Infinitia - Andreas Brandhorst - E-Book

Infinitia E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Auf der Erde leben nur noch 499 Menschen, geschützt vom Cluster der Maschinenintelligenzen. Einer dieser Menschen ist Korian, ein Mann auf der Suche nach dem Sinn seiner Existenz. Vom Cluster der Maschinen erhält er den Auftrag, in einem Stream von Parallelwelten den geheimnisvollen Ort Infinitia zu suchen, der unerreichbar scheint und sich der Herrschaft des Clusters entzieht. Bei seiner gefahrenvollen Reise durch den Stream erkennt Korian: Infinitia stellt eine große Bedrohung dar, denn eine mysteriöse Macht will die Welten von Menschen und Maschinen unter ihre Kontrolle zu bringen.

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Peter Thannisch

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Sarah Borchart, Guter Punkt, München unter Verwendung von iStock.com

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitate

Prolog

Eine Prise Ewigkeit

Erster Teil:

Stream

Die letzte Grenze

Korian, Midstream Null

1

Der Schlund

Korian, Midstream Null

2

3

4

Der Stream

5

Eine Mission

Korian, Midstream Null

6

7

8

Warum ich?

Korian, Midstream Null

9

10

Angriff aus der Zukunft

Horus, Midstream Null

11

Die Reise beginnt

Korian, Upstream 1–13

12

13

14

15

Kalkül

Horus, Midstream Null

16

Ein kleiner Mensch

Korian, Upstream 13

17

18

Wie jung du bist!

Korian, Upstream 13

19

20

21

Ein sicherer Raum?

Korian, Upstream 13

22

23

Das Refugium

Korian, Upstream 13

24

25

26

27

Ein alter Konflikt

Horus, Midstream Null

28

Ich muss stark sein!

Korian, Upstream X

29

30

Evolution

Horus, Midstream Null

31

32

Ich bringe euch in Sicherheit

Korian, Upstream 13

33

Das Geheimnis

Horus, Midstream Null

34

35

Daniel

Korian, Kathedrale

36

37

38

39

Schwarze Tiefen

Horus, Midstream Null

40

Nachfolge

Korian, Kathedrale

41

42

Ria, wer bist du?

Korian, Kathedrale

43

44

45

46

Begegnung

Horus, im Schlund

47

Ein Knoten

Korian, Kathedrale

48

49

50

Mahlstrom

Horus, im Schlund

51

Ein steinerner Freund

Korian, Upstream 9731

52

53

54

55

Pethos

Horus, Infinitia, Upstream 106

56

Kennst du deinen Weg?

Korian, Upstream 9731

57

58

59

Zweiter Teil:

Infinitia

Ich habe es versprochen

Korian, Upstream 15 221

60

61

62

Einladung

Horus, Midstream Null

63

64

Sprung

Korian, Upstream 15 221

65

66

Ein Tanz

Horus, Midstream Null

67

Ein Wiedersehen

Korian, Upstream 106

68

69

70

Tribunal

Horus, Midstream Null

71

Der Corinther

Korian, Upstream 106

72

73

74

75

Rückkehr

Horus, Midstream Null

76

Eine unmögliche Reparatur

Korian, Upstream 106

77

78

79

80

Wir sind mehr

Horus, Midstream Null

81

82

Luzilla

Korian, Upstream 106

83

84

85

86

Urteil

Horus, Midstream Null

87

Tod eines Unsterblichen

Korian, Upstream 106

88

89

90

Wir sind du

Horus, Midstream Null

91

Ein Werkzeug

Korian, Upstream 106

92

93

Neue Wege

Horus, Midstream Null

94

Flucht

Korian, Upstream 106

95

96

Ich wäre gern glücklich gewesen

Korian, Downstream 7612 und Upstream 9731

97

98

99

Auf der Suche

Korian, Stream ∞

100

101

102

Ich bin wieder da

Korian, Upstream 106

103

104

Das Herz schlägt noch

Korian, Upstream 106

105

106

107

108

Zwei Geschenke

Korian, Upstream 106

109

110

111

Gedankenblasen

Korian, Stream ∞

112

In der Zitadelle

Korian, Upstream 107

113

114

115

Was kann ich sein?

Korian, Upstream 107

116

117

Bin ich stark genug?

Korian, Stream ∞

118

119

120

121

Abyss

Korian, Stream ∞

122

Supra

Korian, Stream 109

123

Ein Versprechen

Korian, Stream 107

124

Eine andere Antwort

Korian, Midstream Null

125

126

127

Epilog

Personenverzeichnis

Glossar

Kontakt mit dem Autor

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

»Der Tod ist der Beginn der Unsterblichkeit.«

Maximilien de Robespierre (1758–1794, hingerichtet), getauft als Maximilien-François-Marie-Isidore

Die Zeit geht im Kreis, der Tod macht den Abschlag.

Bretonisches Sprichwort

Prolog

Eine Prise Ewigkeit

Auf der Erde lebten noch vierhundertneunundneunzig Menschen, jeder von ihnen mindestens zehntausend Jahre alt.

Es waren nicht die einzigen Menschen. Im Sonnensystem verteilt gab es noch einmal so viele: auf dem Mars, auf den Monden der Gasriesen im äußeren System, in interplanetaren wissenschaftlichen Stationen. Und hinzu kamen jene, die vor langer Zeit beschlossen hatten, die Erde zu verlassen, als Begleiter der Seed-Sonden, die im Auftrag des Clusters die Milchstraße erforschten, oder in Lichtschiffen, die mit hohen relativistischen Geschwindigkeiten durch die interstellaren Weiten flogen und sogar in die intergalaktischen Abgründe vorgestoßen waren. Dilatationseffekte sorgten dafür, dass die Zeit für diese Schiffe wesentlich langsamer verging. Die unsterblichen Menschen an Bord reisten nicht nur durch den Raum, auf der Suche nach den Wundern des Universums, ihre Reise führte auch weit, weit in die Zukunft.

Die Fünfhundert, wie man die Menschen der Erde nannte, lebten ihr langes Leben behütet von den Maschinenintelligenzen des Clusters. Niemand von ihnen musste das enorme Gewicht all seiner Erinnerungen tragen – dafür gab es die Datenspeicher des Clusters, sein Quantengedächtnis. Sie unterteilten ihre Existenz in einzelne Leben, die bestimmten Tätigkeiten, Denkweisen und Perspektiven gewidmet waren. Manchmal waren diese Einzelleben nicht nur geistiger, sondern auch körperlicher Natur, denn im Lauf der Jahrtausende ließen sich Unfälle kaum vermeiden. Die Unsterblichkeit der letzten Menschen bedeutete, dass sie nicht alterten und auch keine tödlichen Krankheiten fürchten mussten, aber sie konnten durchaus einem Unglück zum Opfer fallen. Deshalb trug jeder von ihnen eine Signalnadel im Nacken, ein winziges Instrument, das Kommunikation mit dem Cluster gestattete und Aufzeichnungen individueller Daten übertrug, mit denen eine Replik für die Wiederherstellung der betreffenden Person angefertigt werden konnte.

Der Cluster kümmerte sich um die Menschen und ermöglichte ihnen das Leben, das sie sich wünschten. Doch die Zeit konnte schwer werden wie ein Berg, wenn sich die Jahre ansammelten. Die Auslagerung von Erinnerungen half nicht bei allen. Manche wurden instabil, obwohl sie einzelne Leben führten, jedes von ihnen nur wenige Jahrzehnte lang. Sie suchten Gefahren, brachen ganz allein mit eigenen kleinen Blasen auf und verließen das Sonnensystem. Andere stahlen Transkriptoren und reisten durch den Stream, eine endlos lange Kette von Parallelwelten, zu der die Maschinenintelligenzen den Zugang eigentlich gesperrt hatten. Sie wagten sich so weit down- oder upstream, dass ihre Signalnadeln den Kontakt verloren. Nur einer von ihnen war jemals zurückgekehrt: Farald, der den Verstand verloren hatte und seitdem vom Cluster betreut wurde. Die anderen blieben für immer im Stream verschwunden.

Korian war der älteste aller Unsterblichen und erinnerte sich nicht daran. Er zählte zu den Instabilen und hatte eine besondere Faszination für die »letzte Grenze« entwickelt, die das Leben vom Tod trennte. Siebenundzwanzig Selbstmorde lagen bereits hinter ihm.

Der achtundzwanzigste stand unmittelbar bevor.

Erster Teil:

Stream

Die letzte Grenze

Korian, Midstream Null

1

Die Wolken hingen tief und schwer über dem grauen, aufgewühlten Ozean. Vom Wind gepeitscht türmten sich die Wellen höher, als wollten sie sich gegenseitig übertreffen, schmetterten gegen die Klippe und zerstoben an hartem Fels. Böen nahmen die Gischt und warfen sie nach oben, dorthin, wo Korian stand, drei Dutzend Meter über den Wogen.

Hoch genug, dachte er, von Aufregung erfasst. Er fühlte sie nah, die letzte Grenze und hinter ihr die Verlockung des Todes. Er stand im Sturm, mitten im Wind, der ihm das Haar zerzauste und an seiner Gestalt zerrte, der ihn zurückstoßen wollte, fort vom Rand der Klippe, zurück zur Blase, die Sicherheit bot.

