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Wie entsteht aus Glaube Macht – und wann verwandelt sich religiöse Überzeugung in ein System der Kontrolle? Die Shincheonji-Kirche, gegründet vom Südkoreaner Lee Man-hee, gilt als eine der umstrittensten Glaubensbewegungen der Gegenwart. Hinter der Sprache des Heils entfaltet sich ein Geflecht aus Disziplin, Loyalität und Mission, das in seiner Struktur an politische Apparate erinnert. Dieses Buch untersucht, wie sich religiöse Idee, psychologische Strategie und organisatorische Präzision zu einem geschlossenen Weltbild verbinden, das Erlösung verspricht und Gehorsam erzwingt. Jenseits der Schlagzeilen über Sekten und Heilslehren öffnet sich hier ein Blick auf die Logik des Religiösen selbst: auf das uralte Bedürfnis nach Sinn und Führung, das in der Moderne neue Formen findet. Die Analyse reicht von den frühen christlichen Machtmodellen bis zu den digitalen Netzwerken einer globalisierten Spiritualität. Dabei zeigt sich, dass das Phänomen Shincheonji weniger ein Fremdkörper im religiösen Kosmos ist als vielmehr ein Spiegel seiner inneren Mechanismen. Dieses Buch ist keine Anklage und kein Bekenntnis. Es ist der Versuch, die Architektur des Glaubens als soziales und geistiges Konstrukt zu begreifen – dort, wo Erleuchtung zur Strategie wird und Hoffnung zum Instrument. In der Betrachtung einer einzelnen Bewegung tritt eine größere Frage hervor: Warum bleibt der Mensch bereit, sich binden zu lassen – auch dann, wenn er längst zu wissen glaubt, dass er frei ist?
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Erfindung der
Shincheonji-Kirche
•
Manipulation, Demagogie
und Bedenken
Eine Betrachtung
von
Lutz Spilker
DIE ERFINDUNG DER SHINCHEONJI–KIRCHE
MANIPULATION, DEMAGOGIE UND BEDENKEN
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Verlag:
Lutz Spilker
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Inhalt
Inhalt
Das Prinzip der Erfindung
Vorwort
Die Wiederkehr des Glaubens im säkularen Zeitalter
Korea im 20. Jahrhundert
Religiöser Boden und politische Narben
Die Figur Lee Man-hee
Biographie eines Erwählten
Zwischen Vision und Organisation
Die Gründung von 1984
Offenbarung und Übersetzung
Der symbolische Name ›Shincheonji‹
Die Konstruktion der Zwölf Stämme
Mythos als Strukturprinzip
Die frühen Jahre
Expansion, Widerstand, Konsolidierung
Das hermetische Lehrgebäude
Versiegelung und Auslegung
Der ›wahre Pastor‹
Personenkult und geistige Abhängigkeit
Der neue Himmel, die neue Erde
Kosmische Sprache, soziale Funktion
Die Bibelschulen
Räume der Unterweisung und Disziplin
Das Versprechen der Rettung
Heilsökonomie und Exklusivität
Missionstaktiken
Rekrutierung, Tarnung, Integration
Die Rolle der Medien
Digitale Verbreitung und Imagepflege
HWPL und die Friedensrhetorik
Soft Power unter religiösem Deckmantel
Internationale Expansion
Europa als neues Missionsfeld
Deutschland im Fokus
Berlin, Frankfurt und der stille Aufbau
Kontrolle und Loyalität
Mechanismen der inneren Disziplin
Der Umgang mit Abweichlern
Soziale Sanktion und Isolation
Sekten, Kirchen, Bewegungen
Taxonomische Unsicherheiten
Parallelen zu Moon, Scientology und den ›Zeugen Jehovas‹
Religiöse Spiegelungen und strukturelle Verwandtschaften
Die Logik der Erlösung
Religiöse Sprache als Herrschaftsmittel
Glaube, Macht und Markt
Ökonomien des Heiligen
Religion als Managementsystem
Organisation des Transzendenten
Medienberichte und staatliche Reaktionen
Zwischen Aufklärung und Sensation
Aussteigerberichte
Psychologie des Glaubensverlustes
Krankheit, Tod und Nachfolge
Das Problem der Unsterblichkeit
Pandemie und Kontrolle
Shincheonji im Spiegel der Covid-Krise
Die juristische Auseinandersetzung
Haftung, Verantwortung, Leugnung
Der politische Körper der Religion
Macht durch Moral
Die Ontologie des Glaubens
Was ›wirklich‹ geglaubt wird
Hoffnung als Währung
Ökonomische Metaphern des Heils
Das Ende der Transzendenz
Wenn Offenbarung zur Routine wird
Der Mensch im System
Psychologische Topographie des Gehorsams
Der Westen und der Osten
Kulturelle Resonanzen und Missverständnisse
Die Zukunft des Glaubens
Was bleibt nach dem Glauben an den Glauben?
Über den Autor
In dieser Reihe sind bisher erschienen
Es würde mir nicht im Traum einfallen,
einem Klub beizutreten, der bereit wäre,
jemanden wie mich als Mitglied aufzunehmen.
Groucho Marx
Groucho Marx (geboren 2. Oktober 1890 als Julius Henry Marx in New York; gestorben 19. August 1977 in Los Angeles) war ein US-amerikanischer Schauspieler und Entertainer. Als geistreicher Wortführer der Marx Brothers wurde er zu einem der erfolgreichsten englischsprachigen Komiker.
Das Prinzip der Erfindung
Vor etwa 20.000 Jahren begann der Mensch, sesshaft zu werden. Mit diesem tiefgreifenden Wandel veränderte sich nicht nur seine Lebensweise – es veränderte sich auch seine Zeit. Was zuvor durch Jagd, Sammeln und ständiges Umherziehen bestimmt war, wich nun einer Alltagsstruktur, die mehr Raum ließ: Raum für Muße, für Wiederholung, für Überschuss.
