Die Evolution des Wissens - Jürgen Renn - E-Book

Die Evolution des Wissens E-Book

Jürgen Renn

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Beschreibung

Die Evolution des Wissens erzählt in sechzehn Kapiteln die faszinierende Wissensgeschichte der Menschheit. Anhand von Schlüsselepisoden aus der Entwicklung von Wissenschaft und Technik, von der Erfindung der Schrift über die frühneuzeitliche wissenschaftliche Revolution bis hin zu Industrialisierung und Digitalisierung, analysiert Jürgen Renn, wie Wissen entsteht und sich verändert, wie es sich seit Jahrtausenden global verbreitet und auf welche Weise Wissensökonomien und die Gesellschaften, in die sie eingebettet sind, sich wechselseitig beeinflussen.

Das enorm materialreiche und opulent bebilderte Buch entwickelt unter Einbeziehung einer Vielzahl von Methoden und Disziplinen einen völlig neuen Rahmen für das Verständnis der Wissenschaftsgeschichte als Teil jener kulturellen Evolution, die unserem Planeten ihren Stempel aufgedrückt hat. Der weite Blick zurück, den Die Evolution des Wissens wagt, schärft daher auch den Blick für die komplexen Herausforderungen, mit denen wir aktuell im Anthropozän konfrontiert sind.

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Seitenzahl: 1312

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Titel

3Jürgen Renn

Die Evolution des Wissens

Eine Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän

Aus dem Englischen von Sven Scheer

Suhrkamp

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Evolution of Knowledge. Rethinking Science for the Anthropocenebei Princeton University Press

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© 2020 by Princeton University Press

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-77258-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

7Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Die Geschichte dieses Buches

Ein Langzeit-Forschungsprojekt und seine Wurzeln

Zwei Forschungsstränge

Die Geschichte des mechanischen Denkens

Langzeitstudien der Wissensgeschichte

Studien zur Wissenszirkulation

Allgemeinere Wissenskontexte

Unterwegs zu einer historischen Theorie des Wissens

Danksagungen

Teil 1 Was ist Wissenschaft? Was ist Wissen?

Kapitel 1 Wissenschaftsgeschichte im Anthropozän

Stürmische Zeiten

Wer zerstört unseren Planeten?

Die Welt als ein Problem des Wissens

Zwischen Wissenschaftsgeschichte und Wissensgeschichte

Die Wissenschaft als ein Golem

Wie entwickelt sich Wissen?

Die heuristische Rolle der Evolution

Eine Alternative zu

Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen

Ein globaler Lernprozess?

Kapitel 2 Elemente einer historischen Theorie des menschlichen Wissens

Die Struktur dieses Buches

Wie sich Wissensstrukturen verändern

Wie Wissensstrukturen die Gesellschaft beeinflussen und umgekehrt

Wie sich Wissen ausbreitet

Von welchem Wissen unsere Zukunft abhängt

Teil 2 Wie sich Wissensstrukturen wandeln

Kapitel 3 Der historische Charakter von Abstraktion und Repräsentation

Die Macht der Abstraktion

Philosophische Auseinandersetzungen

Eine psychologische Perspektive

Piagets Abstraktionsbegriff

Die Wurzeln der Abstraktion in sozialen Praktiken

Handlungen als materielle Praktiken

Die Rolle materieller Verkörperungen von Wissen

Von der genetischen zur historischen Epistemologie

Soziale Kognition im historischen Kontext

Die produktive Mehrdeutigkeit externer Repräsentationen

Wer denkt abstrakt?

Drei Dimensionen des Wissens

Kapitel 4 Strukturelle Veränderungen in Wissenssystemen

Wissenssysteme und ihre Architektur

Die Rolle der Kognitionswissenschaft und Darwins Beispiel

Mentale Modelle

Eine Kindergeschichte

Default-Annahmen

Mentale Modelle im wissenschaftlichen Denken

Wie entwickeln sich Wissenssysteme?

Auslöser des Wandels

Die Neuorganisation von Wissen

Kapitel 5 Externe Repräsentationen in der Praxis

Die Entstehung der Arithmetik

Die Entstehung der Schrift

Die Entstehung der chemischen Summenformeln

Die grafische Darstellung von Veränderungen

Kapitel 6 Mentale Modelle in der Praxis

Epochen des mechanischen Wissens

Die Arten des mechanischen Wissens

Herausforderungen des theoretischen mechanischen Wissens

Die Anpassung eines mentalen Modells der intuitiven Physik

Der Aristotelismus als geteiltes Wissen

Die herausfordernden Objekte der frühneuzeitlichen Technologie

Die Entstehung der klassischen Physik aus einer Neuorganisation von Wissen

Kapitel 7 Die Natur wissenschaftlicher Revolutionen

Die kopernikanische Revolution

Die chemische Revolution

Die darwinsche Revolution

Grenzprobleme der klassischen Physik

Die Exploration des Horizonts der klassischen Physik

Die Entstehung einer epistemischen Insel

Die Entstehung der speziellen Relativitätstheorie

Die Entwicklung einer Matrix für eine neue Theorie

Die Gravitation als Auslöser des weiteren Wandels

Einsteins Äquivalenzprinzip

Mathematische Repräsentation versus physikalische Interpretation

Eine vorläufige Synthese

Der langwierige Prozess der Wissensintegration

Teil 3 Wie Wissensstrukturen die Gesellschaft beeinflussen und umgekehrt

Kapitel 8 Die Wissensökonomie

Wissen in der Gesellschaft

Praxis als Grenzproblem

Das anthropologische Spektrum

Soziale Institutionen

Institutionen und Wissen

Was ist eine Wissensökonomie?