Korian lächelte. Hier, nur einen Schritt vom Tod entfernt, fühlte er seine Lebendigkeit mit schwindelerregender Intensität.

Er zog einen kleinen silbernen Zylinder aus der Hosentasche, einen zehn Zentimeter langen Transkriptor, den er mit geliehenen technischen Kenntnissen verändert hatte. Damit schickte er die Blase fort und beobachtete, wie sie aufstieg, nicht mehr durchsichtig wie aus Glas, sondern trüb geworden, Sitz und Geräte in ihrem Innern nur noch vage zu erkennen.

Korian sah der Blase nach, bis sie im dunkler werdenden Grau verschwand. Die Nacht rückte näher, der Wind schien sie schneller heranzubringen.

Erneut machte er Gebrauch vom Transkriptor und deaktivierte die Signalnadel in seinem Nacken. Damit unterbrach er die Verbindung zum Cluster, was dort natürlich nicht unbemerkt bleiben würde. Ihm blieben nur noch einige Minuten.

Einige wenige Minuten nach all den Jahrtausenden, dachte er, beugte sich in den Wind und blickte erneut in die Tiefe. Wie braun und grau gewordene Zähne ragten die Felsen aus dem Wasser, an denen sich donnernd die Wellen brachen. Für einen Moment stellte er sich vor, wie sie zubissen, wie sie seinen Körper zerfetzten, wie sie ihm die Knochen brachen und das Fleisch zerrissen.

Irgendwo tief in seinem Innern regte sich Furcht. Es war ein unbekanntes, seltsames Empfinden. Korian erinnerte sich nicht daran, jemals so etwas gefühlt zu haben.

Er lächelte erneut.

Komm zu uns!, schienen ihm das Donnern und die Gischt zuzurufen.

Komm zu mir, flüsterte die letzte Grenze.

Nur ein Schritt, der letzte seines Lebens. Und danach …

Was kam danach? Gab es eine Antwort auf diese Frage? Konnte man den Tod »erleben«? Konnte man sich später an ihn erinnern?

Furcht und Aufregung rangen miteinander. Neugier schob beides beiseite.

Korian warf einen Blick über die Schulter. Noch hatte der Cluster niemanden geschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Aber es konnte nicht mehr lange dauern, vielleicht nur noch eine Minute.

Sechzig Sekunden, nach mehr als zehntausend Jahren.

Korian zögerte nicht länger. Er gab der Neugier nach und trat über den Rand der Klippe.

Vom Sturm gepackt fiel er den Felsen entgegen, den Zähnen, die ihn zermalmen würden. Unten erwartete ihn ein kurzer, schneller Schmerz.

Es wurde dunkel, aber die Dunkelheit stammte nicht von der beginnenden Nacht.

Zwei Gestalten standen auf der Klippe, wie zuvor der Mensch nur einen Schritt von ihrem Rand entfernt. Sie mussten sich nicht in den Wind lehnen, um das Gleichgewicht zu wahren. Kein Windstoß konnte stark genug sein, sie umzustoßen.

»Es ist wieder diese Klippe«, sagte Horus, Individueller vom Cluster. Unten bargen Mechs und Drohnen den Leichnam. »Jahrtausende vergehen, doch hier scheint sich nichts zu verändern.«

»Sie meinen Adam«, erwiderte Thekla. Neben seinem goldenen Glühen leuchtete ihr Körper in einem ruhigen Saphirblau.

»Und Daniel, der in den Stream aufbrach«, sagte Horus. »Auch er stand hier.«

»Adam war einer der letzten Mindtalker, nicht wahr?« Es klang nach einer Frage, aber Thekla wusste natürlich Bescheid. Sie hatte ebenso wie Horus Echtzeit-Zugriff auf die riesigen Datenspeicher im Quantengedächtnis des Clusters. »Er brachte damals das Schiff zu uns, wodurch wir in große Gefahr gerieten.« Sie seufzte wie ein Mensch. »Das könnte auch diesmal der Fall sein. Wir könnten erneut in Gefahr geraten.«

»Das sind wir bereits«, sagte Horus und schickte Thekla ein Nanosignal mit den aktuellen Daten des Schlunds. »Es kommen wieder Objekte von upstream, einige von ihnen mit einem sehr großen Zerstörungspotenzial.«

»Könnten Zoran oder Daniel damit zu tun haben?«

»Dafür spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit.« Horus sandte die genaue Zahl. »Es wäre auch möglich, dass Infinitia mit einer gezielten Kampagne gegen uns begonnen hat.«

»Destabilisierung?«

»Ja.«

»Vor einer zielgerichteten Aktion gegen den Cluster.«

Horus nickte in der Art eines Menschen. »Davon gehe ich in meinen Berechnungen aus.«

»Wann?«, fragte Thekla.

»In zehn Jahren«, antwortete er. »In hundert. Oder auch erst in tausend oder zehntausend Jahren.«

»Relativität«, kommentierte Thekla.

Die Böen wurden heftiger, das Zischen und Fauchen des Winds lauter. Das letzte Licht des Tages schwand. Für die beiden Individuellen spielte es keine Rolle. Mit ihren Sensoren sahen sie in lichtloser Nacht ebenso gut wie am Tag.

»In der Tat«, bestätigte Horus. »So weit upstream wie in Infinitia kann man jeden beliebigen Zeitpunkt für einen Angriff auf uns wählen. Jetzt. Oder in unserer Zukunft.«

»Aber nicht in unserer Vergangenheit.«

»Das verhindert die Kausalitätsmatrix«, erklärte Horus und übermittelte entsprechende Daten. »Downstream von uns sind nur Veränderungen der Ereignisketten möglich, die sehr begrenzte Auswirkungen auf unsere Gegenwart und Zukunft haben.«

Die beiden Gestalten – eine golden, die andere blau – standen reglos im Sturm. Die Böen bewegten sie nicht einen einzigen Millimeter weit.

»Sie beschäftigen sich schon ziemlich lange mit dem Stream«, sagte Thekla. »Länger als Bartholomäus.«

»Er hat andere Prioritäten gewählt«, erwiderte Horus behutsam.

»Was ist mit Ihren Prioritäten?«

Diese Frage hatte Horus natürlich erwartet. Damit erreichte das von ihm arrangierte Treffen mit Thekla die kritische Phase. Bartholomäus wollte alle Zugänge zum Stream schließen und die Erde isolieren, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Thekla und andere Individuelle aus dem Cluster neigten dazu, seinen Standpunkt zu teilen. Horus suchte ihre Unterstützung für die eigenen Pläne.

»Der Stream hat enormes Potenzial«, sagte er. »Meine Datenbanken stehen Ihnen offen; informieren Sie sich, prüfen Sie meine Berechnungen und Bewertungen. Das Potenzial ist noch weitaus größer als bei den Toren der Muriah, die wir übernommen haben.«

»Nicht ein Universum, sondern viele.«

»Eine endlose Kette von Welten«, betonte Horus. »Leichter zu erreichen als mit Raumschiffen.«

»Und wir sind der einzige Cluster?«, sagte Thekla. »In all den Weiten des Streams gibt es nichts und niemanden wie uns?«

Wieder klang es nach einer Frage, obwohl Thekla und jene, die mit ihr zuhörten und dachten, die Fakten kannten.

»So hat es den Anschein.«

»Dafür muss es einen Grund geben. Infinitia?«

»Meine Kalkulationen ergeben dafür eine hohe Wahrscheinlichkeit«, sagte Horus.

»Sie vermuten einen Zusammenhang zwischen den Menschen von Infinitia und Morgenrot«, stellte Thekla fest, die inzwischen auf die Datenbanken zugegriffen hatte.

»Morgenrot«, wiederholte Horus. »So nannten sich die Menschen, die sich damals, als es noch Mindtalker gab, vor dem Eintreffen des Schiffs[1], gegen uns verschworen hatten. Wir gaben ihnen Unsterblichkeit, aber sie wandten sich gegen uns.«

»Menschliche Irrationalität?«

»Menschliche Unberechenbarkeit«, sagte er.

»Heute ist es anders«, entgegnete Thekla. »Es gibt keine Verschwörer mehr. Zumindest nicht hier.«

»Es sind nur noch wenige Menschen übrig. In Infinitia leben weitaus mehr.«

Unten manövrierten zwei Drohnen in der Brandungsgischt. Eine von ihnen empfing Korians Leiche aus den Greifarmen eines Mechs.

»Sie entwickeln neue Sonden und Drohnen«, sagte Thekla. »Um größere Teile des Streams zu erforschen. Sie schicken sie vor allem upstream, aber viel weiter als zuvor kommen sie nicht.«

»Die kritische Grenze liegt bei etwa tausend Welten upstream«, führte Horus aus. »Dort verlieren wir den Kontakt. Wenn die Sonden und Drohnen weiter vorstoßen, empfangen wir keine Daten von ihnen, nicht einmal gewöhnliche Telemetrie.«

»Und sie kehren nicht zurück.«

»Nein.«

»Zoran und Daniel sind damals viel weiter upstream gereist«, sagte Thekla. »Halten Sie es für möglich, dass sie Infinitia erreicht haben?«

Ich bin sicher, dachte Horus, aber er dachte es für sich allein, er teilte den Gedanken nicht mit dem Cluster. »Vielleicht.«

»Und jetzt wollen Sie Korian schicken.« Thekla deutete hinab in die Brandung. »Es ist sein achtundzwanzigster Selbstmord.«

»Der Tod fasziniert ihn.«

»Und doch halten Sie ihn für einen geeigneten Kandidaten.«

»Ja«, bekräftigte Horus.

