Die ersten Tage der Welt - Salem Khalfani - E-Book

Die ersten Tage der Welt E-Book

Salem Khalfani

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Beschreibung

Retrospektiv berichtet der Protagonist, wie er einst als Schüler der vierten Klasse seine erste Liebe in der Lehrerin Leili gefunden hat. Obwohl er ihretwegen einen harten seelischen Kampf mit seinen Mitschülern durchstehen muss, ist er glücklich, dass er die Lehrerin tagtäglich sieht und – auch ihretwegen – schöne Aufsätze schreibt. Ihm wird die Zeit in ihrer Vergänglichkeit erst gewahr, nachdem die langen Sommerferien begonnen haben und Leili anschließend die Dorfschule für immer verlässt. Doch er kann seine erste Liebe nicht vergessen. An die Adresse ihres Wohnhauses in Teheran schreibt er mehrmals (Liebes)Briefe, ohne dass er eine Antwort bekommt.

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Inhaltsverzeichnis
1
II
III

 Roman

Die ersten Tage der Welt

Salem Khalfani

CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

Khalfani, Salem

Die ersten Tage der Welt 

ISBN: 978-3-96202-619-6

© der deutschen Ausgabe 2019 by Sujet Verlag 

Umschlaggestaltung: Jasmin Tank 

Layout: Myriam Sauter

Lektorat: Amir Shaheen 

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen 

Printed in Europe

1. Taschenbuchausgabe 2021

www.sujet-verlag.de

www.sujet-verlag.de

Meiner Lebensgefährtin,

Suzan Mesgaran,

gewidmet

1

Wenn ich an diesen Ort zurückdenke, dann bemächtigt sich die Erinnerung an diese Frau meiner derart, als hätte sie selbst die Häuser dieses Orts Stein für Stein und mit den eigenen zarten Händen gebaut, obwohl ihre Anwesenheit dort eigentlich nur von ziemlich kurzer Dauer war.
In Kaban, meinem Geburtsort, ist jetzt vieles anders geworden. Das Dorf ist viel größer als damals, es ist, genauer gesagt, kein Dorf mehr, sondern eine mittelgroße Stadt. Die Wohnungen sind wesentlich kleiner als damals, die Gassen und die Straßen enger, Autos und Motorräder, die hin und her rasen, und überall herrscht reger Betrieb. Die Menschen kennen einander nicht mehr, und dementsprechend grüßen sie nicht, wenn sie anderen Menschen auf den Straßen begegnen, fast, als wären sie verhext. Doch wenn man auf das Zeitliche nicht achtet, dann kommt einem alles verhext vor, was mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hat und worauf sich eine harte Schicht aus Zeit und Staub gelegt hat. Und ich achte auf das Zeitliche, auf den sichtbaren und unsichtbaren Staub, sonst verliere ich die Welt in einem unübersichtlichen Dickicht aus Ferne und Fremdheit.
Dahinter, hinter dem Staub, hat sich alles verwandelt, während ich nicht dort war. Das sind schon einige Jahrzehnte. Viele sind aus anderen Städten hierher gezogen und wiederum andere haben ihrerseits diesen Ort verlassen und für die Neuen Platz gemacht. Und wenn ich nach meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen suche, dann weiß ich, dass sie sich trotzdem hier befinden und nirgendwo sonst: an den Wänden, unter den Steinen, im Schatten alter, aber auch nicht vorhandener Bäume, in den Gassen und Straßen, die ich nicht mehr kenne, und nicht zuletzt in den kleinen Bruchstücken der Zeit, die hier und dort verstreut wie Steine im Schatten schlummern.
Der Heimatort ist immer dort, wo wir erwartet werden. Und ich glaube nicht, dass man eine Stadt, ein Haus, in dem man einst als Kind gelebt hat, völlig verlassen kann. Man trägt den Ort auf seinen Schultern, und ganz gleich, wo man ankommt, man packt alles wieder aus und sitzt dann im selben Haus von damals. Man beobachtet aus den alten vertrauten Fenstern das Geschehen auf der neuen Straße. Auch wenn man sich später verliebt, sieht man die neue Liebe immer wieder aus diesen, wenn auch verstaubten, Fenstern. Sonst gibt es keine anderen Fenster. Sonst gibt es keine neue Liebe.
