichen Sorge um ihn empfand.

Ja, sie war eine kluge Frau, diese starkknochige, hochbusige Dame mit dem immer geröteten Gesicht und den nicht eben feinen Zügen. Sie hatte als Kind eines reichen Industriellen die übliche gute Erziehung höherer Töchter genossen mit Schweizer Pensionat, Musik-, Malunterricht und allen sonstigen Schikanen. Da sie aber weder besondere Talente, noch einen besonderen Geist besaß, so wäre sie ganz und gar in der Schablone des hohlen Bildungsphilisteriums stecken geblieben, wenn nicht ihr Ehrgeiz, ihre Weltfindigkeit sie befähigt hätten, sich für ihre besondere Stellung als Gattin eines hervorragenden Gelehrten das dafür passende geistige Kostüm zurechtzuschneidern. An seine wissenschaftliche Domäne, das Kirchenrecht, rührte sie wohlweislich nicht, dagegen suchte sie in literarischen und künstlerischen Dingen ihrem Wissen wie ihrem Geschmack einen mehr gelehrten Anstrich zu geben. Sie las mit Todesverachtung die langweiligsten Werke über frühchristliche Kunst wie die ödesten Traktate der Goethephilologen, besuchte nur das alte Museum, sprach mit verblüffender Sicherheit über den Einfluss Giottos auf die Malerschulen von Pisa, Siena, Venedig und so weiter und heuchelte eine innige Schwärmerei für Bach, trotzdem sie durchaus unmusikalisch war. Alle neue Kunst galt ihr, wie es sich für die Gattin eines deutschen Gelehrten geziemt, als ernsthafter Beachtung unwert, und nur zugunsten der neuerdings in Mode gekommenen dichtenden Professoren machte sie eine Ausnahme. Über die großen Befreiungstaten der wirklich führenden Geister der modernen Revolution in Kunst und Literatur wiederholte sie mit überlegenem Lächeln die auswendig gelernten Urteile stumpfsinniger Autoritäten. Sie verschmähte es auch, die ungesunden, frivolen, Sitte und Moral gefährdenden Erzeugnisse dieser Modernen kennenzulernen – natürlich mit Ausnahme der gelben Bände aus Paris, die sie ja lesen musste, um sich mit Fug darüber entrüsten zu können. Im Hause befliss sie sich, das Musterbild einer deutschen Gattin und Hausfrau darzustellen. Sie stand früh auf und sah in der Wirtschaft selbst nach allem, sie führte ein strammes Regiment über die Dienstboten, die nicht nur bezüglich ihrer Leistungen, sondern auch bezüglich ihres sittlichen Wandels ihrer strengen Aufsicht unterworfen waren. Sie wurden sogar in regelmäßigen Zwischenräumen in die Kirche kommandiert. Unbegreiflicherweise aber erntete die gnädige Frau für diese mütterliche Fürsorge von diesem modern entarteten Geschlecht so wenig Dank, dass sie sich alle paar Monate nach neuen Hilfskräften umsehen musste. Die »besseren« Mädchen, die schon in feinen Häusern gedient hatten und mit den Anforderungen solcher vertraut waren, die waren ihr zu selbstbewusst und zu teuer, und die billigen Mädchen vom Lande, mit denen sie es immer wieder aufs Neue versuchte, die waren dumm und ungeschickt, redeten roh und aßen viel; da mussten sie denn von früh bis spät unterwiesen, ermahnt und getadelt werden, worüber sie denn gemeiniglich noch früher die Geduld verloren als ihre eifrige Herrin.