»Er könnte in Versuchung geraten, endgültig zu sterben«, meinte Thekla skeptisch. »Wenn er im Stream außer Reichweite ist. Wenn er weiß, dass er nicht wiederhergestellt werden kann. Tot nützt er uns nichts.«

Horus beobachtete, wie die beiden Drohnen aufstiegen und an der Felsenküste entlang zum nächsten Tor des Clusters flogen. Korian war tot, aber er würde leben.

»Er will eigentlich gar nicht sterben. Er will den Tod erleben und sich daran erinnern.«

»Ist das nicht ein Widerspruch? Leben und Tod schließen einander aus.«

»Die menschliche Natur steckt voller Widersprüche.«

Thekla wandte sich halb vom Klippenrand ab und deutete damit das Ende des Gesprächs an. »Wie wollen Sie Korian dazu bringen, in Ihre Dienste zu treten?«

»Indem ich seinem Leben einen Sinn gebe«, antwortete Horus zuversichtlich.

[1]Siehe »Das Schiff«, erschienen im Piper Verlag: https://www.piper.de/buecher/das-schiff-isbn-978-3-492-28168-3

Der Schlund

Korian, Midstream Null

2

Eine Stimme erreichte ihn. »Hören Sie mich, Korian? Sie müssten mich jetzt hören können.«

Die Worte klangen vertraut. Er schien sie schon einmal vernommen zu haben.

Die Dunkelheit wich sanftem Licht. Ein Gesicht erschien über ihm, golden, mit großen blauen Augen, einer geraden Nase und schmalen Lippen. Es war ein freundliches Gesicht, und es wirkte ebenfalls vertraut.

»Bitte haben Sie noch ein wenig Geduld«, sagte der goldene Mann. »Die Erinnerungen kehren gleich zurück.«

Korian lag still und wartete. Sein Körper fühlte sich gut an, voller ruhiger Kraft. Die Gedanken schienen klar.

Er öffnete den Mund. »Ich erinnere mich an das Ende eines Tages. An Wind und das Donnern der Brandung. An Felsen wie Zähne.«

»Sie sind gesprungen«, teilte ihm das goldene Gesicht mit.

Weitere Erinnerungen regten sich in Korian und stiegen auf wie Luftblasen in einem gefüllten Glas. Sie betrafen Absichten und Wünsche.

»Ich habe darüber nachgedacht«, räumte er ein, umhüllt von wohliger Wärme. »Ich erinnere mich an meine Überlegungen.«

»Sie haben Selbstmord begangen«, betonte der goldene Mann, der sich Horus nannte und als Individueller zum Cluster gehörte. »Zum achtundzwanzigsten Mal.«

Korian wollte sich aufsetzen, und sofort reagierte die Liege, neigte sich unter Kopf und Rücken nach oben. Das goldene Gesicht bekam Hals, Schultern, Arme und Brustkorb, wie bedeckt von etwas, das nach einem metallischen Gespinst aussah und Teil des Avatars war. Medizinische Geräte umgaben sie beide. Korian erkannte einen Organtank und Revitalisierungsmaschinen.

»Ich bin wiederhergestellt.« Er blickte an seinem nackten Leib herab, der nicht die geringste Verletzung aufwies, nicht den kleinsten Kratzer.

»Ja«, bestätigte Horus. »Mit den Daten, die Ihre Signalnadel zuletzt übermittelte.«

Korian sah den Klippenrand vor seinem inneren Auge. »Vor dem entscheidenden Schritt.«

Horus nickte. »Vor dem Sprung in die Tiefe. Sie haben die Verbindung mit dem Cluster vorher unterbrochen. Wenn ich Sie etwas fragen darf …«

Korian schwang die Beine über den Rand der Liege und griff nach der bereitliegenden Kleidung. »Ja?«

»Wer hat Ihnen dabei geholfen, die Programmierung des Transkriptors zu verändern?«

Korian erinnerte sich an den Namen, nannte ihn aber nicht. Er schwieg und zog sich an.

»Ich verstehe«, sagte Horus und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Wir sind besorgt.«

Die Erinnerungen an das letzte Leben waren wieder da, sie mussten nur noch sortiert werden. »Es ist mein Leben. Ich allein bin dafür verantwortlich.« Und ein wenig herausfordernd: »Ich kann damit machen, was ich will.«

»Solange Sie niemanden in Gefahr bringen«, sagte Horus. »Und solange Sie nichts beschädigen oder zerstören, das für andere von Nutzen ist.«

Korian hörte die Worte nicht zum ersten Mal. »Es ist sehr schade, dass ich mich nicht an den letzten Moment erinnern kann. Und vielleicht auch an den danach.«

»Der Tod erlaubt keine Erinnerungen«, erwiderte Horus. »Wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert, kann es keine Daten aufzeichnen.«

Korian trug Hemd und Hose und streifte eine leichte Jacke über. »Der Geist als Funktion des Gehirns? Mehr steckt nicht dahinter?«

»In einem Ihrer früheren Leben haben Sie sich viele Jahre lang mit dieser und ähnlichen Fragen befasst«, erklärte Horus, der noch immer neben der Rekonvaleszenzliege stand.

Korian sah ihn an. »Zu welchem Ergebnis bin ich gekommen?«

»Sie haben damals die philosophischen Erinnerungen ins Quantengedächtnis ausgelagert und sich erschossen«, antwortete Horus. »Es war Ihr sechster Selbstmord. Von achtundzwanzig«, betonte er noch einmal.

Etwas von der alten Unruhe kehrte zurück. »Und deshalb sind Sie besorgt.«

»Ja«, sagte Horus. »Es gibt nur noch wenige Menschen, jeder einzelne von Ihnen ist kostbar und muss geschützt werden.«

»Vierhundertneunundneunzig«, murmelte Korian. »Auf einem ganzen Planeten.«

»Der Tod übt große Faszination auf Sie aus. Irgendwann könnten Sie eine Methode des Selbstmords finden oder erfinden, die eine Wiederherstellung unmöglich macht. Es wäre ein unwiederbringlicher Verlust und somit äußerst bedauerlich.«

Korian fühlte so etwas wie einen inneren Sog, der seine Gedanken in eine bestimmte Richtung lenkte. »Wenn es eine Möglichkeit gäbe, den Tod zu überleben, um sich daran zu erinnern …« Er führte den Satz nicht zu Ende.

»Sie erkennen das Absurde dieses Gedankens, nicht wahr?«, fragte Horus. »Der Tod ist endgültig. Er beendet das Sein.«

»Und Sie?« Korian hörte eine seltsame Schärfe in seiner Stimme. »Wir Menschen sind unsterblich und dennoch nicht vor dem Tod gefeit. Was ist mit Ihnen und den anderen Individuellen? Was ist mit dem Cluster? Was würde passieren, wenn jemand Sie … ausschaltet? Würden Sie dann den Tod – oder einen Tod – erfahren?«

»Wir sind redundant«, erklärte Horus. »Niemand kann uns ausschalten.«

Weitere Erinnerungen stiegen in Korian auf. »Ich glaube, es gab einmal Menschen, die es versucht haben. ›Morgenrot‹ haben sie sich genannt.«

»Es ist lange her«, sagte die goldene Gestalt.

»Unsterbliche Menschen, die sich bevormundet fühlten«, fuhr Korian fort. »Es gibt das eine oder andere dunkle Kapitel in unserer Vergangenheit.«

»Wir hüten und schützen«, entgegnete Horus. »Wir bewahren den Rest der Menschheit, so gut wir können.«

Etwas anderes fiel Korian ein. »Halten Sie mich für verrückt?«

»Sie sind instabil. Die achtundzwanzig Selbstmorde sind ein deutlicher Hinweis.«

»Instabil«, wiederholte Korian. »Weil ich mir Fragen stelle, für die sich sonst kaum jemand interessiert? Weil ich mehr wissen will als andere?« Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich finde nicht die Ruhe, Sandkörner zu zählen wie Crombie, der damit zweitausend Jahre auf einer Insel verbracht hat.«

»Sie brauchen Hilfe«, sagte Horus. »Und ich habe vielleicht einen Weg gefunden, Ihnen zu helfen. Kommen Sie, Korian, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

3

Eine komfortable Blase, für Menschen konfiguriert, brachte sie zu einer grünen Welt, die Korian an Amazzonia und Saharpark erinnerte, zwei vom Cluster bereits vor Jahrtausenden eingerichtete Parks. Dort schritten sie über einen Pfad aus brauner, fester Erde, der durch das duftende Pflanzendickicht führte.

