Ikarus - Andreas Brandhorst - E-Book

Ikarus E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Volles Risiko

Auf einer Welt im Tau-Ceti-System, mehr als zwölf Lichtjahre von der Erde entfernt, hat sich eine fortschrittliche Zivilisation entwickelt. Doch die Menschen, die dort leben, sind nicht frei – sie leben unter der strengen Beobachtung der Regulatoren, einer mächtigen außerirdischen Spezies. Die einzige Hoffnung auf Freiheit ist ein Geheimprojekt namens Ikarus, das der Regierungsrat Takeder vorangebracht hat. Doch der ist gerade ermordet worden. Ein Katz-und-Maus-Spiel von galaktischen Ausmaßen beginnt …

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Seitenzahl: 798

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DAS BUCH

Die Menschheit hat sich auf den Weg zu den Sternen gemacht, neue Planeten besiedelt und die Erde weit hinter sich gelassen. Siebzehn dieser von Menschen bewohnten Planeten haben sich zur sogenannten Independenz zusammengeschlossen. Doch anders als ihr Name vermuten lässt, ist die Independenz alles andere als frei: Bereits seit vierhundert Jahren wird sie von mächtigen außerirdischen Spezies, den Regulatoren, beherrscht. Jamo Jamis Takeder, Regierungsrat auf dem Planeten Tayfun, will sich die Tyrannei der Regulatoren nicht mehr gefallen lassen und tüftelt an einem Geheimprojekt, das Tayfun und der Independenz die Freiheit bringen soll. Dann wird Takeder ermordet und der Plan scheint gescheitert. Doch vor seinem Tod ließ Takeder sein Bewusstsein aufzeichnen und in eine Kopie seines Körpers transferieren – so kann er sich auch nach seinem Tod auf die Suche nach dem Mörder und dem rätselhaften »Ikarus« machen, einem Geheimnis, das über die Zukunft der Menschheit entscheidet. Für Takeder 2.0 beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn nach nur zwanzig Tagen werden seine Daten gelöscht …

DER AUTOR

Andreas Brandhorst, 1956 im norddeutschen Sielhorst geboren, schrieb bereits in jungen Jahren Erzählungen für deutsche Verlage. Es folgten zahlreiche fantastische Romane, darunter mit dem Kantaki-Zyklus eine episch angelegte Zukunftssaga. Sein Mystery-Thriller Äon war ein riesiger Publikumserfolg.

Mehr zu Andreas Brandhorst und seinen Romanen erfahren Sie unter:

 

www.diezukunft.de

 

ANDREAS

BRANDHORST

IKARUS

ROMAN

Originalausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Originalausgabe 07/2015

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2015 by Andreas Brandhorst

Copyright © 2015 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von thinkstock/Stocktrek Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-16259-7

www.heyne.de

 

INHALTSVERZEICHNIS

KALTES ERWACHEN

EIN TOPF VOLLER HONIG

HIER ENDETE EIN LEBEN

SPLENDORIS NOVA

METEO 1

UNBEKANNTE FREUNDE

DIE MASCHINE

METEO 2

VERBORGENE SCHÄTZE

DER FEIND MEINES FEINDES

REICH UND ARM

METEO 3

EIN ANDERES LEBEN

METEO 4

ENDE EINES GLEICHGEWICHTS

METEO 5

AN DER WAHRHEIT KRATZEN

EIN TANZ AUF DÜNNEM EIS

METEO 6

DEM MÖRDER AUF DER SPUR

IN TIEFEN WASSERN

METEO 7

KEIN SICHERES HAUS

ENCELADUS

EIN BÜNDNIS

WAYFARER

DER MÖRDER

IM SCHACHT

IKARUS

EPILOG

GLOSSAR

 

 

Sie kamen vor 400 Jahren.

Wir wissen nicht, wer sie sind und woher sie stammen.

Wir wissen auch nicht, was sie bei uns wollen.

Wir wissen nur: Sie sind da und beobachten uns.

Und wir müssen uns an ihre Regeln halten.

»Wir werden das Rätsel lösen.

Wir müssen es lösen; unsere Zukunft steht auf dem Spiel.«

– DANIEL PEATON, EINTRAG IM LOGBUCH DERWAYFARER

 

 

ZWISCHEN GEGENWART

UND ZUKUNFT

GIBT ES IMMER MÖGLICHKEITEN.

 

 

 

 

KALTES ERWACHEN

1

TAKEDER

Aus kaltem Wasser auftauchen und nach Luft schnappen, den erstarrten Körper mit neuem Leben füllen, die Kälte abschütteln …

»Hören Sie mich?«

Eine Stimme wie der Wind, der über einen Ozean strich, mit leiser, kühler Beharrlichkeit. »Hören Sie mich?«, wiederholte der Wind. »Wie lautet Ihr Name?«

Die Kälte krallte sich an ihm fest, sie wollte ihn nicht verlassen. Eng legte sie sich um ihn, wie ein Panzer aus Eis. Der Wind veränderte sich, wurde zu einer neuen Stimme. »Die Bioindikatoren bestätigen das Ende des beschleunigten Wachstums. Er ist wach, aber noch desorientiert. Wir hätten ihm mehr Zeit geben sollen.«

»Er hat sich selbst nicht mehr gegeben. Die testamentarischen Verfügungen sind eindeutig. Deshalb bin ich hier. Deshalb sind wir hier.«

Testament, dachte er, der noch immer mit der Kälte rang und zu atmen versuchte, im Eis, das ihn umschlang. Er schaffte es, nach Luft zu schnappen, und als sich die Lunge dehnte, schien sie damit Platz zu schaffen für einen weiteren Gedanken, als wäre das Gehirn in die Brust gerutscht, direkt neben das laut schlagende Herz. Ich habe ein Testament aufgesetzt und akkreditieren lassen. Erst vor ein paar Tagen. Für den Fall …

