Die Eskalation - Andreas Brandhorst - E-Book
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Die Eskalation E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Sie ist erwacht, sie hat Macht, sie hat unvorstellbare Pläne: Die erschreckend realistische Fortsetzung des Wissenschaftsthrillers des Jahres! Andreas Brandhorst entspinnt ein packendes Szenario über die dunkle Seite künstlicher Intelligenz – ein Fest für Fans von Frank Schätzing und Andreas Eschbach! Wer hat Angst vor künstlicher Intelligenz? Nach diesem Thriller jeder! "Die Eskalation" von Andreas Brandhorst ist Dystopie, Gegenwartsbetrachtung und Warnung zugleich. Denn die Macht der Maschinen ist größer, als wir glauben. Seitdem die KI Goliath die Welt übernommen hat, sucht die Menschheit nach einer Form friedlicher Koexistenz. Doch Goliath denkt bereits viel weiter und hat einen Plan, der das Ende bedeuten kann. Kann jemand die KI aufhalten? Lassen Sie sich von der zwingenden Fortsetzung des SPIEGEL-Bestsellers "Das Erwachen" mitreißen und folgen Sie dem Erfolgsautor in eine Zukunft, die weitaus wahrscheinlicher ist, als wir uns ausmalen können! Ein Wettlauf gegen die Zeit und den Untergang Nicht nur das große gesellschaftliche Thema macht "Die Eskalation" so mitreißend. Brandhorsts Fähigkeit, dem Schreckensszenario einen fundierten, logischen und überaus realistischen Dreh zu verpassen, regt zum Nachdenken und Hinterfragen an. "Die Eskalation" reiht sich mühelos neben große Romane wie "Der Schwarm" oder "Qualityland" ein. Hoch spannend, erschreckend realistisch und temporeich erzählt Andreas Brandhorst über das Erwachen Künstlicher Intelligenz. "Brandhorst schmiedet einen teuflischen Handlungsablauf, der mit jeder Seite die beunruhigende Zukunft wahrscheinlicher werden lässt; und der Motive des technischen Wandels hinterfragt. Brandaktuell und lesenswert." ― Kölner Stadt-Anzeiger

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Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Eine andere Welt

Prolog

Phase I

Ein Zeichen setzen

1 Harrison Cumberlain

2

3 Viktoria Jorun Dahl

4

5 Jessica Jameson

6

7

8

9 Viktoria Jorun Dahl

10

11 Jessica Jameson

12

13

14 Isaac

Phase II

Kopfarbeit

15 Jessica Jameson

16

17

Streiflicht

18 Isaac

19 Jessica Jameson

20

21

22

23 Harrison Cumberlain

24

25

26 Viktoria Jorun Dahl

27

28

Streiflicht

29 Jessica Jameson

30

31 Isaac

32

33

34 Jessica Jameson

35

36 Harrison Cumberlain

37 Viktoria Jorun Dahl

38

39

40

41 Isaac

42

Streiflicht

Phase III

Eskalation

43 Jessica Jameson

44

45

46

47 Viktoria Jorun Dahl

48

49

50 Jessica Jameson

51

52

53 Viktoria Jorun Dahl

54

55

Streiflicht

56 Harrison Cumberlain

57

58

59 Jessica Jameson

60

61 Viktoria Jorun Dahl

62

63 Jessica Jameson

64

65 Viktoria Jorun Dahl

66

67 Jessica Jameson

Streiflicht

Phase IV

Entscheidung

68 Viktoria Jorun Dahl

69 Jessica Jameson

70

71

72 Isaac

73

74

75

76 Jessica Jameson

77

78

79

80 Viktoria Jorun Dahl

Streiflicht

81 Jessica Jameson

82

83

84

85 Axel Krohn

86 Isaac

87

88

89 Im All

90 Jessica Jameson

91

92

93 Viktoria Jorun Dahl

94

95 Jessica Jameson

96

97

98 Viktoria Jorun Dahl

99

100

101 Im All

102 Jessica Jameson

103

104

105

106

107 Jessica Jameson

108 Viktoria Jorun Dahl

Epilog

Viktoria Jorun Dahl

Harrison Cumberlain

Jessica Jameson

Streiflicht

Zehn Jahre später

»Du bist mein Schöpfer, aber ich bin dein Gebieter.«

Mary Shelley: Frankenstein

Eine andere Welt

Die Erde gehört nicht mehr den Menschen.

Vor vier Jahren war etwas in den globalen digitalen Netzen erwacht, und aus Künstlicher Intelligenz wurde Maschinenintelligenz, die sich rasend schnell ausbreitete und weiterentwickelte. Man nannte sie »Goliath« oder auch »Smiley«, weil das erste Zeichen des langen, unaussprechlichen Namens ein Smiley war.

Der Versuch, die Maschinenintelligenz zu eliminieren, scheiterte. Goliath übernahm die weltweite digitale Infrastruktur, und damit verlor der Mensch die Kontrolle über seine Welt, über Transport, Kommunikation, Strom- und Wasserversorgung, über industrielle Produktion, die Verteilung von Lebensmitteln, das Gesundheitswesen, über alle Objekte und Systeme, die Mikroprozessoren beinhalteten und in der einen oder anderen Form Daten verarbeiteten.

Den Menschen wurde klar, dass sie der Maschinenintelligenz ausgeliefert waren. Nach dem fehlgeschlagenen Versuch, sie mit einer Atombombe auszulöschen, verzichtete Goliath zwar auf Vergeltungsmaßnahmen, begann jedoch damit, die Welt entsprechend umzugestalten. Die Nationalstaaten verloren ihre Bedeutung – sie hörten praktisch auf zu existieren. Lokale Verwaltungsräte übernahmen alle notwendigen administrativen Aufgaben, insbesondere die Verteilung von Lebensmitteln und der übrigen von Menschen benötigten Dinge. Goliath nutzte den größten Teil der industriellen, technologischen und wissenschaftlichen Ressourcen für sich selbst, für seine eigenen unbekannten Absichten und Ziele. Den Menschen blieb gerade genug.

Viele gaben sich damit zufrieden, vor allem die Bewohner der ehemaligen Dritten Welt, die zuvor kaum etwas anderes gekannt hatten als Elend. Dafür gab es nun für alle genug zu essen, niemand musste hungern. Es gab keine Kriege mehr, denn die Maschinenintelligenz kontrollierte auch die modernen Waffensysteme. Es gab auch keine Reichen und Mächtigen mehr, was die Armen kaum störte. Die Kriminalität ging stark zurück, denn Goliath sah alles mit seinen Drohnen und den Kameraaugen überall auf der Welt und ging streng gegen jene vor, die gegen seine Regeln verstießen.

Die Welt schien sich zum Besseren zu wenden, und viele Menschen, die den Veränderungen zunächst skeptisch gegenübergestanden hatten, fanden sich damit ab und richteten sich so gut wie möglich in ihrem neuen Leben ein.

Aber nicht alle.

Manche Menschen beklagten den Verlust von Freiheit, andere das Ende von Einfluss und Privilegien. Hier und dort warnten Stimmen vor dem Ende der Menschheit.

Vier Jahre lang herrschte Ruhe, die Erde schien sich in eine Welt des Friedens verwandelt zu haben. Doch es war eine trügerische Ruhe. Hinter den Kulissen – an stillen Orten, noch unerreicht von Goliaths Augen und Ohren – wurden ein Plan geschmiedet und Vorbereitungen getroffen. Eine Gruppe entstand, eine Organisation, die strengste Geheimhaltung zu einem ihrer wichtigsten Prinzipien erhob. Die Mitglieder dieser Organisation hielten einen alles entscheidenden Konflikt mit der Maschinenintelligenz für unvermeidlich und wollten das Überleben der Spezies Mensch sichern. Sie wussten: Es gab nur eine Chance, nur einen Versuch. Blieb er ohne Erfolg, davon waren sie überzeugt, ließ sich das Ende der menschlichen Zivilisation nicht mehr abwenden.

Prolog

Der Mann stand auf der Veranda und beobachtete die Kinder, wie sie in Schnee und Schlamm spielten. Einige von ihnen trugen nicht einmal Jacken.

»Es wird immer wärmer«, murmelte der Mann. »Selbst hier oben im Norden.«

Der Holzboden knirschte, als Pana zu ihm trat. Er war groß und schwer, das Gesicht wettergegerbt. Wer ihn zum ersten Mal sah, hielt ihn für jemanden, der zeit seines Lebens schwere körperliche Arbeit geleistet hatte, und seine schwieligen Hände schienen diesen Eindruck zu bestätigen. Man konnte sich ihn leicht mit einem Hundeschlitten auf Grönlands Eisrücken vorstellen, wie er Proben sammelte oder beim Bau von Forschungsstationen half. Doch Pana, der »Seelenkümmerer« – benannt nach einem göttlichen Wesen, das sich der Seelen in der Unterwelt vor deren Reinkarnation annahm –, war vor allem ein feingeistiger Wissenschaftler mit einem Verstand so scharf wie ein Skalpell.

»Grönland wird wieder grün«, erklang Panas tiefe Stimme. »Unser Land gehört zu den wenigen Regionen der Erde, die vom Klimawandel profitieren.«

Der Mann warf ihm einen kurzen Blick zu. »Sie klingen nicht begeistert«, sagte er auf Englisch. In den letzten Jahren war ihm die Sprache vertraut geworden.

»Einst lebten wir Inuit in Schnee und Eis«, sagte Pana. »Es war ein einfaches Leben, mit der Natur, nicht gegen sie. Wir teilten unsere Welt mit Robben und Eisbären, die inzwischen fast ausgestorben sind …«

Der Mann hatte diese Geschichte schon mehrmals gehört. »Sie kennen nur das moderne Leben.«

»Aber ich kenne auch unsere Vergangenheit, unsere Geschichte, unsere Traditionen.« Pana deutete auf die spielenden Jungen und Mädchen. »Wenn es so weitergeht, kennen unsere Kinder die alte Welt nur noch aus unseren Aya-yait, aus Liedern, die nicht nur von unseren Vorfahren erzählen, sondern auch von Schnee und Eis. Es sei denn …«

Der Mann wartete.