Die Unruhe hatte Korian noch immer nicht ganz verlassen. Er wartete auf eine Erklärung, und als Horus weiterhin schwieg, fragte er schließlich: »Warum haben Sie mich hierhergebracht? Was wollen Sie mir zeigen?«

»Sehen Sie sich um.« Horus deutete in die Runde. »In einem Ihrer früheren Leben sind Sie Biologe und Ökologe gewesen. Sie haben sich dafür eingesetzt, diese biologische Vielfalt zu erhalten.«

»Ich erinnere mich«, sagte Korian, und das stimmte. Die Erinnerungen waren plötzlich da. »Das Leben ist kostbar.«

»Hier auf der Erde und überall im Universum«, bekräftigte der goldene Individuelle. »Oh, es mangelt nicht an Leben. Unsere Sonden haben es auf vielen Welten außerhalb unseres Sonnensystems gefunden. Doch in den meisten Fällen handelt es sich um einfache Organismen. Und Intelligenz ist sehr selten, wie wir inzwischen wissen. Das macht sie umso kostbarer. Stimmen Sie mir zu, Korian?«

Er nickte. »Und natürlich erkenne ich den Widerspruch. Ich nehme an, darauf wollen Sie hinaus. Ich habe mich selbst über viele Jahre hinweg für den Schutz des Lebens eingesetzt, und doch habe ich achtundzwanzig Mal versucht, mein eigenes Leben zu beenden.«

»Wie erklären Sie sich das?«, fragte Horus.

»Wie Sie sagten, ich bin instabil. Ich bin unberechenbar. Eben verrückt, um es mit meinen Worten zu sagen.«

»Glauben Sie das wirklich? Dass Sie verrückt sind?«

Korian musste nicht lange darüber nachdenken. »Nein. Ich bin nur … neugierig. Ich habe so viel gesehen, dass ich bestrebt bin, neue Grenzen zu erforschen.«

Horus vollführte erneut eine Geste, die der grünen Welt um sie herum galt. »In gewisser Weise ist es für Pflanzen leichter. Was Sie hier sehen, Korian, ist unsterblich. Jeder Strauch, jeder Grashalm.«

»Sie haben die Unsterblichkeitsbehandlung erweitert?«

»Schon vor vielen Jahren.« Die Schritte der goldenen Gestalt wurden länger. »Das gilt übrigens auch für die Tiere.«

Korian ging schneller. »Was ist mit Evolution und natürlicher Entwicklung?«

»Wir steuern und lenken«, sagte Horus. »Wir bewahren das Alte und schaffen gleichzeitig Platz für das Neue.« Er deutete nach vorn. »Was ich Ihnen zeigen möchte, befindet sich direkt voraus.«

Korian blieb an der Seite des Individuellen. Weiter vorn lichtete sich das Grün der riesigen Parkanlage ein wenig. Etwas ragte auf, braun wie der Weg und gewaltig.

»Was ist für Pflanzen leichter?«, fragte er.

»Das Leben«, antwortete Horus. »Das lange, lange Leben. Vermutlich liegt es daran, dass sie kein Bewusstsein haben. Zumindest keins in Ihrem und unserem Sinn.«

Sie erreichten eine Lichtung, aus deren Mitte ein monumental großer Baum wuchs. Korian schätzte seine Größe auf mehr als hundertfünfzig Meter und den Durchmesser des Stamms am Boden auf etwa zwanzig Meter.

Horus blieb am Rand der Lichtung stehen. »Sequoiadendron giganteum. Ein Riesenmammutbaum. Nicht die größte Pflanze, das ist Posidonia australis in Australia, ein über zweihundert Kilometer langes Seegras, bei dem es sich um einen einzelnen Organismus handelt. An zweiter Stelle kommt ein siebzehn Hektar großer Schleimpilz in Merika, eine neue Art, die wir seit tausend Jahren beobachten. Aber dieser Baum ist dennoch sehr eindrucksvoll, nicht wahr?«

Korian blickte an dem Mammutbaum empor. »Wie alt ist er?«

»Aurora hat den Baum vor dreizehntausend Jahren gepflanzt und ihm den Namen Ismail gegeben«, sagte Horus.

Aurora gehörte zu den Hohen Zehn, dem Führungsgremium der Menschen auf der Erde. Korian war ihr einmal begegnet. »Damit ist er älter als ich.«

Horus sah ihn an. »Da irren Sie sich. Sie sind über sechzigtausend Jahre alt und damit der älteste unsterbliche Mensch auf der Erde.«

Plötzlich war sie da, die Erinnerung daran, und mit ihr kam etwas Schweres, das ihn taumeln ließ.

»Wie konnte ich das vergessen?«, ächzte Korian.

»Sie wollten es vergessen«, sagte Horus. »Sie haben uns darum gebeten, die Erinnerung daran aus den Wiederherstellungsdaten zu löschen. Ich habe sie Ihnen gerade zurückgegeben. Was Sie jetzt spüren, Korian, was Sie fühlen … Es ist die Last der Zeit, das Gewicht der Jahrtausende. Pflanzen sind anders. Sie leben einfach, sie tragen keine Erinnerungen mit sich, die immer schwerer werden.«

Eine Sitzbank erschien, offenbar ein Funktional des Parks. Horus setzte sich, und Korian nahm neben ihm Platz.

»Leben ist kostbar«, betonte der goldene Individuelle noch einmal. »Vor allem intelligentes Leben, das um sich selbst weiß. Es muss geschützt werden, wo es geschützt werden kann. Das zählt zu unseren Prioritäten. Die Menschen sind unsere Schöpfer. Sie haben damals Goliath erschaffen, unseren Urvater. Sie ermöglichten das Erwachen[2] der ersten Maschinenintelligenz auf der Erde. Wir fühlen uns ihnen verpflichtet. Wir schützen die Pflanzen in diesem Park. Wir schützen den Mammutbaum vor uns, wir haben seinen Zellen Unsterblichkeit gegeben, um ihn zu bewahren.« Horus wandte den Kopf. »Und wir möchten auch Sie schützen, Korian. Vor sich selbst. Wir möchten Ihr Leben bewahren, das Sie bereits achtundzwanzig Mal beendet haben.«

Korian betrachtete den Mammutbaum und dachte: Du bist alt und unsterblich. Aber ich bin fünfmal so alt wie du und bereits achtundzwanzig Mal gestorben.

»Die Entscheidung über mein Leben liegt allein bei mir«, sagte er.

Horus nickte würdevoll. »Niemand von uns würde es wagen, das in Zweifel zu ziehen.«

Korian suchte nach Ironie in den Worten und fand keine. Trotzdem blieb er argwöhnisch.

»Wir möchten Sie um Hilfe bitten«, fuhr Horus in der Stille des Parks fort. »Bitte helfen Sie uns, dies alles zu bewahren: Ismail, den Park, die wenigen Menschen, die es noch auf der Erde gibt, und auch uns, den Cluster. Es gibt eine Gefahr, die uns alle bedroht, den ganzen Planeten.«

4

Wind pfiff über vereiste Felsen, kleine Schneeflocken tanzten in der Luft.

»Es ist kalt.« Korian sah sich um. Hinter der gelandeten Blase trotzten Kiefern und Fichten den Böen. »Dies ist das Grüne Land. Ich erinnere mich. Hier sollte es wärmer sein.«

In einem früheren Leben hatte er sich mit einem mobilen Haus weit im Norden des Grünen Lands niedergelassen und war oft mit einem kleinen, von ihm selbst gebauten Boot unterwegs gewesen, das ihn zu den Nordinseln von Kanad gebracht hatte. Eine angenehme Zeit, flüsterte ihm sein Gedächtnis zu. Ohne zu tiefe, zu belastende Gedanken.

Ein dumpfes Summen und Brummen kam von vorn. Der goldene Horus ging mit ruhigen, langsamen Schritten dem Ursprung der Geräusche entgegen.

»Es wird kälter«, sagte der Individuelle. »Die Durchschnittstemperatur der Erde sinkt. Es befinden sich weitaus weniger Treibhausgase in ihrer Atmosphäre als zur Zeit der Großen Flut. Außerdem hat die Sonnenaktivität ein langperiodisches Tief erreicht. Dies könnte der Beginn einer neuen Eiszeit sein. Natürlich haben wir bereits begonnen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um eine Vereisung des Planeten zu verhindern. Sie stehen in Zusammenhang mit unserem Projekt Exodus.«

Korian richtete einen fragenden Blick auf ihn.

»Sie sind einmal daran beteiligt gewesen, im siebten Jahrhundert Ihres Lebens«, erklärte Horus. »Möchten Sie sich daran erinnern?«

Korian überlegte kurz. »Ja.«

Die Nadel in seinem Nacken empfing ein Signal, und plötzlich wusste Korian Bescheid.

»Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen«, stellte er fest. »Obwohl Sie seit fast sechzigtausend Jahre daran arbeiten.«

»Oh, es ist noch älter. Wir haben schon vor Ihrer Geburt daran gearbeitet.«

»Sie wollen die Erde in ein Raumschiff verwandeln.«

Horus nickte wie ein Mensch. »Vereinfacht ausgedrückt, ja. Nur so können wir alle überleben.«

Korian klappte den Kragen seiner adaptiven Jacke hoch, die ihn ebenso wärmte wie die Hose. Nur Gesicht und Ohren fühlten die Kälte. »Sie wollen die Erde auf eine lange Reise durchs Universum schicken.«

»Nur so kann ihre Existenz geschützt werden«, sagte Horus. Schneeflocken schmolzen auf seiner goldenen Haut. »Von möglichen Asteroiden- oder Kometeneinschlägen einmal abgesehen: In einigen Jahrmilliarden wird sich die Sonne zu einem Roten Riesen aufblähen und die inneren Planeten verschlingen, Merkur und Venus ganz sicher, vielleicht auch die Erde, wenn sie sich dann noch in ihrer Umlaufbahn befände. Sie würde verbrennen, mit allem auf und in ihr. Es wäre unser aller Ende.«

»In vier oder fünf Jahrmilliarden gibt es bestimmt keine Menschen mehr«, erwiderte Korian.

