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Warum glauben Menschen, mehr zu wissen, als sie tatsächlich verstehen? Und weshalb zweifeln andere an sich, obwohl sie über fundiertes Können verfügen? Der sogenannte Dunning-Kruger-Effekt versucht, dieses Paradox zu fassen – und ist längst zu einer vielzitierten Erklärung für Irrtümer, Selbstüberschätzung und Fehleinschätzungen geworden. Doch wie entstand diese Theorie? Was sagt sie über die Wahrnehmung von Kompetenz aus, und wo liegen ihre Grenzen? Zwischen Psychologie, Gesellschaft und Alltagsbeobachtung eröffnet sich ein Spannungsfeld, das weit über wissenschaftliche Fachdebatten hinausreicht. Der Effekt wirft ein Licht auf unser Verhältnis zu Wissen, Bildung und Leistung – und zugleich auf die feinen Risse zwischen individueller Einschätzung und kollektiver Erwartung. Dieses Buch geht den Ursprüngen und Wirkungen des Dunning-Kruger-Effekts nach. Es fragt, ob wir es mit einer universellen menschlichen Erfahrung oder mit einem wissenschaftlich überdehnten Konstrukt zu tun haben. Dabei entfaltet sich nicht nur die Geschichte einer Theorie, sondern auch ein kritischer Blick auf die Mechanismen, mit denen Gesellschaften Kompetenz definieren und verhandeln.
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Seitenzahl: 191
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Erfindung des
Dunning-Kruger-Effekts
•
Gesellschaft, Kompetenz und Leistung
Eine Betrachtung
von
Lutz Spilker
DIE ERFINDUNG DES DUNNING-KRUGER-EFFEKTS
GESELLSCHAFT, KOMPETENZ UND LEISTUNG
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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Texte: © Copyright by Lutz Spilker
Umschlaggestaltung: © Copyright by Lutz Spilker
Verlag:
Lutz Spilker
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Inhalt
Inhalt
Das Prinzip der Erfindung
Vorwort
Das erste Spiegelbild: Sesshaftwerdung und die Geburt der Selbstüberschätzung
Die Ursprünge der Selbstüberschätzung in der Antike
Sokrates und die Kunst des Nichtwissens
Aristoteles und das Maß der Vernunft
Historische Anekdoten als Spiegel
Römische Stimmen
Selbstüberschätzung als universales Muster
Brücke zur Gegenwart
Mittelalterliche Perspektiven auf Wissen und Unwissen
Wissen als göttliches Gut
Scholastik und die Kunst der Begründung
Unwissenheit als Gefahr und Machtfaktor
Mystik und das ›Wissen ohne Wissen‹
Von Gilden und Bauern
Zwischen Wahrheit und Täuschung
Kontinuität in die Neuzeit
Renaissance und die Wiedergeburt des Zweifelns
Aufklärung: Vernunft als Maßstab menschlicher Fähigkeiten
Die Vernunft als neues Fundament
Fortschritt im Denken – und seine Schattenseiten
Wissen als Statussymbol
Der Zweifel als Korrektiv
Aufklärung und die Dialektik des Fortschritts
Eine bleibende Lehre
Frühe Psychologie und die Messung geistiger Leistung
Von der Philosophie zur Wissenschaft
Der Aufstieg der Intelligenztests
Psychologie zwischen Wissenschaft und Gesellschaft
Selbstbild und Fremdbild
Die Versuchung der Vereinfachung
Der Anfang einer langen Debatte
Kompetenz und Inkompetenz im 19. Jahrhundert
Wissenschaft und der Kult der Autorität
Bildungsexpansion und die Illusion des Wissens
Gesellschaftliche Masken und der Zwang zur Kompetenz
Der Schatten des Fortschritts
Ein unterschwelliger Vorläufer des Effekts
William James und die Psychologie des Irrtums
Ein Amerikaner im Umbruch
Irrtum als Bestandteil der Wahrnehmung
Überzeugungskraft des Falschen
Der Irrtum im Alltag
Psychologie als Hilfswissenschaft gegen Selbsttäuschung