Die strenge Mustergattin und Hausfrau besaß nur zwei weibliche Schwächen, das waren ihre Vorliebe für kostspielige, auffallende Kleidung und ihre Vergötterung des kleinen vierfüßigen »Süßlings«. Für die erste Leidenschaft, die sich mit ihrer sonstigen Sparsamkeit doch gar nicht vereinen ließ, gab sie die Vorliebe ihres Gatten für lebhafte Farben als Entschuldigung an. In dunklen, eintönigen Kostümen sehe er sie kaum, erklärte sie seufzend, er sei ja immer noch so zärtlich verliebt in sie wie als Bräutigam, und da müsse sie schon ein übriges tun, um sich möglichst jung und hübsch zu machen, und dem Geschmacke ihres treuen alten Anbeters nach Möglichkeit entgegenkommen. Joli oder Dolli, der »Süßling«, aber war dazu auserkoren, auf seine kleine Person alle mütterliche Zärtlichkeit ihres Herzens gehäuft zu sehen, welche auf ein eigenes Kind zu verschwenden ihr versagt geblieben war. Wie die meisten kinderlosen Frauen ward auch die Professorin in ihrem Wesen immer entschiedener altjüngferlich, je älter sie wurde. Zu rechter fraulicher Zärtlichkeit war sie nicht veranlagt, und der würdige Geheimrat mit seiner trockenen steifbeinigen Galanterie wäre auch einer andern, weicheren Frau gegenüber nicht der Mann gewesen, eine solche zu entzünden und dauernd in Brand zu erhalten. Da war denn der seidenhaarige passive Bologneser der rechte Nothelfer. Er war verwöhnt wie der einzige Sohn eines Kommerzienrats und durfte sich alles, aber auch einfach alles erlauben. Sogar wenn er die Einfassung der kostbaren Plüschvorhänge im Salon zerriss oder bei seinen Spaziergängen über erreichbare Tischplatten hinweg wertvolle Gegenstände herunterwarf, wurde er nur durch einen ganz leichten Klaps bestraft, wogegen sich über die unglücklichen Dienstboten, die es an der nötigen Aufmerksamkeit für ihn fehlen ließen, die volle Schale ihres Zornes ergoss. Mehrmals am Tage pflegte die gesamte Weiblichkeit des Hauses aufgeboten zu werden, um nach Jolis Ball zu suchen, und wehe dem, der nicht bereitwilligst unter die Betten kroch oder mit dem Besen sorgfältig genug unter allen Möbeln herumfuhr!

Die angedrohte mütterliche Erziehungstätigkeit der Tante den beiden Waisen gegenüber beschränkte sich denn auch in den ersten Tagen im Wesentlichen auf die sorgfältige Unterweisung in der Behandlung dieses Kleinods, und sie mussten es für einen besonderen Beweis von Vertrauen und als unverdiente Gunstbezeigung ansehen, dass sie zur Hilfeleistung bei Jolis Morgentoilette, die in einem warmen Bade mit nachfolgender gründlicher und dabei zarter Kämmung und Bürstung bestand, zugelassen wurden, sowie dass es ihnen auf Spaziergängen verstattet war, den Süßling abwechselnd an seiner roten Leine führen zu dürfen. Die großen Mädchen wären freilich lieber mit dem gewohnten flotten Schritt durch die Straßen gelaufen, um Berlin kennenzulernen, anstatt mit diesem tyrannischen Hundsvieh an jedem Eckstein oder Baumpfahl stehenzubleiben, den er just seiner Beachtung würdig hielt, oder ihn bei diesem schmutzigen Novemberwetter auf den Arm nehmen zu müssen, wenn die Tante erklärte, dass er müde sei, oder die Begegnung mit ungebildeten großen Hunden ihn in Gefahr brachte; aber sie waren immerhin Diplomatinnen genug, um nicht durch eine unkluge Weigerung vorzeitig die Gunst der Tante aufs Spiel zu setzen. War es doch schon ein gefährliches Wagnis gewesen, sich über die Kürze der Betten zu beklagen! Die große Kathi hatte in der Tat auch eine etwas längere Bettstelle erhalten, wenn auch nur eine ganz billige, eiserne, und Lizzi war wenigstens eine neue in Aussicht gestellt worden für den Fall, dass sie noch um einen halben Kopf wachsen sollte; doch war ihr gleichzeitig anempfohlen worden, nicht etwa durch unmäßiges Recken und Strecken im Bett solches Wachstum mutwillig zu beschleunigen. Für solch freundliches Entgegenkommen waren sie ja immerhin der Tante schon zu einigem opferfreudigen Dank verpflichtet.

Der Onkel hatte sich im Laufe der ersten Woche bereits zweimal zu einer besonderen Liebenswürdigkeit aufgeschwungen, indem er die bayrischen Nichten einmal ins Zeughaus und das andere Mal ins Sedanpanorama geführt hatte, bei welch letzterer Gelegenheit er sie sogar mit einem Glase Bier nebst belegten Brötchen traktierte. Er selbst besaß zwar nicht den geringsten militärischen Geist und war auch noch nie zuvor in diesen Ruhmestempeln des Preußentums gewesen. Er hielt es aber wohl für pädagogisch wichtig, die jungen Gemüter gleich anfangs der schneidigen, stählernen Luft auszusetzen, die um den Hohenzollernthron weht. Er glaubte sie so am sichersten vor schwächlichem Heimweh zu bewahren.