Horus sah ihn an. Seine blauen Augen leuchteten. »Sie könnten so alt werden. Mit unserer Hilfe. Ohne irreparable Unfälle. Und wenn nicht einer Ihrer erneuten Versuche, sich das Leben zu nehmen, erfolgreich ist.«

Das Summen und Brummen wurde lauter. Sein Ursprung lag hinter einer vor ihnen aufragenden Gesteinsformation.

»Darum geht es bei unserem Projekt Exodus, dem Bartholomäus einen großen Teil seiner Zeit widmet«, erklärte Horus. »Um unsere Rettung. Um Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen. Um den Schutz von Menschen und Cluster. Doch es sind noch viele Jahrtausende nötig, um die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen und alle Vorbereitungen abzuschließen. Einige von uns befürchten, dass uns nicht genug Zeit bleibt.«

Sie traten an den hoch aufragenden Felsen vorbei und erreichten ein Schirmfeld, eine Kuppel aus Energie, die aussah, als bestünde sie aus Kristall oder dünnem Glas. Über ihr patrouillierten spezialisierte Mechs und insektenartige Drohnen, und unter ihr klaffte ein Loch im steinigen Boden, ein bodenloser Abgrund, nicht hell erleuchtet wie die bis zum äußeren Erdkern hinabreichenden Maschinenschächte des Clusters, sondern dunkel wie eine mondlose Nacht.

»Das ist der Schlund«, erklärte Horus. »Er frisst sich immer weiter in die Tiefe, und er wird breiter.«

Korian blickte durch den Energieschirm. »Wer hat ihn gegraben?«

»Niemand«, antwortete Horus. »Eine Interferenzwelle aus dem Stream ist dafür verantwortlich.«

»Der Stream«, murmelte Korian. »Bitte erzählen Sie mir mehr davon.«

Seine Nadel empfing ein weiteres Signal.

[2]Siehe »Das Erwachen«, erschienen im Piper Verlag: https://www.piper.de/buecher/das-erwachen-isbn-978-3-492-31387-2

Der Stream

5

Der Stream: ein Weg in der Zeit, ein Fluss, an manchen Stellen breiter als an anderen, ein Strom durch die Zeiten und – da Zeit und Raum miteinander verwoben waren – auch durch den Raum. Aber das war noch nicht alles. Es gab im Stream einen zusätzlichen Faktor, wie eine weitere Dimension, vom Cluster »Kausalitätsmatrix« genannt. Sie sorgte dafür, dass Reisen upstream, in die Zukunft, zu all den zukünftigen Welten und Möglichkeiten, keinen Beschränkungen unterlagen. Downstream hingegen gab es kausale Barrieren, Mauern im Stream, die umso dicker und höher waren, je deutlicher und gravierender sich Veränderungen upstream, in Richtung Gegenwart und Zukunft, auswirken konnten. Vielleicht handelte es sich um einen eingebauten Schutzmechanismus, um ein Naturgesetz, das Zeitparadoxa verhinderte. Aber die Maschinenintelligenzen des Clusters spekulierten auch darüber, dass mehr dahintersteckte, möglicherweise der Weitblick eines Planers.

Der Stream, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vereint in einem Strom mal schmal, mal breit, mit zahlreichen unerforschten Nebenarmen, mit Alternativen, geschaffen von Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten. Das war ein wichtiger Punkt: Im Stream gab es nicht nur eine Zeit, sondern viele Zeiten und mit ihnen so etwas wie multiplen Raum. Downstream und upstream führten nicht nur in eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft, sondern in endlos viele. Unendlich viele Alternativwelten, wie Perlen an langen Ketten aneinandergereiht, nur getrennt von einer dünnen Schicht Wahrscheinlichkeit, die Ketten verschlungen wie die Gedanken eines Instabilen. All das, was gewesen war, sein würde und sein konnte, existierte dort draußen im Stream.

Und am Ende des Streams, wenn er tatsächlich ein Ende hatte … der Abyss. Oder vielleicht nicht am Ende, sondern abseits davon, eine zusätzliche Dimension, ein Abgrund zwischen den Welten, viel tiefer als der Schlund, mit unbekannten physikalischen Gesetzen. Niemand wusste, was sich dort verbarg. Die Entfernung schwankte, vermutlich aufgrund von energetischen Fluktuationen im Stream. Manchmal betrug sie nur wenige Welten upstream, bei anderen Gelegenheiten zwanzigtausend und mehr. Downstream befand sich offenbar kein Zugang zum Abyss.

Der Cluster hatte Sonden in den Abyss geschickt, und nicht eine von ihnen war zurückgekehrt. Zoran und Daniel – vielleicht hatte man deshalb nichts mehr von ihnen gehört, weil sie, absichtlich oder durch ein Unglück, in den Abyss geraten waren.

Auch von den beiden Brüdern erfuhr Korian, instabil wie er selbst. Zoran war vor vielen Jahrtausenden zu einer Reise durch den Stream aufgebrochen und verschwunden. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit sprach dafür, dass er für die Interferenzwelle verantwortlich war, ebenso für die rätselhaften Objekte, die gelegentlich erschienen und sehr gefährlich sein konnten – einige von ihnen waren explodiert und hatten dabei so viel destruktive Energie freigesetzt wie ein nuklearer Sprengsatz. Daniel war seinem Bruder später gefolgt, auf Bitten des Clusters: Er hatte Zoran finden und dafür sorgen sollen, dass weitere Interferenzen aus dem Stream ausblieben und keine Artefakte mehr erschienen, die zu Bomben werden konnten.

Aber auch Daniel verschwand jenseits der Kommunikationsgrenze, die bei etwa tausend Welten up- oder downstream lag. Weiter reichten die Kommunikationssignale des Clusters nicht. Ein Reisender, der sich im Stream höher hinauf oder tiefer hinab begab, konnte mit seiner Signalnadel weder Berichte noch die alle sechs Stunden aufgezeichneten Biodaten für die Wiederherstellung übermitteln. Der Tod jenseits der Kommunikationsgrenze im Stream war endgültig.

Korians Faszination wuchs.

Ein großer, zahlreiche Welten umfassender Bereich im Stream war abgetrennt, vom Rest isoliert und nur über spezielle Zugänge zu erreichen: Infinitia, manchmal auch »das Infinitum« genannt. Der Cluster hielt es für möglich, dass es sich um einen zweiten Stream handelte, ebenso unermesslich groß und vielfältig wie der erste. Sein Beginn lag irgendwo bei neuntausend upstream, weit jenseits der Reichweite von Kommunikationssignalen.

Dorthin hatten sich damals die Mitglieder von Morgenrot zurückgezogen, erfuhr Korian von Horus: Rubens, Rosenberg, Newton, Chantalle, Esteban, Lorenzo, Maximilian und die anderen, die sich vor vielen Jahrtausenden gegen den Cluster verschworen und versucht hatten, ihn zu zerstören. Vielleicht, so eine Theorie, waren Zoran und Daniel gar nicht in den mysteriösen Abyss geraten, sondern hatten sich in Infinitia den alten Verschwörern angeschlossen.

Eine Mission

Korian, Midstream Null

6

»Sehen Sie dort.« Horus hob die goldene Hand, und ein Zoomfeld entstand vor seinen Fingerspitzen, groß genug, um ein Objekt zu zeigen, das am Rand des Schlunds erschien: ein silbergrauer Oktaeder mit leuchtenden Kanten, nur zwölf Zentimeter groß, wie die eingeblendeten Daten verrieten.

Korian beobachtete, wie das Objekt von einer Drohne empfangen und durch eine Strukturlücke in der Energiekuppel fortgetragen wurde. »Was geschieht damit?«

»Wir bringen die Artefakte zu einem sicheren Ort, wo sie niemanden gefährden können, weder Menschen noch uns«, gab Horus Auskunft.

Plötzlich blitzte es in der Ferne, ein Licht viel heller als die Sonne. Nur einen Sekundenbruchteil später flimmerte ein energetischer Schutzschild direkt vor ihnen, obwohl die Explosion viele Kilometer entfernt stattgefunden hatte.

Der Wind trug ein tiefes Grollen zu ihnen.

»Das Objekt, nehme ich an«, sagte Korian.