Etwas war mit ihm geschehen. Er fühlte Schmerz, oder das Echo eines Schmerzes. Testament, dachte er und wollte diesen Gedanken festhalten, denn dahinter, in grauem, kaltem Nebel, warteten weitere Gedanken, wichtiger noch als der erste. Aber etwas sprengte mit wildem Ungestüm den Eispanzer und trug ihn fort, durch Wärme und Staub, der in den Augen brannte, ja, er hatte Augen, und sie waren offen, er konnte mit ihnen sehen, nachdem er sie gerieben hatte und das Brennen nachließ. Was er sah, waren jahrhundertealte Gebäude, ihre Mauern schief und grau, die Fenster und Türen leer. Stille herrschte – selbst der Wind schwieg hier –, bis er, der noch immer keinen Namen hatte, ein leises Summen hörte und etwas bemerkte, das wie ein exotischer kleiner Äquivalent-Vogel mit zahlreichen winzigen Rotoren aussah. Ein Sensorpaket. Die Maschine, nicht größer als eine Hand, flog nur wenige Meter entfernt vorbei, und ihre Sondierungsstrahlen strichen über ihn hinweg, ohne ihn zu erfassen. Er wusste plötzlich: Er trug eine Maske, geschaffen von einem defensiven Sporn; für das Sensorpaket existierte er nicht. Verbotene Technik, den Regulatoren gestohlen, verwendet in der … Verbotenen Zone? Niemand hatte hier Zutritt, nicht einmal ein Holder.

Er dachte: Das bin ich, ein Holder. Ich sollte hier nicht hilflos liegen. Ich sollte …

Die grauen, schiefen Wände mit den leeren Fenstern und Türen, die sich plötzlich verändern konnten, wenn eine temporale Woge der Anomalie bei der Stadt der Zukünftigen darüber hinwegstrich … Sie verschwanden und machten einem Gesicht Platz. Es war ein ernstes Gesicht, in dem es für ein Lächeln keinen Platz gab, und er kannte es. Vandenberg, dachte er. Jurat Vandenberg. Ein vertrauter Name, ein vertrautes Gesicht. »Hören Sie mich?«, fragte dieser Mann.

»Ja«, sagte er mühsam. Er lag nackt in einer Mulde, bemerkte er jetzt, in einem halb mit Flüssigkeit gefüllten Becken, oben warm, unten, von den Oberschenkeln abwärts, kalt.

»Wie lautet Ihr Name?«

Mein Name?, dachte er und erinnerte sich. Ich bin ein Holder. Ich bin …

»Jamo Jamis Takeder«, krächzte er und hustete Schleim aus. Hände kamen und berührten ihn, die geschickten, kundigen Hände von medizinischen Assistenten. »Was …«, begann er.

»Sie sind ermordet worden«, sagte Jurat Vandenberg, sein Anwalt. »Vor zwei Stunden.«

2

Sie saßen im Proklamationszimmer des Juratoriums: auf der linken Seite die Zuschauerränge, ihre im Halbkreis aufsteigenden Sitzreihen bis auf den letzten Platz besetzt, auf der rechten die Repräsentanten des Regierungsrates, mit dem Proklamator als Vorsitzenden – inoffizielle und offizielle Zeugen einer Statusverleihung. Jamo Jamis Takeder hatte bei solchen Anlässen mehrmals rechts gesessen, bei den anderen Holdern, deren Blicke jetzt nicht nur Interesse zeigten, sondern auch so etwas wie morbide Faszination. Diesmal saß er nicht bei ihnen, sondern stand auf dem Kopiatenplatz, denn das war er: ein Kopiat, die Kopie eines Mannes, dessen Leben vor zwei Stunden und elf Minuten ein gewaltsames Ende gefunden hatte.

Jamo Jamis Takeder, noch vor hunderteinunddreißig Minuten einer der mächtigsten Männer nicht nur in der Stadt Lodoka, sondern auf dem ganzen Planeten Tayfun und in der aus siebzehn Welten, vierundzwanzig Monden und zweiunddreißig Habitaten und Außenbasen bestehenden Independenz, starrte auf seine Hände hinab, die bewiesen, dass er ein Niemand war, eine Unperson. Sie ragten aus den Ärmeln einer einfachen Jacke und waren violett, wie auch der Rest des Körpers. Kopiatenviolett.

Der Proklamator sprach und verlas die juristischen Formeln des Testaments, das Jamo Jamis – der Ermordete – vor vier Tagen aufgesetzt und akkreditiert hatte. Die Kopie des Toten, der violette Niemand auf dem Kopiatenplatz, den Kopf voller wirrer Gedanken und Gedankenfragmente, hörte die Worte nur mit halbem Ohr. Sein Blick galt noch immer den Händen, die er vor die Brust gehoben hatte. Sie zitterten, als fürchteten sie dieses neue Leben.

»Haben Sie gehört und verstanden?«, fragte der Proklamator schließlich.

»Was?«, krächzte Takeder.

Einige der Statuszeugen flüsterten miteinander. Ein Mann trat zum Proklamator: mittelgroß und schmächtig, das Gesicht ernst. Jurat Vandenberg. Er richtete einige leise Worte an den Proklamator, der daraufhin nickte. »Ich verstehe. Kopiat Takeder, Sie haben beschleunigtes Wachstum hinter sich, ohne ausreichende mentale Konsolidierung. Daher fasse ich das Wichtigste noch einmal zusammen. Jamo Jamis Takeder, Dritter Holder von Lodoka und Siebter von Tayfun, ist vor gut zwei Stunden ermordet worden. In seinem letzten akkreditierten Testament nimmt er das Recht für sich in Anspruch, im Fall eines gewaltsamen Todes die Ermittlungen selbst zu leiten. Dieses Recht wird hiermit anerkannt. Sie bekommen zwanzig Tage Zeit, um Ihren Mörder zu finden, und zwar ab jetzt.«

Der Proklamator hob einen Coder und berührte ein Schaltelement. Takeder spürte ein kurzes Stechen tief in der Brust. Ein Wispern begann dort, so leise, dass man es leicht überhören konnte, ein chronologisches Raunen, das ihm die Zeit nannte, die ihm für seine Ermittlungen blieb.