Prozesse des Wissenstransfers

Externe Repräsentationen und die Wissensökonomie

Normative Systeme

Eine Falle der wechselseitigen Begrenzung

Materielle Verkörperungen gesellschaftlicher Institutionen

Symptomatische Konsequenzen

Kapitel 9 Eine Ökonomie des praktischen Wissens

Die Wissensökonomie des Bauens

Repräsentationen von Bauwissen

Verwaltung und Repräsentation

Die Entstehung des Berufsbildes des Architekten

Die Ausbildung von Plateaus

Kanonische Bauwerke als externe Repräsentationen

Bauwerke als kollektive Experimente

Die großartige Kuppel des Florentiner Doms

Galilei und das Arsenal

Kapitel 10 Wissensökonomien in der Geschichte

Die Wissensökonomie in schriftlosen Gesellschaften

Die Wissensökonomie in frühen Schriftkulturen

Das Beispiel Mesopotamien

Wissensproduktion in religiösen Rahmen

Von der religiösen zur philosophischen Wissensproduktion

Die Produktion von empirischem Wissen

Wissenschaftlich-technische Experten

Die Einführung des Buchdrucks

Die Integration von Wissensressourcen

Die Wissensgesellschaft der Frühen Neuzeit

Wissensproduktion im Zeitalter der Industrialisierung

Die zweite industrielle Revolution

Der Krieg als Katalysator der Wissensökonomie

Großforschung

Die transformative Macht der Elektronik

Das Problem der Messung wissenschaftlicher Produktivität

Die Entstehung neuer Disziplinen

Die Autorität der Wissenschaft auf dem Prüfstand

Akademischer Kapitalismus

Teil 4 Wie sich Wissen verbreitet

Kapitel 11 Die Globalisierung des Wissens in der Geschichte

Die Notwendigkeit einer globalen Perspektive

Globalisierung in der jüngeren Geschichte der Wissenschaft

Widersprüchliche Aspekte der Globalisierung

Die Rolle des Wissens in der Globalisierung

Globalisierungen der frühen Menschheitsgeschichte und ihre Sedimente

Die Dynamik von Transferprozessen

Die Globalisierung als Bedingung für die Entstehung der frühneuzeitlichen Wissenschaft

Die griechische Wissenschaft als Resultat kultureller Brechungen

Die Renaissancen der griechischen Wissenschaft

Netzwerke der Übersetzung

Bildteil

Die iberische Globalisierung

Kapitel 12 Die vielfältigen Ursprünge der Naturwissenschaft

Die Notwendigkeit einer evolutionären Perspektive

Frühe Schriften zur Mechanik in Griechenland und China

Der Transfer der europäischen Wissenschaft nach China

Wissenstransfer im Zeitalter des Kolonialismus

Kapitel 13 Epistemische Netzwerke

Die Analyse sozialer Netzwerke

Die drei Dimensionen epistemischer Netzwerke

Die griechische Wissenschaft als ein Netzwerkphänomen

Mittelalterliche Netzwerke des Wissens

Das aufschlussreiche Beispiel des

Sphæra

-Traktats

Die epistemische Gemeinschaft der allgemeinen Relativitätstheorie

Historische Netzwerkanalyse

Teil 5 Von welchem Wissen unsere Zukunft abhängt

Kapitel 14 Epistemische Evolution

Wissenschaft wird existenziell

Erweiterte Evolution

Technologische Evolution

Eine kurze Geschichte des Raums

Die Entstehung der menschlichen Sprache

Die neolithische Revolution

Kapitel 15 Auszug aus dem Holozän

Die Holozän-Blase

Wann begann das Anthropozän?

Die Stickstoff-Geschichte

Die Gefahr nichtbeabsichtigter Folgen

Kapitel 16 Wissen für das Anthropozän

Der Platz der Menschheit im Anthropozän

Die Ergosphäre

Fehlendes Wissen

Die verletzliche Macht lokalen Wissens

Dunkles Wissen

Die Coronakrise als Warnsignal

Die Dringlichkeit einer globalen Energiewende

Digitalisierung, intelligente Systeme und Datenkapitalismus

Unterwegs zu einem Web des Wissens

Kapitel 17 Die Wissenschaft und die Herausforderungen der Menschheit

Glossar

Anmerkungen

Die Geschichte dieses Buches

Literatur

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildungen im Text

Farbtafeln

Verzeichnis der Erklärkästen

Register

Fußnoten

Informationen zum Buch

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9Die Geschichte dieses Buches

Wenn wir unser wahres Ziel nicht für immer aufgeben wollen, dann dürfte es nur den einen Ausweg aus dem Dilemma geben: dass einige von uns sich an die Zusammenschau von Tatsachen und Theorien wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist – und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen.

– Erwin Schrödinger, Was ist Leben?