Aber wer wartet denn auf uns, wenn wir in unseren Geburtsort, in unsere Heimatstadt zurückkommen? Gewiss niemand. Doch wir wissen, dass unsere Erinnerungen von einst sich noch dort aufhalten wie Küken im Nest. Und dass die Erinnerungen beharrlich warten, um sich nochmals mit uns zu vereinen. Sie warten auf uns auf den alten Plätzen, auch wenn diese Plätze längst verwandelt sind. Auch wenn diese Plätze nicht mehr vorhanden sind.
Wahr ist, dass auch die neu entstandenen Bauten durch unsere Erinnerungen einen Sinn bekommen. Und dass es Menschen gibt, die seit langem auf uns warten, auch wenn sie lange tot sind. Denn wir wissen ja, dass die Lebenden von damals in der Fülle der Zeit uns noch kennen. Sicherlich warten auch sie auf uns, trotz alledem, trotz ihres Todes, trotz der Zeit und trotz der Jahre. Sie heben die Hand und grüßen uns, sobald sie uns erblicken. Sie kennen unsere Gesichter. Sie erkennen uns an unseren Stimmen. Sie hocken in unseren Erinnerungen und warten auf jeden von uns. Deshalb bekommen auch die Toten ihren Sinn erst mit unseren Erinnerungen. Und das ist vielleicht der einzige Sinn der Toten und der einzige Sinn unserer Erinnerung. Und wenn keine Erinnerung da ist, dann hat weder Leben noch Tod einen Sinn.
Die Menschen unserer Erinnerungen bewegen sich hier und dort, sie schauen uns an, sie sprechen mit uns, auch wenn sie ihr Schicksal gegenwärtig in andere Länder und Kontinente verschlagen hat. Auch wenn sie längst tot sind.
Die Schule ist ein Ort, an dem die Kinder auf ihr Schicksal vorbereitet werden, und die meisten Schicksale beginnen bereits in der Schule.
So war es mit mir wie mit jedem Kind sonst in jeder anderen Schule. Wir Kinder saßen wartend auf unseren Bänken. Wir waren in der vierten Klasse. Wir redeten alle durcheinander und warteten gespannt auf die neue Lehrerin. Ein Streit zwischen den zwei Mitschülern auf der hinteren Bank hatte sich gelegt, und sie wurden endlich still. Eine Weile sprach niemand, alle Augen waren auf die blaue, hölzerne Tür gerichtet: Die Tür öffnete sich, und sie trat ein. „Guten Morgen, Kinder!“, sagte sie. Sie hatte glatte schwarze Haare bis zu den Schultern und große schwarze Augen. Sie war zierlich gebaut. Sie war wunderschön. „Ich bin eure neue Lehrerin“, fuhr sie fort, „mein Name ist Leili Mahini.“ Sie hielt dann inne. Wir schwiegen. Sie ging zur Tafel und griff zur Kreide und schrieb: „Leili Mahini“.
Alles sollte genauso sein wie sonst in jeder Schule, doch ich merkte, dass alles zugleich ganz anders war. Der Klang ihrer Stimme, ihr Name, der auf der Tafel und in meinem Kopf eine andere Form und eine andere Bedeutung bekam. Ihr Anblick. Und wenn sie lachte. Alles war anders. Ich merkte sofort, dass mein Leben demnächst anders verlaufen würde, wenn nicht äußerlich, dann jedenfalls innerlich. Und ich wusste sofort, dass mein Innenleben, das ich bis dahin nicht wirklich wahrgenommen hatte, wie ein fernes fremdes Land, wie eine Insel, die im Horizont sichtbar wird, von nun an die Oberhand gewann und eine Gestalt bekam, zu leben anfing und in Aufruhr geriet. Bis dahin war das, was man als Innenleben bezeichnet, noch nicht recht ins Leben gekommen, und wenn doch, dann nur zu schwach und gestaltlos, so fern und fremd, so unbekannt, dass ich es kaum wahrgenommen hatte. Und als ich es in dieser Weise wahrnahm, wusste ich gleich, dass dunkle unbekannte Mächte nun plötzlich von mir Besitz ergriffen hatten und dieser Zustand ausschlaggebend sein würde für meine gesamte Zukunft. Und der Verlauf meines Lebens hat es ja bestätigt. War das der erste Tag der Welt? War das der erste Tag der Welt, an dem man die Augen öffnet und sich in einer vollkommen neuen, großen und fremden Welt vorfindet?
