Die Erfindung des Kannibalismus - Lutz Spilker - E-Book

Die Erfindung des Kannibalismus E-Book

Lutz Spilker

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Beschreibung

Kannibalismus – ein Wort, das erschreckt, abstößt, fasziniert. Doch was, wenn sich hinter der bloßen Vorstellung vom Menschenfresser weit mehr verbirgt als bloßer Ekel? Dieses Buch geht der kulturellen, symbolischen und historischen Bedeutung des Kannibalismus nach – ohne Tabus, ohne Sensationslust, aber mit scharfem Blick. Vom rituellen Menschenopfer in frühen Hochkulturen über spirituelle Verschmelzungspraktiken bis zur Eucharistie in der christlichen Liturgie – der Verzehr des Menschen durch den Menschen ist kein dunkler Unfall der Geschichte, sondern Teil ihres innersten Gefüges. Selbst in der modernen Medizin (Organtransplantation), in der Sprache (»Ich hab dich zum Fressen gern«) oder in der Astronomie (»galaktischer Kannibalismus‹) lebt die Idee fort: Etwas wird sich einverleibt, um es zu transformieren. Dieses Buch versteht Kannibalismus als kulturelle Metapher, als Spiegel der Macht, als anthropologisches Grundmotiv – und zugleich als Phänomen, das einer moralischen ›Polkippung‹ unterlag. Was einst heilig oder heilsam galt, ist heute geächtet. Doch gerade dieser Wandel offenbart, wie relativ Moral tatsächlich ist. • Eine Expedition jenseits gewohnter Kategorien – irritierend, aufschlussreich, klärend. • Für Leserinnen und Leser, die Fragen stellen, wo andere sich abwenden. • Und für jene, die wissen: Verstehen beginnt dort, wo das Urteil endet.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Erfindung

des Kannibalismus

anomal, mutwillig und notwendig

 

 

 

 

Eine Betrachtung

von

Lutz Spilker

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DIE ERFINDUNG DES KANNIBALISMUS

ANOMAL, MUTWILLIG UND NOTWENDIG

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Texte: © Copyright by Lutz Spilker

Umschlaggestaltung: © Copyright by Lutz Spilker

 

Verlag:

Lutz Spilker

Römerstraße 54

56130 Bad Ems

[email protected]

 

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

 

Die im Buch verwendeten Grafiken entsprechen den

Nutzungsbestimmungen der Creative-Commons-Lizenzen (CC).

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der

Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

 

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Inhalt

 

Inhalt

Das Prinzip der Erfindung

Vorwort

Der Blick unter die Oberfläche

Eine Kippung der Pole

Vereinnahmung als Grundprinzip

Keine Anklage. Keine Verteidigung. Eine Expedition.

Jenseits der Nahrung

Die frühesten Spuren tierischen Kannibalismus

Zwischen Instinkt und Notwendigkeit

Kannibalismus als ökologisches Regulativ

Von der Funktion zur Bedeutung

Evolutionäre Schatten

Zwischenbild einer langen Geschichte

Im Mutterleib beginnt das Fressen

Pränatale Selektion im Tierreich

Das Raubtier im Embryo

Evolution ohne Ethik

Anatomie eines Selektionsmechanismus

Grausamkeit ohne Grauen

Eine Frage des Standpunktes

Das Schweigen des Embryos

Eine Linie zur Menschheit?

Der dunkle Ursprung

Stille Anatomien des Überlebens

Der Fötus als Vollstrecker

Von der Selektion zur Strategie

Zwischen natürlicher Ordnung und stillem Horror

Der letzte Biss vor dem ersten Blick

Der Mensch als Abweichung?

Eine stille Wiederkehr

Die Jagd auf das Eigene

Selbstregulation durch Kannibalismus bei Spinnen und Fischen

Spinnen und das ritualisierte Ende

Wenn Fische zu Scharfrichtern werden

Jenseits der Grausamkeit

Die Jagd auf das Eigene

Biologie als Drama ohne Zeugen

Zeremonien der Gewalt

Erste Menschenopfer in sesshaften Kulturen

Der Tod als Bindeglied zwischen Himmel und Erde

Blutige Altäre – von Teotihuacán bis Anatolien

Die Opferung als Ordnungsakt

Kein Tabu, sondern Werkzeug

Die Angst vor dem Ende und der Wunsch nach Kontrolle

Der Kanon des Grauens – oder der Ordnung?