Nichtsdestoweniger vergossen die armen Mädchen noch jeden Abend wenn sie zu Bett gingen, gar reichliche Tränen, und selbst das billige Zugeständnis, dass die Linden vom Brandenburger Tor bis zum Lustgarten erheblich interessanter seien wie die Münchener Ludwigsstraße von der Feldherrnhalle bis zum Siegestor, konnte sie nicht davon abhalten, mit heißer Sehnsucht ihres sonnigen Heims in der Adelgundenstraße, drei finstere Treppen hoch, zu gedenken.

Oft schon hatten sie ihre kleine Barschaft überzählt und überlegt, ob sie damit wohl nach München zurückkehren und irgendetwas unternehmen könnten, aber sie waren ja so jung und unerfahren, so weich und nachgebend veranlagt, dass sie doch nun und nimmermehr gewagt hätten, irgendeinen von ihren kühnen Plänen zur Ausführung zu bringen, und wenn Lizzi eines Abends zornflammend, die schönen blauen Augen voll Tränen, erklärte, sie sei fest entschlossen, morgen heimlich eine Schachtel Schwefelhölzer zu kaufen und den Phosphor dem tückischen Joli in die Milch zu schaben, der sie zum großen Vergnügen der Tante tüchtig in den Finger gebissen, als sie ihn durch Krabbeln und Pieken zu necken gewagt hatte, so war das offenbar nur eitel Ruhmredigkeit.

Ihr enges Schlafzimmer hatten sie mit ihren paar Habseligkeiten und den zahlreichen Andenken an die geliebte Mutter ganz vollgepfropft, und doch hatten sie vieles noch in den Kisten auf den Boden stellen lassen müssen aus Mangel an Raum. Die Tage verbrachten sie meist in dem halbdunklen Berliner Zimmer, Handarbeiten machend oder die langweiligen Bücher lesend, die die Tante ihnen gab, und nur wenn sie Klavier spielen wollten, durften sie in den Salon, wo der fast nie benutzte, arg verstimmte Kapssche Stutzflügel stand. Aber wehe ihnen, wenn sie bei einem Forte oder gar Fortissimo die kräftigen Muskeln ihrer Handgelenke mit wünschenswerter Energie arbeiten ließen! Sofort erschien dann die Tante auf der Schwelle und flehte um Schonung für das kostbare Instrument, das eine so rohe Behandlung nicht gewohnt sei.

Zwar hatte Lizzi gleich bei der ersten Begrüßung ihrem Onkel verraten, dass über acht Tage ihr achtzehnter Geburtstag sei, und auch sicherheitshalber die Kathi angestiftet, sowohl die Tante als den Onkel im Laufe dieser Tage noch mehrmals daran zu erinnern, aber dennoch sah sie mit banger Sorge ihrem Festtage entgegen, denn all die geschickten Andeutungen hatten, soweit sie bemerken konnte, keinen sonderlichen Eindruck auf Geheimrats ausgeübt. Es wäre ihr doch zu schrecklich gewesen, ihren ersten Geburtstag in der Fremde so ganz ohne Sang und Klang, ohne Gugelhupf und Blumen und nachfolgendes Kaffeekränzel verleben zu müssen. Freilich war für den Tag schon eine besondere Festlichkeit angekündigt, aber das war eine große Gesellschaft zum Souper, die sie gar nichts anging und sicherlich nur noch mehr dazu beitragen konnte, die Gedanken der Tante, die schon tagelang vorher über die Arbeit und Unruhe stöhnte, welche die nötigen Vorbereitungen ihr verursachten, von ihrer unbedeutenden Person abzulenken. –

Sie wachte an ihrem Wiegenfeste eine halbe Stunde früher auf als gewöhnlich, und wusste die Zeit, bis Kathi erwachte, nicht besser anzuwenden, als indem sie die Nase tief in das Federkissen steckte und leise vor sich hinweinte. Darüber wäre sie beinahe wieder eingeschlafen, wenn nicht zur üblichen Aufstehzeit die Kathi zu ihr ins Bett geschlüpft wäre und ihr, gleichfalls weinend, unter herzlichen Küssen ihre Glückwünsche dargebracht hätte.