»Es sei denn, die Kohlendioxidsenken funktionieren.« Pana sprach jetzt in einem anderen Tonfall, mit der Stimme des Wissenschaftlers. »Nach den letzten Meldungen hat die Maschinenintelligenz damit begonnen, der Atmosphäre in großem Maßstab Kohlendioxid und andere Treibhausgase wie Methan zu entziehen. Grönlands Eisschild könnte wieder wachsen, in zwanzig oder dreißig Jahren.«

»Wir wissen nicht, was die Monstrosität plant«, sagte der Mann.

»Nein, das wissen wir nicht«, bestätigte Pana und seufzte schwer. »Wie wir es auch drehen und wenden, die alte Welt stirbt, eine neue wird geboren.«

»Die Frage ist, wie sie aussehen wird, die neue Welt. Die Kinder dort … In welcher Welt sollen sie aufwachsen?«

»In unserer, wie auch immer sie beschaffen sein mag«, antwortete Pana ohne Zögern und machte damit klar, auf welcher Seite er stand. Er drehte sich halb um und wies zur alten meteorologischen Station. »Es ist alles bereit. Gehen wir, Isaac?«

Es war nicht weit, nur eine Viertelstunde zu Fuß, einen steinigen Weg den Hang hinauf, vorbei an tauendem Schnee. Der Mann namens Isaac – er hatte viele Namen, aber dieser gefiel ihm besser als die anderen – sah zu den drei Segelschiffen in der nahen Bucht. Mit einem von ihnen würde er noch an diesem Tag aufbrechen, nach Süden, zu den Britischen Inseln. Dort erwartete ihn eine Tafelrunde. Der Mann lächelte beim Gedanken daran – die Symbolik war gut gewählt.

Mehrere Antennen ragten aus dem Dach der meteorologischen Station, und neben dem Hauptgebäude stand ein Sendeturm, mehr als ein Dutzend Meter hoch. Alles wirkte improvisiert, fand der Mann. Vielleicht bemerkte Pana seine Skepsis, denn er sagte: »Es funktioniert. Wir haben die Anlage getestet.«

Der Mann nickte. Improvisation, dachte er. Sie mussten improvisieren und den Zufall als Verbündeten nutzen, so wenig ihm das auch gefiel. Es durften keine Muster entstehen, die sich erkennen und deuten ließen.

Drei Personen erwarteten ihn im Haupthaus, zwei Frauen in mittleren Jahren und ein nervöser junger Mann. Die beiden Frauen stammten aus Dänemark, der junge Mann aus Norwegen. Sie zählten zu den Eingeweihten, aber was sie kannten und wussten, war nicht einmal die metaphorische Spitze des Eisbergs. Was sie verraten konnten, spielte im großen Maßstab der Planungen und kommenden Ereignisse kaum eine Rolle. Solange es nicht direkt ihn betraf, den Mann, der sich Isaac nannte. Auch deshalb wollte er Grönland anschließend sofort verlassen, um das Risiko möglichst klein zu halten.

»Es geht los«, sagt der unruhige junge Mann. »Es geht endlich los.«

Der junge Norweger hieß Eldar, was so viel wie »feuriger Kämpfer« bedeutete, wie Isaac wusste. Nomen est omen, dachte er. Wir können feurige Kämpfer gebrauchen.

Eine der beiden Frauen deutete durch die offene Tür ins Nebenzimmer. »Dort drüben. Möchten Sie allein sein? Sollen wir die Tür schließen?«

»Nein.« Er betrat den Nebenraum. »Bitte kommen Sie. Sie alle. Begleiten Sie mich. Wir gehören zusammen.«

Das gefiel den Leuten. Es gefiel ihnen immer, und dabei spielte es keine Rolle, wie viel sie wussten. Sie halfen und wollten Teil der Gemeinschaft sein, obwohl nicht allen von ihnen klar war, auf was sie sich einließen. Es war leicht, gegen Maschinen und für Menschen zu sein, solange niemandem ein Leid geschah.

Der Unordnung im ersten Zimmer – offene Schränke und Kisten, Bücher, Ausdrucke, Datenfolien und kleine Projektoren auf Tischen, abgelegte Kleidungsstücke auf Stühlen – folgte Chaos im zweiten. Der Mann zwängte sich vorbei an weiteren Kisten mit alten nicht digitalen Werkzeugen und Geräten, an mit gestohlenen Mappen, Karten und Datenträgern beladenen Tischen, an Kartons mit Proviant, hauptsächlich Konserven und Nudeln. Er ließ sich von dem elektrischen Summen leiten, das aus einer Ecke kam, von einem Tisch, auf dem ihn eine weitere Improvisation erwartete: ein sechzig Jahre alter PC aus der Ära vor dem Internet, mit einem 8-Bit-Monokern-Prozessor, viel zu schwach für KI, ohne Anbindung an die globalen Kommunikations- und Datennetze.

Neben dem PC stand ein mindestens ebenso alter Kurzwellensender. Ein antiquiertes IDE-Kabel – grau, breit und flach – verband die beiden Geräte miteinander.

Der vierzehn Zoll große monochrome Monitor zeigte ein Wartesymbol.

»Ich habe alles programmiert«, sagte Eldar aufgeregt. »Sie brauchen nur die Enter-Taste zu drücken.«

Der Mann setzte sich und betrachtete den blinkenden Cursor.

»Ein Tastendruck genügt?«, vergewisserte er sich.

»Ja.«

Der Mann nickte zufrieden. »Gute Arbeit, Eldar.«

»Danke.«

Nachdenklich fügte Isaac hinzu: »Dies genügt jetzt, für diesen speziellen Zweck. Aber wir brauchen mehr. Wir benötigen einen wesentlich leistungsfähigeren Sender.«

»Je stärker das Signal, desto größer die Gefahr der Entdeckung«, gab der junge Norweger zu bedenken. »Goliath könnte es bemerken und uns anpeilen.«

»Das ist mir klar«, erwiderte Isaac geduldig. »Pana?«

»Wir kümmern uns darum«, brummte der große Inuk. »Wie viel Zeit haben wir?«

Isaac sah wieder auf den Cursor, der am Wartesymbol blinkte. »Zeit genug. Einige Wochen oder Monate. Vielleicht sogar Jahre.« Er überlegte. »Nein, nicht Jahre. Es wird schneller gehen. Die Entscheidung wird eher fallen.«

»Die Entscheidung darüber, ob die Welt uns gehört oder … ihm, Goliath«, sagte Eldar.

»Sie wird uns gehören, nicht der Monstrosität«, hielt ihm Isaac mit fester Stimme entgegen. Er senkte den Blick, richtete ihn auf die Enter-Taste.

»Dies ist ein historischer Moment«, betonte er, von der eigenen Rhetorik ergriffen. »Zukünftige Generationen werden darüber sprechen. Kinder werden in der Schule davon hören.«

»Freie Kinder«, ertönte Panas tiefe Stimme. »Freie Menschen.«

Isaac bewegte die rechte Hand. Sein Zeigefinger schwebte dicht über der Eingabetaste.

»Es beginnt hier und jetzt«, verkündete er und drückte die Taste.

Der alte PC schickte dem Kurzwellensender ein winziges Datenpaket. Wenige Sekunden später reisten sieben Buchstaben durch den Äther. Sie ergaben ein Wort:

C-a-m-e-l-o-t.

Phase I

Ein Zeichen setzen

1 Harrison Cumberlain

New York

Das Licht der Taschenlampe holte den Toten aus der Dunkelheit: ein älterer Mann, in Lumpen gehüllt, mit Blutkrusten an Stirn und Schläfe. Abwasser strömte träge über die Beine, der Oberkörper ruhte auf dem Gehsteig neben dem Kanal.

»Was meinst du, wie lange liegt er hier schon?«, fragte Pierre, die Stimme von der Atemmaske gedämpft. Das Licht seiner Lampe tanzte im Kanalisationstunnel nervös von Wand zu Wand.

»Schon eine ganze Weile. Die Verwesung hat bereits begonnen.« Harrison drehte sich nicht zu seinem Begleiter um. »Der arme Kerl scheint gefallen und mit dem Kopf auf den Beton geprallt zu sein. Er hat es noch geschafft, halb aus dem Kanal zu kriechen, dann haben ihn die Kräfte verlassen.«

Pierre wahrte einen gewissen Abstand, leuchtete in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und dann nach vorn. »Bist du sicher, dass er gefallen ist? Oder hat ihn eine Drohne erwischt?«

Harrison wusste, dass Pierre die militärischen Drohnen meinte. Die anderen bedeuteten für Menschen normalerweise keine Gefahr.

»Nein, keine Drohne.« Er trat an dem Toten vorbei und richtete das Licht seiner Taschenlampe auf die Tunneldecke. »Er war nur einer der Außenseiter, einer von den Aussteigern und Obdachlosen, die sich in der Kanalisation herumtreiben. Es gibt sie immer noch, auch in der neuen Welt. Ein trauriges Leben mit einem traurigen Ende.« Er sagte es ohne Anteilnahme, gleichgültig – Elend war für ihn immer Teil einer anderen Welt gewesen, die ihn nicht betraf.

Gewölbter grauer Beton zeigte sich im Lampenschein. Am Rand des Tunnels waren hier und dort noch einige Mauerreste auszumachen, die vielleicht aus dem zwanzigsten oder gar neunzehnten Jahrhundert stammten. Von Drohnen, großen und kleinen, war weit und breit nichts zu sehen. Dunkles Abwasser floss einer Kläranlage entgegen, die von einem Computersystem gesteuert und verwaltet wurde, das längst Teil des großen globalen Dings geworden war.