Die Versorgung durch Ackerbau und Viehzucht minderte das Risiko, sich zur Nahrungsbeschaffung in Gefahr begeben zu müssen. Der Mensch musste sich nicht länger täglich beweisen – er konnte verweilen. Doch genau in diesem neuen Verweilen keimte etwas heran, das bis dahin kaum bekannt war: die Langeweile. Und mit ihr entstand der Drang, sie zu vertreiben – mit Ideen, mit Tätigkeiten, mit neuen Formen des Denkens und Tuns.
Was folgte, war eine unablässige Kette von Erfindungen. Nicht alle dienten dem Überleben. Viele jedoch dienten dem Zeitvertreib, der Ordnung, der Deutung oder dem Trost. So schuf der Mensch nach und nach eine Welt, die in ihrer Gesamtheit weit über das Notwendige hinauswuchs.
Diese Sachbuchreihe mit dem Titelzusatz ›Die Erfindung ...‹ widmet sich jenen kulturellen, sozialen und psychologischen Konstrukten, die aus genau diesem Spannungsverhältnis entstanden sind – zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit, zwischen Dasein und Deutung, zwischen Langeweile und Sinn.
Eine Erfindung ist etwas Erdachtes.
Eine Erfindung ist keine Entdeckung.
Jemand denkt sich etwas aus und stellt es zunächst erzählend vor. Das Erfundene lässt sich nicht anfassen, es existiert also nicht real – es ist ein Hirngespinst. Man kann es aufschreiben, wodurch es jedoch nicht real wird, sondern lediglich den Anschein von Realität erweckt.
Der Homo sapiens überlebte seine eigene Evolution allein durch zwei grundlegende Bedürfnisse: Nahrung und Paarung. Alle anderen, mittlerweile existierenden Bedürfnisse, Umstände und Institutionen sind Erfindungen – also etwas Erdachtes.
Auf dieser Prämisse basiert die Lesereihe ›Die Erfindung …‹ und sollte in diesem Sinne verstanden werden.
Vorwort
Religiöse Bewegungen entstehen selten aus dem Nichts. Sie wachsen aus sozialen Spannungen, geistigen Leerstellen und dem fortwährenden Bedürfnis des Menschen, das Unfassbare zu ordnen. Jede neue Glaubensgemeinschaft ist daher nicht nur ein theologisches, sondern auch ein kulturelles Ereignis – ein Spiegel dessen, was eine Epoche über sich selbst zu wissen glaubt. Die Shincheonji-Kirche, gegründet 1984 in Südkorea, fügt sich in diese lange Tradition der Sinnsuche ein und verkörpert zugleich eine spezifisch moderne Ausprägung: Sie agiert global, organisiert sich digital und spricht die Sprache der Offenbarung in einer Welt, die an Transzendenz kaum noch glaubt.
Dieses Buch fragt, wie aus Glauben Macht wird und aus Verkündigung Struktur. Es untersucht die Mechanismen einer Bewegung, die sich selbst als ›Tempel des Zeugnisses‹ versteht und doch eine bemerkenswerte Nähe zu irdischer Disziplin und strategischer Planung zeigt. Im Mittelpunkt steht weniger die Frage nach der Wahrheit einer Lehre als die nach ihrer Wirkung: Wie entsteht Vertrauen in eine Figur, die sich als alleiniger Ausleger göttlicher Offenbarungen begreift? Welche Formen der Loyalität entwickeln Menschen, die in dieser Überzeugung Trost, Zugehörigkeit oder Erlösung suchen? Und was sagt eine solche Organisation über die Sehnsucht der Moderne nach Orientierung aus?
Die Shincheonji-Kirche ist dabei kein isoliertes Phänomen. Sie steht in einer Reihe mit früheren religiösen Bewegungen, die das Verhältnis von Heil und Herrschaft neu definierten. In ihrem Gefüge verdichten sich alte Muster – das Bedürfnis nach Führung, die Codierung des Glaubens in Rituale, die Verwaltung des Heiligen. Vielleicht zeigt sich in ihr weniger ein Bruch mit der Tradition als deren konsequente Fortschreibung unter veränderten Bedingungen.
Das Folgende will nicht verurteilen, sondern verstehen. Es sucht nach der inneren Logik eines Systems, das das Göttliche verwaltet, als wäre es eine Ressource. Denn erst, wenn man die Architektur des Glaubens als menschliches Konstrukt erkennt, lässt sich ermessen, welche Kräfte ihn tragen – und welche ihn bedrohen.
URSPRUNG UND
VORAUSSETZUNG
Die Wiederkehr des Glaubens im säkularen Zeitalter
Es ist eine der auffälligsten Paradoxien unserer Gegenwart: Während der wissenschaftliche Fortschritt in schwindelerregendem Tempo voranschreitet und die Welt in den letzten hundert Jahren rationaler, vernetzter und technisierter geworden ist, scheint der Glaube – jener uralte Begleiter menschlicher Unsicherheit – zurückzukehren. Nicht in den traditionellen Gewändern der Religion, sondern in neuen Formen, flüchtiger, subtiler und oft schwerer zu greifen. Die Welt ist nicht entzaubert, wie Max Weber es einst prophezeite. Sie hat nur die Orte gewechselt, an denen sie das Heilige sucht.
I. Der leise Hunger nach Sinn
In säkularen Gesellschaften galt lange als ausgemacht, dass Religion allmählich verblassen würde – wie eine alte Erzählung, die man irgendwann höflich beiseitelegt. Doch je stärker die Welt sich entgrenzt, je komplexer sie wird, desto spürbarer wächst der Wunsch nach einfachen Deutungen. Die Sehnsucht nach Ordnung, nach einem verlässlichen Grund, bleibt bestehen, auch wenn sie sich in neue Sprachen kleidet. Man könnte sagen: Der Glaube ist nicht verschwunden, er hat seine Adresse geändert.