Ein Langzeit-Forschungsprojekt und seine Wurzeln

Dieses Buch umfasst die Zeitspanne von den Ursprüngen des menschlichen Denkens bis zu den aktuellen Herausforderungen des Anthropozäns. Das Anthropozän wird hier als neue geologische Epoche verstanden, die durch die weitreichenden und nachhaltigen Folgen des menschlichen Handelns für das Erdsystem definiert ist. Somit ist das Anthropozän der letztgültige Kontext für eine Geschichte des Wissens und der natürliche Fluchtpunkt einer Untersuchung der kulturellen Evolution aus einer globalen Perspektive. Aus dieser Perspektive habe ich versucht, in dieser Studie vielfältige historische und geografische Horizonte miteinander zu verknüpfen; sie beschäftigt sich sowohl mit den Aspekten der longue durée der Wissensevolution als auch mit den beschleunigten Veränderungen der Wissensentwicklung, die uns in das Anthropozän geführt haben.

10Forschungen, die seit 1994 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte durchgeführt wurden, bilden das Fundament dieses Buches.1 Seit den Anfängen des Instituts haben meine Kollegen und ich uns der Erforschung der Wissenschaftsgeschichte als Bestandteil einer umfassenderen Geschichte des menschlichen Wissens verschrieben. Stets haben wir dabei die Bedeutung des praktischen Wissens und der historischen Kontinuität hervorgehoben, selbst bei der Beschäftigung mit den Wendepunkten der modernen Wissenschaft. Darüber hinaus haben wir kulturübergreifende Vergleiche angestellt, insbesondere zwischen der westlichen, der chinesischen und der islamischen Wissenschaft, und ein Forschungsprojekt zur Globalisierung des Wissens in der Geschichte angestoßen.

Die Forschung, die dem Buch zugrunde liegt, war (und ist) ein Gemeinschaftsunternehmen. Ihre Keimzelle ist der Begriffsrahmen einer historischen Epistemologie – verstanden als eine historische Theorie des Wissens –, welcher gemeinsam mit Peter Damerow, Peter McLaughlin und Gideon Freudenthal entwickelt wurde, und zwar auf Grundlage vorangegangener Arbeiten von Peter Damerow und Wolfgang Lefèvre zur Wissenschaft und ihrer Beziehung zur menschlichen Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Organisation. Von Wolfgang Lefèvre, Klaus Heinrich und Yehuda Elkana habe ich gelernt, die Wissenschaft in den umfassenden Zusammenhängen der menschlichen Geschichte zu betrachten und die Versprechungen ihrer aufklärerischen Ideale sowie ihren potenziellen Beitrag zur Selbsterkenntnis der Menschheit kritisch zu hinterfragen.

Das vorliegende Buch verdankt vieles dem Denken von Peter Damerow, seiner führenden Rolle in unserer Forschungsgruppe und unserer mehr als dreißigjährigen Freundschaft und Zusammenarbeit. Sie stützt sich nicht zuletzt auf die grundlegenden theoretischen Einsichten, die er (ausgehend von Philosophie, Bildungsforschung, Psychologie und Kognitionswissenschaft) in seinem Werk Abstraction and Representation von 1996 zusammen11getragen hat.2 Ich habe hier Teile des Materials verwendet, das wir für ein gemeinsames Werk zur Geschichte der Mechanik zusammengetragen hatten – das wir aufgrund seines vorzeitigen Todes 2011 nicht zum Abschluss bringen konnten.

Zwei Forschungsstränge

Unsere Forschungen am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte folgen zwei Strängen: der langfristigen Tradierung und Transformation von Wissen und den Prozessen von dessen Transfer und Globalisierung. Beide Aspekte sind meiner Ansicht nach entscheidend, um zu verstehen, wie es zu unserem Eintritt in das Anthropozän kam, und in beiden werden Muster der Wissensevolution sichtbar, die trotz ihrer Bedeutung für die Bewältigung der Herausforderungen des Anthropozäns lange unterschätzt wurden. Von daher spiegeln sich beide in der Struktur des Buches wider.

Die Geschichte von Wissenschaft und Technologie hat traditionell der Innovation mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der Tradierung, der Transformation und dem Transfer von Wissen. Doch vielfach war es gerade das weniger spektakuläre Wissen, das zu den gefeierten Entdeckungen und Erfindungen geführt hat. Dieses Wissen zeigt teilweise eine verblüffende Stabilität und Haltbarkeit, und zwar nicht selten über große Zeiträume mit Phasen grundlegender Umwälzungen hinweg. In ähnlicher Weise haben seit den Anfängen der menschlichen Kultur der interkulturelle Wissenstransfer und die damit einhergehende Transformation dieses Wissens die technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften geprägt, ein Umstand, der bei der ausschließlichen Konzentration auf die offensichtlichen Konvergenzpunkte leicht übersehen wird.