Viel später musste ich erkennen, dass die Ungleichmäßigkeit zwischen Innen und Außen den Menschen aus dem Gleichgewicht bringt. Und wenn man bereits am Beginn des Lebens aus dem Gleichgewicht kommt, dann findet man nie eine richtige Balance, wie bei einem Gebäude, das auf schrägem Grund wächst. Die Erscheinung Frau Mahinis verursachte, dass von diesem Zeitpunkt an mein Innenleben mein ganzes Leben war. Wusste sie schon, was in mir, gleich am ersten Tag, in der ersten Stunde, in den ersten Sekunden, vorging? Sie entgegnete meinen Blicken lächelnd und immer mit strahlenden Augen. Und wenn sie mich an diesem Tag und den nächstfolgenden Monaten ansah und mir zulächelte, dann vergewisserte ich mich, dass auch sie an mich dachte. Mir schien, dass auch sie innerlich mit mir in einem Kreis lebte, an einem geheimen Ort, aus dem alle anderen ausgeschlossen wurden, vor allem die Mitschüler. Mir schien, dass sie, wenn auch undeutlich, ihre eigene Welt, ihr eigenes geheimes Innenleben hatte und dies mit mir teilte. In dieser versteckten Welt, auf dieser fernen Insel, war außer uns beiden niemand sonst anwesend. Wir waren vollkommen allein.
Ein paar Tage später schlug sie als Thema für die erste Aufsatzstunde „Brief an eine geliebte, abwesende Person“ vor. Sie holte ein Buch aus ihrer ledernen Tasche heraus und las uns einige Minuten vor. Es waren Beispiele, wie man mit einem Brief beginnt, wie man zum zentralen Thema kommt und wie das Ende gestaltet werden sollte. In der darauffolgenden Stunde sammelte sie unsere Hefte mit den Aufsätzen ein und einen Tag später gab sie uns bekannt, dass die Aufsätze von Rahman, Hassan und mir die besten waren. Wir mussten also vorlesen.
Darüber hinaus lehrte sie uns Mathematik, Naturwissenschaft, Religion, Sport und alles, was für diese Klasse bestimmt war. Doch in Sachen Sprache und „Aufsatzschreiben“ ging sie ganz deutlich ihren eigenen Weg. Die Besonderheit dieses Weges wurde mir erst viel später, nach und nach, bewusst; statt, wie üblich, jedes Mal ein anderes Thema vorzuschlagen, bestand sie darauf, dass wir immer Briefe schrieben, und zwar an eine beliebige Person, die wir vermissten. Und die Briefe sollten immer an eine geliebte Person geschrieben werden, sei es an die Mutter, sei es an den Vater, die Schwester oder den Bruder, sei es an einen Freund, eine Freundin oder eine Geliebte (ja, soweit ging sie!). Mein Hang zum Schreiben basiert auf dieser ersten Erfahrung, auf diesem sowohl innerlichen als auch äußerlichen Bedürfnis; literarische Texte als Briefe, die der wahre Adressat höchstwahrscheinlich nicht lesen wird, als Briefe an eine Person, die wir vielleicht gar nicht kennen. Damals wusste ich dennoch ganz genau,  an wen ich meine Briefe schrieb und wem ich meine Texte widmete, auch wenn ich die betreffende Person nicht erwähnte. Ich schrieb nämlich alle meine Briefe an die Lehrerin, nur an sie. Die geschriebenen Worte schafften eine Atmosphäre, einen Raum, in dem ich Zuflucht fand und mich zugleich mit ihr vereinte. Auch wenn ich, wie alle anderen, sichtbar für ihre Augen, in einer durchsichtigen und offensichtlichen Welt lebte, so war ich hier in einer vollkommen anderen, geheimen, versteckten und unsichtbaren Welt, in der ich mich wohl und sicher fühlte. Als Frau Mahini das Thema zum ersten Mal vorschlug und aus ihrem Buch vorlas und darüber Erklärungen gab, erhaschte ich ihre Blicke, ihre schönen, leicht geschminkten, großen Augen. Sie war vor mir, und ich wollte nur für sie schreiben, von Anfang an, mit dem ersten Wort, lebenslang für sie schreiben und lebenslang für sie leben. Ich hob meine Hand und fragte, ob man ausschließlich für eine abwesende Person schreiben sollte. Ob es nicht möglich wäre, für eine anwesende Person zu schreiben? Das war, muss ich sagen, eine sehr mutige Frage. 