Er ist heute in Kursen für Achtsamkeit zu finden, in selbsternannten Zentren für Bewusstseinsentwicklung, in Online-Gemeinschaften, die von Energieflüssen, Schwingungen und kosmischen Gesetzen sprechen. Er versteckt sich in esoterischen Selbsthilfekulten, in digitalen Bewegungen, in politischen Visionen. Überall dort, wo Menschen versuchen, das Unberechenbare zu bannen, regt sich die alte religiöse Regung: das Bedürfnis, etwas Höherem zu vertrauen als sich selbst.
Und doch unterscheidet sich dieser neue Glaube in einem wesentlichen Punkt von seinen historischen Vorgängern. Er entsteht nicht mehr aus der Überlieferung, sondern aus dem Mangel. Er wird nicht vererbt, sondern gesucht. Es ist ein Glaube ohne Wurzeln – und gerade das macht ihn anfällig für jede Form der Vereinnahmung.
II. Die Erosion des Heiligen
Das 20. Jahrhundert hat das Heilige in eine merkwürdige Schwebe gebracht. Nach zwei Weltkriegen, dem Versagen ideologischer Systeme und der Entthronung religiöser Autoritäten stand der Mensch scheinbar allein da – nackt vor der Geschichte, ohne metaphysische Kulisse. Die Kirchen verloren Mitglieder, die Liturgien ihre Strahlkraft, die Dogmen ihre Überzeugungskraft.
Doch das Verschwinden der Religion bedeutete nicht das Ende des Religiösen. Es war vielmehr der Beginn einer neuen Phase: der Verlagerung des Glaubens in die Sphäre des Persönlichen, manchmal auch des Privaten. Der Mensch suchte weiterhin nach Bedeutung, nur tat er es nun ohne institutionelle Anleitung. Was dabei entstand, war ein geistiges Vakuum, das nach Füllung verlangte.
In dieser Leerstelle begann etwas zu wachsen, das man als die Wiederkehr des Glaubens im Gewand der Selbstermächtigung bezeichnen könnte. Der moderne Mensch will glauben, aber nicht mehr glauben müssen. Er möchte wählen, nicht gehorchen; verstehen, nicht beichten. Doch je stärker er sich von der religiösen Bindung löst, desto größer wird der Drang, sie in anderer Form zu ersetzen – sei es durch Ideologien, durch psychologische Heilslehren oder durch charismatische Führungsfiguren, die neue Wahrheiten versprechen.
III. Der Mensch zwischen Erkenntnis und Erlösung
Seit jeher oszilliert der Mensch zwischen zwei Bedürfnissen: dem nach Erkenntnis und dem nach Erlösung. Das eine führt ihn zur Wissenschaft, das andere zu den Religionen. In früheren Zeiten waren beide kaum zu trennen. Der Philosoph war zugleich Theologe, der Forscher noch Gläubiger, der Priester ein Hüter des Wissens. Erst die Moderne schnitt diese Verbindung entzwei – und schuf damit die Vorstellung, man müsse sich entscheiden: zwischen dem Denken und dem Glauben.
Doch diese Trennung ist trügerisch. Denn die Sehnsucht nach Sinn lässt sich nicht wegargumentieren. Sie kehrt zurück, oft dort, wo die Vernunft an ihre Grenzen stößt. Selbst der überzeugte Rationalist kennt sie – in Momenten der Ohnmacht, des Verlustes, des Staunens. Glaube ist nicht das Gegenteil von Wissen, sondern dessen Schatten: Er beginnt dort, wo Wissen endet.
In diesem Schattenbereich entstehen neue Formen von Religiosität, die nicht mehr im Tempel oder in der Kirche verortet sind, sondern in den Köpfen, in den Medien, in den Gemeinschaften derer, die sich vom Alten abgewandt haben, ohne ein Neues zu finden. Die Wiederkehr des Glaubens ist daher kein Rückfall, sondern eine Bewegung der Suche – ein tastendes Umherirren im Labyrinth der Moderne.
IV. Globalisierung des Heils
Der Aufstieg neureligiöser Bewegungen, besonders in Ostasien, ist ohne die Globalisierung nicht zu verstehen. Während der Westen sich an seiner eigenen Säkularität abarbeitet, wächst im Osten ein Milieu, in dem Spiritualität, Technik und Organisation eine neue Allianz eingehen. Südkorea etwa, das Land der rasanten Industrialisierung und digitalen Vernetzung, ist gleichzeitig ein Labor spiritueller Experimente.
Hier gedeihen Gruppen, die christliche Symbolik mit konfuzianischer Disziplin und moderner Marketinglogik verbinden. Sie sprechen von Offenbarung und Heil, bedienen sich dabei aber moderner Kommunikationsmittel und globaler Netzwerke. In dieser Verbindung von Religion und Technologie, von Heilsversprechen und Organisationskraft, zeigt sich die eigentliche Signatur des 21. Jahrhunderts: Das Göttliche wird administriert.
Die Shincheonji-Kirche ist ein Kind dieser Epoche. Ihr Entstehen fällt in eine Zeit, in der sich der religiöse Markt weltweit neu ordnet. Während die alten Institutionen schwinden, entstehen transnationale Bewegungen, die Religion nicht als Bekenntnis, sondern als System verstehen. Sie arbeiten mit Effizienz, Strategie und emotionaler Intelligenz – ein Synkretismus aus Spiritualität und Management.
V. Die Rückkehr des Glaubens als kulturelles Symptom
Die Wiederkehr des Glaubens im säkularen Zeitalter ist nicht bloß ein religiöses, sondern ein kulturelles Phänomen. Sie verweist auf eine tieferliegende Erschöpfung der Moderne. Der Glaube, der zurückkehrt, ist nicht mehr derselbe, den er ersetzt. Er ist gebrochen, reflektiert, manchmal ironisch. Er weiß, dass er geglaubt wird – und das unterscheidet ihn von der alten Frömmigkeit.
Diese neue Religiosität besitzt etwas Doppelgesichtiges. Einerseits versucht sie, dem Menschen Orientierung zu geben, andererseits neigt sie dazu, ihn erneut in Abhängigkeiten zu führen. Der Wunsch nach spiritueller Freiheit mündet nicht selten in neue Dogmen, die nur anders heißen. Der Glaube wird zum Produkt, die Erlösung zur Dienstleistung.