Zwischen Pragmatismus und Psychologie
Vermächtnis für die Psychologie des Irrtums
Intelligenztests und die Frage nach dem Maß des Könnens
Der Beginn: Alfred Binet und die Idee der Vergleichbarkeit
Intelligenz als Zahl – der IQ entsteht
Die Sehnsucht nach Klarheit und ihre Schattenseiten
Psychologie zwischen Wissenschaft und Gesellschaft
Irrtum im Spiegel der Intelligenzmessung
Ein Spiegel der Moderne
Die Ambivalenz bleibt
Die unsichtbare Grenze
Vorläuferforschung zur Selbstwahrnehmung im 20. Jahrhundert
Der Schatten der Introspektion
Über- und Unterschätzung als Forschungsgegenstand
Lernen aus der Pädagogik
Sozialpsychologie und die Dimension des Vergleichs
Klinische Dimensionen
Die wachsende methodische Strenge
Ein offener Horizont
Die Idee der kognitiven Verzerrungen
Von der Zufälligkeit zum Muster
Der Einfluss von Heuristiken
Verzerrungen als Spiegel der menschlichen Psyche
Der Weg zum Dunning-Kruger-Effekt
Ein Gedanke, der sich verselbständigt
Ein Vermächtnis der Bescheidenheit
Ausblick
David Dunning und Justin Kruger: Der Ursprung einer Hypothese
Ein Blick auf die Vorgeschichte
Die Initialzündung
Die Experimente
Der wissenschaftliche Gehalt
Resonanz und Missverständnisse
Der Übergang zur neuen Phase
Ein Vermächtnis im Werden
Die Experimente von 1999 – Aufbau und Ergebnisse
Können und Selbsteinschätzung
Das Design der Studien
Eine paradoxe Verteilung
Die Hypothese vom blinden Fleck der Inkompetenz
Ein empirischer Befund mit Sprengkraft
Kritik und Einordnung
Die stille Ironie
Zwischenklang
Reaktionen der Fachwelt auf die Erstpublikation
Staunen und Skepsis
Kritik an der Methodik
Die wissenschaftliche Anschlussforschung
Ironie und Spott
Die leisen Stimmen der Vorsicht
Ein Phänomen verlässt die Fachwelt
Popularisierung in der Gesellschaft
Von der Fachsprache zum Alltagsvokabular
Die Rolle der Medien
Humor und Internetkultur
Gesellschaftliche Anschlussfähigkeit
Entgleisungen der Popularisierung
Rückwirkung auf die Wissenschaft
Methodische Kritik und Weiterentwicklungen
Erste Anfragen an die Messmethoden
Die Suche nach Replikationen
Vom Einzelfall zur allgemeinen Verzerrung
Neue methodische Zugänge
Verbindung zu anderen Konzepten
Kritik an der Schlagwortkarriere
Weiterentwicklungen in der Praxis
Ein lebendiges Forschungsfeld
Selbstbewusstsein, Selbsttäuschung und kulturelle Unterschiede
Das fragile Gefüge des Selbstbewusstseins
Die westliche Betonung der Eigenleistung
Die östliche Betonung der Zurückhaltung
Selbsttäuschung als sozialer Mechanismus
Zwischen Stolz und Scham
Globale Verschiebungen
Die Suche nach einem universellen Kern
Bildungssysteme und die Frage der Leistungswahrnehmung
Schule als Bühne der Selbstprüfung
Vergleich als Grundprinzip
Kulturelle Unterschiede in der Bewertung
Prüfungen als Kristallisationspunkte
Pädagogik zwischen Förderung und Illusion
Universitäten und die Illusion des Wissens
Bildung als Spiegel der Gesellschaft
Überschätzung im politischen Raum – erste Fallstudien
Die Bühne der Selbstsicherheit
Ein Blick in die Geschichte
Erste Fallstudien und Beobachtungen
Die stille Zustimmung der Gesellschaft
Zwischen Verantwortung und Hybris
Ein vorläufiges Fazit
Arbeitswelt und Managementfehler im Lichte des Effekts
Der Manager als Held – oder als Risiko
Kleine Irrtümer mit großer Wirkung
Fehlentscheidungen als Symptom
Die Kultur der Unfehlbarkeit
Gegenstimmen und Korrektive
Zwischen Menschlichem und Strukturellem
Ein Blick auf den Einzelnen
Mediale Rezeption Anfang der 2000er Jahre
Vom Fachartikel in die Öffentlichkeit