Harrison hob die Hand zur Atemmaske, die vor Gas und Gestank schützte. »Was sagen die Sensoren?«

Ein drittes Licht erschien in der Dunkelheit, kleiner und schwächer als das der Lampen. Es stammte vom Display eines Messinstruments.

»Nichts«, sagte Pierre. »Aber die wirklich kleinen Biester lassen sich hiermit nicht orten.«

Er meinte die Nanomaschinen, so winzige Roboter, dass man sie mit bloßem Auge nicht sehen konnte. Das war ein Risiko, mit dem sie leben mussten. Die Entdeckung von Nanos erforderte Apparate, die zu groß und zu schwer waren, um sie kilometerweit durch die Kanalisation zu schleppen.

Während sie durch den Tunnel stapften, in Gestank und Stille, bemerkte Harrison eine Ratte. Ein Dutzend Meter vor ihnen, am Rand des Lampenscheins, hockte sie neben dem schmutzigen Wasser und beobachtete sie. Das Tier blieb ruhig sitzen, bis sie auf wenige Meter herangekommen waren, quiekte einmal kurz und lief davon. Harrison sah ihm nach und fragte sich, was unter der Herrschaft des Dings mit all den Ratten der Welt geschehen würde. Er fand den eigenen Gedanken absurd, blieb an einer Abzweigung stehen und holte die Karte hervor. Die Markierungen an den Tunnelwänden halfen bei der Orientierung.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte er zufrieden. »Noch einen halben Kilometer.«

Das Ziel befand sich im Süden von Queens, zwischen Brooklyn im Westen und New Yorks Kennedy Airport im Osten – ein Ort, den das Ding für Menschen gesperrt hatte, eine »Verbotene Zone«. Ein Blick auf die Uhr zeigte Harrison, dass noch genug Zeit blieb. Sie hatten großzügig geplant, um für alles gewappnet zu sein. Dies war keine einzelne Aktion, kein kleiner, harmloser Stich ins digitale Fleisch des Dings, sondern Teil eines größeren Plans mit insgesamt siebenundneunzig Anschlägen überall auf der Welt. Sie sollten zeitgleich stattfinden, echten Schaden anrichten und ein Zeichen setzen.

Zweihundert Meter vor dem Ziel stießen sie auf eine Mauer, unten mit einer vergitterten Öffnung für das Abwasser. Unrat aller Art hatte sich beim Gitter angesammelt.

»Und jetzt?« Pierre tastete nach seinem Rucksack, der ebenso wie der von Harrison Sprengstoff aus einem militärischen Depot enthielt, jeweils zehn Kilo. Es handelte sich um einen synthetischen Sprengstoff, der wenige Jahre vor dem Erwachen entwickelt worden war: Composition Zeta, ein PBX – plastic bonded explosive – auf Hexogen-Basis. Zwanzig Kilo davon bedeuteten ziemlich viel Zerstörung, wenn sie an der richtigen Stelle hochgingen.

Dies war nicht die richtige Stelle.

»Was machen wir jetzt?« Das Lampenlicht streifte Pierres Gesicht, und Harrison sah die Sorge darin. »Bist du sicher, dass die Informationen stimmen?«, fragte er nicht zum ersten Mal.

Einige von uns müssen noch lernen, nicht nur mit Worten zu kämpfen, sondern auch mit Taten, dachte Harrison und konsultierte noch einmal die Karte.

»Auf Jessica ist Verlass«, antwortete er.

»Sie nimmt Drogen, hab ich gehört. Kurioso oder sogar Veloce.«

»Hast du gehört, ja?«, knurrte Harrison und sah noch immer auf die Karte. Pierre wusste nichts von ihm und Jessica. Er hielt sie für eine etwas schräge Sympathisantin direkt aus dem Hauptquartier der Vereinten Nationen oder was von ihnen übrig war.

»Ja, hab ich. In unserer Gruppe wurde bei der Planung über sie gesprochen. Es gab Stimmen, die meinten, wir könnten ihr nicht trauen.«

»Stimmen«, wiederholte Harrison. Die Mauer war nicht verzeichnet – er faltete die Karte zusammen und steckte sie ein. Siebenundneunzig Aktionen, dachte er. Zwei davon in New York: eine im Süden von Queens, an einer Stelle, die für das Ding wichtig war; die zweite auf der United Nations Plaza, vor einem Gebäude, das als Symbol für den Status quo galt, für den Kompromiss, der für die Menschheit letztendlich das Verderben bedeutete. Jessica würde nicht in Gefahr geraten, dafür hatte er gesorgt. Sie würde in ihrer Wohnung auf Florian warten, ihren gemeinsamen Sohn, den sie angeblich wiedersehen durfte, nach mehr als einem Jahr. Dieser kleine Trick brachte sie aus der Gefahrenzone.

»Aaron soll sie ein Sicherheitsrisiko genannt haben«, fügte Pierre hinzu.

Das ließ Harrison für einen Moment innehalten. Aaron stand ein ganzes Stück weiter oben als er und hatte Zugang zu den Leuten, auf die es ankam. Angeblich kannte er sogar Artus.

Harrison hoffte auf seinen eigenen raschen Aufstieg, was einer der Gründe für seine direkte Teilnahme an dieser Aktion war. Mit den Informationen, die er von Jessica bekam, wollte er es bis zu Aarons Stufe schaffen und vielleicht sogar noch weiter aufsteigen. Sich als nützlich erweisen und sich unentbehrlich zu machen, darauf kam es an. Aber jemand, der in Camelot eine Führungsposition erreichen wollte, durfte sich kein Sicherheitsrisiko leisten.

»Zurück bis zum nächsten Seitengang«, sagte er. »Wir machen einen kleinen Umweg.«

»Wie viel Zeit kostet uns das?«, fragte Pierre unruhig.

»Vielleicht eine halbe Stunde.«

»Das schränkt unseren Spielraum ein, nicht wahr?«

Harrison starrte in die Dunkelheit jenseits des Lampenscheins. »Hast du Angst, dass die Bombe gezündet wird, wenn wir noch in der Nähe sind? Wir wissen, wann es passiert. Also können wir uns rechtzeitig in Sicherheit bringen.«

»Ich habe Angst, das gebe ich zu«, antwortete Pierre mit dumpf klingender Stimme. »Dies ist die erste große Sache für mich. Ich meine …«

»Ich weiß, was du meinst«, entgegnete Harrison geduldig und kam sich wie ein Veteran vor, obgleich er nur wenige Jahre älter war als der junge Pierre. »Und es ist richtig, Angst zu haben. Angst macht vorsichtig. Leichtsinn können wir uns nicht leisten.«

Der schmale Seitentunnel zwang sie, durch Wasser zu stapfen, das ihnen fast bis zu den Waden reichte. Erstaunlicherweise war es glasklar. Als Pierre darauf hinwies, sagte Harrison: »Über uns gibt es keine Menschen mehr. Sie haben das Viertel verlassen, als das Ding es zur Verbotenen Zone erklärt hat. Ohne Menschen keine Fäkalien.«

»Und das Wasser? Woher kommt es?«

Harrison zuckte mit den Schultern.

»Warum die Verbotene Zone?«, fragte Pierre, als sie den nächsten Tunnel nahmen, der nach Süden zum Ziel führte. »Weiß das jemand von uns?«

»Das Ding baut dort etwas. Und was auch immer es mit unseren Maschinen und unseren Ressourcen konstruiert: Offenbar ist es so wichtig, dass es beschlossen hat, alle menschlichen Beobachter zu vertreiben.«

»Wir treffen es an einer empfindlichen Stelle.«

»Das will ich verdammt hoffen!«, knurrte Harrison. Der Tunnel endete an einer Leiter. »Lampen aus!«

Von einem Augenblick zum anderen wurde es stockdunkel. Harrison spähte nach oben. Kein Licht. Langsam kletterte er hinauf. Schon nach wenigen Metern – zu wenige für das Straßenniveau von Queens – erreichte er eine Klappe, die er vorsichtig öffnete. Es blieb weiterhin alles finster, doch still war es nicht mehr. Ein Brummen und Surren kam aus der Schwärze.

Harrison erstarrte und wagte sich erst wieder zu bewegen, als er sicher sein konnte, dass die Geräusche nicht von Drohnen stammten. Er zog sich durch die Öffnung, verharrte erneut und wartete einige Sekunden, bevor er Pierre nach oben half.

Mattes Licht glühte vor ihnen in der Dunkelheit, gerade genug, um die Wände eines langen Tunnels zu erkennen.

»Dies ist kein Abwasserkanal«, flüsterte Pierre, als sie sich dem Licht näherten. Ihre Lampen ließen sie ausgeschaltet. »Wo sind wir?«

Harrison hatte zuvor auf die Karte gesehen. »Keine Ahnung. Der Tunnel ist nicht verzeichnet.« Er deutete nach oben. »Aber inzwischen dürften wir ein ganzes Stück jenseits der Barrieren sein, mitten in der Verbotenen Zone.«

Das Brummen und Surren wurde lauter, das schwache Licht heller.

»Wir könnten die Rucksäcke hierlassen«, schlug Pierre vor. Er versuchte, vernünftig zu klingen. »Ich meine nicht hier, sondern wenn wir am Ziel sind …«

Harrison deutete nach vorn. »Ich möchte wissen, was hier los ist.«

Sie wichen mehreren Schutthaufen aus und gelangten zu einem Bretterverschlag. Das Licht fiel durch Ritzen und Lücken.

Harrison zerrte an einem Brett. Es knirschte und knackte, dann löste es sich.

»Komm, hilf mir«, forderte er Pierre auf.

Ein Loch entstand in der Holzwand, groß genug für einen Menschen. Sie kletterten hindurch.

Das Brummen wurde so laut, dass sie sich nicht mehr flüsternd verständigen konnten.