Es ist kein Zufall, dass viele dieser Bewegungen aus Regionen kommen, die in kurzer Zeit dramatische gesellschaftliche Umbrüche erlebt haben. In solchen Phasen entsteht ein Klima der Ungewissheit, in dem charismatische Führer, einfache Wahrheiten und versprochene Heilswege besonders verführerisch wirken. Der Mensch sucht Halt – und findet ihn dort, wo er am eindringlichsten versprochen wird.
VI. Der stille Pakt zwischen Zweifel und Vertrauen
Bemerkenswert ist, dass selbst in säkularen Gesellschaften die Sprache des Glaubens nie ganz verschwunden ist. Sie hat sich in die Alltagssprache geschlichen: Man glaubt an Fortschritt, an sich selbst, an die Wissenschaft. Diese rhetorische Spur zeigt, dass das Denken in Kategorien des Vertrauens und der Hoffnung tief im kulturellen Gedächtnis verankert bleibt.
Der säkulare Mensch mag sich von Religion distanzieren, doch er ersetzt sie durch andere Formen des Glaubens. Auch Rationalität verlangt Vertrauen – in Methoden, Modelle, Hypothesen. Es scheint, als könne der Mensch ohne Glaubensstruktur gar nicht denken. Der Unterschied liegt nur in der Richtung, in die er glaubt.
So entsteht im säkularen Zeitalter ein neuer Pakt zwischen Zweifel und Vertrauen. Der Zweifel schützt vor Verblendung, das Vertrauen vor Sinnverlust. Beide sind notwendig, doch das Gleichgewicht ist fragil. Wenn der Zweifel zu stark wird, droht Zynismus; wenn das Vertrauen überhandnimmt, entsteht Fanatismus. Zwischen diesen Polen bewegt sich der Mensch des 21. Jahrhunderts – hin- und hergerissen zwischen Aufklärung und Sehnsucht.
VII. Was die Wiederkehr des Glaubens bedeutet
Die Wiederkehr des Glaubens ist kein Rückfall in alte Zeiten, sondern eine Anpassung an neue Verhältnisse. Sie zeigt, dass der Mensch selbst im Zeitalter der Daten und Algorithmen das Bedürfnis nach Transzendenz nicht ablegen kann. Vielleicht, weil das Unbegreifliche ein Teil seines geistigen Organismus ist – ein inneres Organ, das sich nicht amputieren lässt, ohne dass etwas Wesentliches verloren ginge.
Doch die Rückkehr des Glaubens bringt auch neue Gefahren. Denn wo alte Strukturen zerfallen, entstehen Räume, die von neuen Autoritäten besetzt werden können. Bewegungen wie die Shincheonji-Kirche nutzen genau diese Zwischenräume: Sie bieten Orientierung, wo Orientierung fehlt, und verwandeln die Sehnsucht nach Sinn in eine Disziplin der Hingabe.
Damit steht die Frage im Raum, ob der Mensch tatsächlich säkular geworden ist – oder ob er nur gelernt hat, seinen Glauben zu verschieben, ihn zu tarnen, zu rationalisieren. Vielleicht ist der moderne Mensch nicht weniger gläubig als seine Vorfahren, nur misstrauischer gegenüber den alten Formen. Er glaubt – aber heimlich.
Und so kehrt der Glaube zurück, nicht als Lichtgestalt, sondern als Schatten der Vernunft. Er folgt uns in jede neue Epoche, in jede technische Revolution, in jedes System, das vorgibt, ohne ihn auszukommen. Denn letztlich ist er weniger eine Frage der Religion als eine Konstante des Bewusstseins.
Der Glaube, so scheint es, stirbt nie. Er wandelt sich, zieht neue Gewänder an, passt sich an die Sprache der Zeit an – doch er bleibt. Und wo immer er wiederkehrt, stellt er dieselbe unbequeme Frage, die keine Wissenschaft und keine Philosophie je ganz beantworten konnte:
Woran glaubt der Mensch, wenn er nicht mehr an Gott glaubt?
Korea im 20. Jahrhundert
Religiöser Boden und politische Narben
Wenn man verstehen will, weshalb gerade in Südkorea eine Bewegung wie die Shincheonji-Kirche entstehen konnte, muss man sich in das 20. Jahrhundert dieses Landes hineinversetzen – eine Epoche, die von Umbrüchen, Besatzungen, Kriegen und inneren Spannungen geprägt war. Korea ist ein Land, das in der Moderne gleich mehrfach seine Identität verlor und neu zusammensetzen musste. Wer über den religiösen Boden spricht, auf dem diese Kirche wuchs, muss zugleich die politischen Narben lesen, die das Land zeichnen – Narben, die nicht nur im kollektiven Gedächtnis, sondern in der Struktur des Glaubens selbst fortleben.
I. Die koloniale Wunde
Zu Beginn des Jahrhunderts stand Korea unter japanischer Herrschaft. Die Annexion von 1910 brachte nicht nur den Verlust der politischen Souveränität, sondern auch eine tiefgreifende kulturelle Verletzung. Die japanische Kolonialmacht unterdrückte Sprache, Bildung und religiöse Traditionen. Tempel wurden umfunktioniert, christliche Missionen überwacht, buddhistische Orden zwangsverwaltet. Das Land wurde zum Experimentierfeld einer modernen Kolonialverwaltung, die religiöse Praktiken entweder disziplinierte oder instrumentalisierte.
In dieser Zeit entstand eine doppelte religiöse Dynamik: einerseits die Anpassung – ein stilles Überleben im Verborgenen –, andererseits der Widerstand, der sich in geheimen Versammlungen, prophetischen Bewegungen und lokalen Messianismen artikulierte. Der Glaube wurde zur Form der Selbstbehauptung. Wer sich nicht politisch wehren konnte, rettete sich in die Vorstellung eines göttlichen Plans, der irgendwann Gerechtigkeit bringen würde. Die Theologie des Leidens wurde zur Theologie der Nation.