Es war nur gut, dass das Waschwasser so eiskalt war, das verwischte bei den Schwestern die Spuren der reichlich vergossenen Tränen, sodass sie mit leidlich frischen Gesichtern am Frühstückstisch erscheinen konnten. Sie waren die ersten und – o Freude: Auf Lizzis Teller lag ein halbes Dutzend Briefe, die alle den Poststempel »München« trugen. So war sie also doch noch nicht vergessen, nicht ganz einsam auf der Welt mit ihrer Kathi. Ein halbes Dutzend Herzen schlugen da unten im lieben Vaterlande noch für sie, das war nun wenigstens außer Zweifel gestellt.

Mit froher Hast erbrach sie ihre Briefe. Da schrieb die Anna Neumayer, die Cenzi Barmbichler, die Pepi Seidl, die Senta Tatzelberger, lauter Schulfreundinnen und Kränzelschwestern – lauter kindisches dummes Zeug, aber so lieb klang's, so herzig und voll ungeheuchelter Teilnahme. Die alte Gretl hatte auch geschrieben, drei kleine Seiten voll, und wie mochten ihr die sauer geworden sein, denn die Federarbeit war nicht ihre Sache und die Rechtschreibung durchaus von eigenster Erfindung. Sie schrieb, dass sie einstweilen, bis sich etwas Besseres für sie fände, einen Platz als Spülerin in einer Wirtschaft am Lehel angenommen habe. Als Köchin sei sie den Herrschaften alleweil zu alt, und sie würde wohl lange warten müssen, bis sie wieder einmal in ihrer Kuchel stünde. Und dann kamen wehmütige Erinnerungen an die liebe, selige Frau Mutter und zum Schluss die Bitte, dass ihre lieben Mädeln in Berlin nicht gar zu hochmütig werden und auch die alte Gretl nicht ganz vergessen sollten. Und zum Beschluss war da noch etwas, das sich hart und schwer anfühlte. Daraus kam eine schöne bunte Glückwunschkarte und eine Fotografie zum Vorschein.

Auf der Rückseite der Karte stand in steifer, großer Handschrift, die zum Mindesten einen zukünftigen General erraten ließ, dieses Verschen:

»Ob du auch fern im Preußenland,Stets bleibt mein Herz dir zugewandt,Ob blau und weiß, ob schwarz, weiß, rot,Ich bleib' dir treu bis in den Tod!Benno Tatzelberger.«

und die Fotografie stellte einen forsch dreinblickenden Kadetten dar.

Es war gut, dass die Tante immer noch nicht erschien, denn nun konnte die glückselig errötende Lizzi ihre Liebesgabe doch ungeniert ans Herz drücken und sich mit Kathi weidlich auskichern über die allerliebste Keckheit dieses militärischen Anbeters. Sie hatte sich zwar eigentlich aus dem dummen Buben gar nichts gemacht, ihn kaum mehr als zwei- oder dreimal gesehen und keine Ahnung von dieser noblen Eroberung gehabt, aber jetzt freute sie es doch unsinnig, das unerwartete Liebeszeichen, und sie beschloss sofort, ihm als Gegengabe ihr Bild zu schicken, woran sie sonst nie gedacht hätte. Überhaupt die Tatzelbergers! Daheim hatten sie immer ein bissel über sie gespottet, über die Senta, weil sie so romantisch tat, und über den Benno, weil er seine kleine dicke Nase so hoch trug. Sie hatten ihn immer nur »HerrvonTatzelberger« genannt, die Mädchen unter sich. Nein, es blieb richtig: In der Not lernt man erst seine wahren Freunde kennen.

Brief und Bild des Kadetten waren schon sicher in Lizzis Tasche geborgen, als die Tante Ida am Frühstückstische erschien, und zwar mit zwei Blumentöpfen bewaffnet, einem Myrtenstämmchen und einem blassvioletten Chrysanthemum. Sie lächelte holdselig und küsste die Lizzi auf beide Wangen.