Inszenierte Hingabe

Die Institutionalisierung von Menschenopfern in frühen Hochkulturen

Vom rituellen Akt zum institutionellen System

Blut als kosmische Pflicht

Das Schweigen der Begleiter

Opfer als Zeichen politischer Macht

Die Rolle der Priester

Der Beginn des Zweifels

Vom Altar zum Altarbild

Die symbolische Transformation des Menschenopfers in Christentum, Judentum und Islam

Das Opfer Isaaks – die paradigmatische Verschiebung

Von der Opferstätte zur Gebetsstätte

Der Mensch wird zum Opfer – und zum Gott

Hingabe ohne Blut

Von der Blutschuld zur Deutungshoheit

Der Feind als Mahl

Trophäenkannibalismus in Stammesgesellschaften

Zwischen Hunger und Hoffnung

Kannibalismus in Hungersnöten der Antike

Wenn die Vorratskammern leer sind

Kein Verbrechen – sondern Zusammenbruch

Der Körper als letzte Ressource

Zwischen Scham und Gedächtnis

Hoffnung in der Verzweiflung

Heiliges Fleisch

Eucharistie und liturgischer Kannibalismus im frühen Christentum

Das Fleisch des Heilands

Liturgischer Kannibalismus?

Vom Brot zum Leib

Die Heiligung des Verzehrs

Gott ist tot – aber gegessen wird er noch

Exkurs I: Die Römer und der Verdacht der Menschenfresser

Exkurs II: Transsubstantiation und Mittelalter – das Mysterium wird dogmafest

Exkurs III: Göttliches Mahl – Parallelen in anderen Kulturen

1. Die Eucharistie als ›legitimierter Kannibalismus‹

2. Von der Trophäe zum Sakrament – eine semantische Wandlung

3. Das Sakrale als Rest einer Gewaltkultur

4. Gedächtnismahl vs. Erinnerungsakt

5. Der letzte Rest des Kannibalen im zivilisierten Menschen

Der Leib als Heilmittel

Medizinalkannibalismus im europäischen Frühneuzeitdenken

Der Körper als Apotheke

Zwischen Galgen und Altar

Heilig oder heilend?

Der schwindende Glaube – ein leiser Abschied

Eine stille Rückblende

Missionare und Menschenfresser

Koloniale Verzerrungen und Erfindungen des Fremden

Zwischen Fiktion und Furcht

Die Kolonialisierung der Vorstellung

Der Edle Wilde – eine ambivalente Figur

Das Echo in der Moderne

Der Mensch als Konstrukteur des Monströsen

Zivilisierter Ekel

Die kulturelle Kodierung des Abscheus

Vom natürlichen Widerwillen zur moralischen Waffe

Die zivilisatorische Inszenierung

Das Schweigen als Ekelstrategie

Das Ambivalente im Abscheu

Der letzte Reflex

Körperpolitik

Kannibalismus im Spiegel totalitärer Systeme

Das Verschwinden des Individuums

Der Mensch als Rohstoff

Der symbolische Kannibalismus

Die innere Logik der Entgrenzung

Der Nachhall in der Gegenwart

Der Fall ›Donner Party‹

Überleben auf Kosten des Verstorbenen

Schnee, Hunger, Stille

Der Hunger als Dämmerzustand

Zwischen Scham und Schweigen

Die Ethik im Eis

Vom Menschsein im Ausnahmezustand

Armin Meiwes

Kannibalismus im Internetzeitalter

Der virtuelle Tisch

Die Suche nach dem Freiwilligen

Der digitale Resonanzraum

Die Verschiebung der Grenzen

Kannibalismus ohne Hunger

Die bleibende Frage

Das Internet hat keinen Kannibalismus erfunden.