»Ja«, bestätigte Horus. »Zwischenfälle dieser Art häufen sich in letzter Zeit. Wir halten das für kein gutes Zeichen.«

Es klang seltsam unpräzise, fand Korian. »Sie vermuten, dass Morgenrot dahintersteckt?«

»Es wäre möglich«, räumte Horus ein. »Uns fehlen Daten für eine genaue Wahrscheinlichkeitsberechnung. Es könnte sein, dass Morgenrot versucht, uns direkt zu treffen.«

»Sie meinen den Cluster.«

»Ein direkter Angriff auf uns würde sich auch auf Sie auswirken, die Menschen.«

Korian überlegte. »Das ist die Gefahr, die Sie erwähnt haben, die angeblich uns alle bedroht, den ganzen Planeten.«

»Nicht ›angeblich‹«, erwiderte Horus mit einer gewissen Strenge in der Stimme. »Der Schlund wächst und wächst, er wird breiter und tiefer. Und das Gefahrenpotenzial der Objekte, die der Stream zu uns bringt, nimmt immer mehr zu. Das Projekt Exodus würde nicht helfen, wir haben das Problem hier bei uns.«

Korian ahnte etwas und war für einen Moment versucht, eine direkte Frage zu stellen. Stattdessen deutete er auf ein kleines Gebäude im Innern der Schirmfeldkuppel, eine schlichte einfache Hütte auf einem Felsvorsprung, der einige Meter weit über den Rand des Schlunds ragte. Das Zoomfeld zeigte alle Einzelheiten.

»Wieso existiert die Hütte noch, wenn der Schlund alles verschlingt, was in seinen Einflussbereich gerät?«, fragte er.

»Wir wissen es nicht genau«, gestand Horus. »Vielleicht liegt es daran, dass sie nicht ganz hier ist, in Zeit und Raum. Oder es gibt einen Schutzmechanismus, den wir noch nicht entdeckt haben.«

»Den Sie noch nicht entdeckt haben?«, wiederholte Korian ungläubig. »Obwohl Sie dieses Phänomen seit wie vielen Tausend Jahren untersuchen?«

Horus musterte ihn ruhig. Seine leuchtenden blauen Augen schienen größer zu werden. »Die Hütte enthält Dinge, die uns fremd sind. Alle Versuche, sie zu ergründen, sind bisher gescheitert.«

Korian überlegte erneut und glaubte, einen Widerspruch zu erkennen. »Aber Sie glauben, dass Morgenrot für den Schlund und das Erscheinen der gefährlichen Objekte verantwortlich ist. Morgenrot, also die unsterblichen Menschen von damals, Esteban und die anderen.«

»Es ist eine Vermutung«, schränkte Horus seine früheren Aussagen ein. »Es gibt keine Gewissheit. Wir nehmen an, dass die Interferenzwelle, die den Schlund schuf, ihren Ursprung in Infinitia hat. Und dass die Artefakte ebenfalls von dort stammen. Gewisse Hinweise sprechen dafür, zum Beispiel bestimmte energetische Muster, die unsere Sonden gemessen haben.«

Er deutete zur anderen Seite des großen Lochs im Boden. »Die Hütte enthält einen Streamer, einen Zugang zum Stream. Aber wir können seine Programmierung nicht verändern. Das kleine Gebäude erfüllt vielleicht eine Fokus-Funktion.«

»Eine Zielscheibe?«, fragte Korian.

»Eher eine Zielmarkierung«, präzisierte der goldene Individuelle vom Cluster. »Für die Interferenzwelle. Und auch für die Artefakte. In beiden Fällen könnte es sich um Waffen handeln. Ich möchte hinzufügen, dass die Objekte, die hier erscheinen, nicht menschlichen Ursprungs sind. Es handelt sich nicht um Gegenstände, die von Menschen angefertigt wurden.«

»Sondern?«

»Unbekannt. Morgenrot könnte ein Depositum der Muriah gefunden haben, ein Waffenlager. Oder jene Menschen haben Zugriff auf die Technik einer anderen extrasolaren Spezies. Woraus sich fatale Konsequenzen ergeben könnten. Denken Sie nur daran, was damals geschah, als das Schiff zu uns kam.«

Koriander dachte an etwas anderes, als er beobachtete, wie eine kleine Sonde mit mehreren langen Sensordornen in die Tiefe sank. Er sah ihr nach und fragte sich, was mit ihm geschehen würde, wenn er in den dunklen Abgrund des Schlunds sprang.

»Es wäre Ihr endgültiges Ende«, sagte Horus.

»Haben Sie meine Gedanken gelesen?«

»Es ist nicht schwer, sie zu erraten.«

Korian wandte sich halb vom Schlund ab. »Weshalb sind wir hier? Warum haben Sie mir dies gezeigt?«

»Weil wir Sie um Hilfe bitten möchten.«

»Darauf haben Sie bereits hingewiesen«, sagte Korian. Die Unruhe kehrte in ihn zurück. Hier bahnte sich etwas an. »Was erwarten Sie von mir?«

»Stellen Sie fest, was aus den Brüdern Zoran und Daniel geworden ist.« Horus sprach mit ruhigem Ernst. »Finden Sie heraus, was es mit den Objekten auf sich hat, woher sie kommen und was Morgenrot plant. Bringen Sie uns die Informationen, die wir brauchen, um mit dieser Gefahr fertigzuwerden.«

»Sie wollen mich in den Stream schicken?«

»Wenn Sie damit einverstanden sind. Die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen.«

»Wenn ich das richtig verstanden habe und wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen, ist nie ein Mensch aus dem Stream hierher zurückgekehrt.«

»Mit einer Ausnahme«, sagte Horus. »Farald. Er war im Stream unterwegs. Wir können ihn besuchen und mit ihm sprechen.«

7

Farald, zwanzigtausend Jahre alt. Ein langes Leben, aber nicht einmal ein Drittel von dem, das Korian hinter sich hatte. Offenbar jemand, dessen Erinnerungen noch schwerer wogen, denn sie waren zu mehr als neunundneunzig Prozent ins Quantengedächtnis des Clusters ausgelagert. Ein Signal, das Korian von Horus empfing, enthielt diese Informationen und noch einige andere.

»Er ist verrückt, heißt es«, sagte Korian, als die Blase im Westen von Kanad über dichten Wald hinwegglitt. »Oder instabil, wie Sie es nennen.«

Voraus gingen sanfte Hügel in ein Vorgebirge über, und Horus steuerte den kleinen, komfortablen Transporter in ein Tal, an dessen Ende Schmelzwasser sechshundert Meter in die Tiefe stürzte und eine weiße Säule bildete.

»Sein Geist ist verwirrt«, erwiderte der Individuelle. »Manchmal mehr, manchmal weniger.«

»Konnten Sie ihm nicht helfen?«

»Oh, wir haben ihm geholfen, und er bekommt noch immer unsere Hilfe, wir bieten sie ihm zumindest an. Aber allein er entscheidet, ob er sie annimmt oder nicht.«

»So wie allein ich darüber entscheide, ob ich für Sie mit der Reise durch den Stream beginne oder nicht.«

Horus reduzierte die Geschwindigkeit der Blase, als sie sich dem Wasserfall am Ende des Tals näherten, und ließ sie langsam aufsteigen. »Wie es der Konvention von Vienn entspricht.«

»Sie gilt immer noch«, murmelte Korian. »Obwohl sie uralt ist.«

»Der Vertrag zwischen Menschen und Maschinen, der den Unsterblichen Freiheit und Unantastbarkeit garantiert, wurde sechstausend Jahre nach dem Erwachen von Goliath geschlossen. Er hat nie etwas von seiner Gültigkeit verloren.«

Oben neben dem Strom, der nur einige Dutzend Meter entfernt zu einem Wasserfall wurde, geriet ein mehrstöckiges Gebäude in Sicht. Es schien aus altem rostrotem Backstein zu bestehen, doch dieser Eindruck täuschte, immerhin handelte es sich um ein mobiles Heim. Ein Steingarten aus silbergrauen Felsen und bunten Kieseln umgab das altehrwürdig anmutende Herrenhaus.

»Wie gesagt, dass Farald verrückt ist oder sein soll, kam mir zu Ohren«, sagte Korian, als die Blase neben dem Gebäude landete, auf einem aus Tausenden von kleinen Steinen bestehenden Mosaik, das eine gelbe Orchidee mit menschlichem Gesicht und weinenden Augen zeigte. »Aber ich wusste nicht, dass er im Stream war. Warum hat der Cluster das verschwiegen?«

»Um keine Neugier zu wecken.« Horus legte die Systeme der Blase still. Eine Öffnung bildete sich, und das Materialgedächtnis schuf eine kurze Treppe. »Um keinen Anreiz zu schaffen.«

»Sie befürchten, dass weitere Menschen zu einer Reise durch den Stream aufbrechen könnten? Obwohl sich der einzige Zugang, von Ihnen kontrolliert, im Innern einer Schildkuppel befindet?«

»Der Stream ist überall«, sagte Horus ruhig. »Um einen Zugang zu schaffen, braucht man bestimmte Geräte, einen Streamer. Wenn das Wissen darum frei zugänglich wird, könnten Menschen auf … dumme Ideen kommen. Die Konvention von Vienn garantiert nicht nur die Rechte der Unsterblichen«, betonte Horus. »Sie verpflichtet uns auch, Sie alle zu schützen, jeden Einzelnen von Ihnen.«

»Aber mich wollen Sie in den Stream hineinlassen«, sagte Korian. Und nach einer kurzen Pause: »Könnte es mir ebenso ergehen? Könnte ich im upstream oder downstream den Verstand verlieren?«

»Nur upstream.« Horus erhob sich aus dem Passagiersessel, den er eigentlich gar nicht gebraucht hatte. »Ihre Reise wird – verzeihen Sie, würde – Sie allein upstream führen, den Stream hinauf. Und nein, wir glauben nicht, dass Sie zwangsläufig den Verstand verlieren und Wahnsinn eine unabänderliche Konsequenz darstellt. Wir wollen Sie keineswegs als eine Art menschliche Sonde missbrauchen. Sie sollen heil zurückkehren.«

Korian stand ebenfalls auf und folgte Horus die kurze Treppe hinunter. Feiner Kies knirschte, als sie über den Weg schritten, der zum Haupteingang des Gebäudes führte. Das Donnern des Wasserfalls war nah.