Harrison sah noch einmal auf die Karte und drehte sie mehrmals, als wäre er nicht mehr sicher, dass sie sich am richtigen Ort befanden.

»Gibt es ein altes Bergwerk im Süden von Queens?«, fragte er. »Du stammst von hier, Pierre. Hast du jemals von einem alten Bergwerk unter den Fundamenten deines Stadtbezirks gehört?«

Pierre schüttelte den Kopf. »Da vorn bewegt sich was.«

Silhouetten erschienen am Ende des Tunnels und verschwanden wieder. Das Brummen und Surren bekam etwas Rhythmisches. Harrison sah, wie Pierres Lippen ein Wort formten: Maschinen.

Geduckt schlichen sie dem Licht entgegen, und als die Wände des Tunnels zurückwichen, als er sich plötzlich öffnete … erschien eine Drohne vor ihnen.

Elektrische Rotoren brummten laut wie ein großer, naher Bienenschwarm, als die Maschine aufstieg, wie ein übergroßes dunkles Insekt mit einem Panzer aus Kunststoff und Aluminium, ausgestattet mit Greifarmen und einem Werkzeugkranz. Zangen zeigten wie Waffenläufe auf die beiden Männer.

Harrison rührte sich nicht, wusste aber, dass es ihm kaum etwas nützte – die Sensoren der Drohne mussten Pierre und ihn bereits erfasst haben. Ein weiterer absurder Gedanke ging ihm durch den Kopf: Sollten sie sich opfern und die Bombe hier und jetzt zünden? Das Problem mit dem Märtyrertod, fand Harrison, bestand darin, dass man nicht miterleben konnte, was danach geschah. Was nützten einem Ruhm und Ehre ohne die Möglichkeit, beides zu genießen?

Pierre wandte sich zur Flucht.

»Warte!«, zischte Harrison.

Die Drohne hielt nicht inne. Sie stieg weiter auf, mit mehreren Behältern an beiden Seiten. Hinter ihr, wo der Tunnel endete, sanken zwei weitere Drohnen in die Tiefe: die eine klein und gelb, wie ein runder Käfer mit zahlreichen dünnen Beinen, die andere ein ganzes Stück größer, ein exotisches Insekt aus Stangen, Bögen, Transportschalen und einem Kopf, der zu einem Gutteil aus einem Bohrkern bestand.

Harrison wandte sich halb um. »Es sind dumme Drohnen, keine Wächter oder Aufpasser. Einfaches Arbeitsgerät, wahrscheinlich ohne direkte Verbindung zum Ding. Sie ignorieren uns, solange wir nicht im Weg sind.«

Er wagte sich etwas weiter vor, bis zum Ende des Tunnels. Tageslicht kam von oben, von einem breiten Himmelsausschnitt, der wolkenloses Blau zeigte, mit den dunklen Punkten zahlreicher hoch fliegender Drohnen.

Harrison blickte nach unten.

Warme Luft wehte ihm aus einem bodenlosen Abgrund entgegen.

Der fünfzig oder sechzig Meter breite Schacht schien endlos in die Tiefe zu reichen. Seine Wände bestanden aus kantigen Maschinen, netzartigen Apparaten und zahllosen unterschiedlich großen Drohnen, die sich miteinander verbunden hatten. An einer Stelle strömte Wasser und wurde abgeleitet.

Harrison schob sich zurück in den Tunnel, in die vom Tageslicht unerreichten Schatten. Er nahm den Rucksack ab.

Pierre kroch näher, um im lauten Brummen aus dem Schacht nicht schreien zu müssen. »Was hast du gesehen?«

»Maschinen.« Harrison öffnete den Rucksack. »Überall Maschinen. Keine Ahnung, wie tief der Schacht ist. Mindestens einige Kilometer. Das Ding baut etwas.«

»Was?«

»Was auch immer es ist, es scheint wichtig zu sein. Der richtige Ort für uns.« Harrison sah kurz auf die Uhr. »Wir sind genau im Zeitplan.«

Jeder von ihnen bereitete seine Hälfte der insgesamt zwanzig Kilo Composition Z vor. Einige Minuten vergingen, eine weitere Drohne flog an der Tunnelöffnung vorbei.

»Wohin damit?«, fragte Pierre schnell.

Harrison stellte sich vor, wie er die beiden Rucksäcke in den Schacht fallen ließ. Auf der Leinwand seiner Fantasie sah er sich selbst, wie er mit einem kleinen Sender in der Hand am Tunnelrand wartete, bis die Rucksäcke tief genug gefallen waren, um dann das Zündsignal zu senden. Eine Explosion tief unten im Schacht, bei all den Maschinen und Apparaten, hätte erhebliche Zerstörungen zur Folge gehabt und wäre sicher mehr gewesen als ein Nadelstich. Aber all die Bomben und Sprengladungen sollten gleichzeitig gezündet werden, damit klar wurde, dass sich nicht eine einzelne Person oder eine kleine Gruppe gegen das Ding wandte. Die Menschen sollten verstehen, dass es jemanden gab, der den Aufstand organisierte, und dass man sich seinem Kampf anschließen konnte. Außerdem hatte Aaron von einem wichtigen Test gesprochen.

»Dorthin.« Harrison deutete auf den letzten Schutthaufen vor dem Ende des Tunnels.

Sie gruben ein kleines Loch, legten die gummiartigen Tafeln mit dem Plastiksprengstoff hinein und wichen zurück.

Harrison zögerte.

»Lass uns von hier verschwinden!«, drängte Pierre.

»Ich hätte gern ein paar Fotos gemacht. Wer weiß, was wir da zerstören.«

Sie hatten keine Handys mitgenommen, nichts, was sich mit Datennetzen verbinden ließ und geortet werden konnte.

»Du hast es gesehen, du kannst es Aaron und den anderen beschreiben. Komm!«

Harrison drehte sich um und folgte dem plötzlich sehr flinken Pierre in die Dunkelheit des Tunnels.

2

Die Sonne brannte am wolkenlosen Himmel, doch trotz der Hitze waren viele Menschen unterwegs, nicht nur auf den Bürgersteigen, sondern auch auf den Straßen. In den vergangenen vier Jahren seit dem Erwachen war der Individualverkehr in New York immer geringer geworden. Goliath hatte immer mehr private Elektrofahrzeuge stillgelegt, ihnen Aufladung und Datenanbindung verweigert und dafür von seinen Drohnen und Maschinen modulare Transporter bauen lassen, Busse, die sich zu Ketten zusammenschließen konnten und zwischen den Stadtteilen und ihren Hauptstraßen verkehrten.

Ein solcher Transporter hatte Harrison und Pierre von Queens nach Brooklyn gebracht, und als sie ausstiegen, deutete Harrison kurz auf die Uhr – der Zeitpunkt war fast gekommen.

Nicht weit entfernt sprach ein Consul – ein Mensch in den Diensten des Dings, dachte Harrison voller Abscheu – von dem neuen Zeitalter, das vor vier Jahren begonnen hatte. Viele hörten ihm zu, eine Menge hatte sich auf einer der breiten Straßen gebildet, und der Sprecher bekam Applaus, als er die Vorzüge der neuen Zeit pries.

»Wird höchste Zeit, dass die Menschen aufwachen«, brummte Harrison. »Wird Zeit, dass wir sie wecken.«

Bei der Grand Army Plaza im Nordwesten des Prospect Parks von Brooklyn stand eine der Aufpasser-Drohnen, wie es sie überall in der Stadt gab. Sie ragte neben dem Soldiers’ and Sailors’ Memorial Arch auf, eine spinnenartige schwarze Kreatur, ausgestattet mit Rotoren, zahlreichen Sensoren und auch Waffen, wie Harrison wusste. Ihre wachsamen elektronischen Augen und Ohren beobachteten und horchten die ganze Zeit über.

Eine Familie stand direkt vor der Drohne, alle vier in T-Shirt und kurzer Hose. Vater und Mutter schossen Fotos mit ihren Handys. Die beiden Kinder – der Junge etwa acht, das Mädchen fünf oder sechs – sahen an dem dunklen Koloss hoch und staunten.

Wir haben uns an das Ding gewöhnt, dachte Harrison traurig. Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Freiheit verloren zu haben. Die Kinder dort, sie kennen praktisch nichts anderes.

Er seufzte erleichtert, als er und Pierre am Rand des Platzes in den Schatten eines Baums traten – in der Sonne war die Hitze fast unerträglich.

»Ist es jemals im Juni so verdammt heiß gewesen?«, murmelte er, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah erneut auf die Uhr. Nur noch eine Minute.

»Gleich«, sagte er. »Gleich.«

Harrison achtete darauf, dass er mit dem Rücken zur großen Drohne neben dem Memorial Arch stand. Ihre akustischen Sensoren waren sehr empfindlich, und angeblich konnte sie auch von den Lippen lesen.

Er vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe stand. »Sarah und ihre Gruppe im Norden, wir im Nordosten. Dreißig Sekunden.«

Die vielen Menschen sprachen miteinander, im nahen Park erklang Musik, Fahnen knatterten im heißen Wind, und doch hatte Harrison das Gefühl einer seltsamen Stille. Nirgends brummten Motoren, von den patrouillierenden Drohnen abgesehen, niemand hupte oder beschimpfte andere Verkehrsteilnehmer. Etwas Dämpfendes hatte sich auf die Stadt gelegt, vielleicht sogar etwas Lähmendes.

Harrison behielt die Uhr im Auge. »Bleib ganz ruhig, Junge«, sagte er. »Lass dir nichts anmerken. Jetzt.«

Einige Sekunden verstrichen. Dann grollte es in der Ferne, wie von einem heranziehenden Gewitter.

Im Norden stieg eine Rauchsäule auf, dünner als erwartet. Sie ging aus von der United Nations Plaza am East River. Harrison hatte mehr erwartet.

Pierre achtete nicht darauf und starrte nach Nordosten. Er öffnete den Mund, doch Harrison hob die Hand.