12Auf Grundlage unserer historischen Untersuchungen haben wir versucht, eine theoretische Sprache zu entwickeln, mit der sich sämtliche dieser Entwicklungs- und Transferprozesse unabhängig von ihrer Beschaffenheit oder ihrem Medium beschreiben lassen. Zu diesem Zweck haben wir auf Einsichten aus historischen Disziplinen wie der Archäologie, der Politik- und der Wirtschaftsgeschichte, der Wissenschafts- und der Technikgeschichte sowie der Kunst- und der Religionsgeschichte zurückgegriffen, aber auch auf Erkenntnisse der philosophischen Erkenntnistheorie, der Kognitions-, der Sozial- und der Verhaltenswissenschaften sowie insbesondere der Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Psychologie und Sozialanthropologie.

Wie lässt sich ein solches ehrgeiziges und umfassendes Forschungsprogramm umsetzen – und wie lässt sich sein Resultat präsentieren? Wir entschieden uns für eine Herangehensweise, die vielleicht mit dem Versuch von Biologinnen und Biologen verglichen werden kann, allgemeine biologische Muster durch die Konzentration auf einen Modellorganismus wie die Drosophila melanogaster zu verstehen, oder mit der Strategie eines Drehbuchautors, der einen komplexen Roman mit vielen ineinander verwobenen Erzählsträngen für das Drehbuch eines Films adaptiert, indem er die Zahl der Figuren und Erzählebenen reduziert und sich auf einige wenige, sorgsam ausgewählte Protagonisten und Themen konzentriert.3 In unserem Zusammenhang ging es selbstverständlich nicht um die Auswahl eines Figurenensembles, sondern um die Konzentration auf bestimmte Stränge und Bereiche der Wissensentwicklung, die für die Untersuchung der langfristigen Entwicklungen und der globalen Transformationen des Wissens besonders geeignet erschienen.

13Die Geschichte des mechanischen Denkens

Ein Erzählstrang, auf den wir uns konzentriert haben, ist die Geschichte der Mechanik im weitesten Sinne. Gemeint ist also weniger die Geschichte der Mechanik als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin, als vielmehr die Geschichte des mechanischen Wissens, das von dem elementaren, intuitiven Wissen in einer von Schwerkraft und Druck regierten Welt über das aus der Erfahrung mit Instrumenten und Werkzeugen gewonnene praktische Wissen bis zu den theoretischen, in schriftlichen Texten festgehaltenen Wissensformen reicht. Die Geschichte des mechanischen Wissens erstreckt sich von seinen vormenschlichen Ursprüngen über eine lange Tradition der praktischen Erfahrung, der Naturphilosophie und der klassischen Mechanik bis zu den jüngsten wissenschaftlichen Entwicklungen einschließlich der neuen Mechanik von Relativitätstheorie und Quantenphysik. Ein weiteres bemerkenswertes und bedeutendes Merkmal des mechanischen Wissens ist die Tatsache, dass es keineswegs allein der Stolz einer westlichen Tradition ist, sondern im Laufe der Geschichte auch in vielen anderen Kulturen gedieh.

Aus all den genannten Gründen entschlossen wir uns (vor gut 25 Jahren), dass das mechanische Wissen im Mittelpunkt des Forschungsprogramms der von mir geleiteten Abteilung am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte stehen solle. Unser übergreifendes Ziel war es, die Möglichkeit einer historischen Theorie des Wissens und des menschlichen Denkens zu erkunden. Die Entscheidung für das mechanische Wissen sollte sich als eine glückliche Wahl erweisen, nicht zuletzt wegen der dadurch beförderten langfristigen Zusammenarbeit mit dem Museo Galilei in Florenz und dessen charismatischen Leiter Paolo Galluzzi samt seinem Team.

Spezielle Untersuchungen waren einerseits einzelnen Zeiträumen von der Antike bis zur modernen Wissenschaft gewidmet, 14andererseits den unterschiedlichen Ebenen des mechanischen Wissens von der Verwendung einfacher Maschinen bis zur Formulierung hochabstrakter Theorien. Unsere Forschung beschränkte sich ihrer Anlage nach nicht auf die europäische Tradition, sondern bezog auch Entwicklungen in der chinesischen und der islamischen Welt ein.

Die besondere Aufmerksamkeit galt weniger einzelnen Erfindungen und Leistungen als vielmehr allgemeineren gesellschaftlichen Prozessen, welche die Tradierung, Akkumulation und Erneuerung von mechanischem Wissen ermöglicht, im Laufe der Jahrtausende aber auch zu Verlusten und dramatischen Veränderungen in den kognitiven und sozialen Strukturen dieses Wissens geführt haben. Die Ergebnisse zahlreicher dieser Untersuchungen wurden bereits in Spezialstudien veröffentlicht, in denen wir unser neuartiges Vorgehen auf die historischen Quellen anwendeten. Hier nutze ich diese Ergebnisse als Hintergrund, der es mir ermöglicht, einen theoretischen Rahmen zu entwerfen, der für künftige Studien der Wissenschaftsgeschichte von Nutzen sein könnte.