„So ein Quatsch, schreiben für eine anwesende Person, das ist Blödsinn“, kam Ali, der Klassensprecher, der Lehrerin zuvor, worauf sie mich in Schutz nahm, indem sie mich ansah und mit ihrer zärtlichen Stimme erklärte, dass dies durchaus möglich sei: „Es kommt auf die Vorstellung an“, sagte sie, „man muss sich vorstellen, dass eine bestimmte Person weit weg ist, und erst dann schreiben. So kann man das auch machen, wenn man will.“
Ali hatte sich bereits seit der zweiten Klasse zu meinem großen Feind entwickelt. Er war der erste Feind meines Lebens überhaupt. Er wollte mir, soweit möglich, widersprechen, ganz gleich wie und wann und warum. Und die Klasse von Frau Mahini war der bestmögliche Ort für sein Vorhaben. Er suchte ständig nach Fehlern bei mir, in meinem Verhalten, in meinem Aussehen, in meiner Kleidung, wie ich sprach, wie ich schwieg, um mich vor den Augen der Mitschüler niederzuschmettern. Und er fand genug Fehler. Körperlich war er der größte in der Klasse, er war überdies ein guter Redner. Und diese zwei Eigenschaften hatten vollkommen gereicht, um aus ihm einen Klassensprecher zu machen. Und das war er bereits seit der ersten Klasse. Trotzdem habe ich mich immer wieder gefragt, warum Frau Mahini ihn in dieser Position ließ.
Mir missfiel sehr, dass er als Klassensprecher mehr Gelegenheit bekam, mit der Lehrerin in Kontakt zu treten, mal, weil er sich über einen bestimmten Schüler beschweren, mal, weil er ihr ein Klassenanliegen mitteilen wollte. Mal dieses, mal jenes. Und ich wusste, dass es dabei immer um ihn selbst und um seine eigenen Interessen ging. Er wollte sich wichtigmachen, das war klar. Und das war alles. Und immer wieder, wenn die Lehrerin im Büro saß und mit den anderen Lehrern und dem Direktor ihren Tee trank, dann verließ er die Klasse mit der Begründung, er möchte ihr dies und jenes mitteilen. An der Bürotür war ein Schild  angebracht mit dem Hinweis „Lehrerzimmer, Zutritt für Unbefugte verboten“. Ali konnte aber den Raum betreten, weil er ja Klassensprecher war.
Und ich hatte keine andere Wahl. Diese Stärke, diesen Hochmut hatte ich nicht, und ich redete mit der Lehrerin nur in der Sprache des Schweigens. Auch im Traum. Sogar die Briefe waren eine Ablenkung, auch wenn sie einen geheimen, aber sicheren Zufluchtsort für mich schafften. Denn schon damals wusste ich, dass ein Schreiben erst dann gut war, wenn es einen großen Teil dessen, was es zum Ausdruck bringen wollte, verschwieg.
Und ich wusste weiterhin, dass die Lehrerin zwischen meinen Zeilen las, auch wenn sie diskret blieb. Ich fürchtete sogar, dass ich zu deutlich,  zu direkt wurde, so dass sie die Sprache meiner Verschwiegenheit ganz deutlich erriet. Deshalb versuchte ich, in meinem Schreiben undeutlicher zu werden, immer undeutlicher und undurchschaubarer, und selbst dahinter zu verschwinden. Und indem ich vollkommen undurchschaubar wurde, hoffte ich, dass sie mich ganz verstand, dass sie mich und meine Gefühle irgendwo im Dickicht der Wörter wiederfand. Ich wusste, dass meine Stärke nicht in dem bestand, was ich sagte, sondern in dem, was ich zu verbergen suchte. So dachte ich es mir jedenfalls damals. Denn ich wusste, dass Rahman, Hassan und Ali in dem, was sie sagten, was sie von sich zeigten und was sie zum Ausdruck brachten, viel beredter und gescheiter waren, und das waren die meisten Schüler und die meisten Menschen in meiner Umgebung.