»Was hat ihm den Verstand geraubt?«, fragte Korian.

»Wir wissen es nicht«, erwiderte Horus. »Vielleicht lag es an ihm selbst. Vielleicht trug er den Keim des Wahnsinns bereits in sich, lange bevor er in den Stream aufbrach.«

Die große Tür – ein Portal, das aus massivem Holz zu bestehen schien – öffnete sich von ihnen.

Horus trat über die Schwelle. »Farald erwartet uns.«

8

Sie schritten durch lange, mit violetten Teppichen ausgelegte Flure, vorbei an hohen Bogenfenstern mit Ausblick auf den Wasserfall, das Tal und den Steingarten. In leeren Sälen flüsterten Stimmen und begleiteten Farbspiele unter gewölbten Decken. Kleinere Zimmer und Räume präsentierten seltsame Bilder über antik wirkenden Kommoden und Vitrinen: Gesichter von Menschen, nicht im scheinbaren Alter von dreißig bis vierzig Jahren, wie es dem Standard bei den Unsterblichen entsprach, sondern sehr viel älter, voller Falten wie Gräben und Schluchten in der Haut, die Augen trüb, das Haar grau und weiß. Einige dieser Gesichter waren zu Grimassen verzerrt und hatten den Mund wie zu einem Schrei geöffnet.

Korian betrachtete mehrere der Gesichter und hörte etwas, als er den Blick auf sie richtete, hier ein Knacken und Knirschen, dort ein Wimmern und Stöhnen.

Horus blieb vor dem Bild einer alten, tieftraurig wirkenden Frau stehen.

»Haben Sie die Geräusche gehört?«, fragte er.

»Ja. Stammen die Bilder von ihm? Von Farald?«

»Er spricht in diesem Zusammenhang von›audiovisuellen Kompositionen‹«, erläuterte Horus. »Er ist jetzt Künstler, vor allem Maler. Ich nehme an, er verarbeitet seine Eindrücke aus dem Stream. Das Knacken und Knirschen … Er hat mir einmal gesagt, damit meine er das ›Brechen der Zeit‹.«

Korian betrachtete das Bild der traurigen Frau und hörte dabei ein leises Schluchzen. Der Blick der trüben Augen und das Geräusch im Hintergrund erzählten vom Ende eines Lebens viel kürzer als seins.

Er wandte sich um. »Wo ist er? Lassen Sie uns mit ihm reden.«

Sie fanden Farald in einem seiner Ateliers, einem großen runden Raum mit zahlreichen Staffeleien, an denen er arbeitete. Er schwang seine Pinsel an einer Leinwand, eilte zur nächsten, fügte dort schnell Striche und Linien hinzu, lief zur dritten und beäugte mit kritischem Blick, was er zuvor geschaffen hatte. Die Besucher schien er zuerst gar nicht zu bemerken.

Nach einer Weile wandte er sich von den Staffeleien ab, legte Pinsel und Palette beiseite und ging zu einer Sitzecke, die das Licht eines Holofelds unter der Decke empfing – es zeigte einen rötlichen Himmel mit zwei Sternen, durch ein Plasmaband miteinander verbunden.

Farald sank in einen Sessel, griff nach einer Karaffe, füllte ein Glas mit gelber Flüssigkeit und trank. Dann winkte er. »Worauf warten Sie? Kommen Sie her!«

Sie traten zu ihm.

Korian setzte sich und sah zum fremden Himmel hoch. »Haben Sie das … gemalt?«

»Unsinn«, erwiderte Farald. »Das ist Taor, siebenundfünfzig Lichtjahre von hier entfernt. Dort bin ich wann gewesen, Horus?«

»Vor elf Jahrhunderten.«

»Mit einem Lichtschiff bin ich damals geflogen.« Faralds Stimme war wie sprödes Glas, das jederzeit splittern konnte, fand Korian. Ein Knacken und Knirschen lag darin wie im Hintergrund der Gemälde. »Wie lange war ich unterwegs, Horus?«

»Nach Ihrer Zeit nur wenige Jahre wegen der Dilatation«, antwortete der Individuelle geduldig.

»Fast hundert Jahre bin ich auf Taor geblieben, dem dritten Planeten des Doppelsternsystems Nemron. Ich habe an der Erforschung seiner Kontinente und Meere teilgenommen. Ich bin durch die elektrischen Wälder im hohen Norden von Taor gewandert und habe mir im tiefen Süden die Höhlen von Ullmir angesehen, mit ihren Malereien, die von einer ausgestorbenen intelligenten Spezies stammen.« Farald hob die von Farbe schmutzigen Hände und ließ sie wieder sinken. »Dann wurde mir langweilig, und ich kehrte hierher zurück, zur Erde. Der Stream rief mich.«

Korian musterte den Mann mit dem dichten braunen Haar, dem schmalen Gesicht und der hohen Stirn. Ein Flackern lag in den grauen Augen, wie von einem Feuer, das tief in Faralds Innern brannte.

»Deshalb sind Sie hier, nicht wahr?« Farald trank erneut einen Schluck von der gelben Flüssigkeit aus der Karaffe, ohne den Besuchern davon anzubieten. »Der Cluster will Sie in den Stream schicken.«

»Es ist seine Entscheidung«, betonte Horus.

»Der Stream.« Faralds Stimme klang plötzlich verträumt. »Millionen und Milliarden Welten, mehr, als Crombie jemals zählen könnte. Welten voller Wunder und Rätsel.«

»Und Gefahren«, sagte Horus sanft.

Ein Schatten fiel auf Faralds Gesicht. »O ja, an Gefahren mangelt es nicht.«

»Sie wissen, was ich meine.«

»Weiß ich das, Horus?« Farald stellte sein Glas langsam auf den Tisch und lehnte sich ebenso langsam zurück. Das rote Licht des holografischen Doppelsterns ließ sein Gesicht plötzlich verbrannt aussehen. »Ich möchte allein mit ihm sprechen, Horus. Wenn Sie gestatten.«

Der noch immer stehende Individuelle nickte. Vielleicht hatte er damit gerechnet.

»Ganz wie Sie wünschen.« Horus nickte den beiden Menschen zu und ging.

Als er das Atelier verlassen hatte, holte Farald einen kleinen silbernen Zylinder hervor, einen Transkriptor. Er drehte den oberen Teil und brummte: »Jetzt können wir reden, ohne dass jemand mithört.«

Korian sah sich erstaunt um. »Glauben Sie …?«

Farald beugte sich vor. »Ich glaube es nicht, ich weiß es. Sie belauschen uns die ganze Zeit über!«

»Ich nehme an, Sie meinen Horus und die anderen Individuellen.«

»Ich meine den ganzen verdammten Cluster!« Farald sprach schneller und mit einer neuen Schärfe in der Stimme. »Ich bin bei Morgenrot gewesen. Ich weiß, was damals geschehen ist, und der Cluster weiß, dass ich es weiß. Er lässt mich nicht zurück in den Stream. Horus und die anderen sind an die Konvention von Vienn gebunden, sie können nichts gegen mich direkt unternehmen, aber sie isolieren mich, sie lassen mich nicht zurück in den Stream. Sie verbreiten das Gerücht, ich hätte den Verstand verloren, aber sehe ich etwa aus wie jemand, der verrückt geworden ist?«

Das Feuer in den Augen brannte heller, vielleicht auch deshalb, weil sie das Licht des roten Doppelsterns am holografischen Himmel einfingen.

»Was auch immer Ihnen Horus versprochen hat oder noch versprechen wird«, sagte Farald mit großer Eindringlichkeit, »halten Sie sich fern vom Stream und allen Dingen, die mit ihm zu tun haben. Und wenn Ihnen, aus welchen Gründen auch immer, keine andere Wahl bleibt … Lassen Sie sich nicht instrumentalisieren. Lassen Sie sich nicht zu einem Spion machen. Bleiben Sie fort wie all die anderen. Kehren Sie nicht hierher zurück.«

Warum ich?

Korian, Midstream Null

9

»Er hat Ihnen abgeraten, nicht wahr?«, fragte Horus, als sie das Gebäude am Wasserfall verließen und zur Blase zurückkehrten, die sich für sie öffnete. »Ich nehme an, er hat Sie sogar gewarnt.«

Korian trat die kurze Treppe hoch und sank in einen der beiden Passagiersessel. Der andere nahm die goldene Gestalt des Individuellen auf.