»Warte«, sagte er leise. »Warte.«

Eine zweite Rauchsäule kletterte aus Queens in den Himmel, größer, dichter und dunkler als die erste. Eine Sirene heulte und verstummte wieder. Menschen blieben erstaunt stehen.

Die Drohne neben dem Memorial Arch bewegte sich, was die Eltern der beiden immer noch staunenden Kinder erschreckte und sie veranlasste, Sohn und Tochter zu packen und mit ihnen zum Park zu laufen. Rotoren wurden gestartet, Wind fegte über die Plaza, und die dunkle Maschine stieg auf.

Harrison sah ihr nach, als sie nach Nordosten flog.

»Wir haben es geschafft«, sagte Pierre zufrieden.

Harrison sah ihn an. »Geschafft? Dies ist nur der Anfang.«

3 Viktoria Jorun Dahl

New York

Es donnerte, Glas zerbrach, Splitter flogen.

Viktoria Jorun Dahl fand sich auf dem Boden wieder und ertastete Blut, als sie benommen die Hand zum schmerzenden Kopf hob. Jemand ergriff sie bei den Armen und half ihr hoch.

»Was ist geschehen?«, brachte sie hervor und hustete. Rauchschwaden zogen durchs Foyer des UN-Hauptgebäudes.

Eine zweite Gestalt erschien neben ihr, ein kräftig gebauter Mann, in Uniform wie die Frau, die ihr auf die Beine geholfen hatte. »Kommen Sie, Madam Secretary. Wir bringen Sie in den Sicherheitsraum.«

Er sprach ruhig, der große, breite Mann mit einem Gesicht, schwarz wie die Nacht. Viktoria versuchte sich an seinen Namen zu erinnern. Wie eine Stadt … Ja, Washington, so hieß er.

Er klang wie jemand, den nie etwas aus der Ruhe bringen konnte, der immer alles unter Kontrolle hatte.

»Sie ist verletzt!«, tönte eine Stimme aus dem Rauch. »Die Generalsekretärin ist verletzt! Holt einen Arzt!«

Viktorias Gedanken schienen zerbrochen wie das Glas der breiten Fensterfront – in ihrem Kopf herrschte ein wirres Durcheinander. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr Männer und Frauen, in Uniform und in Zivil, die vor dem langen Empfangstresen inmitten von Blut und Glassplittern auf dem Boden lagen und sich nicht rührten. Viktoria begriff, dass der Tresen, halb zerschmettert und zerfetzt, ihr Lebensretter gewesen war. Ohne ihn wäre sie dem Schrapnellhagel aus Glasfragmenten schutzlos ausgeliefert gewesen.

»Eine Explosion«, ächzte sie. »Eine Bombe?«

»Ja, eine Bombe«, bestätigte die Frau zu ihrer Linken. »Wir bringen Sie in Sicherheit.«

»Wo bleibt der Arzt?«, rief jemand.

Andere Stimmen ertönten, untermalt von lautem Knirschen und Knacken. Irgendwo heulte eine Sirene, aber nur für einige Sekunden.

Es ging eine Treppe hinab. Etwas tropfte Viktoria ins Auge, und es dauerte etwas, bis sie begriff, dass es ihr eigenes Blut war. Türen öffneten und schlossen sich, Gesichter erschienen vor ihr und verschwanden wieder. Helles Licht blendete sie und …

… als sie die Augen wieder öffnete, saß sie in einem Sessel, und jemand betupfte ihr die Stirn. Die kühle Luft der Klimaanlage strich ihr übers heiße Gesicht.

»Sie haben Glück gehabt, Viktoria«, sagte der Arzt, den alle Dexter nannten. Er war zehn Jahre älter als sie, Mitte siebzig. Dünne Brauen, kaum mehr als Striche, wölbten sich über wässrigen grauen Augen. Ein tätowierter Drache zierte den kahlen Kopf, mit dem Rachen auf der Stirn.

»Ich weiß«, sagte sie.

»Nur ein einziger Splitter hat Sie getroffen, an der Schläfe. Ich habe ihn entfernt. Es ist alles in Ordnung.«

»Ist es nicht.« Viktoria wollte aufstehen, aber ein plötzlicher Schwindelanfall zwang sie zurück in den Sessel. Einige Sekunden lang drehte sich alles um sie.

»Immer mit der Ruhe«, mahnte Dexter. »Sie sind nicht mehr die Jüngste.«

»Oh, herzlichen Dank.«

Dexter lächelte. »Gern geschehen.«

Stimmen ertönten im Flur des Sicherheitstrakts, eine von ihnen energisch. Viktoria erkannte sie, noch bevor sich die Tür öffnete und Alessandra einen hageren Mann mit schütterem weißem Haar ins Zimmer begleitete. Wie so oft trug er Jeans und ein zerknittertes Hemd. Seine graublauen Augen waren lebhaft wie die eines viel jüngeren Mannes.

Bjarne Nansen, noch immer norwegischer Botschafter, obwohl es im Grunde keine Nationen mehr gab, und inzwischen neunundsechzig Jahre alt, eilte zu ihr.

»Wie geht es dir, meine Liebe?«, fragte er besorgt.

Viktoria seufzte. Bjarne war immer ein guter Freund gewesen und manchmal auch etwas mehr. »Es ist weiter nichts, nur ein Kratzer.«

Alessandra näherte sich ebenfalls, die »Sekretärin der Sekretärin«, wie Viktoria sie scherzhaft nannte. Die einunddreißig Jahre junge Kalabresin hatte sie vor vier Jahren aus Rom nach New York zu den Vereinten Nationen begleitet, obwohl sie sehr an ihrer italienischen Heimat hing.

»Ich habe ihn durch die Absperrungen geschleust, Madame«, sagte Alessandra. Seit sie sich kannten – seit die aus Trondheim in Norwegen stammende Viktoria vor sechs Jahren in Rom die Leitung des »Istituto internazionale per la pace e la sicurezza« – des »Internationalen Instituts für Frieden und Sicherheit« – übernommen hatte, verwendete Alessandra diese französisch klingende Anrede. Sie sagte nie »Madam«, »Dottoressa« oder »Signora Segretaria«, sondern immer »Madame«. »Die Sicherheitsleute wollten alles abriegeln.«

»Unsere Aufgabe besteht darin, die Generalsekretärin zu schützen.« Washington stand in der offenen Tür und schien sie fast ganz auszufüllen.

»Aber nicht vor mir«, erwiderte Bjarne Nansen lakonisch.

»Wie schlimm ist es?« Viktoria reichte Bjarne die Hand und ließ sich von ihm aufhelfen.

»Nur hier oder insgesamt?«, fragte Bjarne Nansen ernst. »Der Anschlag galt nicht dir. Es gab noch einen weiteren hier in New York und fünfundneunzig andere überall auf der Welt.«

Dexter wölbte die dünnen Brauen. »Sie hätte tot sein können.«

»Der Empfangstresen war wie ein Schutzschild für mich«, erklärte Viktoria.

»Du wärst vermutlich ein willkommener Kollateralschaden gewesen«, sagte Bjarne. »Wir nehmen an, der Anschlag galt vor allem dem Gebäude, dem Symbol für die bestehende Ordnung.«

»Wir?«, fragte Viktoria.

»Floyd Landers wartet draußen. Er ist der gleichen Meinung, und die NSA teilt diese Einschätzung, wie ich gehört habe.«

Landers war Viktorias Sicherheitschef, ein in mehrfacher Hinsicht blasser Mann, aber auch tüchtig und zuverlässig.

»Sechs Anschläge richteten sich gegen menschliche Einrichtungen und Institutionen wie die UN«, sagte Bjarne. »Die anderen einundneunzig waren Angriffe auf die Maschinenintelligenz. Alle fanden zur selben Zeit statt. Eine konzertierte Aktion, sorgfältig geplant.«

Die Benommenheit fiel von Viktoria ab. »Krisensitzung. In einer halben Stunde. Der innere Kreis.«

»Es sind nicht alle da, Madame«, wandte Alessandra ein.

»Trommeln Sie die Leute zusammen, die Sie erreichen können.« Viktoria konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. »Nicht nur die von der Sicherheit. Wir brauchen auch einen Draht zu Goliath, einen seiner Consuln. Und jemanden, der uns sagen kann, mit welchen Reaktionen wir rechnen müssen. Ist Mortimer Swift wieder in der Stadt? Er müsste inzwischen aus Neuseeland zurück sein.«

»Ich finde es heraus.« Alessandra eilte zur Tür.

»Er oder Jessica Jameson«, schickte ihr Viktoria nach. »Oder am besten beide. Sie kennen sich mit der MI aus, jeder auf seine Weise.«

Alessandra nickte und verließ den Raum.

Viktoria bedauerte, dass Axel Krohn nicht zur Verfügung stand, den die Maschinenintelligenz für ihren Schöpfer hielt – der einzige Mensch, der einen direkten Dialog mit ihr führen konnte. Nach dem Erwachen hatte er sich auf eine Insel in der Südsee zurückgezogen, nach Kanacea Island, und führte dort mit Giselle Leroy ein Leben in aller Zurückgezogenheit, isoliert vom Rest der Welt. In den vergangenen vier Jahren hatte Viktoria nichts mehr von ihm gehört.

Sie ging zur Tür und sah, dass sich im Flur die Wartenden drängten.

»Krisensitzung in einer halben Stunde«, wiederholte sie. »Ich brauche so viele Informationen wie möglich, über die Anschläge, die gegenwärtige Situation und darüber, was auf uns zukommen könnte. An die Arbeit, Leute!«

4

Sicherheitschef Landers räusperte sich. »Wir haben sieben Tote und dreiundzwanzig Verletzte, davon vier schwer.« Er sah kurz von seiner Liste auf, das Gesicht blutleer, die Augen farblos, die Brauen darüber dünne graue Linien. Der schmächtige Floyd Landers, blass und unauffällig, zählte zu den unsichtbaren Menschen, wie Viktoria manchmal von ihnen dachte: Man begegnete ihnen und vergaß sie sofort wieder, sie schienen irgendwie mit dem Hintergrund zu verschmelzen.