Einmal, zwischen zwei Unterrichtsstunden, begegnete ich Frau Mahini in dem Flur zwischen dem Lehrerzimmer und der ersten Klasse. Alle Schüler waren im Schulhof und machten dort einen Heidenlärm. Als unsere Blicke sich trafen, machte sie halt. Und ich blieb ebenfalls stehen. Aber ich spürte zugleich, dass mein Herz zu bersten begann und mir der Atem ausging, ich spürte, dass mir kein Wort, kein einziges Wort zur Verfügung stand, und dass ich mich in einem unüberschaubaren Dunst auflöste. 
Sie stand vor mir und schaute mich minutenlang an. Dann gingen wir weiter, in zwei entgegengesetzte Richtungen. Aber nur scheinbar. Denn ich merkte, dass mein Herz dort blieb, an jener Stelle zwischen dem Lehrerzimmer und der ersten Klasse. Dass mein Herz innehielt und dort für sich weiter schlug, unabhängig von mir, im Angesicht ihrer Augen, im Angesicht ihres und meines Schweigens, in einer Welt, die sich gelöst hatte von mir und nun unabhängig von mir irgendwo zwischen Himmel und Erde existierte. Ja, ich ging weiter, aber mein Blick verharrte unabhängig von mir dort, wo sie gestanden hatte, und meine Augen gingen mit ihr, in die mir entgegengesetzte Richtung und starrten sie unablässig an. Als ich wegzog, wurde mir klar, dass ich mich von jener von mir gelösten Welt zwischen Himmel und Erde nicht trennen konnte, dass ich auch mitgenommen worden war. Wo ich nun wirklich stand, war anderswo.
Ich kann mich ganz gut erinnern. In einem Aufsatz, den ich zu jener Zeit der Klasse vorlas, hatte ich einiges aus einem Buch, das mir damals in die Hände fiel, abgeschrieben. Darin hieß es: „Ein Gedicht ist wie ein Brief an einen Unbekannten, ein Brief, den man aus dem Fenster eines Flugzeugs hinauswirft.“
Ich hatte bis dahin noch kein Gedicht gelesen und kein Flugzeug aus der Nähe gesehen. Und darüber hinaus verstand ich diese Zeilen nicht ganz. Doch sie beeindruckten mich zutiefst und machten die Gedichte in meinen Augen zu etwas Phantastischem, Wunderschönem, Geheimnis- vollem, das, so schien mir, aus den unbekannten, dunklen Tiefen des Herzens kommt und uneigennützig und voller Unschuld ist. Ich versuchte, diese Zeilen für mich, für einen Aufsatz, den ich wie alle meine anderen Aufsätze nur für die Lehrerin schrieb, zurechtzulegen, umzuschreiben, und ich schrieb Folgendes:
„Briefe an einen Unbekannten zu schreiben, bedeutet, sie aus dem Fenster eines Flugzeugs hinauswerfen; das bedeutet wiederum, dass sie nie ankommen, und wenn sie irgendwo ankommen, dann geraten sie in falsche Hände. Solche Briefe sind wie Gedichte usw.“. Das gefiel Frau Mahini sehr. Einige Schüler lachten über meine komischen Einfälle. Rahman verdrehte die Augen: „Hamed sitzt in seinem Flugzeug, er hat ein Flugzeug“, spottete er. Hassan bekam Lachkrämpfe und die anderen genauso. Doch die Lehrerin versicherte, dass dies das Beste war, was sie bisher gelesen hatte. 
Mir war wichtig, was sie sagte, und ich war stolz auf meine Zeilen. Ich war stolz und zugleich hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass die Zeilen nicht ganz von mir stammten. Das war sozusagen mein erstes Plagiat. Aber erst viele Jahre später bekam ich mit, was ein Plagiat ist.
Manche Städte sind nur halbwegs am Leben. Sie atmen, und man weiß nicht, wie lange noch. Ist es möglich, dass eine Stadt einfach ohne Grund in den Boden sinkt und wir von einem Augenblick zum nächsten keine Spur von ihr finden? Gibt es vielleicht ein Erdbeben oder einen Orkan, der alles verwüsten kann, ohne dass jemand es bemerkt? Oder geschieht die Verderbnis ganz langsam von innen her?