»Meine Befugnisse …«, brachte er hervor und begriff instinktiv, dass diesem Punkt große Bedeutung zukam. Gleichzeitig spürte er den Drang in sich aufsteigen, sofort mit den Ermittlungen zu beginnen. Programmierter Stimulus, sagte eine überraschend klare analytische Stimme in ihm. Inkorporiertes Inzentiv. Das war zu erwarten.

»Holder- und Bürgerrechte bleiben Ihnen vorenthalten, Kopiat Takeder«, antwortete der Proklamator. Einige der Statuszeugen nickten bestätigend. »Dieses Komitee gibt Ihnen den Status eines unabhängigen Ermittlers mit Zugang zu allen relevanten Orten und Informationsquellen. Zur Finanzierung Ihrer Nachforschungen steht Ihnen ein Prozent des testamentarisch erfassten Gesamtvermögens zur Verfügung. Das sind … vierzehn Millionen Kreditorenpunkte. Allerdings hat Ihre Frau bereits Einspruch gegen diesen Teil der Verfügung erhoben; eine Entscheidung darüber steht noch aus.«

»Mein Mandant macht hiermit von seinen testamentarischen Statusprivilegien Gebrauch«, sagte der neben dem Proklamator stehende Vandenberg kühl. »Der Wille des Testamentverfassers steht an erster Stelle. Wir beantragen, den aktuellen und alle folgenden Einsprüche abzulehnen.«

»Zur Kenntnis genommen.«

»Wie …« Takeder räusperte sich. Seine Hände zitterten heftiger, und die Beine drohten unter ihm nachzugeben. Er fühlte sich schwach, hatte Durst und Hunger und wusste nicht einmal, ob dieser Körper trinken und essen musste.

»Ja?«, fragte der Proklamator mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme.

»Wie alt ist die … Bewusstseinsaufzeichnung, mit der ich … ausgestattet bin?«

Der Proklamator warf einen Blick in die Unterlagen. »Zwei Tage. Ihre Erinnerungen sind zwei Tage alt.«

»Wie bin ich …«

»Meiner Pflicht ist Genüge getan«, sagte der Proklamator. »Um alles Weitere kümmert sich Ihr Jurat. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen, dass Sie Zeugen dieser Statusverleihung geworden sind. Kopiat Takeder, ich wünsche Ihnen Erfolg. Ihnen bleiben zwanzig Tage; nutzen Sie sie gut.«

3

»Machen Sie sich keine Sorgen, Kopiat Takeder«, sagte Vandenberg, als er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm. »Dieser Einspruch und alle weiteren, die Ihre Frau eventuell erhebt, haben keine Chance. Das Testament ist akkreditiert und unanfechtbar. Ihnen steht ein Prozent der Holdings zur Verfügung, mehr als genug selbst für sehr kostspielige Ermittlungen.«

Kopiat, dachte Takeder. Er nennt mich nicht Holder, sondern Kopiat.

Eine Stimme in seinem Innern sagte: Verdammter aalglatter Mistkerl. Im Lauf der Jahre hat er genug Kreditorenpunkte von mir bekommen, um mir auch jetzt mit Respekt zu begegnen.

Takeder schwankte, und einige torkelnde Schritte brachten ihn zur breiten Fensterfront des Büros. Stahlglas erwartete ihn dort, fast so kalt wie der Ozean, aus dem er aufgetaucht war.

»Sie sollten besser Platz nehmen«, sagte Vandenberg. »Ich habe bereits Med Graiham verständigt. Er wird gleich hier sein und Sie stabilisieren. Außerdem müssen das Implantat überprüft sowie Komponentendrüse und Auge aktiviert werden.«

Der alte Quacksalber, erklang erneut die innere Stimme. Aber er versteht sein Handwerk und verdient Vertrauen. Takeder hob die violetten Hände zur violetten Stirn. »Ich höre eine Stimme.«

Oh, das ist unklug, sagte die Stimme. Du solltest mich besser nicht erwähnen. Sonst könnte jemand auf die Idee kommen, eine mentale Sondierung zu beantragen.

»Sie sind noch immer desorientiert«, sagte der ernste, nie lächelnde Jurat hinter dem Schreibtisch. »Med Graiham wird Ihnen helfen. Bitte setzen Sie sich.«

Vandenberg bewegte eine schmale, langfingrige Hand, und das Gesteninterface des Büros reagierte. Mit einem leisen Knistern wuchs neben Takeder ein Sessel aus dem Boden, geschaffen von einem molekularen Strukturarchitekten. Wir halten die Architektenrechte, dachte Takeder, und es war seine eigene mentale Stimme, die diesen Gedanken formulierte. Sie haben uns viel eingebracht.

Vier Komma eins Millionen K-Punkte allein während der letzten beiden Jahre, sagte die andere Stimme. Ein Copyright von mehr als zweihunderttausend unserer Holdings. Obwohl es nicht einmal eine Eigenentwicklung ist, sondern Beutetechnik, vor zweihundert Jahren den Regulatoren gestohlen, ihren Maschinen abgeschaut. Man kann das eine oder andere lernen, wenn man die Regulatoren beobachtet.

Wer bist du?, fragte Takeder und schaffte es gerade so, die Worte nicht laut auszusprechen. Neben ihm wartete der Sessel. Takeder ließ ihn warten, denn er wagte nicht, sich zu bewegen, aus Sorge, dass die Beine endgültig unter ihm nachgaben. Das Zittern der Hände, die er jetzt wieder sinken ließ und auf das kalte Stahlglas legte, spürte er auch in den Knien.

Ich bin du, wir sind wir, sagte die Stimme.

»Sehr … komisch«, ächzte Takeder.

»Kopiat?« Vandenberg richtete einen verwunderten. »Med Graiham befindet sich bereits im Gebäude; eine Kleinparallaxe hat ihn von Kunda hierher gebracht.«

Kunda, dachte Takeder. So hieß eine Stadt auf der anderen Seite des Planeten.