Medien als Verstärker
Ein Spiegel der neuen Medienlandschaft
Zwischen Ernst und Unterhaltung
Die Rolle der Wissenschaftsjournalisten
Erste Missverständnisse
Ein Aufstieg mit Schattenseiten
Populärwissenschaftliche Deutung und Vereinfachung
Soziale Medien und die neue Bühne der Selbstdarstellung
Expertenkultur vs. Laienmeinung im digitalen Diskurs
Fake News, Halbwissen und der Verlust von Autorität
Historische Fehlwege und frühe Muster der Selbstüberschätzung
Die Humoralpathologie – ein übermächtiges Lehrgebäude
Reliquien und Wunderheilungen – die Macht des Glaubens
Kurpfuscher und Wundermittelverkäufer – die Rivalen der frühen Moderne
Parallelen zur Gegenwart
Unterhaltungskultur: ›Möchtegerns‹ und Einschaltquoten
Die Bühne als Spiegel der Selbstüberschätzung
Castingformate und die Lust am Scheitern
Vom Talent zur Karikatur
Einschaltquoten und das Kalkül der Produzenten
Das Lächeln über die ›Möchtegerns‹ – ein menschliches Grundmuster
Der Kreislauf der Medienkarriere
Die Bühne als Labor gesellschaftlicher Selbsttäuschung
Gesellschaftliche Randgruppen und ihre Sichtbarkeit
Sichtbarkeit als Verstärker der Selbstüberschätzung
Vom Rand ins Zentrum der Aufmerksamkeit
Sichtbarkeit und das Problem der Autorität
Die Rolle der Medien
Zwischen Lächerlichkeit und Gefahr
Sichtbarkeit als Prüfstein des Wissens
Gesellschaftliche Randgruppen – Fallbeispiele und Spiegelungen des Dunning-Kruger-Effekts
Popkulturelle Bühne der ›Dümmeren als wir‹-Formate
Politisch extreme Milieus
Das Phänomen der Selbstermächtigung
Opferrolle und Selbstüberschätzung
Alternative Wissensgemeinschaften
Humor, Tragik und die Bühne der Öffentlichkeit
Verstärkung statt Korrektur
Die Bühne der Reichweite
Der psychologische Sog der Bestätigung
Algorithmen als neue Autoritäten
Gesellschaftliche Folgen
Ein stiller Regisseur
Selbstüberschätzung im Kleinen – Gruppen, Organisationen und Alltagsstrukturen
Das Vereinswesen und die Macht der Stimme
Unternehmen und die Illusion der Führung
Familien und kleine Gruppen
Warum die Bühne den Lauten gehört
Konsequenzen im Alltag
Selbstoptimierung, Coaching und die Illusion von Kompetenz
Das Geschäft mit der Selbstsicherheit
Die Verwechslung von Rhetorik und Wissen
Die Spirale der Selbsttäuschung
Der ›Trainer-Effekt‹ in Unternehmen
Zwischen echter und vorgespielter Kompetenz
Die gesellschaftliche Dimension
Zwischen Hilfe und Geschäft
Der Dunning-Kruger-Effekt als politisches Instrument
Politik und die Illusion der Einfachheit
Selbstüberschätzung als Waffe
Medien und das Echo der Selbstgewissheit
Die Inszenierung der Kompetenz
Populismus als systematisierte Selbstüberschätzung
Gefahren für die Demokratie
Die Verführungskraft des Scheins
Kritik am Effekt: Gültigkeit, Grenzen und Missverständnisse
Die Versuchung der Vereinfachung
Methodische Einwände
Missverständnisse im Alltag
Grenzen der Anwendbarkeit
Zwischen berechtigter Skepsis und vorschneller Ablehnung
Ein ambivalentes Vermächtnis
Neue Forschungen zur Metakognition und Demut
Die Vermessung der Selbstwahrnehmung
Die Rolle der Demut in der Forschung
Metakognition im Alltag
Der Wandel in der Forschung
Ein Spannungsfeld
Ein vorsichtiger Optimismus
Neue Perspektiven
Zukunftsperspektiven: Kompetenz, Bescheidenheit und Lernfähigkeit
Kompetenz als wandelbares Gut
Die leise Kraft der Bescheidenheit
Lernfähigkeit als Überlebensstrategie
Zwischen Fortschritt und Selbsttäuschung
Der lange Atem des Wissens
Ein offener Ausblick
Über den Autor
In dieser Reihe sind bisher erschienen
Der Gescheitere gibt nach!