»Herzliche Glückwünsche, mein liebes Kind!«, rief sie mit ungewöhnlicher Wärme, »möge dir der Himmel noch manche fröhliche Wiederkehr dieses Tages in unserm Hause bescheren! Oder nein, das darf man der aufblühenden Jungfrau doch wohl nicht wünschen! Ich will lieber sagen, möge dieser Myrtenstock dir recht bald Blüten genug treiben, um ein Kränzchen für dein Köpfchen herzugeben!«

Dabei lächelte sie sehr süß und strich der Lizzi über das prachtvolle, weichgewellte, kastanienbraune Haar, eine Zärtlichkeit, zu welcher sie sich bisher noch nie aufgeschwungen hatte. Und dann fuhr sie, auf die beiden Blumentöpfe deutend, fort: »Bitte, nimm vorläufig mit diesem kleinen Angebinde vorlieb. Das Myrtenstöckchen kannst du ja in deinem Zimmer behalten, du wirst es wohl nicht gern von dir lassen; aber das Chrysanthemum gibst du doch wohl lieber bei mir in Pension auf den Blumentisch im Salon, da hat es sorgfältige Pflege und mehr Licht, weißt du. Eine Torte habe ich dir nicht extra angeschafft, es gibt ja heute Abend beim Souper Süßigkeiten genug, und wozu müssen Kinder an ihrem Geburtstage sich den Magen verderben? bruh hi-i-i-i-i!"

»Du bist wirklich sehr freundlich, liebe Tante«, begann Lizzi stammelnd, förmlich gelähmt vor Schreck über so viel unerwartete Güte.

»Ach, das ist noch nicht alles!«, unterbrach die Geheimrätin lebhaft ihre Dankesbezeigung. »Ich habe mir noch eine ganz besondere Überraschung für dich ausgedacht, die dir gewiss Freude machen wird. Du weißt, dein Onkel kann Schwarz nicht leiden, und da ist das seidene Halbtrauerkleid, das ich mir vor vier Jahren um meine teure selige Mutter anschaffte, noch so gut wie neu. Ihr müsst ja doch jetzt noch ein ganzes Jahr lang Schwarz gehen, da wird dir das sehr zustatten kommen. Ich weiß eine sehr billige Näherin, die ins Haus geht, da kann sie es gleich mitmachen für dich, wenn wir das nächste Mal Schneiderei haben. Nun wollen wir aber erst Kaffee trinken. Ihr geht mir nachher hübsch zur Hand, nicht wahr? Ihr glaubt gar nicht, was man alles zu bedenken hat für solche große Gesellschaft.«

Den Onkel sah Lizzi erst eine Stunde später wie gewöhnlich, denn er musste sich durch einen verlängerten Morgenschlaf für die bevorstehenden Anstrengungen des Abends stärken. Er empfing die beiden Schwestern allein in seinem Studierzimmer und gratulierte Lizzi auf seine Weise recht herzlich. Dann führte er sie an der Hand hinter das große Bücherregal, das zwischen den beiden Fenstern quer ins Zimmer hineinragte und befragte sie ganz heimlich, indem er etwas verlegen seine Linke in die Tasche versenkte, in welcher er das Portemonnaie zu tragen pflegte: »Sag mal, liebe Elisabeth – wieviel hatsiedir gegeben?«

Lizzi blickte mit ihren großen blauen Augen sehr erstaunt zu ihm auf: »Ich weiß nicht, lieber Onkel, wen du meinst.«

»Na, meine Frau natürlich«, versetzte er etwas ungeduldig, und dann zeigte er ihr von Weitem sein Portemonnaie und fügte erklärend hinzu: »Ich meine, hat sie dir nicht ...«

»Nein, bloß zwei Blumenstöck' und ein alt's Kleid hat s' mir geb'n«, fiel Lizzi prompt ein.

»So, so, so«, murmelte der Professor, und dann rieb er sich gedankenvoll mit den Knöcheln die hohe Stirn.

»Mnja, da bin ich nun übel dran! Die Bedürfnisse junger Mädchen sind mir fremd, hehe, aber ich möchte doch – mnja ...« Er öffnete sein Portemonnaie, blickte stirnrunzelnd eine Weile hinein und erfasste mit raschem Entschluss ein Geldstück und drückte es ihr in die Hand.

»Da, kauf dir etwas dafür, mein Herzchen!« Und mit einer sehr lebhaften Gebärde wehrte er jeglichen Dank vornehm ab.

Lizzi schielte auf ihre offene Hand hinunter. Es war ein Zehnmarkstück, und sie freute sich sehr darüber, obwohl es ein wenig trinkgeldmäßig verabreicht worden war. Sie trat wieder zu der hinter dem Regal harrenden Kathi, während der Oheim im Zimmer auf und ab ging.