Rituelle Reinheit

Kannibalistische Praktiken in Papua-Neuguinea und ihre Funktion

Fleisch und Geist

Ein Tod, der nicht trennt

Die Krankheit als Spiegel

Reinigung durch Vereinnahmung

Fremdheit und Spiegel

Kannibalismus als spirituelle Aneignung

Der Glaube an Übertragung von Kraft, Mut, Geist

Der Mund als Schwelle

Die Verwandlung des Fremden in das Eigene

Der Körper als Träger von Tugenden

Zwischen Jenseitsglauben und Diesseitsmacht

Der Mut der Jäger

Die Grenze des Heutigen

Exkurs: Kannibalismus im Kontext schamanischer Ekstase

Der Schamane als Grenzgänger

Ekstase und Entgrenzung

Der Kannibalismus als Metapher für Auflösung

Kannibalismus als spirituelle Osmose

Sexualisierte Fressfantasien

Der Kannibalismus als perverse Grenzüberschreitung

Verbotene Lust

Der Kannibalismus in der Psychiatrie und Kriminologie

Exkurs: Trieb, Trauma und Transgression

Sakrileg im Sakrament

Der Widerspruch kirchlicher Rhetorik

Zwischen Ketzerei und Dogma

Die Rhetorik des Leibes bei Tertullian und Augustinus

Ein Ritus auf Messers Schneide

Vereinnahmung als Prinzip

Vom Kannibalismus zur Organtransplantation

Der Leib als Gabe

Süße Versuchung, bittere Absicht

Hänsel, Gretel und die kannibalistische Hexe

Der Geschmack der Wörter

Literarische Menschenfresser von Homer bis zur Postmoderne

Der kultivierte Schlund

Hannibal Lecter und die Popkultur des Grauens

Galaktischer Hunger

Kannibalismus im Kosmos

Kuru – Der Tanz der Sterbenden

Der Kannibale als Mahnmal

Die Erfindung des Ekelhaften

Wie kulturelle Tabus entstehen

Sprachliche Kannibalisierung

Redewendungen, Sprichwörter, Metaphern

›Ich könnte dich auffressen.‹

Moralische Polkippungen

Was einst galt und heute gilt

Posthumaner Kannibalismus

Fiktionen, Dystopien, philosophische Experimente

Einverleibung und Erinnerung

Kannibalismus als anthropologische Konstante

Über den Autor

In dieser Reihe sind bisher erschienen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ist es ein Fortschritt,

wenn ein Kannibale Messer und Gabel benutzt?

 

Stanislaw Jerzy Lec

 

Stanisław Jerzy Lec (staˈɲiswaf ˈjɛʐɨ lɛts) (* 6. März 1909 als Baron Stanisław Jerzy de Tusch-Letz in Lemberg, Königreich Galizien und Lodomerien/Österreich-Ungarn; † 7. Mai 1966 in Warschau) war ein polnischer Lyriker und Aphoristiker.

Das Prinzip der Erfindung

 

 

 

Vor etwa 20.000 Jahren begann der Mensch, sesshaft zu werden. Mit diesem tiefgreifenden Wandel veränderte sich nicht nur seine Lebensweise – es veränderte sich auch seine Zeit. Was zuvor durch Jagd, Sammeln und ständiges Umherziehen bestimmt war, wich nun einer Alltagsstruktur, die mehr Raum ließ: Raum für Muße, für Wiederholung, für Überschuss.

Die Versorgung durch Ackerbau und Viehzucht minderte das Risiko, sich zur Nahrungsbeschaffung in Gefahr begeben zu müssen. Der Mensch musste sich nicht länger täglich beweisen – er konnte verweilen. Doch genau in diesem neuen Verweilen keimte etwas heran, das bis dahin kaum bekannt war: die Langeweile. Und mit ihr entstand der Drang, sie zu vertreiben – mit Ideen, mit Tätigkeiten, mit neuen Formen des Denkens und Tuns.

Was folgte, war eine unablässige Kette von Erfindungen. Nicht alle dienten dem Überleben. Viele jedoch dienten dem Zeitvertreib, der Ordnung, der Deutung oder dem Trost. So schuf der Mensch nach und nach eine Welt, die in ihrer Gesamtheit weit über das Notwendige hinauswuchs.