Entschuldige, sagte die Stimme. Ich bin Code Eins. Der erste von fünf. So ist es vorgesehen und programmiert.

»Code …« Takeder presste die violetten Lippen zusammen. Code Eins? Was bedeutet das?

Es bedeutet, dass der Ermordete, dem wir unsere Existenz verdanken, Dinge versteckt hat. Informationen, um genau zu sein. Hinweise. Vielleicht auch Anweisungen. Ich bin nur die erste Stufe; ich weiß nicht alles.

Versteckt? Vor wem versteckt? Takeder sah zum Sessel. Zwei Schritte trennten ihn davon, oder vielleicht nur ein besonders langer. Aber seine Knie waren noch immer schwach, und er wollte nicht zusammenbrechen. Also blieb er am Fenster stehen, die Hände ans Stahlglas gedrückt, das Gesicht so dicht vor der dicken Scheibe, dass sie von seinem Atem beschlug.

Was glaubst du wohl? Wir sind ermordet worden! Bist du bereit?

Bereit wofür?

Für Stufe Eins. Achtung, es geht los. Sieh nach draußen. Sieh dir die Stadt an. Betrachte deine Welt.

Hinter Takeder erklang ein akustisches Signal, und die Tür öffnete sich, ließ einen Mann eintreten. Er achtete nicht darauf, blickte nach draußen und fühlte sich plötzlich wie jemand, der aus tiefem Schlaf erwachte. Ein Teil des Durcheinanders verschwand aus ihm, als er seine Welt sah, beziehungsweise die Welt, die er mit den anderen Holdern teilte, mit Narren wie Thugael, Neummar und Storbram, aber auch mit scharfsinnigen Rivalen wie Hancock, Jerkow und Ash-Gahadi. Und mit Mercurio, dachte er. Steckte er hinter dem Mord? Oder einer seiner Konkurrenten? Oder die Anarchen?

Denk jetzt nicht daran, sagte die Stimme, der erste Code. Sieh die Welt. Nimm die Eindrücke in dich auf. Werde du selbst. Das ist das Fundament; darauf kannst du aufbauen und dann mit deinen Nachforschungen beginnen.

Er sah nach draußen und blinzelte im Schein einer Sonne, die gerade jetzt, als hätte sie auf seinen Blick gewartet, in einer Lücke zwischen zwei türkisfarbenen Wolken erschien. »Türkis«, sagte er leise. »Eispollen aus Frostwäldern von Noripod im Norden.«

Und die Sonne?

Tau Ceti, dachte er. Fast zwölf Lichtjahre von der Erde entfernt. Von der Erde, die den verdammten Anarchen gehört. Unerreichbar für uns. Oder fast unerreichbar.

Dieser Gedanke bewegte etwas in Takeder, tief in seinem Innern. Fast unerreichbar, dachte er. Und dort, wo sich eben etwas in ihm bewegt hatte, inmitten der noch schlafenden Erinnerungen, flüsterte eine Stimme: Ikarus.

Ikarus?, fragte er lautlos. Was bedeutet das?

Code Zwei oder Drei können dir vielleicht mehr dazu sagen, oder Vier und Fünf. Später. Sieh dir den Rest an. Sieh dir alles an.

Er blickte über die Stadt, die bis eben nur ein Name gewesen war – Lodoka –, und nun zu seiner Stadt wurde, denn sie gehörte ihm, zu einem großen Teil: pastellfarbene Gebäude, wie an unsichtbaren Fäden aufgereihte Würfel, zwischen ihnen Türme mit Hunderten von Stockwerken und hell erleuchteten vertikalen Gärten mit Gewächsen von fast fünfzig verschiedenen Welten, darunter viele, die seit vierhundert Jahren nicht mehr zugänglich waren, seit die Regulatoren alle Verbindungen unterbrochen hatten. Vier Millionen Menschen lebten in dieser Stadt, die sich an der hufeisenförmigen Bucht erstreckte, die Bewohner der Unterstadt nicht mitgezählt.

»Jamis?«, fragte jemand hinter ihm. Takeder kannte die Stimme; Med Graiham war eingetroffen.

»Gleich«, sagte er. »Nur ein paar Sekunden.«

Seine Perspektive änderte sich, und das war wichtig, spürte er. Er stand nicht mehr außerhalb der Welt, durch einen Tod von ihr getrennt, einen Mord, sondern in ihr. Er drehte sich nicht um, selbst als er Schritte hörte, die sich näherten, blieb vor dem breiten Stahlglasfenster stehen und blickte weiterhin nach draußen, während die Schwäche allmählich aus seinen Knien wich. Die weite Lagune zeigte hier und dort das Schimmern von Eis, was in diesen subtropischen Breiten normalerweise nicht einmal während eines sehr strengen Winters geschah. Es war ein Ergebnis der »klimatischen Pazifikation«, wie es die Regulatoren nannten. Als Kind, vor fast zweihundert Jahren, hatte Takeder die heißen Tage langer Sommer erlebt, auch den einen oder anderen Wirbelsturm, aber später waren die Sommer kürzer und kühler geworden, und die Stürme weniger. Die Regulatoren hatten ihr Eingreifen ins Klima damit begründet, dass durch eine Senkung der planetaren Durchschnittstemperatur die Anzahl der verheerenden Wirbelstürme reduziert würde, denen der zweite Planet von Tau Ceti seinen Namen verdankte.

»Die Temperatur ist weiter gesunken«, sagte er. Erst vor drei Tagen – nein, fünf; die Bewusstseinsaufzeichnung war zwei Tage alt – hatte er sich mit den neuesten meteorologischen Daten beschäftigt. »Vielleicht deshalb, weil die Regulatoren noch mehr Sonnenenergie abzapfen. Und wofür?« Er schaute noch immer auf die Lagune, türkis wie die kalten Pollen aus dem Norden, türkis wie das Meer jenseits der breiten Bucht. Das eigentliche Objekt seines Interesses befand sich weiter oben, aber etwas hielt ihn davon ab, den Blick darauf zu richten. Gleich, dachte er. Gleich.