Gemeinsam mit Peter Damerow, Gideon Freudenthal und Peter McLaughlin habe ich mich zunächst mit der Entstehung der klassischen Mechanik beschäftigt, um ein gemeinsames Verständnis der begrifflichen Transformationen in den Naturwissenschaften auszubilden. Diese Arbeit gab unserer weiteren Forschung die Richtung vor, und ihre Ergebnisse wurden 1991 in unserem Gemeinschaftswerk Exploring the Limits of Preclassical Mechanics veröffentlicht.4 Den Begriff der »vorklassischen Mechanik« prägten wir seinerzeit, um die ausgedehnte Zwischenstufe der Frühen Neuzeit (etwa zwischen 1500 und 1800) zu beschreiben, in der die aristotelische Naturphilosophie (die jahrhundertelang das Denken über die physische Welt dominiert hatte) in die klassische Mechanik transformiert wurde – nicht durch eine »wissenschaftliche Revolution«, sondern durch einen Prozess der begrifflichen Neuorganisation, der dem praktischen Wissen sei15nen Platz innerhalb der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse zuwies.

Zunächst konzentrierten wir uns auf Protagonisten wie Galilei und Descartes und einige wenige zentrale Themen wie das Fallgesetz und die Projektilbewegung. In der Folge wurde diese Arbeit durch Jochen Büttner, Matthias Schemmel und Matteo Valleriani wesentlich erweitert, nicht allein durch Fallstudien, sondern auch durch grundlegende epistemologische Beiträge wie etwa die Begriffe des herausfordernden Objekts, des geteilten Wissens und der Struktur des praktischen Wissens.5 Diese Begriffe sind Grundpfeiler des vorliegenden Buchs. Der allgemeinere Zusammenhang der frühneuzeitlichen Wissenschaft wurde zudem zum Gegenstand der Zusammenarbeit mit weiteren Kollegen, insbesondere mit Rivka Feldhay und Pietro Omodeo, unterstützt durch die Deutsch-Israelische Stiftung für Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung (GIF) und die DFG-Sonderforschungsbereiche 644 und 980 der Humboldt-Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit wurden in einer Buchreihe zur historischen Epistemologie der Mechanik veröffentlicht.6

Neben der frühneuzeitlichen Wissenschaft wurde die Entstehung der modernen Physik zu einem zentralen Thema unserer Untersuchungen zu Transformationsprozessen in der Wissensgeschichte. Als Schwerpunkt wählten wir hierbei die Arbeit Albert Einsteins, insbesondere zur Relativitätstheorie.7 Eine parallele Anstrengung widmeten wir anschließend der Geschichte der Quantenphysik als der anderen tragenden Säule der modernen Physik.8 Ein tiefergehendes Verständnis dieses Strangs der Entstehung der modernen Physik musste über Einsteins eigene Leistungen hinausgehen und auch das allgemeinere Wissenssystem in den Blick nehmen, das am Übergang von der klassischen zur modernen Physik beteiligt war, einschließlich der disziplinären Organisation der Wissenschaft, der Beziehung zum zeitgenössischen technischen Wissen, des industriellen und gesellschaftlichen 16Kontextes, in dem sich dieser Übergang ereignete, der Arbeiten anderer Physiker und der Tatsache, dass sich die Entstehung der modernen Physik selbst nur als Teil einer langfristigen Entwicklung begreifen lässt, die mit der Veröffentlichung einiger weniger bahnbrechender Aufsätze nicht beendet war.

An den Forschungen zu Einsteins Arbeit waren (neben Peter Damerow als Berater) Michel Janssen, John Norton, Tilman Sauer und John Stachel beteiligt, die sich nicht nur mit den historischen Aspekten des Projekts befassten, sondern auch mit seiner Bedeutung für das allgemeine Verständnis von Transformationsprozessen des Wissens. An der Erforschung der Arbeit von Einsteins Zeitgenossen waren unter anderem Leo Corry und Matthias Schemmel beteiligt. Den kulturellen Kontexten, in denen die Relativitätstheorie entstand, widmeten sich innerhalb unserer Forschungsgruppe Giuseppe Castagnetti und Milena Wazeck. Nachfolgende Studien zur Relativitätstheorie wurden in Zusammenarbeit mit Alexander Blum, Olaf Engler, Jean Eisenstaedt, Hanoch Gutfreund, Roberto Lalli, Robert Rynasiewicz, Matthias Schemmel und anderen durchgeführt. Von diesen Arbeiten mache ich in diesem Buch ausgiebigen Gebrauch.

Langzeitstudien der Wissensgeschichte

Die Forschungsarbeiten, auf denen dieses Buch aufbaut, beschränkten sich jedoch keineswegs auf die Mechanik. Wesentliche Beiträge leisteten die Untersuchungen zur Geschichte von Charles Darwins Evolutionstheorie von Wolfgang Lefèvre und zur Geschichte der Chemie von Ursula Klein, insbesondere ihre Arbeit zu den Ursprüngen der modernen Chemie im praktischen Wissen und zur Verwendung von chemischen Formeln als »Papierwerkzeugen« in der Transformation des wissenschaftlichen 17Wissens. Zudem haben Kleins Einsichten hinsichtlich der Beziehung zwischen wissenschaftlicher und industrieller Revolution (insbesondere die Rolle der »Technowissenschaften« und der hybriden Experten betreffend) zusammen mit Beiträgen von Wolfgang Lefèvre und Matteo Valleriani unser Verständnis der gesellschaftlichen Voraussetzungen und Implikationen des wissenschaftlichen und technischen Wissens vertieft.9