Diese Sachbuchreihe mit dem Titelzusatz ›Die Erfindung ...‹ widmet sich jenen kulturellen, sozialen und psychologischen Konstrukten, die aus genau diesem Spannungsverhältnis entstanden sind – zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit, zwischen Dasein und Deutung, zwischen Langeweile und Sinn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine Erfindung ist etwas Erdachtes.

Eine Erfindung ist keine Entdeckung.

Jemand denkt sich etwas aus und stellt es zunächst erzählend vor. Das Erfundene lässt sich nicht anfassen, es existiert also nicht real – es ist ein Hirngespinst. Man kann es aufschreiben, wodurch es jedoch nicht real wird, sondern lediglich den Anschein von Realität erweckt.

Der Homo sapiens überlebte seine eigene Evolution allein durch zwei grundlegende Bedürfnisse: Nahrung und Paarung. Alle anderen, mittlerweile existierenden Bedürfnisse, Umstände und Institutionen sind Erfindungen – also etwas Erdachtes.

Auf dieser Prämisse basiert die Lesereihe ›Die Erfindung …‹ und sollte in diesem Sinne verstanden werden.

 

Vorwort

 

Es gibt Themen, die das Denken reflexartig abwehrt. Der Kannibalismus gehört zu ihnen. Er stößt ab, lange bevor er verstanden ist. Das bloße Wort erzeugt Unbehagen, Ekel, Entrüstung – Reaktionen, die sich selten mit der Sache, meist aber mit dem eigenen moralischen Koordinatensystem beschäftigen. Dieses Buch unternimmt den Versuch, jene automatische Sperre auszuschalten – nicht um sie zu übertreten, sondern um sie zu betrachten.

 

Denn: Der Kannibalismus ist keine Randnotiz menschlicher Geschichte, sondern ein fester Bestandteil ihres kulturellen Repertoires. Er erscheint in Ritualen, Mythen, Rechtsakten, Religionen, Kriegen, Hungersnöten, Kunstwerken und sprachlichen Wendungen – in der Wirklichkeit ebenso wie in der Vorstellungskraft. Es wäre ein Irrtum, ihn ausschließlich in die Sphäre des Anormalen zu verbannen.

 

Vielmehr offenbart er sich als ein anthropologisches Spiegelbild: radikal, verstörend, aber aufschlussreich.

 

Der Blick unter die Oberfläche

Dieses Buch will weder schockieren noch moralisieren. Es will beobachten. Nicht von außen, sondern von innen. Nicht durch die Brille unserer heutigen Werte, sondern mit dem weiten Blick einer Zeitreise. Der Kannibalismus wird hier nicht als strafrechtlicher Tatbestand oder grausames Verbrechen untersucht, sondern als menschliche Praxis mit unterschiedlichsten Motiven und Bedeutungen. Dazu gehört der Überlebensinstinkt ebenso wie die rituelle Machtausübung, das spirituelle Verschmelzungsbedürfnis ebenso wie die symbolische Kommunikation über Grenzen hinweg.

 

Entscheidend ist:

 

Der Kannibalismus wird nicht als das Andere der Kultur beschrieben, sondern als ein Moment ihrer selbst.

 

Eine Kippung der Pole

Die zentrale Denkfigur dieses Buches ist die der moralischen Polkippung: Was einst legitim, ja notwendig erschien – etwa das Menschenopfer, die Leichenverwertung zu Heilzwecken oder der Verzehr im Namen der Götter –, gilt heute als unvorstellbar. Umgekehrt gab es Zeiten, in denen der Verzicht auf solche Handlungen als unverständlich oder sogar gefährlich galt. Moral, so zeigt sich, ist keine Konstante – sondern eine bewegliche Grenzlinie zwischen Akzeptanz und Ablehnung.

 

Der Kannibalismus bildet in diesem Spiel ein besonders markantes Beispiel. Ihm haftet eine übersteigerte Verwerflichkeit an, während gleichzeitig – in kulturell domestizierter Form – viele seiner Strukturen weiterleben:

• in der Eucharistie (»Dies ist mein Leib«),

• in der Transplantationsmedizin,

• in Sprichwörtern und Redewendungen (»Ich hab dich zum Fressen gern«),

und sogar in kosmologischen Modellen, wenn Galaxien kleinere Galaxien verschlucken und die Astronomie dafür den Begriff des »galaktischen Kannibalismus‹ verwendet.