Niemand antwortete; die beiden Männer hinter ihm schwiegen. Einer von ihnen stand so nahe, dass Takeder seinen Atem hörte, und ein leises Surren, das vermutlich von einem Biosondierer stammte.

»Vielleicht für weitere Parallaxen, zu denen wir, wenn wir Glück haben, früher oder später Zugang erhalten«, sagte der Kopiat. »Oder für die Barrieren, die unsere Lichtschiffe seit vier Jahrhunderten daran hindern, all die anderen Menschenwelten zu erreichen, die es damals dort draußen gab, Dutzende, Hunderte und Tausende Lichtjahre entfernt. Wie viele neue Deformatoren bauen sie derzeit? Sechzehn oder siebzehn. Allein im Tau-Ceti-System. Und acht bei den Gliese-Welten, mit denen wir verbunden sind. Sie brauchen Energie, also zapfen sie unsere Sonnen an. Und deshalb wird es kälter bei uns. Die Wirbelstürme von einst sind wahrscheinlich nur eine verdammte Ausrede.«

»Kopiat Takeder …«, begann Vandenberg.

»Haben Sie etwas Geduld, Jurat. Ich bezahle Sie auch dafür, nicht wahr? Für Ihre Geduld.«

»Jamis …«

»Auch du, Graiham. Ein bisschen Geduld. Ich bin gleich so weit.«

»Du brauchst eine Stabilisierung, Jamis. Dann ist alles leichter für dich.«

»Ich stabilisiere mich selbst.« Takeder wippte kurz auf den Zehenspitzen, wie manchmal während seiner Reden beim Regierungsrat der Independenz. Kälte, dachte er, während sein Blick übers Eis der Lagune strich. Kaltes Erwachen, die Kälte abschütteln …

Sieh nach oben.

Gleich, dachte Takeder. Zuerst die Unterstadt.

Lodokas Unterstadt befand sich nicht wie bei den anderen Metropolen auf Tayfun unter der Stadt – in vielen Fällen am Meeresgrund, unter den zahlreichen schwimmenden Städten auf den weiten Ozeanen, bestehend aus zahllosen alten Prospektorencontainern –, sondern darüber, besser gesagt: am Rand. Ihre Bauten, nicht annähernd so hoch wie die im Zentrum der Hauptstadt, kletterten an den Hängen des Toronac-Massivs im Westen und Norden der Stadt empor, hier aneinandergelehnt, als wollten sie sich gegenseitig stützen, dort zwischen graubraunen Felsvorsprüngen ineinander verschachtelt oder durch Brücken und Stege miteinander verbunden, errichtet aus billigen Fertigteilen mit einfachen oder gar keinen Strukturarchitekten. Es waren noch einmal einige Millionen Menschen, die dort lebten, die meisten von ihnen Debitoren ohne einen einzigen Kreditpunkt. Zumindest eine Wurzel seines Reichtums und seiner Macht befand sich dort, wusste Takeder, weit verzweigt. Die Schulden und Verpflichtungen der einen waren die Guthaben und Forderungen der anderen.

Takeders Blick glitt noch etwas weiter nach Westen, an den Hängen empor und zu den Einschnitten der hohen Täler, wie Kerben, die ein Titan in den Felsrücken der Berge gemeißelt hatte. Dort oben erstreckte sich das Hochland von Tumador, benannt nach den Ruinen der alten Stadt, von Tayfuns Ureinwohnern zurückgelassen, als sie vor siebenhunderttausend Jahren verschwunden waren. Seit dem Eintreffen der Menschen auf Tayfun vor fast zweitausend Jahren hatten Archäologen in Tumador gearbeitet, bis vor vierhundert Jahren die Regulatoren gekommen waren, damals noch »Besucher« oder »Beobachter« genannt, und die gesamte Hochebene zur Verbotenen Zone erklärt hatten.

Die Verbotene Zone, dachte Takeder und glaubte plötzlich, eine Maske zu tragen, geschaffen von einem defensiven Sporn.

Jetzt, sagte die Stimme. Jetzt kannst du dir ansehen, was sich über der Stadt befindet.

Dort war es, das Schiff der Regulatoren, oder die Stadt. Beziehungsweise beides: die Schiffstadt, wie eine Ansammlung von Messern, Hunderte oder Tausende, die jemand wahllos zusammengesteckt hatte, mit einer Länge von mehreren Hundert Metern bis zu zwei Kilometern, gehüllt in einen vagen opalblauen Strahlenkranz, eine Aureole ähnlich der Barriere, mit der die Fremden das Tau-Ceti-System – und auch andere Sonnensysteme – isoliert hatten. Takeder beobachtete die Schiffstadt und dachte dabei an Deformatoren, Parallaxen, nutzlos gewordene Lichtschiffe und Debitoren-Scouts, die versuchten, ihre Schulden zu bezahlen, indem sie mit gestohlener Technik neue parallaktische Tunnel erkundeten, auf der Suche nach den anderen Menschenwelten, zu denen seit vier Jahrhunderten kein Kontakt mehr bestand; viele dieser Scouts kehrten nie zurück, blieben für immer verschollen.

Erste Schneeflocken fielen aus den hohen Wolken über Lodoka. Die Kapsel der Zukünftigen, die neben der Schiffstadt aus einer offenen Parallaxe kam, erkennbar nur an einem kurzen Aufblitzen, sah zunächst wie eine dieser Flocken aus, aber sie verriet sich nach wenigen Sekunden, denn diese Flocke fiel nicht, sondern flog zum Toronac-Massiv, zur Hochebene und der anderen Stadt in der Verbotenen Zone, die nicht aus Ruinen bestand.

Etwas erzitterte in Takeder. Ich bin dort gewesen, dachte er. In der Verbotenen Zone. Vor nicht allzu langer Zeit.