Eine traurige Wahrheit,
sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit.
Marie von Ebner-Eschenbach
Marie Ebner von Eschenbach (* 13. September 1830 auf Schloss Zdislawitz bei
Kremsier in Mähren, Kaisertum Österreich als Marie Dubský von Třebomyslice;
† 12. März 1916 in Wien) war eine österreichische Schriftstellerin und Freifrau. Ihre
psychologischen Erzählungen gehören zu den bedeutendsten deutschsprachigen
Beiträgen des 19. Jahrhunderts in diesem Genre.
Das Prinzip der Erfindung
Vor etwa 20.000 Jahren begann der Mensch, sesshaft zu werden. Mit diesem tiefgreifenden Wandel veränderte sich nicht nur seine Lebensweise – es veränderte sich auch seine Zeit. Was zuvor durch Jagd, Sammeln und ständiges Umherziehen bestimmt war, wich nun einer Alltagsstruktur, die mehr Raum ließ: Raum für Muße, für Wiederholung, für Überschuss.
Die Versorgung durch Ackerbau und Viehzucht minderte das Risiko, sich zur Nahrungsbeschaffung in Gefahr begeben zu müssen. Der Mensch musste sich nicht länger täglich beweisen – er konnte verweilen. Doch genau in diesem neuen Verweilen keimte etwas heran, das bis dahin kaum bekannt war: die Langeweile. Und mit ihr entstand der Drang, sie zu vertreiben – mit Ideen, mit Tätigkeiten, mit neuen Formen des Denkens und Tuns.
Was folgte, war eine unablässige Kette von Erfindungen. Nicht alle dienten dem Überleben. Viele jedoch dienten dem Zeitvertreib, der Ordnung, der Deutung oder dem Trost. So schuf der Mensch nach und nach eine Welt, die in ihrer Gesamtheit weit über das Notwendige hinauswuchs.
Diese Sachbuchreihe mit dem Titelzusatz ›Die Erfindung ...‹ widmet sich jenen kulturellen, sozialen und psychologischen Konstrukten, die aus genau diesem Spannungsverhältnis entstanden sind – zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit, zwischen Dasein und Deutung, zwischen Langeweile und Sinn.
Eine Erfindung ist etwas Erdachtes.
Eine Erfindung ist keine Entdeckung.
Jemand denkt sich etwas aus und stellt es zunächst erzählend vor. Das Erfundene lässt sich nicht anfassen, es existiert also nicht real – es ist ein Hirngespinst. Man kann es aufschreiben, wodurch es jedoch nicht real wird, sondern lediglich den Anschein von Realität erweckt.
Der Homo sapiens überlebte seine eigene Evolution allein durch zwei grundlegende Bedürfnisse: Nahrung und Paarung. Alle anderen, mittlerweile existierenden Bedürfnisse, Umstände und Institutionen sind Erfindungen – also etwas Erdachtes.
Auf dieser Prämisse basiert die Lesereihe ›Die Erfindung …‹ und sollte in diesem Sinne verstanden werden.
Vorwort
Stellen Sie sich vor, jemand steht mitten in einer belebten Fußgängerzone. In der Hand hält er ein Mikrophon, hinter ihm ein Kamerateam, das neugierige Passanten zum Stehenbleiben einlädt. Die Frage, die er stellt, ist einfach – oder sollte es zumindest sein:
»Kennen Sie den Dunning-Kruger-Effekt?«
Die Antworten ähneln sich verblüffend:
ein ratloses Schulterzucken, ein verlegenes Lächeln, gelegentlich ein spöttisches »Noch nie gehört.« Manchmal folgt der Versuch einer Herleitung: »Irgendwas mit Wissenschaft?« – dann wieder schlichtes Schweigen.