In diesem Klima entwickelten sich erste synkretistische Strömungen, die christliche, schamanistische und konfuzianische Elemente verbanden. Der koreanische Schamanismus – mit seinen Geisterbeschwörungen, Opfergaben und Heilritualen – blieb lebendig, selbst in städtischen Zentren. Er verlieh dem Glauben eine emotionale Dichte, die rationalen Religionen oft fehlte. Während die japanische Verwaltung versuchte, konfuzianische Werte zur Disziplinierung zu nutzen, verbanden viele Koreaner sie mit einem Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber der Besatzungsmacht. Der Glaube wurde so zu einer verborgenen Sprache des Widerstands.
II. Die Mission des Westens
Parallel dazu entfaltete sich im Untergrund eine erstaunlich produktive Begegnung mit westlichem Christentum. Amerikanische und europäische Missionare hatten bereits im 19. Jahrhundert Fuß gefasst, doch die Kolonialzeit beschleunigte ihre Wirksamkeit. Schulen, Krankenhäuser, Bibelkreise – all dies verband religiöse Erneuerung mit sozialer Mobilität.
Für viele Koreaner war das Christentum keine bloße Bekehrung, sondern eine Möglichkeit, sich der Vormundschaft der Kolonialmacht zu entziehen. Der westliche Gott erschien als Gegenmacht zum japanischen Kaiser. In der Sprache der Bibel – besonders in den prophetischen Büchern – fand man eine Metapher für Befreiung. Es war kein Zufall, dass viele spätere Unabhängigkeitskämpfer aus protestantischen Kreisen stammten.
Doch mit der Befreiung 1945 endete diese Allianz nicht, sie verwandelte sich. Die Amerikaner, nun Schutzmacht des Südens, brachten nicht nur politische, sondern auch religiöse Strukturen mit. Die großen evangelikalen Kirchen, die in den USA während des Kalten Krieges wuchsen, fanden in Korea ein offenes Feld. Der Antikommunismus verschmolz mit dem Glauben an göttliche Auserwählung. Der Krieg gegen den Norden wurde zugleich als geistlicher Kampf gedeutet: das Reich des Lichts gegen das Reich der Finsternis.
Damit begann eine neue Phase der Christianisierung – diesmal nicht missionarisch von außen, sondern politisch von innen getragen. Pastoren wurden zu Meinungsführern, Kirchen zu sozialen Zentren. Der Glaube war nicht länger privates Bekenntnis, sondern gesellschaftliche Kraft.
III. Der Koreakrieg und die Zerrissenheit des Glaubens
Der Koreakrieg (1950–1953) teilte nicht nur das Land, sondern auch seine religiöse Landschaft. Familien wurden getrennt, Gemeinden zerrissen, Priester und Lehrer flohen über Nacht. In dieser Atmosphäre der Angst und der Gewalt begann Religion eine neue Funktion zu übernehmen: Sie bot einen Zufluchtsort.
Das Chaos jener Jahre lässt sich kaum überzeichnen. Städte in Trümmern, Dörfer verbrannt, Millionen von Flüchtlingen – ein Land, das physisch und seelisch entkernt war. In dieser Leere erwuchs die Bereitschaft, jeder Stimme zu folgen, die Sinn versprach. Der Krieg hatte die moralischen Koordinaten zerstört, die Moderne überforderte den Wiederaufbau.
So entstand eine ganze Generation religiöser Bewegungen, die die Katastrophe in Heilsgeschichte verwandelten. Einige verkündeten das baldige Kommen des Messias, andere predigten Buße für die Sünden der Nation. In jedem Fall verschmolz der Schmerz der Gegenwart mit apokalyptischer Erwartung. Der Himmel wurde zum Gegenentwurf zu einer Welt, die aus den Fugen geraten war.
Man darf nicht übersehen, dass diese Zeit auch die emotionale Grundlage für charismatische Führergestalten legte. Der Wunsch nach Orientierung, nach moralischer Autorität, nach einem Deuter der Ereignisse war enorm. In einem Land ohne feste Institutionen wurde der Prediger zum Ersatz für den Staat, der Prophet zur Stimme der Ordnung.
IV. Industrialisierung und religiöse Blüte
Mit der Diktatur Park Chung-hees (1961–1979) begann eine Phase rasanter Modernisierung. Korea verwandelte sich in wenigen Jahrzehnten von einem Agrarstaat zu einer Industrienation. Straßen, Fabriken, Hochhäuser – der materielle Fortschritt war unübersehbar, doch er hinterließ eine neue Art von Leere. Millionen Menschen zogen vom Land in die Städte, verloren ihre sozialen Bindungen, ihre traditionellen Rituale, ihre gewachsenen Gemeinschaften.
Gerade in dieser Zeit explodierte die Zahl der Kirchen. In Seoul entstanden in den 1970er Jahren mehr protestantische Gemeinden als irgendwo sonst in Asien. Der Glaube bot Heimat, wo die Stadt Anonymität erzeugte. Gottesdienste wurden zu sozialen Treffpunkten, zu Orten emotionaler Erleichterung inmitten des Arbeitstakts.
Doch je erfolgreicher die Kirchen wurden, desto stärker ähnelten sie modernen Unternehmen. Hierarchien, Wachstum, Spendenziele – die religiöse Landschaft wurde zur Ökonomie des Heils. Und wo ein Markt entsteht, entsteht Konkurrenz. Neben den etablierten Kirchen wuchsen kleine Gruppen, Hausgemeinden und charismatische Bewegungen, die von Visionen und Offenbarungen sprachen.
In dieser Gemengelage formte sich das geistige Klima, aus dem später Shincheonji hervorgehen sollte: eine Mischung aus religiösem Eifer, wirtschaftlicher Dynamik und nationaler Ambition. Die Vorstellung, Korea könne eine führende Rolle im göttlichen Heilsplan spielen, wurde zunehmend populär.