 

Vereinnahmung als Grundprinzip

Das Buch verfolgt den roten Faden der Vereinnahmung: jenes anthropologische Grundmuster, sich das Fremde einzuverleiben – körperlich, symbolisch, spirituell. Ob der Feind verspeist wird, um seine Kraft zu erben, ob die Asche eines Verstorbenen im Wohnzimmer aufbewahrt wird, ob ein Organ transplantiert wird oder ein Gott zur Hostie gerät – immer geht es um Nähe, Macht, Kontrolle oder Transformation.

 

Diese Betrachtungsweise macht es möglich, den Kannibalismus zu entmoralisieren, ohne ihn zu verharmlosen. Es wird nicht darum gehen, Schuld zu verteilen oder Rechtfertigungen zu liefern. Stattdessen wird gezeigt, wie diese Praxis in den unterschiedlichsten Kontexten – historisch, sozial, religiös, psychologisch – funktionierte. Und warum sie immer wiederkehrt, selbst in einer Gegenwart, die sich als aufgeklärt betrachtet.

 

Keine Anklage. Keine Verteidigung. Eine Expedition.

Der Leser dieses Buches wird nicht mit Anleitungen, Appellen oder Urteilen konfrontiert. Es gibt hier keine Verteidigung des Kannibalismus – ebenso wenig wie seine pauschale Verdammung. Stattdessen lädt dieses Werk zu einer geistigen Expedition ein. Es folgt Spuren durch Jahrtausende, Kulturen, Disziplinen und Vorstellungen – bis sich ein Panorama zeigt, das weit über das hinausreicht, was der Begriff üblicherweise auslöst.

 

Die Bereitschaft, sich auf dieses Panorama einzulassen, ist die einzige Voraussetzung.

 

Der moralische Kompass darf, wenn man will, an der Garderobe abgegeben werden – nicht aus Beliebigkeit, sondern zur Erweiterung des Blickfeldes.

 

Denn das Ziel ist nicht die Provokation.

Das Ziel ist Verstehen.

 

• Für alle, die dem Denken mehr zutrauen als dem Reflex.

• Für alle, die ein Thema nicht meiden, weil es unbequem ist.

• Und für alle, die wissen: Der Mensch beginnt dort, wo er sich selbst zu erkennen wagt.

Jenseits der Nahrung

Die frühesten Spuren tierischen Kannibalismus

 

Bevor der Mensch seine ersten Feuerstätten errichtete, bevor Sprache, Werkzeug oder Mythos ihn von der Tierwelt zu unterscheiden begannen, existierte bereits ein Phänomen, das später als Kannibalismus in menschliche Kultur, Religion und Geschichte eingehen sollte – jedoch nicht als Erfindung, sondern als Verhaltensmuster: Tiere fraßen Tiere – ihrer eigenen Art. Nicht aus Grausamkeit, nicht aus Gier, sondern als Teil eines biologischen Ablaufes, der sich tiefer in das Dasein eingeschrieben hat, als es auf den ersten Blick erscheint.

 

Wer den Ursprung des Kannibalismus verstehen will, kommt um die tierische Welt nicht herum. Sie ist das geduldige, lautlose Archiv aller Handlungsmöglichkeiten, die dem Leben dienen – auch, wenn sie uns heute abstoßend erscheinen mögen. Tierischer Kannibalismus ist keine Anomalie, sondern ein stabiler Bestandteil ökologischer Systeme. Man findet ihn bei Fischen, Amphibien, Insekten, Reptilien, Spinnen – und sogar bei Säugetieren.

 

Zwischen Instinkt und Notwendigkeit

In der tierischen Welt ist das Fressen der eigenen Art nicht zwangsläufig ein Zeichen für Störung oder Notlage. Vielmehr offenbart es ein vielschichtiges Verhaltensmuster, das evolutionär erprobt ist. Biologen sprechen hier von ›intraspezifischem Konsum‹, doch was sich nüchtern anhört, ist bei genauerer Betrachtung ein Balanceakt zwischen Arterhaltung und individueller Fitness.