Die Szene wirkt fast banal, und doch offenbart sich in ihr ein Paradox:
Ein Begriff, der in wissenschaftlichen Kreisen längst zu einem geflügelten Wort geworden ist, bleibt in der alltäglichen Wahrnehmung merkwürdig unsichtbar. Das Absurde daran: Jeder kennt das Phänomen – in Nachbarschaft, Kollegenkreis oder Familienfeier –, nur der Name ist unbekannt geblieben.
Damit sind wir bei dem Punkt, der uns hier beschäftigt.
Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt die Tendenz, dass Menschen mit geringer Kompetenz ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen, während zugleich diejenigen mit hoher Kompetenz dazu neigen, ihr Wissen zu unterschätzen. Eine Erkenntnis, die zunächst trivial wirkt, aber in ihrer Tragweite weit über den akademischen Diskurs hinausreicht: Sie betrifft gesellschaftliche Debatten, politische Entscheidungen und nicht zuletzt unsere persönliche Wahrnehmung von Leistung und Können.
Gerade deshalb ist es an der Zeit, dieses Phänomen näher zu betrachten – nicht belehrend, sondern mit einem gewissen Staunen darüber, dass es erst Ende des 20. Jahrhunderts einen Namen erhielt. Und vielleicht mit einem leisen Schmunzeln darüber, dass mancher, der den Effekt am heftigsten bestreitet, ihn im selben Moment schon verkörpert.
Das erste Spiegelbild: Sesshaftwerdung und die Geburt der Selbstüberschätzung
Der Mensch lebte Jahrtausende in Bewegung. Er war Sammler, Jäger, Wanderer. Seine Welt bestand aus Flussläufen, offenen Ebenen, Wäldern und wechselnden Lagern. In dieser Umgebung war das Urteil über die eigenen Fähigkeiten schlicht: Man überlebte – oder man überlebte nicht. Erfolg wurde nicht gemessen, er stellte sich ein, wenn die Jagd gelang, das Feuer brannte und die Gruppe satt und geschützt war. Ein Publikum, das das Tun beurteilte, gab es nicht. Niemand trug eine Maske, niemand spielte eine Rolle. Die Existenz war nackt, aber frei von Vergleich.
Mit der Sesshaftwerdung veränderte sich alles. Plötzlich lebten Menschen dauerhaft nebeneinander, teilten Ackerflächen, Brunnen, Vorratsgruben. Aus dem flüchtigen Blick in den Wald wurde der dauerhafte Blick über den Gartenzaun. Zum ersten Mal entstand ein Raum, in dem man sich beobachten, vergleichen, messen konnte. Der Nachbar erntete mehr, der eigene Ofen rauchte weniger, die Kinder des anderen schienen kräftiger. Und mit diesem ständigen Spiegel im Alltag wuchs die Frage: Wie wirke ich auf die anderen?
Es war die Geburt der Reputation. Aus einem pragmatischen Nebeneinander wurde eine Bühne. Wer erfolgreich erschien, gewann Ansehen. Wer scheiterte, riskierte Spott oder Ausschluss. Der Mensch begann, Rollen zu spielen, sich größer zu machen, als er war. Das erste Spiegelbild war nicht aus Glas, sondern aus den Augen der anderen.
Hier setzte die Selbstüberschätzung ihren Keim. Nicht, weil der Mensch plötzlich törichter wurde, sondern weil die soziale Architektur ihn dazu verleitete. Die Überhöhung des eigenen Könnens versprach Vorteile: mehr Einfluss, mehr Schutz, mehr Bündnispartner. Übertreibung konnte zum Werkzeug werden – und wer sie beherrschte, erhielt Beachtung.
Doch dieser Mechanismus hatte eine Sollbruchstelle. Denn dieselbe Gemeinschaft, die Täuschung belohnte, konnte sie auch entlarven. Das Risiko der Blamage trat in die Welt – ein Gefühl, das Jäger und Sammler nicht kannten. Der frühe Ackerbauernmensch musste nicht nur die Natur beherrschen, sondern auch die Kunst der Darstellung. Mit der Gesellschaftsmaske kam die Möglichkeit des Scheiterns, nicht mehr nur im praktischen Tun, sondern im sozialen Spiel.