V. Politische Narben, spirituelle Wunden
Der Weg in die Demokratie in den 1980er Jahren war mühsam und blutig. Studentenaufstände, Massaker, Repression – die junge Republik trug ihre Konflikte offen aus. Wieder wurde Religion zum Resonanzraum politischer Erfahrung. In den oppositionellen Bewegungen fanden sich viele Christen, doch zugleich entstanden Gruppierungen, die Spiritualität als Fluchtweg nutzten.
Die religiöse Landschaft Koreas war inzwischen ein Mosaik aus christlichen, buddhistischen, konfuzianischen und schamanischen Elementen. Viele Menschen wechselten zwischen ihnen, ohne ein dogmatisches Problem darin zu sehen. Der Glaube wurde flexibel, anpassungsfähig, fast experimentell.
In den 1990er Jahren, als der wirtschaftliche Erfolg Koreas Weltmaßstäbe setzte, begann eine neue Phase religiöser Selbstsicherheit. Die großen Kirchen bauten Megatempel, die Zahl der Gläubigen stieg, Fernsehprediger wurden zu Berühmtheiten. Doch unter der glänzenden Oberfläche wuchs ein Gefühl der Entfremdung. Die Predigt vom Wohlstand als göttlichem Segen ließ wenig Raum für Zweifel, Schwäche oder individuelle Krise.
Genau in diese Lücke stießen Gruppen wie Shincheonji. Sie boten nicht Reichtum, sondern Erkenntnis; nicht Tradition, sondern Geheimnis. Ihr Gründer versprach nicht bloß Erlösung, sondern Verständnis – den Schlüssel zur ›versiegelten Schrift‹. Damit griff er eine alte Wunde auf: das Gefühl, dass hinter der sichtbaren Welt eine tiefere Ordnung liegt, die den Eingeweihten vorbehalten ist.
VI. Der Boden, auf dem etwas Neues wächst
Die religiöse Vitalität Koreas ist also keine zufällige Erscheinung, sondern das Ergebnis eines Jahrhunderts permanenter Destabilisierung. Jeder politische Bruch – Kolonialherrschaft, Krieg, Diktatur, Demokratisierung – hinterließ eine Spur im Glauben. Religion war nie nur spirituelle Praxis, sondern auch Bewältigung.
Im Westen führte die Moderne zur Trennung von Kirche und Staat, in Korea verschmolzen sie zeitweise zu einer symbolischen Einheit: Der Pfarrer predigte nicht nur das Evangelium, er deutete auch die nationale Geschichte. Wer Gott verstand, verstand das Schicksal des Landes. In diesem Klima konnte eine Bewegung, die sich als ›Tempel des Zeugnisses‹ bezeichnet, leicht Anklang finden.
Man könnte sagen, die politischen Narben Koreas bildeten den Humus, auf dem neue religiöse Pflanzen wuchsen. Sie tragen den Schmerz der Vergangenheit in sich, aber auch den Willen, aus ihm Bedeutung zu formen. Das macht sie so vital – und so gefährlich. Denn wo Glaube zur Kompensation kollektiver Traumata wird, droht er, das Trauma zu verewigen.
Korea im 20. Jahrhundert ist daher weniger eine historische Etappe als ein geistiger Zustand: eine Spannung zwischen Demut und Ehrgeiz, zwischen Wunde und Wiedergeburt. Die religiöse Energie, die daraus hervorging, hat das Land zu einem der spirituell produktivsten Orte Asiens gemacht – und zugleich zu einem der anfälligsten für Bewegungen, die Erlösung als Organisation denken.
Am Ende dieses Jahrhunderts steht ein Land, das den Hunger nach Sinn nicht verloren, sondern vervielfacht hat. In ihm treffen Aufklärung und Mystik, Technik und Prophetie, Kapitalismus und Sehnsucht aufeinander – ein fruchtbarer, zugleich gefährlicher Boden. Auf ihm sollte, nur wenige Jahre später, eine Kirche entstehen, die all dies in sich aufnimmt: die Verheißung des Fortschritts, die Sprache der Offenbarung und die Disziplin eines Staates, der gelernt hat, sich selbst zu erlösen.
Die Figur Lee Man-hee
Biographie eines Erwählten
Wenn man den Namen Lee Man-hee ausspricht, klingt er zunächst unscheinbar – fast anonym. In Südkorea tragen Zehntausende diesen Familiennamen, und auch der Vorname Man-hee hebt ihn nicht aus der Menge. Doch hinter diesem gewöhnlichen Klang verbirgt sich ein Mann, der in seiner Heimat und weit darüber hinaus eine religiöse Bewegung ins Leben rief, die an Disziplin, Geschlossenheit und missionarischem Ehrgeiz ihresgleichen sucht. Seine Geschichte ist mehr als die Biographie eines Predigers. Sie ist das Porträt eines Jahrhunderts in Bewegung – und die Geschichte eines Mannes, der aus der Zerrissenheit seines Landes eine göttliche Berufung formte.
I. Kindheit im Schatten des Krieges
Lee Man-hee wurde 1931 in Cheongdo geboren, einer ländlichen Gegend in der Provinz Gyeongsangbuk-do. Korea stand damals am Übergang von der Kolonialherrschaft zur Unabhängigkeit, die Gesellschaft war verarmt und tief verunsichert. Seine Familie lebte einfach, die Eltern sollen gläubige Christen gewesen sein – doch über die frühe Kindheit des späteren Gründers liegen nur spärliche Informationen vor. Was sich aus Fragmenten und Selbstzeugnissen ergibt, ist das Bild eines Jungen, der früh mit Not und Ungewissheit konfrontiert war.
Seine Jugend fällt in jene Jahre, die Korea zu einem der härtesten Schauplätze des Kalten Krieges machten. Die japanische Besatzung endete, doch die Befreiung brachte keinen Frieden. Der Koreakrieg spaltete das Land und hinterließ Verwüstung, Hunger und Misstrauen. In dieser Atmosphäre des Mangels, in der politische Propaganda und religiöse Trostbotschaften einander überlappten, suchten viele Menschen nach Orientierung.