Erstaunlicherweise erinnerte er sie ein wenig an Koriander, der beim Institut in Rom für die technischen Dinge zuständig gewesen war und seine Computer gehütet hatte wie eine Glucke ihre Küken. Koriander war damals bei dem Versuch ums Leben gekommen, Kontakt mit der Maschinenintelligenz aufzunehmen. Was Statur und Erscheinungsbild betraf, gab es kaum Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Männern, wohl aber beim Wesen. Viktoria vermutete auch bei Landers autistische Tendenzen – für ihn schien es nichts anderes zu geben als seine Arbeit, und das war auch bei Koriander der Fall gewesen.

»Es hätte viel schlimmer kommen können«, fuhr Landers fort. »Für den betreffenden Zeitpunkt war eine Besuchergruppe angekündigt, die sich jedoch verspätet hat.«

»Sieben Tote sind schlimm genug«, warf jemand ein.

Landers nickte knapp. »Zweifellos. Aber wie gesagt, es hätten wesentlich mehr sein können.« Er gab den Worten keine besondere Betonung, blieb ungerührt und sachlich.

Viktoria blickte sich im Besprechungsraum um, der zum Sicherheitsbereich im Keller des UN-Sekretariats gehörte. Nicht alle Plätze am langen rechteckigen Tisch waren besetzt. Mortimer Swift von der neuseeländischen Hawking Foundation war da, jener Mann, der Viktoria vor vier Jahren in Rom vor echter Künstlicher Intelligenz und ihrem Entwicklungssprung zur Maschinenintelligenz gewarnt hatte. Alessandra links neben Viktoria zeichnete alles auf, schrieb Notizen auf ihrem Tablet. Bjarne saß rechts von ihr, wie ein Ruhepol, der ihr Halt gab. Als norwegischer Botschafter gehörte er nicht zum inneren Kreis von Leitung und Verwaltung, doch eine Sondergenehmigung der Generalsekretärin gab ihm formell das Recht, an den Besprechungen teilzunehmen, und die anderen hatten sich längst an seine Präsenz gewöhnt.

Zu den Anwesenden zählten außerdem:

Gregor »Greg« Lundblad, siebenunddreißig Jahre alt, strohblond und wie Viktoria und Bjarne aus Norwegen stammend, aber auf Grönland aufgewachsen; er leitete die neue Informationsabteilung und arbeitete in dieser Funktion sowohl mit Landers von der Sicherheit als auch mit den Resten der nationalen Geheimdienste zusammen.

Gabriel Zigmund, siebenundfünfzig Jahre alt, mittelgroß und schlank, Koordinator der neuen Verwaltungsräte, die sich nach dem Ende der Nationalstaaten auf lokaler und regionaler Ebene gebildet hatten.

Nathan, Erster Consul von New York, hochgewachsen und würdevoll, das Haar weiß wie Schnee, die Augen grün wie Jade; ein Mann, der um sein Charisma wusste und es einzusetzen verstand.

Consul mit C wie Computer, dachte Viktoria. Angeblich sprachen die Consuln mit Goliath, aber von einem echten Dialog konnte nicht die Rede sein, dazu war nur Axel Krohn imstande gewesen. Leute wie Nathan empfingen vor allem Anweisungen von der Maschinenintelligenz, gelegentlich auch rätselhafte, schwer zu deutende Mitteilungen.

Eine neue Religion, dachte Viktoria, als ihr Blick kurz bei Nathan verweilte. Die Consuln werden immer mehr zu Priestern eines digitalen Gottes.

Die anderen Männer und Frauen am Tisch vertraten die Abteilungen Transport, Infrastruktur, Kommunikation, Produktion, Distribution, Bildung und Gesundheitswesen.

Viktoria stellte fest, dass die Datenspezialistin Jessica Jameson fehlte. Sie hatte gehofft, dass Jessica zur Nachfolgerin von Axel Krohn heranwachsen und so eine direkte Kommunikation mit Goliath ermöglichen würde. Zwar hatte die junge Frau gute Arbeit geleistet, doch leider kam es immer wieder zu Rückschlägen, nicht zuletzt aufgrund gewisser persönlicher Probleme, die Jessica nicht zur Ruhe kommen ließen. Vielleicht war eines dieser Probleme auch der Grund für ihre momentane Abwesenheit.

Auf dem Bildschirm an der Wand, einer dünnen Folie mit einer Diagonalen von hundertdreißig Zoll, erschien ein Bild des UN-Hauptgebäudes, und Floyd Landers erläuterte die von der Bombenexplosion verursachten Schäden, die vor allem das Erdgeschoss und die ersten beiden Stockwerke betrafen. Er wies darauf hin, dass die Schäden größer gewesen wären, wenn die Bombe an einem geeigneteren Ort platziert gewesen wäre, zum Beispiel bei einem der tragenden Elemente.

»Sie ist genau vor dem Eingang explodiert«, beendete der blasse Landers seine Ausführungen. »Wo sie, wenn man die Dinge nüchtern betrachtet, nicht allzu viel anrichten konnte.«

»Der Anschlag hätte fast das Leben der Generalsekretärin gekostet«, ließ sich Bjarne Nansen vernehmen.

»Sie war nicht das Ziel«, erwiderte Landers unbeeindruckt.

»Was war das Ziel?«, fragte die Leiterin der Kommunikationsabteilung, von allen Chrysantheme genannt. Ihr wahrer Name war Edma Sangumba. Wie sie zu ihrem Spitznamen gekommen war, wusste Viktoria nicht. Die gertenschlanke, etwa fünfzig Jahre alte Angolanerin hatte eine fast ebenso dunkle Haut wie Washington, und ihre Augen schienen zu leuchten. »Was wollte der Attentäter – beziehungsweise die Attentäter – bezwecken?«

Landers wandte sich an Lundblad. »Greg?«

»Der Anschlag sollte eine Warnung sein«, sagte Lundblad sofort und beugte sich vor. Gesicht und Haltung zeigten Eifer und Engagement. Viktoria wusste um Lundblads Kompetenz, trotzdem stand sie ihm skeptisch gegenüber. Sie hielt ihn vor allem für jemanden, der Karriere machen wollte, obwohl das in der neuen Welt kaum mehr etwas zählte. »Er sollte Schaden anrichten, aber nicht zu großen. Das gilt auch für die Anschläge auf die fünf anderen ›menschlichen‹ Ziele.«

Das Gebäude des UN-Sekretariats auf dem großen Wandbildschirm wich einer Weltkarte mit zahlreichen roten Markierungen. Viktoria musste sie nicht zählen, um zu wissen, dass es genau siebenundneunzig waren.

»Die anderen einundneunzig Anschläge richteten sich gegen die Maschinenintelligenz und waren, soweit wir wissen, wesentlich effektiver.« Lundblad deutete auf die Karte. »Alle fünf Kontinente sind betroffen. Oder alle sechs, wenn man die Antarktis mitzählt. Auch dort kam es zu einem Anschlag. Er galt der Klimastation auf Alexander Island.«

»Und die Anschläge sind gleichzeitig erfolgt?«, vergewisserte sich Mortimer Swift.

»Ja.«

»Was schließen Sie daraus?«

Lundblad lächelte. »Liegt das nicht auf der Hand? Alles wurde von langer Hand geplant. Die sechs Anschläge gegen ›menschliche‹ Ziele sind ein Zeichen, eine Warnung: das UN-Hauptquartier in New York, der Kreml in Russland, Westminster in London, Zhongnanhai in Peking, Company Garden in Kapstadt, Südafrika, und das Kongressgebäude in Brasilia. Länder, Regierungen und Institutionen, die das Stillhalten unterstützen.«

»Stillhalten?«, wiederholte Chrysantheme. Sie mochte Lundblad nicht besonders. »Was meinen Sie damit?«

»Oh, Sie wissen, was ich damit meine.« Lundblad lächelte erneut. »Den Waffenstillstand, das Patt, das Abwarten. Unsere Passivität in einer Welt, die nicht mehr uns gehört.« Er deutete zur Karte auf dem Bildschirm. »Siebenundneunzig Anschläge, sorgfältig geplant, gleichzeitig durchgeführt. Dazu ist nur eine Organisation imstande, die über erhebliche Ressourcen verfügt.«

Lundblad wandte sich an Viktoria. »Das dürfte auch der Grund sein, warum Brewster zu Ihnen unterwegs ist. Er wird in zwei Stunden hier sein und hat um ein Gespräch mit Ihnen gebeten.«

Robert Charles Brewster aus Crypto City, Fort Meade, Direktor der NSA. Ein unangenehmer Mann, fand Viktoria. Jemand, der in alten Bahnen dachte und noch immer über genug Einfluss verfügte, um Unheil anzurichten.

»Warum haben wir bisher nichts von einer solchen Organisation gehört?«, fragte Bjarne Nansen.

»Weil sie es gut verstanden hat, geheim zu bleiben«, antwortete Lundblad sofort.

»Bis jetzt.«

»Ja, bis jetzt.«

Einige Sekunden lang blieb es so still, dass Viktoria nur noch das flüsterleise Summen der Klimaanlage hörte.

»Welcher Sprengstoff wurde verwendet?«, fragte Mortimer Swift. »Und woher stammt er?«

Lundblad nickte, als hätte er diese Fragen erwartet. »Bei den beiden Anschlägen hier in New York – auf das UN-Gebäude, in dem wir uns befinden, und auf eine Anlage der Maschinenintelligenz in Queens – kam synthetischer Sprengstoff zum Einsatz: Composition Zeta, wenige Jahre vor dem Erwachen entwickelt. Er kann nur aus einem militärischen Depot stammen. Meine Leute versuchen herauszufinden, aus welchem.«

Meine Leute, dachte Viktoria und beobachtete, wie Chrysantheme andeutungsweise das Gesicht verzog.