Diese Veränderung markiert mehr als eine ökonomische Revolution. Sie war ein psychologischer Einschnitt. Zum ersten Mal wurde das Selbstbild von außen gespiegelt, korrigiert, verzerrt. Der Mensch sah sich nicht mehr nur als Handelnder, sondern als Figur im Urteil anderer. Er begann, über sich selbst nachzudenken – und er begann, sich zu überschätzen.
Die Spur, die hier gelegt wurde, reicht bis in unsere Gegenwart. Was einst am Dorfbrunnen begann, findet heute auf den Bildschirmen sozialer Medien statt. Doch der Ursprung bleibt derselbe: Die Sesshaftwerdung machte den Menschen zu einem Wesen, das sich nicht nur im Tun, sondern auch in den Augen anderer misst. In dieser permanenten Vergleichssituation liegt die Wurzel des Phänomens, das Jahrtausende später unter dem Namen ›Dunning-Kruger-Effekt‹ beschrieben werden sollte.
Die Ursprünge der Selbstüberschätzung in der Antike
Wenn heute vom Dunning-Kruger-Effekt gesprochen wird, geschieht dies zumeist im Kontext moderner Gesellschaften, sozialer Medien oder politischer Diskurse. Doch die eigentliche Idee, dass Menschen ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen und zugleich die Grenzen des eigenen Wissens verkennen, ist keineswegs ein Gedanke der Gegenwart. Bereits in den Kulturen der Antike finden sich deutliche Spuren eines Bewusstseins für diesen Widerspruch zwischen Können und Selbsteinschätzung. Die damaligen Denker, Dichter und Philosophen wussten nur zu gut, dass Unwissenheit selten schweigsam bleibt, sondern sich mit einer gewissen Lautstärke präsentiert – oft zum Erstaunen, manchmal zum Ärger der Zuhörenden.
Sokrates und die Kunst des Nichtwissens
Einer der bekanntesten Vertreter dieses Gedankens war Sokrates. Sein berühmter Satz »Ich weiß, dass ich nichts weiß« wird bis heute vielfach zitiert – oft missverstanden als Ausdruck von Resignation, in Wahrheit jedoch als Erkenntnisprinzip. Für Sokrates lag die höchste Form der Weisheit nicht darin, möglichst viel zu wissen, sondern sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein. Gerade in Athen, einer Stadt voller Redner, Sophisten und selbsternannter Experten, fiel dieser Gedanke auf fruchtbaren, aber zugleich kontroversen Boden. Sokrates konfrontierte seine Gesprächspartner mit Fragen, die deren vermeintliche Gewissheiten ins Wanken brachten. Wer sich zuvor als Kenner wähnte, geriet ins Straucheln, sobald er die eigene Unwissenheit offenlegen musste.
Hier begegnen wir einem frühen Kern dessen, was später in wissenschaftlicher Formulierung als ›Dunning-Kruger-Effekt‹ beschrieben wurde: Menschen, die nur über fragmentarisches Wissen verfügen, halten sich selbst für kundig und kompetent – gerade weil ihnen das Instrumentarium fehlt, die eigene Begrenztheit zu erkennen.
Aristoteles und das Maß der Vernunft
Aristoteles knüpfte auf seine Weise an diesen Gedanken an. In seinen Schriften über Tugend und Ethik taucht immer wieder das Prinzip des ›rechten Maßes‹ auf. Ein tugendhafter Mensch ist jener, der seine Fähigkeiten einschätzen kann und weder in Überheblichkeit noch in falsche Bescheidenheit verfällt. Doch Aristoteles wusste auch, dass viele Menschen gerade dieses Gleichgewicht verfehlen. Besonders im Bereich der Rhetorik – ein Kernfach antiker Bildung – sah er die Gefahr, dass Schüler sich mit wenigen erlernten Kniffen für Meister hielten. Wer eine Rede kunstvoll beginnen konnte, wähnte sich bereits als Redner von Rang, ohne die Tiefe argumentativer Strukturen je verstanden zu haben.