Der erste Schritt ist getan, sagte die Stimme. Weitere müssen folgen.

Der nächste Schritt trug Takeder zur Seite, zum Sessel, und seltsam erschöpft sank er hinein.

»Also gut«, seufzte er. »Wer hat mich ermordet?«

4

Die beiden Männer konnten kaum unterschiedlicher sein. Hier Vandenberg, groß und hager, mit einem Raubvogelgesicht, die Augen wie aus blaugrünem Eis, die Lippen dünn und blutleer. Und dort Med Graiham, ein kleiner Mann, der trotz seiner dritten – und damit offiziell letzten, nach den neuen Richtlinien der Regulatoren – Erneuerung verdorrt wirkte, wie eine halb verwelkte Blume, dafür aber schnell und leicht lächelte. In seinen Augen lag eine Wärme, die Takeder oft erstaunt hatte.

»Es tut mir leid, Jamis, es tut mir leid«, sagte Graiham jetzt, als er Sensoren an Kopf und Hals befestigte und einen kleinen Injektor an die Hüfte setzte. Ein kurzes, leises Zischen, und wenige Sekunden später breitete sich Ruhe in Takeder aus. »Selbst wenn man deine Leiche etwas früher entdeckt hätte, eine Rückkehr ins Leben wäre nicht möglich gewesen. Bitte heb den linken Arm.«

Takeder hatte Jacke und Hemd abgelegt, saß mit bloßem violetten Oberkörper da. Er hob den linken Arm, und Graiham drückte den Injektor an die Achsel. Wieder zischte es, und Takeder spürte einen kurzen stechenden Schmerz.

Vandenberg saß hinter seinem Schreibtisch und beobachtete das Geschehen ungerührt, das Gesicht wie aus Stein gemeißelt.

»Das ist eine einfache Komponentendrüse, Jamis«, sagte Graiham und berührte den kleinen Knoten dicht unter Takeders linker Achsel. »Standardausführung für einen Kopiaten. Wir haben versucht, mehr durchzusetzen, aber die Kommission hat unseren Antrag abgelehnt.«

»Den Vorsitz führt Lokjor Tebo Loid«, sagte Vandenberg. Unbewegt wie eine Statue saß er da, die Hände auf dem Schreibtisch, die Spitzen der langen Finger aneinandergelegt. »Loid ist ein Debitor von Jerkow.«

»Jerkow, der verdammte Mistkerl«, brummte Takeder und erinnerte sich an zahlreiche Auseinandersetzungen mit ihm und seinen Verbündeten, vor allem mit Hancock und Ash-Gahadi. »Steckt er dahinter?«

»Es ist Ihre Aufgabe, das herauszufinden, Kopiat«, sagte Vandenberg kühl.

Takeder fiel etwas ein. »Sind wir hier sicher? Können wir offen miteinander reden?«

Wieder bewegten sich nur Vandenbergs dünne Lippen, als er sagte: »Dieses Zimmer ist mit einem Schild geschützt. Nicht einmal ein Sporn kann die Abschirmung durchdringen.«

»Also gut.« Die Ruhe in Takeder, geschaffen von Graihams Injektionen, füllte sich mit Entschlossenheit. »Ich möchte, dass Sie die Nachrichtendienste unserer Holdings auf ihn ansetzen, Vandenberg. Auf Jerkow und die anderen. Wenn er bei dieser Sache seine schmutzigen Finger im Spiel hat, will ich es so bald wie möglich wissen. Und da wir gerade dabei sind …« Andere Erinnerungen stiegen langsam in ihm auf, wie Luftblasen in Öl. Es mussten wichtige Entscheidungen für seine Holdings getroffen werden. Hier ging es nicht nur um Ermittlungen, sondern auch darum, Geschäfte fortzuführen, die legalen ebenso wie die anderen, die den Regulatoren ein Dorn im Auge gewesen wären, sofern sie Augen hatten. Zum Beispiel die Scouts, die sich erst vor wenigen Tagen einer instabilen Parallaxe anvertraut hatten – geschaffen von einer gestohlenen und modifizierten Weiche –, auf der Suche nach einem Weg zur Erde, zu den Anarchen, und zu Welten jenseits der von den Regulatoren geschaffenen Barrieren. Oder die geheimen Beutezüge und die verborgenen technischen Laboratorien, in denen gestohlene Technik in »Innovationen« mit profitablen Patenten und Copyrights verwandelt wurde. Außerdem standen wichtige Netzerweiterungen an, die horizontalen und vertikalen Geschäftsdiversifikationen mussten vorangetrieben, die Rivalen in Schach gehalten werden …

Takeder unterbrach sich, als er merkte, dass er aufgestanden war und mit einer Wanderung durch Vandenbergs Büro begonnen, dabei all die Gedanken laut ausgesprochen und mit Anweisungen verknüpft hatte.

Das ist nicht alles, sagte die Stimme in ihm. Es gibt noch mehr. Dinge, die so geheim sind, dass nicht einmal Vandenberg und Graiham davon wissen.

Ikarus, dachte Takeder, aber diesen Gedanken behielt er für sich.

»Ich möchte eins klarstellen, Kopiat«, sagte Vandenberg. Er lehnte sich langsam zurück und wurde noch ernster, wenn das überhaupt möglich war. »Sie sind ein Ermittler, nicht mehr und nicht weniger. Sie haben das Recht zuerkannt bekommen, Ermittlungen in Bezug auf die Ermordung des Holders Jamo Jamis Takeder anzustellen, und dafür stehen Ihnen zwanzig Tage und vierzehn Millionen Kreditorenpunkte zur Verfügung. Ich werde Ihnen helfen, so gut es geht, aber Sie können nicht auf die Nachrichtendienste der Holdings zurückgreifen, die gar nicht mehr Ihnen gehören, sondern Ihren Erben, und ebenso wenig sind Sie befugt, irgendwelche Anweisungen in Hinsicht auf laufende oder zukünftige Geschäfte zu erteilen. Sie tragen Holder Takeders Erinnerungen, soweit er sie der Bewusstseinsaufzeichnung hinzugefügt hat, aber Sie sind nicht er.«

Takeder starrte ihn an. »Im Lauf der Jahre haben Sie ein verdammtes Vermögen durch die Zusammenarbeit mit mir angehäuft, und jetzt …«

»Nicht durch die Zusammenarbeit mit Ihnen«, unterbrach ihn Vandenberg. »Sondern mit einem Mann, der ermordet wurde. Sein Testament überträgt Ihnen die Aufgabe, den Mörder zu finden. Das ist der einzige Zweck Ihrer Existenz.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Alles andere geht Sie nichts mehr an.«

Graiham räusperte sich übertrieben laut und dirigierte Takeder zum Sessel zurück.