Es gibt gewiss Städte, die sich in der Zeit auf- gelöst haben, allmählich, ganz langsam, unbemerkbar. Sie leben nicht mehr, auch wenn auf ihren Straßen und in ihren Häusern reger Betrieb herrscht. Erinnerungen an altes Leben werden in den Friedhöfen aufbewahrt, oder in Museen, in Büchern. Man hat das Gefühl, dass ein kräftiger Sturmwind diese Städte von innen her verwüstet hat, heimtückisch, stillschweigend. Wir lesen ihre Namen auf alten Landkarten und wir wundern uns und werden wehmütig.
Doch dieser Ort, Kaban, in dem ich aufwuchs, lebte noch, auch wenn er hinter den Bergen, ganz weit weg von den Augen der Welt, versteckt blieb. 
Er lebte, und er hatte seine Erinnerungen in den Menschen, die dort lebten. Die Erinnerungen, die von einer Generation auf die nächste übergingen, dirigierten und bestimmten damals das Geschehen auf den Gassen und in den Häusern. Und jetzt? Nichts von alldem. Nichtsdestotrotz denke ich, dass auch dieser Ort lebt, dass auch diese Stadt eine Stadt ist wie alle anderen, die nicht nur auf den Karten existieren und in den Köpfen.
Seitdem ich weiß, dass das Haus, das ich in Teheran aufsuchte, zerstört ist, versuche ich, seiner Ruine eine Gestalt zu geben, ihre Wände und Gemäuer wieder aufzurichten, Türen und Fenster einzusetzen, Decke, Boden, damit es wieder ein ordentliches Haus wird. Manchmal gelingt es mir und manchmal nicht.
Und im Dorf? Ich wollte jemanden sehen, mit jemandem sprechen, der sich an all jene fernen Jahre erinnern konnte. Mundi, der einzige noch Überlebende aus jener Zeit, hatte sicherlich noch viel in sich, in seinem Körper und seinem Geist aufbewahrt. Aber er konnte der Welt nur mit seinem Schweigen begegnen. Er war seit seiner Geburt lahm und taubstumm. Und mir schien, dass seine weiterhin schweren und festgefahrenen Beine in Wegen verharrten, die er nie gehen, an Plätzen, die er niemals sehen konnte. 
Und sein Geist genauso. Und jetzt schien es mir, als wäre ich an seiner Stelle alle diese Jahre in der Welt herumgereist, herumgeirrt, für mich und für ihn, um jetzt wieder dort zu landen, wo der Anfang war. Mundi stand lebenslang am Rande des Lebens, an dem Punkt, wo das Leben noch nicht begonnen hatte, wo der Wind des Lebens geschwind vorbei wehte, ohne ihn zu berühren (dabei sahen wir, wie seine schäbigen Kleider flatterten). Und später, viel später, als er starb, ging es mit ihm zu Ende, ohne dass er zu leben angefangen und dieses aufregende Erlebnis, das wir Leben nennen, wirklich hinter sich gelassen hätte.
Außer Mundi kannte ich hier sonst niemanden mehr. Das war aber nicht der einzige Grund, warum ich ihn wieder aufsuchen musste. Die Tatsache, dass er nirgendwohin, ich aber fortgegangen und Jahrzehnte um die Welt und in ihren Städten herumgeirrt und schließlich doch zurück zu dem Ort gekommen war, an dem Mundi lebenslang saß, verband mich innerlich mit ihm. Diese Tatsache bewies mir, dass auch ich mich vom Fleck eigentlich genauso wenig entfernt hatte, auch wenn ich jahrzehntelang hin- und hergezogen war. Nun hatte ich das Gefühl, dass ich die Welt jetzt endlich wieder mit den Augen Mundis sah, die Geräusche mit seinen tauben Ohren hörte und viele Wege, die ich beschritten hatte, mit den Füßen von Mundi gegangen war, lahm und zwecklos. Ohne wirklich zu gehen und ohne anzukommen. 
Und die unzähligen Städte, die ich gesehen hatte, hatte ich andauernd mit Mundis Geist aufgenommen. Ich fragte mich, ob meine Füße all diese Wege für uns beide gegangen waren? Und vielleicht ebenso für alle anderen im Dorf, die starben, ohne von der weiten Welt etwas gesehen zu haben? Waren meine Füße deshalb jetzt zu schwach? Fühlte ich mich deshalb jetzt so müde, so taub, so stumm und sprachlos?