Die Überschätzung des eigenen Könnens wurde damit zu einer moralischen wie auch politischen Frage. Denn wer sich selbst falsch einschätzt, trifft in der Folge auch falsche Entscheidungen – sei es auf der Bühne des Theaters, im Rat der Stadt oder auf dem Schlachtfeld.
Historische Anekdoten als Spiegel
Neben den Philosophen waren es auch Geschichtsschreiber, die den Hang zur Selbstüberschätzung schilderten. Herodot etwa berichtet von Herrschern, die ihre militärische Stärke überschätzten und damit ganze Völker ins Unglück stürzten. Die Hybris des Xerxes, der mit einem riesigen Heer gegen Griechenland zog und doch an den Thermopylen und bei Salamis scheiterte, ist ein markantes Beispiel. Hier verband sich politischer Hochmut mit der Unfähigkeit, die eigenen Schwächen nüchtern einzuschätzen.
Auch die Dramatiker griffen dieses Thema auf. In den Tragödien des Sophokles und Euripides sind es oft Figuren, die durch Selbstüberschätzung zu Fall kommen. Ihr Schicksal dient nicht nur der Unterhaltung, sondern auch als mahnendes Beispiel für das Publikum. Der Mensch, so die Botschaft, verkennt leicht seine Grenzen – und bezahlt dafür einen hohen Preis.
Römische Stimmen
In Rom erhielt die Frage der Selbsteinschätzung eine pragmatischere Färbung. Cicero, selbst ein begnadeter Redner, warnte vor dem ›docta ignorantia‹ – der gelehrten Unwissenheit, die sich in gelehrtem Tonfall äußert, ohne inhaltliche Tiefe zu besitzen. Auch Seneca, Philosoph der Stoa, thematisierte die Gefahr, den eigenen Standpunkt für endgültig zu halten. Wer glaubt, schon am Ziel des Wissens angelangt zu sein, verschließt sich dem Lernen.
Für die Römer war dies nicht nur eine philosophische, sondern eine staatsbürgerliche Frage. Ein Senator, der seine Kompetenzen überschätzte, konnte Fehlentscheidungen treffen, die das Gemeinwesen bedrohten. Damit verband sich Selbstüberschätzung unmittelbar mit politischer Verantwortung.
Selbstüberschätzung als universales Muster
Betrachtet man die antiken Zeugnisse, so zeigt sich ein durchgängiges Muster: Übersteigerte Selbsteinschätzung wurde in allen Bereichen des Lebens sichtbar – in Philosophie, Politik, Krieg, Theater und Alltag. Immer wieder verweisen die Quellen darauf, dass Menschen ohne hinreichendes Wissen lautstark auftreten, während die wirklich Kundigen zur Bescheidenheit neigen.
Es ist bemerkenswert, dass diese Beobachtung über Jahrhunderte hinweg konstant bleibt. Die Begriffe und kulturellen Kontexte mögen wechseln, doch der Grundgedanke bleibt derselbe: Unwissenheit ist oft selbstgewiss, während Wissen Zurückhaltung lehrt.
Brücke zur Gegenwart
Damit ist die Antike nicht bloß ein fernes Echo, sondern eine Grundlage für das Verständnis unserer heutigen Fragestellung. Wenn Dunning und Kruger am Ende des 20. Jahrhunderts ihre Experimente entwarfen, knüpften sie unbewusst an eine jahrtausendealte Erfahrung an. Sie gossen in methodische Form, was Philosophen, Dichter und Historiker schon lange zuvor beschrieben hatten: dass Menschen nicht nur irren, sondern den eigenen Irrtum mit Überzeugung vertreten.
Der Rückblick in die Antike zeigt also, dass der Dunning-Kruger-Effekt keine Erfindung der modernen Psychologie im engen Sinne ist. Er ist vielmehr eine wissenschaftliche Präzisierung eines Phänomens, das die Menschheit seit ihren Anfängen begleitet – die ungebrochene Neigung des Menschen, sich selbst im helleren Licht zu sehen, als es die Realität rechtfertigt.