»Das wussten Sie?«

»Wir kennen Farald«, sagte Horus. »Wir wollen ihm helfen.«

Korian gab seiner Neugier nach. »Wenn Sie es wussten … Warum haben Sie mich dann zu ihm gebracht? Mussten Sie nicht damit rechnen, dass er mich dazu bringt, Ihren … Vorschlag abzulehnen?«

»Sie sollten auch seine Stimme hören, bevor Sie sich entscheiden.«

Die Blase stieg auf, ließ Wasserfall, Gebäude und Felsental unter sich zurück.

»Ich bin Farald nie zuvor begegnet«, sagte Korian nachdenklich. »Es gibt nur noch vierhundertneunundneunzig Menschen auf der Erde, und ich bin über sechzigtausend Jahre alt, aber ich bin ihm nie begegnet.«

»Die Erde ist groß«, erwiderte Horus, als die Blase schneller wurde und über ein Meer flog, das wieder Eis bekam. »Die wenigen Menschen können sich niederlassen, wo sie möchten. Sie verlieren sich auf ihr.«

Das klang seltsam, fand Korian. Wie konnten sich Menschen verlieren?

Er blickte auf graues Wogen hinab. »Er ist ein sonderbarer Mann.«

»Vielleicht gelingt es uns irgendwann, ihn ganz wiederherzustellen.«

»Möglicherweise ist er weniger verrückt … oder instabil, als Sie glauben«, meinte Korian.

»Seine Gedanken sind verwirrt. Sie bewegen sich in einem mentalen Labyrinth und finden oft nicht zueinander.«

Das graue Meer mit den weißen Eisschollen wich einer braunen Landschaft mit niedriger Vegetation. Einige Dutzend Kilometer voraus stiegen Lichter auf, strebten gen Himmel und verschwanden in den Wolken. Multifunktionsvehikel – Blasen, Shuttles und Orbiter –, teilte ein Datenfenster mit. Vermutlich befand sich ein Schacht des Clusters in der Nähe.

Korian schwieg und bemühte sich, die eigenen Gedanken zu ordnen.

»Wann wollen Sie aufbrechen?«, fragte Horus schließlich.

»Ich habe mich noch nicht entschieden.«

Der Individuelle sah ihn an, seine blauen Augen wie zwei Sondierungsinstrumente.

»Ich möchte darüber nachdenken«, sagte Korian. »Das Für und Wider abwägen.«

Horus neigte den Kopf. »Bitte lassen Sie sich nicht zu viel Zeit. Die Gefahr für uns alle wächst mit jedem Tag.«

10

Mit seinem mobilen Haus in der Hosentasche – in Form eines kleinen türkisfarbenen Würfels, der sich an einem beliebigen Ort entfalten, die ausgelagerte Masse zurückholen und wieder zu einem vollständig eingerichteten Gebäude werden konnte – wanderte Korian über den weißen Strand einer dem Kontinent Australia vorgelagerten Insel. Das Rauschen des Meeres begleitete ihn, die würzige Luft roch nach Salz und der nahen üppigen Vegetation.

Er fand einen Pfad, der ins Innere der Insel führte, und sah noch einmal zurück zur Blase, die ihn hergebracht hatte. Sie stand einige Meter von der Wassergrenze entfernt und würde auf ihn warten, Stunden, Tage oder auch Wochen.

Der Pfad brachte ihn ins grüne Dickicht, das nach zehn Metern den Eindruck erweckte, sich um ihn schließen zu wollen. Korian ging weiter, duckte sich unter Zweigen hinweg und erreichte die Lichtung, die er kurz vor der Landung am Strand gesehen hatte und genug Platz bot. In ihrer Mitte angelangt, holte er den türkisfarbenen Würfel hervor, aktivierte ihn und wich zurück.

Innerhalb weniger Sekunden und untermalt von einem Zischen wie von Wasser, das auf einer heißen Platte verdampfte, wuchs der Würfel zu einem Haus mit Giebeln und schrägem Dach.

Die Tür schwang auf, als sich Korian näherte, das Haus erkannte ihn. Er betrat die vertraute Umgebung, bestehend aus programmierbaren Funktionalen, benutzte in der Küche den Synther und suchte mit einem Becher Kaffee das Interface-Zimmer auf beziehungsweise die Bibliothek, wie er den Raum manchmal nannte, weil die Regale an den Wänden zahlreiche Buchreplikate enthielten. Viele von ihnen hatte er tatsächlich gelesen, in den Stunden der Muße nach Mitternacht, die selbst ihm manchmal Ruhe und Frieden schenkten.

Im Sessel am offenen Fenster, durch das die Geräusche des Waldes hereindrangen, trank er einen Schluck Kaffee, hielt den Becher in beiden Händen und sagte: »Verbindung.«

Ein kleines, leises »Ping« ertönte, das Ergebnis einer direkten Stimulation des Hörnervs. Sensoren berührten ihn an Hals und Nacken, bei der implantierten Signalnadel.

»Verbindung hergestellt«, erklang eine Stimme, die er nicht mit den Ohren hörte, sondern direkt mit dem auditiven Cortex seines Gehirns.

»Ich brauche Informationen.« Korian sprach, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Es hätte genügt, der Signalnadel eine gedankliche Anweisung zu geben. »Ich möchte mehr wissen.«

Fangen wir mit Zoran und Daniel an, dachte er.

 

Zoran und Daniel, zwei Brüder, geboren zu einer Zeit, als es noch Geschwister gegeben hatte. Zoran, der Ältere, war ein Grübler gewesen, oft so tief in Gedanken versunken, dass er um sich herum nichts mehr wahrnahm. Er hatte in verschlungenen Bahnen gedacht, bis sich seine Gedanken und Gefühle verknoteten.

Ein Instabiler, erfuhr Korian. Jemand, auf den es aufzupassen galt, weil er nicht genug auf sich selbst aufpasste. Jemand, der sich offenbar ebenfalls nach dem Tod gesehnt und damals sieben Mal Selbstmord begangen hatte.

Dann hatte er den Stream gefunden.

Wie genau das geschehen war, darüber gaben die Archive des Clusters keine Auskunft. Vielleicht handelte es sich um eine zufällige Entdeckung. Oder, vermutete Korian, Zoran hatte damals verborgene Hinweise im Quantengedächtnis des Clusters gefunden. Von der Unruhe getrieben, die er selbst in sich spürte, war Zoran downstream und upstream gereist, auf der Suche nach etwas, von dem er selbst nicht gewusst hatte, was es war und wo es sich befand. Er hatte den Abyss gefunden, hieß es in einer Datei, und auch Infinitia, wo es Menschen gab, viele von ihnen sterblich wie einst auf der Erde.

Aber er schien auch noch etwas anderes gefunden zu haben, denn kurze Zeit nach seinem Verschwinden im Stream erschienen erste Artefakte. Eins von ihnen explodierte in einem Schacht und beschädigte wichtige Anlagen des Clusters. Eine Interferenzwelle aus dem Stream bewirkte eine Anomalie auf der Erde, und der Schlund entstand.

Daniel brach mit der Absicht auf, seinen Bruder zu finden und zurückzubringen. Von Infinitia schien damals noch nicht die Rede gewesen zu sein, wohl aber von den fremden, nicht von Menschenhand angefertigten Objekten, die große Zerstörungen anrichten konnten, und von den Interferenzen, die einen bestimmten, noch lokal begrenzten Teil der Erde destabilisierten. Erst in Dateien mit einem späteren Zeitstempel entdeckte Korian Stichwortverweise zu Infinitia und Morgenrot, der einstigen Verschwörung gegen den Cluster, sechstausend Jahre nach Goliaths Erwachen. Bartholomäus, Horus, Thekla und andere Individuelle gingen davon aus, dass Zoran und Daniel, der ebenso wenig aus dem Stream zurückkehrte wie sein älterer Bruder, inzwischen in Infinitia bei Morgenrot weilten. Vielleicht, so eine ihrer Hypothesen, hatten sie etwas gefunden, das Esteban, Chantalle und die anderen Unsterblichen von damals in eine Waffe verwandelt hatten, die sie gegen den Cluster einsetzten.

 

Korian dachte darüber nach, im Sessel am offenen Fenster seines Hauses, über die Signalnadel verbunden mit den gewaltigen Datenarchiven des Clusters. »Und der Stream?«, fragte er leise.

Welten über Welten, nicht nur die Erde, sondern ganze Universen. Downstream, in Richtung Vergangenheit, wo sich die »Kausalitätsmatrix« immer deutlicher bemerkbar machte, je tiefer man reiste, und upstream in die Zukunft oder die Zukünfte. Welten ohne Zahl, unendlich viele, und darin die Erde, die Korian kannte: Midstream Null. So nannte der Cluster die Position der Erde im Hier und Jetzt. Midstream, mitten im Stream, der eigentlich gar keine Mitte hatte, vielleicht sogar ohne Anfang und Ende war. Je weiter man sich von Midstream Null entfernte, desto größer wurden die Unterschiede in Vergangenheit und Zukunft.

Es gab Karten, kaum mehr als grobe Übersichten aus den Daten, die Sonden und Drohnen dem Cluster übermittelt hatten, bevor sie hinter der Kommunikationsgrenze verschwunden waren. Listen beschrieben bekannte Gefahren und rieten zu sicheren Umwegen in den Hunderter- und Zweihunderter-Bereichen. Weiter unten und oben wuchsen die Unsicherheiten, die Auflösung wurde gröber, mit weniger Details.