»Sie verdammter …«, begann Takeder, den Blick auf Vandenberg gerichtet und von der Heftigkeit seines Zorns überrascht.

Er klappte den Mund zu, als Graiham etwas mit seiner Stirn anstellte. »Halt still, das gehört zur Prozedur. Ich muss das Auge aktivieren und die korrekte Funktion des Implantats bestätigen. Es könnte jetzt ein bisschen wehtun …«

Ein Dolch bohrte sich in Takeders Schädel, die Klinge heiß und scharf. Er taumelte und fiel in den Sessel, ohne dass sich Graihams Hände von seiner Stirn lösten. »Die Scouts, die du eben erwähnt hast, Jamis … Sie haben einen Weg nach Enceladus gefunden. Zur alten Station bei den Kryo-Artefakten, von denen unsere Datenbanken berichten.«

»Was?«, brachte Takeder hervor. Er hob die Hände zur Stirn, aber Graiham hielt sie fest.

»Nein, noch nicht, warte ein paar Sekunden. Enceladus. Ein Mond des Saturn. Nicht weit von der Erde entfernt. Im Sol-System.«

»Dies betrifft ihn nicht, Med Graiham«, sagte Vandenberg. »Ich werde in einer Stunde seine Erben unterrichten. Sie werden alle notwendigen Entscheidungen treffen.«

»Erinnerst du dich an Morak, Jamis?« Der kleine Mediker achtete nicht auf den Juraten. »Ist auf dem besten Weg, seine ganze Debitorenschuld zu begleichen. Der letzte Einsatz brachte ihm zehntausend Balancepunkte ein. Seine Gruppe hat einen Weg ins Sol-System gefunden und dabei nur zwei Leute verloren.«

Von dem Etwas in Takeders Stirn ging noch immer stechender Schmerz aus, aber er sagte: »Das gibt uns die Chance, auf die wir all die Jahre gewartet haben. Wir können die Anarchen in ihrem Zentrum angreifen, auf der Erde. Mit dem vorbereiteten Mastermind.«

Graiham ließ seine Hände los. Eine setzte den Weg nach oben fort und fand etwas in seiner Stirn, das sich wie eine kleine Perle anfühlte, das »Auge«, stummer und getreuer Beobachter für die Kommission, die den Einsatz von Kopiaten überwachte.

»Auch darüber werde ich mit den Erben reden«, sagte Vandenberg. »Sie täten gut daran, sich auf Ihre Aufgabe zu konzentrieren, Kopiat. Ihnen bleiben nur zwanzig Tage.«

Schon sein Vater, kurz vor Jamo Jamis’ zehntem Geburtstag spurlos verschwunden, hatte an diesem Projekt gearbeitet, und dessen Vater vor ihm, erinnerte sich Takeder. Ein direkter, unbemerkter Weg zur Erde, damit Mastermind Soka Neun seine Gedanken in die Datennetze der Erde schicken konnte und von dort aus ins Metanetz aller Welten und Außenposten der Anarchen. Der Triumph, er rückte in Reichweite, und Takeder durfte nicht danach greifen.

»Hier, ich nehme an, das kannst du gebrauchen.« Graiham reichte ihm ein Kästchen. »Es enthält die stärksten Aromen für deine Komponentendrüse, die einem Kopiaten gestattet sind.« Er lächelte kurz. »Und auch einige, die sich eigentlich nicht darin befinden sollten.« Der Mediker deutete auf das Auge in Takeders Stirn. »Es wird aktiv, sobald du dieses Zimmer verlässt. Dann zeichnet es alles auf.«

Der Schmerz verschwand ganz. Takeder stand auf, angetrieben vom stärker werdenden Drang, mit den Ermittlungen zu beginnen. Er griff nach Hemd und Jacke, streifte beides über und steckte das Kästchen mit den Drüsenaromen ein. »Kann ich mit Marok reden? Nur ganz kurz?«

»Nein.« Vandenberg verließ seinen Platz hinter dem Schreibtisch und ging zur Tür, öffnete sie aber noch nicht. »Es gab noch eine Privatklausel im Testament des Ermordeten. Codiert, für mich bestimmt.« Er hielt plötzlich etwas in der Hand, einen kleinen Gegenstand, der wie ein Pulser aussah, ein individueller biometrischer Multifunktionsschlüssel. »Die Klausel weist mich an, Ihnen dies zu geben.«

Takeder nahm das Objekt entgegen, einen dünnen Zylinder, so lang wie die Hälfte seines Zeigefingers. »Was hat es damit auf sich?«

»Die Klausel enthielt keine entsprechenden Informationen.« Vandenberg blickte an Takeder vorbei. »Med Graiham?«

Der Mediker betrachtete die Anzeige eines kleinen Bioscanners. »Er ist stabil genug.«

Der Jurat streckte die Hand nach dem Türöffner aus. »Meiner Pflicht ist Genüge getan, Kopiat«, sagte er und wiederholte damit die Worte des Proklamators. »Sie können mit den Ermittlungen beginnen.«

»Warten Sie. Wer sind meine Erben? Wem habe ich meine Holdings vermacht?«

Vandenberg wölbte eine Braue. »Ihrer Familie, Kopiat. Die Haupterben sind Ihre Frau Rajata, Ihre Großmutter Zarah und Ihre Kinder. Ihr Sohn Erik Rouwen soll Vorsitzender des Direktiven Rates werden. Die Wahl ist für morgen anberaumt, aber da er die Anteilsmehrheit besitzt, steht das Ergebnis bereits fest.«

»Ich habe Erik zu meinem Nachfolger ernannt?«, stieß Takeder fassungslos hervor. »Der Kerl ist ein verdammter Nichtsnutz, ein Immersionist, der den größten Teil seiner Zeit im Netz verbringt, bei all den anderen Idioten, die ihr Heil in künstlichen Welten suchen.«

»Ich fürchte, auch dies geht Sie nichts an, Kopiat Takeder.« Vandenberg öffnete die Tür.