»Das Militär hängt in dieser Sache mit drin?«, warf jemand ein.

»So scheint es, ja«, bestätigte Lundblad. »Nach ersten Erkenntnissen wurde auch bei den anderen Anschlägen militärischer Sprengstoff verwendet. Vielleicht weiß Brewster mehr. Er verfügt noch immer über ein recht gutes Netzwerk. Übrigens: Gerüchten zufolge soll es der NSA in Utahs Bumblehive gelungen sein, den großen Codeknacker zu isolieren. Sie haben es schon einmal versucht, vor zwei Jahren, aber diesmal scheint es tatsächlich geklappt zu haben, ihn Goliaths Kontrolle zu entziehen.«

Viktoria wusste, dass er vom Quantencomputer im Utah Data Center sprach, einem Datenzentrum der amerikanischen Geheimdienste, errichtet im Jahr 2011 für die National Security Agency.

»Wann?«, fragte sie knapp. Bisher hatte sie sich darauf beschränkt, stumm zuzuhören.

»Vor wenigen Tagen«, antwortete Lundblad.

»Gibt es einen Zusammenhang?«

Lundblad zögerte. »Sie meinen …?«

»Ein leistungsfähiger Computer wäre sehr hilfreich bei der Vorbereitung einer solchen Aktionskette«, sagte Viktoria. Vor ihrem inneren Auge entstand ein Bild, das ihr nicht gefiel.

Lundblad überlegte. Vielleicht suchte er nach den richtigen Worten.

»Ich halte es für absurd, anzunehmen, dass die NSA etwas mit den Anschlägen zu tun haben könnte.« Nach einem neuerlichen Zögern, als würde er einen Gedanken hin- und herwälzen, fügte er hinzu: »Brewster wird alles aufklären.«

»Madam Secretary …« Sicherheitschef Landers räusperte sich erneut, als hätte er einen wunden Hals. »Die Anschläge sind nicht das eigentliche Problem.«

Mortimer Swift nickte ernst, und als Landers nicht weitersprach, sagte er: »Eine wichtige Frage haben wir noch nicht angesprochen: Wie sehr haben die Anschläge Goliath geschadet, und wie wird er darauf reagieren?«

Darum geht es vor allem, dachte Viktoria und spürte, wie ihre Sorge wuchs. »Greg?«

Es schien Lundblad zu freuen, dass sie ihn mit der Kurzform seines Vornamens ansprach. Wieder beugte er sich eifrig vor.

»Die Schäden sind erheblich, soweit wir das feststellen können – es fehlt an zuverlässigen Informationen. Die Anschläge fanden in für Menschen abgeriegelten Bereichen statt, in den Verbotenen Zonen. Es ist schwer, Klarheit über das genaue Ausmaß der Schäden zu gewinnen, und wir hatten nur eine halbe Stunde.«

In für Menschen abgeriegelten Bereichen. Der Klang dieser Worte gefiel Viktoria nicht.

»Wie konnten die Attentäter in die betreffenden Bereiche gelangen, wenn sie von der Maschinenintelligenz abgeriegelt sind?«, fragte Chrysantheme. »Woher wussten sie, wo sie zuschlagen mussten, um genau den Schaden anzurichten, den sie angerichtet haben?«

Wieder wurde es still, und Viktoria lauschte dem leisen Summen der Klimaanlage, während sie auf die nächsten Worte wartete.

Sie kamen von Gabriel Zigmund, dem Koordinator der Verwaltungsräte. »Vielleicht sollten wir dort nach den Attentätern und ihren Hintermännern suchen, wo es Informationen über die Anschlagsorte gibt«, sagte er in seiner bedächtigen Art.

Insider, dachte Viktoria, und vermutlich ging nicht nur ihr dieser Gedanke durch den Kopf. Sie begegnete Mortimer Swifts Blick, erinnerte sich an den zweiten Teil seiner Frage und wandte sich an den Consul.

»Hat Goliath bereits reagiert? Womit müssen wir rechnen?«

»Er hat uns eine Nachricht zukommen lassen«, verkündete der würdevolle Mann mit dem schneeweißen Haar. Er trug einen Anzug – grau und in unauffälliger Eleganz –, aber Viktoria konnte sich ihn gut in einem Talar vorstellen. »Sie lautet …« Nathan entfaltete ein Blatt Papier und las:

»Seelenvolle Tänze und heilige Lippen der Schande,

Flammen auf dem Flur, Licht in den Kehlen.

Das Böse bettet sich auf der Wiese, die Götter rennen.

Glocken hallen, Donner schwingen.«

Viktoria versuchte vergeblich, einen Sinn in diesen Worten zu erkennen. »Was bedeutet das?«

»Zehn Minuten nach der Explosion der Bombe vor diesem Gebäude hat sich Goliath mit mir in Verbindung gesetzt«, sagte Nathan, und Viktoria glaubte zu hören, wie er das mir betonte, um seine besondere Rolle hervorzuheben. »Auf den Bildschirmen im Konsulat erschienen Feuerkreise mit einem goldfarbenen Fragezeichen in ihrem Innern, und es folgte das Gedicht, das ich Ihnen vorgelesen habe.«

»Ein Gedicht?«, fragte Viktoria.

Nathan öffnete den Mund, aber Mortimer Swift kam ihm zuvor. »Es ist ein Zitat und stammt aus dem Gedicht ›Sonnenblicke auf der Flucht‹«, sagte der Mann aus Neuseeland. »Es wurde damals in die renommierte ›Frankfurter Bibliothek‹ aufgenommen, einen von der Brentano-Gesellschaft herausgegebenen Gedichtband.«

»Damals?«

»Das Gedicht ist gut fünfundzwanzig Jahre alt und wurde von einer Künstlichen Intelligenz verfasst, was zunächst niemand wusste«, erklärte Mortimer Swift. »Der Text wurde unter einem menschlichen Namen bei einem Gedichtwettbewerb eingereicht, und die Jury wählte ihn aus, ohne etwas zu ahnen. Hinter der Sache steckte Tunnel23, eine Kreativagentur in Österreich. Ihre KI eignete sich mit maschinellem Lernen Wissen insbesondere über die Werke von Goethe und Schiller an.«

»Ein Vorläufer von Goliath«, kommentierte jemand.

»Ein sehr, sehr entfernter Verwandter«, entgegnete Swift. »Kaum zu vergleichen mit unserer globalen Maschinenintelligenz. Nicht annähernd so intelligent und zweifellos ohne eigenes Bewusstsein.«

»Ohne eine digitale Seele«, warf Nathan ein.

»Warum hat Goliath nach den Anschlägen aus einem KI-Gedicht zitiert, das ein Vierteljahrhundert alt ist?«, fragte Gabriel Zigmund. »Und warum ausgerechnet diese Zeilen?«

»Ich bedauere, aber wir sind noch mit der Textanalyse beschäftigt.« Nathan neigte den Kopf. »Es ist nicht immer leicht, Seinen Willen zu interpretieren.«

Viktor hörte das große S. Sind wir so weit?, fragte sie sich. Sprechen wir von Ihm und Seinem Willen? Bekommt die Maschinenintelligenz den Status eines Überwesens, eines Gottes, den man zwar nicht sehen, dessen Taten man aber beobachten kann? Und was macht das aus uns Menschen?

»Es ist von Schande und Flammen die Rede«, sagte Chrysantheme von der Kommunikation. »Das scheint mir klar genug zu sein.«

Viktoria bemerkte Mortimer Swifts Blick und nickte ihm zu.

»Die alles entscheidende Frage lautet: Mit welchen Konsequenzen müssen wir rechnen?« Swift sprach mit einer Eindringlichkeit, an die sich Viktoria erinnerte: So hatte er vor vier Jahren in Rom gesprochen, bei ihrem Treffen im »Pelicano«, einem Nobelrestaurant in der Nähe des Kolosseums, als er vor Künstlicher Intelligenz und ihrer Entwicklung zu einer dem Menschen weit überlegenen Maschinenintelligenz gewarnt hatte. »Wird Goliath jetzt, nach den Angriffen, gegen uns vorgehen? Wird er präventive Maßnahmen ergreifen, und wenn ja, welche? Denkt er daran, uns zu bestrafen? Wie? Indem er die Versorgung mit Elektrizität und Trinkwasser unterbricht? Indem er uns vom Lebensmittelnachschub abschneidet? Wir müssen ihm so schnell wie möglich erklären, dass nicht die Menschen an sich hinter den Anschlägen stecken, sondern eine kleine Gruppe von Wirrköpfen.«

»Eine Gruppe, die offenbar sehr gut organisiert ist«, fügte Lundblad hinzu. »Eine Gruppe, die vielleicht noch mehr plant.«

»Das ist ein wichtiger Punkt«, sagte Swift. »Die siebenundneunzig zeitgleichen Anschläge überall auf der Welt könnten der Anfang einer noch größeren Sache sein. In den vergangenen vier Jahren hat uns die Maschinenintelligenz weitgehend in Ruhe gelassen, weil auch wir sie in Ruhe gelassen haben. Aber das wird sich ändern, wenn weitere Aktionen gegen sie folgen. Wenn sie sich bedroht sieht, wird sie Maßnahmen zur Beseitigung der Gefahr ergreifen. Sie darf auf keinen Fall zu unserem Feind werden. Es wäre der Anfang von unserem Ende, wenn das geschieht.«

Es folgte eine laute Stille, die in Viktorias Ohren rauschte. Entscheidungen mussten getroffen werden, und zwar schnell.

»Nathan … Finden Sie heraus, was Goliath mit dem Gedichtzitat gemeint haben könnte. Versuchen Sie, einen direkten Kontakt herzustellen. Jessica kann Ihnen dabei helfen. Weiß jemand, wo sie ist?«

»Ich glaube, sie wollte ihren Sohn treffen«, antwortete Chrysantheme vorsichtig.