Im Rahmen unseres umfassenden Gemeinschaftsunternehmens wurden zudem zwei maßgebliche Langzeitstudien durchgeführt: eine zur Epistemologie des Raums und eine zur Wissensgeschichte der Architektur, also zur Geschichte des Wissens, das den großen architektonischen Errungenschaften der Vergangenheit zugrunde lag. Im Rahmen des Exzellenzclusters TOPOI untersuchte eine Forschungsgruppe unter Leitung von Matthias Schemmel die Wechselbeziehung von Erfahrung und Reflexion in der historischen Entwicklung des räumlichen Wissens von der Kognition der Primaten bis zur modernen Wissenschaft.10 Die zweite systematische Langzeitstudie widmete sich der Wissensgeschichte der Architektur vom Neolithikum bis zur Renaissance.11 Sie beruhte auf der Zusammenarbeit mit einem anderen Max-Planck-Institut, der Bibliotheca Hertziana in Rom, und wurde von Wilhelm Osthues und Hermann Schlimme geleitet.

Studien zur Wissenszirkulation

Ein Forschungsprojekt zur Globalisierung des Wissens und ihren Folgen untersuchte kulturübergreifende Prozesse des Wissenstransfers und der Wissenszirkulation. Daran beteiligt war ein ganzes Netzwerk von Wissenschaftlern aus höchst unterschiedlichen Disziplinen und mit vielfältigen historischen Spezialge18bieten. Entwickelt wurde eine Taxonomie für die systematische Analyse historischer Prozesse des Transfers und der Transformation von Wissen. An dem Projekt wirkten unter anderem Peter Damerow, Kostas Gavroglu, Gerd Graßhoff, Malcolm Hyman, Daniel Potts, Mark Schiefsky und Helge Wendt mit. Einige der von mir gemeinsam mit Malcolm Hyman verfassten Texte (vier Überblicksdarstellungen, die erstmals 2012 in einem Sammelband zu den Ergebnissen des Forschungsprojekts erschienen) sind an verschiedenen Stellen in die vorliegende Studie eingeflossen.12 Tragischerweise verstarb Malcolm vor Vollendung dieses Bandes.

Unsere Untersuchung der Globalisierung des Wissens wurde durch kulturübergreifende Vergleiche und weitere ausführliche Studien zum Wissenstransfer insbesondere zwischen der westlichen, der chinesischen und der islamischen Wissenschaft bereichert. Der Vergleich mit der außereuropäischen Wissenschaft beruht im Fall Chinas auf der Zusammenarbeit mit Matthias Schemmel, Zhang Baichun, Tian Miao und William Boltz und wurde im Rahmen der Kooperation zwischen der Max-Planck-Gesellschaft und der Chinesischen Akademie der Naturwissenschaften gefördert.13 Im Fall der islamischen Wissenschaft stütze ich mich im Anschluss an frühere Arbeiten mit Mohammed Abattouy und Paul Weinig im Wesentlichen auf gemeinsame Untersuchungen mit Sonja Brentjes.14 Diese Studien entstanden im umfassenderen Zusammenhang des Projekts »Convivencia«, einer gemeinsamen Initiative des Kunsthistorischen Instituts Florenz, des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie und des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung.

Meine Mitarbeit im DFG-Sonderforschungsbereich 980 (»Episteme in Bewegung«) der Freien Universität Berlin hat mir entscheidende Impulse für die konkrete Ausgestaltung von Begriffen gegeben, die hier von zentraler Bedeutung sind, etwa dem der Wissensökonomie. Das Globalisierungsprojekt regte zudem 19die Auslotung neuer methodischer Ansätze zu Fragen des Transfers und der Verbreitung von Wissen an, insbesondere der sozialen Netzwerkanalyse, wozu Malcolm Hyman, Roberto Lalli, Matteo Valleriani und Dirk Wintergrün entscheidende Beiträge leisteten, auf die ich mich hier stütze.15

Allgemeinere Wissenskontexte

Da die Geschichte des wissenschaftlichen Wissens nur vor dem Hintergrund anderer, elementarerer Wissensformen zu verstehen ist, haben wir zudem Studien zum intuitiven und praktischen Wissen in verschiedenen Kulturen durchgeführt und gefördert. So hat etwa Katja Bödeker vergleichende Feldforschungen in Deutschland und Papua-Neuguinea betrieben und in einer Studie die Entwicklung intuitiver Auffassungen von Kraft, Bewegung, Gewicht und Dichte untersucht.16 Ein umfassend dokumentiertes Beispiel für ein indigenes Volk und sein (mechanisches und sonstiges) Wissen verdanken wir der Arbeit von Wulf Schiefenhövel und seinen Kollegen, die sich den Eipo, einem Volk im abgelegenen Bergland Neuguineas, widmeten. Darüber hinaus haben wir auch auf Grundlage archäologischer Funde Untersuchungen zum praktischen Wissen unternommen; so beschäftigte sich bis vor kurzem im Rahmen des Exzellenzclusters TOPOI eine interdisziplinäre Forschungsgruppe unter der Leitung von Jochen Büttner mit einer systematischen Rekonstruktion der Wägetechniken in der antiken Welt. Das mit diesen verbundene praktische Wissen haben Peter Damerow, Matthias Schemmel und ich bei Feldforschungen in Italien und China erkundet, und in einem Bericht über die handwerkliche Herstellung von Waagen zusammengefasst.17