Ein kurzes Stechen in Takeders Stirn, unangenehm zwar, aber nicht schmerzhaft, wies darauf hin, dass das Auge mit seinen Kontrollfunktionen begann.

Zwanzig Tage, dachte Takeder. Und dann? Aber plötzlich gewann der tief in ihm verankerte Drang eine solche Intensität, dass alles andere zweitrangig wurde. »Wo bin ich ermordet worden?«, fragte er. »Und wie?«

»Ich zeige es dir, Jamis.«

Takeder folgte Med Graiham nach draußen, in eine Welt, die ihm bis vor wenigen Stunden gehört hatte und in der er jetzt ein violetter Niemand war.

EIN TOPF VOLLER HONIG

5

MERCURIO

Der Sniffer in Gestalt eines Hundes mit langem Fell blieb mitten auf dem Weg stehen, der sich durch den Wald schlängelte, jaulte leise und drehte den Kopf.

»Eine Datenschwelle, dicht vor uns«, sagte der Mann, der sich Edmond nannte und den Mercurio nicht mochte, weil er immer gelangweilt klang. Aber er vertraute ihm – wenn auch mit wachsendem Widerwillen –, denn er war ihnen von Taningelt empfohlen, und der hatte besonders gute Verbindungen zu den Anarchen. Angeblich zählte Edmond zu den besten Datenmechanikern auf der Erde, und er sollte den Sniffer selbst entwickelt haben: ein Spähprogramm, das in Datennetzen und Virtualitäten die subliminalen Signale eines Masterminds ausfindig machen konnte.

»Schon wieder ein Niveauwechsel?«, fragte Nadja. »Das gefällt mir nicht.«

Nadja, die Wachsame, die Misstrauische. Deshalb hatte Mercurio darauf bestanden, sie mitzunehmen. Und sie hatte auf zwei offensiven Datenpaketen bestanden, die in Form kleiner, handlicher Waffen an ihrem Gürtel steckten und sich automatisch den unterschiedlichen Algorithmen der virtuellen Umgebungen anpassten. Sie stand am Rand des Weges, das lange schwarze Haar zu einem Zopf gebunden, der unter dem Kragen ihrer Jacke verschwand. Die Bäume standen hier weniger dicht beieinander und erlaubten einen Blick auf den einige Hundert Meter entfernten See, dessen Wasser im Sonnenschein glitzerte. Stimmen kamen von dort, von Männern und Frauen am Ufer. Alles wirkte friedlich; nichts deutete auf die Präsenz von Spähern hin, die nach Unbefugten Ausschau hielten. Aber Spione konnten gut getarnt sein. Das Blatt dort, an dem krummen Zweig, es wies ein sonderbares Muster auf. Oder die Äquiv-Libelle, die dicht über Nadja verharrte, getroffen von einem Sonnenstrahl, der ihre Flügel in Silber verwandelte und die Facettenaugen in Gold.

Der Sniffer jaulte erneut. Eine Pfote kratzte über den Boden.

»Er hat eine Spur gefunden«, sagte Edmond. »Wir sollten ihm folgen.«

Mercurio stellte fest, dass sich einige der Leute am See zu ihnen umgedreht hatten. Ein Mann winkte.

»Sie haben uns bemerkt«, sagte Nadja voller Unbehagen.

»Und wenn schon«, erwiderte Edmond. »Sie halten uns für eine andere Gruppe, die diese Virtualität benutzt. Es sind einfache Immersionisten. Harmlos. Keine Gefahr.«

»Du hast gesagt, das man uns nicht erkennen würde.« Nadja tastete nach den Waffen an ihrem Gürtel.

Edmond, der Mann von der Erde, lächelte spöttisch. »Man hat uns nicht erkannt, nur bemerkt, Teuerste. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied, der selbst euch Datenamateuren klar sein sollte.«

Nadja warf Mercurio einen Blick zu, und er verstand die Botschaft darin. Sie lautete: Wenn dieser Bursche so weitermacht, kriegt er bald meine Faust in seine klugscheißerische Visage.

Mercurios permanentes Interface – die silbernen Fäden steckten in seiner haarlosen Kopfhaut und bildeten einen fünfzackigen Stern, wobei eine Zacke bis zur Nasenwurzel reichte – blendete ein L11 in sein Blickfeld, mit einem V daneben, das darauf hinwies, dass sie sich in einer Virtualität bewegten, in einem winzigen Teil des komplexen Gespinstes aus Datennetzen, die Tayfun durchdrangen und durch die Raumzeittunnel großer und kleiner Parallaxen, von den Regulatoren zur Verfügung gestellt, zu den anderen siebzehn Welten, vierundzwanzig Monden und zweiunddreißig Habitaten der Independenz reichten. Die Verbindung mit dem Hauptanschluss, der sich im Keller eines Hauses der Unterstadt von Lodoka befand, zeigte erste Anzeichen von Instabilität, kein Wunder nach zehn Niveauwechseln. Was allerdings kaum ein Problem sein sollte, denn mit dem permanenten Interface war immer eine Rückkehr möglich, an jedem kartografierten, programmierten Ort. Solange keine Scrambler auf der Lauer lagen, um ihnen den Rückweg abzuschneiden.

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