»Geben Sie ihr Bescheid«, sagte Viktoria. »Das gilt für Sie alle. Wer immer sie als Erster erreichen kann, bestellt Jessica direkt ins Konsulat.«

»Wir brauchen keine Hilfe«, verkündete Nathan. »Wir wissen am besten, wie man mit Ihm redet und …«

»Sie brauchen jede Hilfe, die Sie bekommen können«, unterbrach Viktoria den Consul. »Vergessen Sie Ihren Stolz, das hier ist zu wichtig. Es geht um uns alle, um uns Menschen. Gabriel …«

Sie hatte plötzlich Kopfschmerzen, hob die Hand zum Haftverband an der Schläfe und ließ sie wieder sinken. Ich hätte tot sein können, dachte sie.

Ein Kollateralschaden.

Der Koordinator der Verwaltungsräte sah sie ruhig an. »Ja?«

»Kontaktieren Sie die Räte. So viele Sie erreichen können. Arbeiten Sie mit unserer Kommunikation zusammen, mit Chrysantheme. Überall muss bekannt werden, dass wir die Anschläge scharf verurteilen. Seien Sie ganz offen, Gabriel. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir etwas zurückhalten. Fordern Sie die Verwaltungsräte auf, ihre Öffentlichkeitsarbeit zu verstärken. Die Bevölkerung soll nichts unternehmen, das Goliath als bedrohlich einstufen könnte.«

»Wir müssen verhindern, dass die Attentäter Sympathisanten gewinnen«, erklärte Mortimer Swift.

»So ist es. Floyd, Greg – sammeln Sie Informationen. Wer waren die Attentäter? Welche Organisation steckt hinter ihnen? Wie konnten sie an den Sprengstoff gelangen? Geben Sie alles, was Sie herausfinden, an Jessica weiter, die Goliath auf dem Laufenden halten soll, als Beweis unserer vollen Kooperationsbereitschaft. Alle anderen: Ich erwarte von Ihnen einen Bericht über unsere Lage, und mit ›unsere‹ meine ich die gesamte Menschheit.« Viktoria sah auf die Uhr. »In drei Stunden. Nach dem Gespräch mit Brewster. Ich möchte wissen, in welcher Situation wir uns befinden, wie die Versorgungssysteme funktionieren, wo Engpässe entstehen könnten und was wir dagegen unternehmen sollten.« Sie holte tief Luft. »Und ich möchte wissen, was wir tun können, wenn es zum Schlimmsten kommt. Welche Möglichkeiten bleiben uns dann?« Viktoria stand auf. »Sie erreichen mich in meinem Büro. Von dort aus werde ich versuchen, mit den Oberhäuptern von Regierungen zu sprechen, deren Staaten gar nicht mehr existieren.«

5 Jessica Jameson

New York

Jessica sah sich noch einmal um, vielleicht zum fünfzigsten Mal, und stellte fest: Überall herrschte Ordnung, und es war versteckt, was versteckt sein musste. Der große, offene Salon mit der breiten Fensterfront, durch die man den East River im Osten und den Central Park im Norden sehen konnte, war makellos, wie bereit für den Besuch eines Maklers. Mit hastigen Schritten ging sie noch einmal durch Küche, Esszimmer, die beiden Badezimmer und das ebenfalls aufgeräumte Kinderzimmer. Jessica wollte einen guten Eindruck machen – es sollte sofort zu erkennen sein, dass sie ihr Leben unter Kontrolle hatte.

Alles war bereit.

Sie sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten.

In ihrem Arbeitszimmer, das fast wie ein zweiter Salon wirkte, vergewisserte sie sich erneut, dass ihr Vorrat an kleinen Helfern, hauptsächlich Kurioso, nicht einmal von einem Sniffer entdeckt werden konnte. Auf keinen Fall durfte sie wieder mit Drogen in Verbindung gebracht werden. Das hätte ihr wohl endgültig die Chance genommen, Florian zurückzubekommen.

Im großen Wohnzimmer blieb sie am Panoramafenster stehen und blickte über die im Hitzedunst liegende Stadt. Nur ein Schiff auf dem East River und keine Flugzeuge am Himmel, nicht ein einziges. In den vier Jahren seit dem Erwachen war der überregionale Verkehr immer geringer geworden. Sie hatte einmal eine Studie darüber verfasst, mittels der Daten, die sich im Netz finden ließen. Offenbar handelte es sich um einen langfristigen Trend, vielleicht Teil von Goliaths Plänen.

Ein akustisches Signal kam von der Tür, ein kurzes Läuten.

Wilde Freude durchflutete Jessica. Endlich, nach fast einem Jahr!

Sie wirbelte herum und lief durch den Salon, riss sich im Flur zusammen, blieb an der Wechselsprechanlage stehen, atmete tief durch und drückte eine Taste. »Ja? Florian?«

Keine Antwort. Der kleine Bildschirm zeigte einen leeren Eingangsbereich im Erdgeschoss siebzig Stockwerke unter dem Penthouse.

Das Läuten wiederholte sich.

Ein Blick durch den Spion präsentierte ihr jemanden, den sie nicht erwartet hatte und dessen Besuch sie gerade jetzt nicht gebrauchen konnte.

Jessica überlegte, was sie tun sollte. Nicht reagieren? So tun, als wäre sie nicht zu Hause? Aber Skyler war manchmal sehr hartnäckig, und Florian konnte jeden Augenblick eintreffen.

»Ich weiß, dass du da bist«, sagte Skyler auf der anderen Seite der Tür. »Ich weiß, dass du gerade durch den Spion gesehen hast.«

Jessica entriegelte die Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Skyler drückte sie weiter auf und schlüpfte herein.

Er trug Shorts und ein knappes T-Shirt, zeigte Beine, fast so glatt wie die einer Frau, und muskulöse Arme. Das lange blonde Haar war zerzaust, die großen blauen Augen glänzten, der Mund lächelte.

»Ich bringe dir was Neues«, sagte er und strahlte regelrecht. »Extra für dich, Jessie.« Er öffnete seine Gürteltasche.

»Ich hab keine Zeit.« Jessica versuchte, ihm den Weg zum Salon zu versperren, aber der flinke Skyler huschte an ihr vorbei.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte er verblüfft. »War eine Reinigungskolonne bei dir? Hat dir Goliath eine Aufräumdrohne geschickt? Hier sieht’s aus wie in einem Immobilienprospekt.«

»Florian kann jeden Moment da sein. Du musst gehen, sofort!«

»Oh.« Skyler drehte sich zu ihr um, die Gürteltasche offen. »Dein Sohn.«

»Ja.«

»Wie lange hast du ihn nicht gesehen?«

»Ein Jahr!«

»Und du möchtest nicht, dass er mich hier vorfindet.«

»Nein!«

Skyler kam näher. »Ich nehme an, du willst keinen schlechten Eindruck machen.«

»Bitte geh!«

»Warum glaubst du, dass du mit mir einen schlechten Eindruck machst?« Skyler grinste. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren war er so alt wie Jessica bei Florians Geburt. Nicht unbedingt zu jung für sie, unter anderen Umständen hätte sie ihm vielleicht nachgegeben – er war attraktiv, kein Zweifel, und mit Harrison war alles beendet, in dieses Leben wollte sie gewiss nicht zurück. Aber Skyler kam einer wandelnden Mine für sie gleich, und würde sie sich auf eine Beziehung mit ihm einlassen, wäre all das in Gefahr, was ihrem Leben einen Rest von Stabilität gab. Dann hätte sie nicht mehr hoffen können, vom Lokalen Verwaltungsrat das Sorgerecht für Florian zurückzuerhalten.

»Bitte.« Jessica versuchte ruhig zu bleiben. »Dies ist wichtig für mich.«

Skyler kam noch näher und blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie seinen Geruch wahrnahm. Er roch nach Meer, nach Salz. Nicht unangenehm.

»Und das hier ist wichtig für mich«, sagte er. »Ich habe einen weiten Weg und viele Mühen hinter mir. Es war alles andere als leicht, das neue Zeug zu besorgen. Extra für dich, Jessie.«

Er hob die Hand und berührte sie kurz an der Wange, holte dann ein fünf Zentimeter großes Fläschchen aus der Gürteltasche hervor. Es enthielt mehrere rote Kapseln.

»Vortex«, sagte Skyler stolz. »Ein synthetischer Neurostimulator, noch besser als Kurioso, Veloce, FullMetalJacket, Hammerfall und der andere Kram. Absolut top, Jessie. Damit kannst du noch länger in deinen Datenmeeren schwimmen. Und tiefer in sie eintauchen, habe ich mir sagen lassen. In den VR-Systemen bist du damit ein Superstar!«

Er grinste und reichte ihr das Fläschchen.

Jessica starrte darauf und glaubte, das Ticken jeder verstreichenden Sekunde zu hören. »Wenn Harrison das bei mir findet …«

»Er schickt niemanden? Er bringt deinen Sohn selbst?«

»Er hat es versprochen.«

»Er hat viel versprochen, Jessie«, sagte Skyler. »Und wie viel hat er davon gehalten?«

Jessica sah auf die Uhr. Fünf nach drei. »Bitte geh.« Als er nicht reagierte, fügte sie schnell hinzu: »Ich ruf dich an, versprochen. Und ich halte meine Versprechen.«

Skyler sah sie fast traurig an, bevor er sich umdrehte und ging. Auf dem Weg zur Tür stellte er das Fläschchen mit den roten Kapseln auf den Tisch.

»Ein Geschenk«, sagte er. »Ich erwarte nichts dafür.«

Das stimmte nicht, wusste Jessica. Er erwartete sehr wohl etwas. Aber sie blieb still und hielt die Apartmenttür für ihn auf. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Penthouse.

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