Die Interpretation der Wissensgeschichte aus einer evolutionä20ren Perspektive lässt sich auf die Zusammenarbeit mit Manfred Laubichler zurückführen, der die Erkenntnisse der evolutionären Entwicklungsbiologie in unsere Diskussionen einbrachte.18 Die Konzentration unserer Untersuchungen auf das Anthropozän nahm ihren Anfang mit einem umfassenden interdisziplinären Projekt zu dem Thema, das ich gemeinsam mit Katrin Klingan, Christoph Rosol und Bernd Scherer am Berliner Haus der Kulturen der Welt kuratiert habe.19 An dem Projekt waren nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Disziplinen beteiligt, sondern auch Künstlerinnen und Künstler sowie Vertreterinnen der Zivilgesellschaft. In dem vorliegenden Band nutze ich insbesondere Einsichten von Erdsystemwissenschaftlern wie Peter Haff, Will Steffen und Jan Zalasiewicz, eine in Zusammenarbeit mit Sara Nelson, Christoph Rosol und anderen durchgeführte Untersuchung zum Begriff der Technosphäre, Erkenntnisse zur Transformation von Energiesystemen aus der Arbeit von Robert Schlögl, Benjamin Steininger, Thomas Turnbull und Helge Wendt und Einsichten aus der gemeinsamen Arbeit mit Benjamin Johnson und Benjamin Steininger zur Geschichte der menschlichen Eingriffe in den Stickstoffzyklus.20

Unterwegs zu einer historischen Theorie des Wissens

Versuche, spezialisierte Forschungen in eine umfassende Gesamtschau zu integrieren, sind selten geworden. Sofern sie überhaupt noch unternommen werden, stützen sie sich in vielen Fällen nicht auf empirische Untersuchungen, die in Hinblick auf eine solche Synthese durchgeführt wurden, blenden zudem Details aus oder eröffnen kaum Ansatzpunkte für die weitergehende Forschung.

21Unsere Synthese konzentriert sich auf die allgemeineren Gesichtspunkte der historischen Wissensevolution. Im Mittelpunkt stehen eher Ideen und Begriffe denn technische Details, allerdings wurden den erwähnten Studien zentrale Beispiele entnommen, sofern sie geeignet waren, einen allgemeinen Aspekt zu illustrieren. Selbstverständlich ist es riskant, Fachstudien in einen umfassenderen theoretischen Rahmen zu integrieren, der durch sie nur teilweise gestützt werden kann. Das resultierende Gebäude muss notwendigerweise unvollständig bleiben. Es wird stets, zumindest in Abschnitten, eingerüstet bleiben. Die zentralen Begriffe unseres Rahmens werden am Ende in einem Glossar aufgeführt und erläutert.

Die Mischung aus Gesamtübersicht und tiefgehenden Details kann auch die Leserschaft vor eine Herausforderung stellen, da sie immer wieder dem Wechsel zwischen der Vogelperspektive und dem Blick durch das Vergrößerungsglas folgen muss. Ich hoffe jedoch, dass sie mit einem besseren Verständnis der historischen Rolle des Wissens im Zeitalter des Anthropozäns belohnt wird – einem Verständnis, das auf den zahlreichen, hier erstmals vereinten Detailstudien beruht. Es handelt sich auch um eine Einladung, dem Blick auf das Anthropozän mehr Tiefe zu verleihen und diesen vertieften Blick dann zu nutzen, wenn wir die gewaltigen Aufgaben, vor denen wir gegenwärtig stehen, in Angriff nehmen.

Darwins Evolutionstheorie, Marx' politische Ökonomie und Freuds Psychoanalyse verfolgten emanzipatorische Ziele, indem sie umfassendere Perspektiven auf die Bedingungen des Menschseins eröffneten. Darwins Theorie kann als Kritik an der Tatsache betrachtet werden, dass die menschliche Verwurzelung in der biologischen Evolution verdrängt wurde. Marx protestierte mit seiner Kritik der politischen Ökonomie gegen den Anspruch der Bourgeoisie, die gesamte Spezies zu repräsentieren – ein Anspruch, der die Abhängigkeit der Reproduktion der menschlichen Gesellschaften von der Arbeit leugnete. Freud wiederum be22gehrte gegen die Verdrängung der menschlichen Bedürfnisse und Triebe durch ihre Unterwerfung unter die Zivilisation auf.

Sollte sich daher eine Geschichte des Wissens nicht in vergleichbarer Weise gegen seine Unterwerfung unter einen einseitigen Wissenschaftsbegriff auflehnen – einen Begriff, der das, was wir unter Wissen verstehen, im Dienste formaler Standards, akademischer Rivalitäten und der Interessen von Profit und Macht einschränkt? Einen Begriff, der die Wissenschaft von anderen Formen der Reflexion trennt und so den Prozess der Reflexion selbst, durch den Wissen überhaupt erst zu wissenschaftlichem Wissen wird, in ein Instrument der Verdrängung oder gar Unterdrückung verwandelt?