Der junge Lee soll zu jener Zeit verschiedene christliche Gruppen besucht haben – Baptisten, Presbyterianer, Methodisten. Er war, so berichten Zeitzeugen, stets auf der Suche, ein genauer Zuhörer, ein Schüler ohne festen Lehrer. In späteren Jahren erzählte er, er habe schon als Jugendlicher ›Licht vom Himmel‹ gesehen, ein Erlebnis, das er als erste göttliche Berührung deutete. Es war der Anfang einer Biographie, die fortan zwischen Vision und Selbstvergewisserung pendeln sollte.
II. Vom Gläubigen zum Verkündiger
In den 1950er Jahren schloss sich Lee zunächst der ›Jondogwan-Gemeinde‹ an, einer evangelikalen Bewegung, die in der Nachkriegszeit zahlreiche Anhänger gewann. Zehn Jahre später trat er dem ›Tempel des Zeltes‹ bei, einer apokalyptisch geprägten Gemeinschaft, die in den Wirren der Zeit das bevorstehende Ende der Welt sah.
Diese beiden Stationen waren prägend. Sie vermittelten ihm nicht nur das rhetorische Handwerkszeug eines Predigers, sondern auch das geistige Vokabular, mit dem man religiöse Sehnsucht in Worte fassen konnte: Offenbarung, Erwählung, Wiederkunft. In einer Gesellschaft, die sich zwischen Schuttbergen und Fabrikbauten neu erfinden musste, fanden diese Worte ein aufnahmebereites Publikum.
Lee lernte, dass Autorität im religiösen Feld nicht verliehen wird, sondern erkämpft werden muss – durch Charisma, durch das Versprechen exklusiven Wissens, durch die Behauptung einer besonderen Sendung. Als sich der ›Tempel des Zeltes‹ in interne Streitigkeiten verstrickte, verließ Lee die Gemeinschaft. Er deutete den Zerfall später als Zeichen, dass die Zeit reif sei für etwas Neues, Reineres, Wahreres.
III. Die Offenbarung des Jahres 1980
Nach eigener Darstellung erhielt Lee Man-hee um das Jahr 1980 eine göttliche Offenbarung. Der Himmel habe zu ihm gesprochen, er solle das wahre Reich Gottes auf Erden errichten, in dem die Zwölf Stämme Israels wieder auferstehen. Dieses Berufungserlebnis bildet den mythischen Kern der späteren Shincheonji-Kirche.
In seinem Umfeld kursierten verschiedene Versionen dieses Ereignisses. Einige berichten, Lee habe in einer nächtlichen Vision einen Engel gesehen, der ihm die Offenbarung des Johannes erklärte. Andere sagen, es sei weniger eine Vision als eine allmähliche Überzeugung gewesen, ein inneres Wissen, das sich über Jahre verdichtete. Wie auch immer – für Lee selbst wurde es zum Dreh- und Angelpunkt seines Lebens.
Er sah sich von nun an als Zeuge des Zeugnisses, als auserwählter Bote, der die verborgene Bedeutung der Bibel zu entschlüsseln habe. Diese Deutung verlieh ihm eine unantastbare Stellung. Denn wer das Wort Gottes nicht nur liest, sondern empfangen hat, steht außerhalb menschlicher Kritik. Es war der Moment, in dem aus dem religiösen Sucher ein selbstgewisser Verkündiger wurde.
IV. Die Geburt einer Bewegung
1984 gründete Lee Man-hee in Gwacheon, südlich von Seoul, die Shincheonji-Kirche – der Name bedeutet ›neuer Himmel und neue Erde‹. Die Gründung war weniger spektakulär als symbolisch: ein kleiner Kreis von Anhängern, einfache Räumlichkeiten, aber ein klares Ziel. Von Anfang an verstand sich die neue Gemeinschaft als Erfüllung biblischer Prophezeiung.
Lee teilte seine Jünger in zwölf Stämme ein – ein direktes Abbild des Buches der Offenbarung. Jeder Stamm sollte 12.000 ›Versiegelte‹ umfassen, also Menschen, die die wahre Lehre verstanden und sich ihr vollkommen unterordneten. Diese Zahl war nicht zufällig gewählt. Sie verlieh der Bewegung Struktur und Größe, bevor sie überhaupt gewachsen war.
Es war ein System, das gleichermaßen religiös wie organisatorisch funktionierte: klare Hierarchien, ein Gefühl der Auserwähltheit, ein Ziel von fast mathematischer Präzision. Lee verstand es, Spiritualität in Organisation zu übersetzen – eine Fähigkeit, die ihn von vielen anderen charismatischen Führern unterschied.
Sein persönlicher Stil war dabei unscheinbar. Er trat meist in schlichtem Anzug auf, sprach ruhig, beinahe leise, ohne Gesten der Überheblichkeit. Gerade diese Zurückhaltung verlieh ihm eine Aura von Echtheit. Die Menschen glaubten ihm, weil er nicht wirkte, als wolle er überzeugen.
V. Der Mythos des Erwählten
Mit den Jahren wuchs die Bewegung. In den 1990er Jahren zählte sie bereits mehrere zehntausend Mitglieder. Lee wurde zur Symbolfigur – weniger als Gottgesandter im klassischen Sinne, sondern als derjenige, der die göttliche Ordnung verstanden hat. Seine Anhänger nennen ihn den versprochenen Pastor.
Der Mythos um seine Person speist sich aus einer Mischung aus Demut und Überhöhung. Er bezeichnet sich nicht als Gott, aber als den einzigen, der Gott wirklich kennt. Er predigt Bescheidenheit, doch seine Lehre ist exklusiv. Er verkündet Frieden, doch duldet keinen Widerspruch.