 

Ein klassisches Beispiel liefern Haie. Bei einigen Arten findet die erste Selektion nicht nach, sondern vor der Geburt statt. In der Gebärmutter der Mutter entwickeln sich mehrere Embryonen gleichzeitig – doch nur der kräftigste überlebt. Er frisst seine Geschwister auf, noch bevor sie das Licht der Welt erblicken. Was zunächst wie ein grausamer Akt erscheinen mag, ist biologisch gesehen eine Optimierung: Das stärkste Individuum kommt zur Welt – mit dem Magen voller Konkurrenz. Ein evolutionäres Vorrecht, geboren aus Instinkt, nicht aus bewusster Wahl.

 

Auch Amphibien zeigen dieses Verhalten. Kaulquappen mancher Froscharten wandeln sich unter Stressbedingungen in Raubtiere und beginnen, ihre Artgenossen zu fressen. Es handelt sich um eine flexible Anpassung an Umweltbedingungen, keine moralische Entgleisung. Kannibalismus ist hier Überlebensstrategie – die Antwort auf Dichte, Nahrungsknappheit, Raumprobleme.

 

Bei Spinnen schließlich tritt das Bild zutage, das besonders gerne zitiert wird: die ›Schwarze Witwe‹, die das Männchen nach der Paarung verspeist. Was lange als Ausnahme galt, ist bei vielen Spinnenarten gängige Praxis – allerdings nicht zwingend. Manchmal entkommt das Männchen, manchmal wird es toleriert. Das Verzehren des Partners ist also kein Automatismus, sondern ein Verhalten, das unter bestimmten Bedingungen ausgelöst wird – etwa durch Hunger, Stress oder hormonelle Ungleichgewichte. Doch gleichgültig, wie es motiviert ist: Es bleibt innerhalb der Logik tierischen Überlebens.

 

Kannibalismus als ökologisches Regulativ

Ein weiterer Gesichtspunkt, der den tierischen Kannibalismus in einem anderen Licht erscheinen lässt, ist seine regulierende Funktion innerhalb des Ökosystems. So gibt es Insektenarten, bei denen die Mütter einen Teil ihres Nachwuchses fressen, um den Rest zu ernähren. Es ist ein Opfer aus Notwendigkeit, kein Sadismus. Auch bei Säugetieren wie Ratten oder Kaninchen lässt sich beobachten, dass Mütter ihre kranken oder schwachen Jungen töten und verzehren – vermutlich, um Infektionen zu vermeiden oder Ressourcen zu schonen. Der Kannibalismus wird damit zu einer Maßnahme der Qualitätssicherung.

 

In Kolonien von Meerschweinchen, Hamstern oder sogar Affen kann es vorkommen, dass Jungtiere gefressen werden, die nicht zum eigenen Wurf gehören. Das dient nicht nur der Reduktion von Konkurrenz, sondern auch dem Schutz des eigenen Erbguts. So erscheint Kannibalismus als Mittel der Evolution – kein Ziel, aber ein Werkzeug.

 

Besonders eindrucksvoll ist das Verhalten bei Molchen: Wenn die Gewässer klein sind und das Futter knapp, entwickeln manche Individuen größere Mäuler und beginnen, andere Kaulquappen zu fressen. Diese Morphologie ist reversibel – wenn das Futterangebot sich verbessert, wird die räuberische Gestalt abgelegt. Das bedeutet: Kannibalismus ist nicht fest verankert, sondern situativ abrufbar. Er ist Option, kein Zwang.

 

Von der Funktion zur Bedeutung

Im Tierreich existiert keine Ethik. Es gibt keine Vorstellung von Schuld, keine Reflexion des Tuns. Was geschieht, ist dem Überleben geschuldet – nicht einer symbolischen Ordnung. Und doch liegt genau hier der entscheidende Unterschied zum menschlichen Kannibalismus: Tiere fressen ihre Artgenossen, weil es funktioniert – nicht, weil es etwas bedeutet.