Mittelalterliche Perspektiven auf Wissen und Unwissen
Das Mittelalter gilt vielen als Epoche der Dunkelheit, ein Zeitalter, in dem Aberglaube und kirchliche Dogmen das freie Denken unterdrückt hätten. Diese Sichtweise ist zwar zu einseitig, doch sie weist auf ein Spannungsfeld hin, das für das Verständnis von Wissen und Unwissen entscheidend ist. Zwischen Scholastik und Mystik, zwischen Gelehrtenstuben und Marktplätzen, zwischen Klosterbibliotheken und mündlicher Tradition entstand ein komplexes Bild davon, wer etwas weiß und wer sich nur dafür hält. In diesem Geflecht zeigt sich früh eine Dynamik, die dem späteren Dunning-Kruger-Effekt erstaunlich nahekommt.
Wissen als göttliches Gut
Im christlich geprägten Europa war Wissen nicht einfach das Ergebnis von Erfahrung oder Beobachtung, sondern vielfach mit göttlicher Offenbarung verknüpft. Die Kirche verstand sich als Hüterin der Wahrheit. Wer lehrte, tat dies nicht selten im Namen einer höheren Autorität. Der Einzelne war weniger gefordert, selbstständig zu prüfen, sondern sollte das Vorgetragene glauben. Daraus ergab sich eine eigenartige Situation: Viele, die mit nur begrenztem theologischen oder naturkundlichen Wissen ausgestattet waren, traten mit einer Selbstsicherheit auf, die weniger auf eigener Erkenntnis beruhte, sondern auf der Macht der Institution, die sie stützte.
Die Folge war ein Spannungsverhältnis zwischen Gelehrten, die sich auf sorgfältige Dialektik beriefen, und jenen, die mit dem Hinweis auf göttliche Wahrheit jede Diskussion für beendet erklärten. Selbstüberschätzung konnte sich hier in der Form äußern, dass man das eigene Halbwissen mit der absoluten Gewissheit des Glaubens verwechselte.
Scholastik und die Kunst der Begründung
Die Scholastik, die sich ab dem 12. Jahrhundert an den entstehenden Universitäten entwickelte, sollte Ordnung in diese Gemengelage bringen. Gelehrte wie Thomas von Aquin versuchten, Glauben und Vernunft zu verbinden, und bedienten sich dabei strenger Argumentationsketten. Doch gerade diese Methode brachte ein neues Problem hervor: Wer sich die äußere Form der scholastischen Disputation aneignete, konnte schnell den Eindruck erwecken, über tiefes Wissen zu verfügen, ohne tatsächlich über Substanz zu verfügen.
Es war eine Art gelehrter Schein: rhetorisch geschickte Studenten konnten mit Zitaten und logischen Figuren glänzen, während der Inhalt oft mager blieb. Hier zeigt sich eine mittelalterliche Variante dessen, was heute als ›Kompetenzillusion‹ beschrieben würde. Der äußere Eindruck von Wissen überstrahlte die innere Leere.
Unwissenheit als Gefahr und Machtfaktor
Gleichzeitig wurde Unwissenheit nicht einfach als Mangel betrachtet, sondern auch als Gefahr. Wer die Bibel falsch interpretierte oder sich überlieferte Lehren anmaßte, riskierte nicht nur Spott, sondern auch Verfolgung. Irrtum war nicht bloß ein intellektuelles Defizit, sondern konnte als Sünde gelten.
Damit veränderte sich die Dynamik: Viele, die kaum Kenntnisse hatten, hielten sich dennoch für befugt, Urteile über komplexe Fragen abzugeben – und fühlten sich durch die Autorität der Kirche gedeckt. Gerade in Prozessen gegen Ketzer oder Hexen lässt sich diese Haltung beobachten: Menschen mit begrenztem Wissen über Medizin, Naturphänomene oder Psychologie traten mit unerschütterlicher Gewissheit auf, die Betroffenen seien vom Teufel besessen. Selbstüberschätzung wurde hier zu einem gesellschaftlichen Instrument, das ganze Existenzen zerstörte.
Mystik und das ›Wissen ohne Wissen‹