Dieses Spannungsfeld ist kein Zufall, sondern Teil der Konstruktion. Die Gestalt Lee Man-hees lebt vom Paradox: Er ist zugleich der demütige Diener und der unantastbare Auserwählte. Die Glaubensarchitektur der Shincheonji-Kirche beruht auf dieser doppelten Bewegung – einer Abwertung des Individuums bei gleichzeitiger Überhöhung des Führers.
In dieser Logik wird Lee zum Schlüssel der Weltordnung. Ohne ihn bleibt die Bibel verschlossen, die Offenbarung unverständlich, die Erlösung unerreichbar. Es ist ein Muster, das sich durch viele Heilsbewegungen zieht: Die Schrift wird nicht mehr gelesen, sondern interpretiert – und derjenige, der sie auslegt, wird zum Mittler zwischen Himmel und Erde.
VI. Der Mensch hinter dem Kult
Trotz der übermächtigen Projektion ist Lee Man-hee kein übernatürliches Wesen, sondern ein Mann, der gelernt hat, das Bedürfnis seiner Zeit zu lesen. Wer ihm begegnet, beschreibt ihn als kontrolliert, freundlich, aber distanziert. Seine Sprache ist einfach, fast sparsam, doch seine Worte besitzen Gewicht.
Er hat nie eine theologische Ausbildung absolviert, und vielleicht gerade deshalb spricht er mit einer Direktheit, die akademischen Predigern fehlt. In seiner Welt gibt es keine Grautöne. Die Bibel ist ein verschlüsseltes Dokument, das nur durch ihn entschlüsselt werden kann. Seine Anhänger glauben, dass er von Gott auserwählt wurde, um die ›versiegelte Schriftrolle‹ zu öffnen – eine Deutung aus der Offenbarung des Johannes, Kapitel 6.
Diese Vorstellung verleiht ihm eine sakrale Legitimation, die sich jeder Überprüfung entzieht. Wer zweifelt, stellt nicht Lee in Frage, sondern Gott selbst. Das macht ihn unangreifbar – und zugleich gefährlich.
Man könnte sagen: Lee Man-hee ist kein Prophet im alten Sinn, sondern ein Produkt der modernen Religionsökonomie. Er weiß, wie man Botschaften wiederholt, wie man sie rhythmisch steigert, wie man aus Offenbarung eine Marke macht. Seine Predigten sind klar strukturiert, fast lehrhaft. Er spricht in Bildern, die jeder versteht, und nutzt zugleich eine Sprache, die das Gefühl vermittelt, hinter jedem Satz liege ein Geheimnis.
VII. Der späte Ruhm
Im Jahr 2015, da war Lee bereits über achtzig Jahre alt, füllte er das Olympiastadion von Seoul mit zehntausenden Anhängern. Es war ein choreographiertes Schauspiel der Einigkeit: weiße Kleidung, Hymnen, Transparente, Friedensbotschaften. Der alte Mann auf der Bühne lächelte, segnete, sprach vom Weltfrieden und der Einheit aller Religionen.
Er hatte eine Friedensorganisation gegründet – ›Heavenly Culture, World Peace, Restoration of Light‹ –, die internationale Konferenzen veranstaltet, Jugendgruppen und Frauenverbände organisiert. Sie wirkte wie eine humanitäre Initiative, doch in ihrem Zentrum blieb die Person Lee Man-hee.
Während der Corona-Pandemie 2020 geriet die Shincheonji-Kirche in die Schlagzeilen: Ein Ausbruch in der Stadt Daegu wurde mit der Gemeinschaft in Verbindung gebracht. Die Regierung beschuldigte die Kirche, Infektionsketten verschwiegen zu haben; Lee Man-hee wurde verhaftet, später aber wieder freigelassen. Für seine Anhänger war das kein Skandal, sondern eine Prüfung. Der Prophet, der verfolgt wird – ein altes Muster religiöser Selbstvergewisserung.
VIII. Die Konstruktion des Ewigen
Lee Man-hee ist inzwischen ein Greis. Doch die Bewegung, die er geschaffen hat, lebt von der Vorstellung seiner Unsterblichkeit. Offiziell wird sein Tod nicht thematisiert; in den Lehren heißt es, er werde verwandelt, nicht sterben. Diese Idee knüpft an uralte religiöse Muster an: Der Erwählte geht nicht zugrunde, sondern tritt über in eine andere Form.
Hier schließt sich der Kreis zur koreanischen Tradition, in der Ahnenverehrung und spirituelle Präsenz eng verwoben sind. Der Glaube an die fortwirkende Kraft des Meisters ist Teil des kulturellen Hintergrunds, der die Bewegung trägt.
Ob Lee Man-hee selbst an seine göttliche Erwählung glaubt oder sie als Rolle versteht, ist kaum zu sagen. Vielleicht hat sich das eine längst in das andere verwandelt. Er lebt in einer Welt, die er selbst erschaffen hat – eine Welt, in der jeder Widerspruch verschwunden ist.
IX. Epilog eines Lebens
Die Biographie Lee Man-hees lässt sich lesen wie ein Gleichnis auf das religiöse 20. Jahrhundert Koreas: aus Schmerz geboren, durch Vision geformt, durch Organisation stabilisiert. Sie zeigt, wie eng persönliche Erfahrung und kollektive Geschichte miteinander verwoben sind.
Was in seiner Kindheit als Bedürfnis nach Trost begann, wurde zur Gewissheit göttlicher Erwählung. Und aus dieser Gewissheit wuchs ein System, das Millionen Menschen fasziniert, beunruhigt oder gefangen nimmt.
Man kann Lee Man-hee als Verführer sehen oder als Kind seiner Zeit. Vielleicht ist er beides. In ihm spiegeln sich die religiösen Träume eines Landes, das in einem Jahrhundert zu oft neu anfangen musste.
Wenn seine Bewegung eines Tages ohne ihn fortbesteht, wird sich zeigen, ob sie tatsächlich auf göttlicher Offenbarung ruht – oder auf der Kunst eines Mannes, aus der Unruhe seiner Epoche eine Vision zu machen, die größer schien als er selbst.