In Theorien des Wissens ist das Politische häufig lediglich implizit vorhanden, fehlt jedoch nie ganz. In der Vergangenheit wurde die politische Dimension durch »externalistische« Auffassungen von Wissenschaft explizit gemacht, in denen die bestimmende Rolle von ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen für die Wissenschaft hervorgehoben wurde.21 Dagegen blieb diese Dimension in den »internalistischen« Ideengeschichten, die nicht selten mit einer Betonung der geistigen Leistungen heroischer Wissenschaftler einhergingen, eher implizit.

In der aktuellen Diskussion wird die Wissenschaft oft als entweder sozial konstruiert (zum Beispiel durch »epistemische Werte«) oder als von »epistemischen Dingen« geprägt betrachtet. Die erste Position treibt eine subjektivistische Auffassung von Wissenschaft auf die Spitze und läuft Gefahr, ihre Gegenstände und Inhalte zugunsten einer Narration von geteilten Überzeugungen und Praktiken innerhalb begrenzter Gemeinschaften und kultureller Kontexte an den Rand zu drängen. In diesem Zusammenhang bezieht sich die »soziale Konstruiertheit« so gut wie nie auf die umfassenderen ökonomischen und politischen Kräfte (etwa den Kapitalismus, der die Wissenschaft als soziale Praxis bestimmt), sondern auf die lokal situierten kulturellen Ressourcen. Die zweite Position spitzt die Rolle der noch undeutlich definier23ten Forschungsgegenstände zu, läuft aber ihrerseits Gefahr, die Subjekte samt ihrer intentionalen und perzeptiven Zustände an den Rand zu drängen. Zudem bietet sie nicht wirklich einen Rahmen, um sich explizit mit den allgemeineren gesellschaftlichen Kontexten der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Eine dritte Alternative besteht darin, den Unterschied zwischen der menschlichen Handlungsmacht (agency) und der Wirkmacht der Dinge herunterzuspielen, wodurch entweder das Handeln entpolitisiert oder sogar enthumanisiert wird oder der natürlichen Welt menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden, etwa, wenn die Erde als »Gaia« mystifiziert und als erdgeschichtlicher Akteur betrachtet wird.

Wo also liegt die Zukunft der Wissenschaftsgeschichte? Meiner Ansicht nach ist sie auf jeden Fall jenseits ihrer eigenen engeren fachspezifischen Themen und Fragestellungen zu finden und verlangt nach einem weiter gesteckten Horizont. Wissenschaftshistoriker haben ein umfassendes Repertoire an Methoden und Ansätzen entwickelt, die es ihnen erlauben, zahlreiche unterschiedliche Aspekte der historischen Wissenschaftsentwicklung zu analysieren. Doch in einem gewissen Sinne ist die Wissenschaftsgeschichte auch scholastisch geworden und beschäftigt sich mehr mit ihren inneren Angelegenheiten und ihren Verbindungen zu eng verwandten Bereichen der Geisteswissenschaften als mit der Welt der Wissenschaft und ihrem Einfluss auf die missliche Lage, in der die Menschheit sich befindet.

Während wissenschaftliches und technisches Wissen unseren Alltag dominieren und das Überleben der Menschheit im Anthropozän von einer umsichtigen Umsetzung wissenschaftsbasierter Lösungen abhängt, trägt der gegenwärtige Mainstream der Wissenschaftsgeschichte kaum etwas zu diesen Diskussionen bei. Wie können wir das ändern? Was für ein Ansatz könnte einer Auffassung von Wissenschaft als einer menschlichen Praxis gerecht werden, die irreduzibel sowohl eine mentale als auch eine materielle und auch eine soziale Dimension einschließt? Wie lässt sich 24Wissen als durch lokale und übergreifende politische und ökonomische Strukturen zwar geprägt, aber nicht determiniert begreifen? Und was für eine historische und politische Epistemologie könnte dazu beitragen, dem wissenschaftlichen Erkenntnisstreben die Dimension der moralischen Verantwortlichkeit zurückzugeben?

Auf diese Fragen kann ich in dem vorliegenden Buch keine definitiven Antworten anbieten, dennoch will ich mich abseits der eingefahrenen Positionen, die die gegenwärtige Diskussion kennzeichnen, auf die Suche nach ihnen machen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir wieder Experimente wagen müssen. Wir sollten uns nicht damit zufriedengeben, die traditionellen Erzählungen zu dekonstruieren. Wir sollten auch über die das Fach dominierenden isolierten Fallstudien hinausgehen. Wir müssen neue Bündnisse mit den Kolleginnen und Kollegen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen schmieden. Wir sollten nach neuen Vorgehensweisen suchen und eher vergleichende und systemische Perspektiven einbeziehen. All das können wir allerdings nicht als eine reflexive Übung im Schutze des Elfenbeinturms unternehmen. Wir müssen dazu in den Maschinenraum der Wissenschaft hinabsteigen und an denjenigen tagtäglichen Anstrengungen mitwirken, deren Ziel es ist, das Anthropozän in eine lebenswerte Umwelt für die Menschheit zu verwandeln.

Danksagungen

Die Integration von Fachstudien in ein umfassenderes Bild erfordert eine engere Zusammenarbeit zahlreicher Disziplinen als gemeinhin üblich, eine Praxis, die in der Regel durch das aktuelle akademische Konkurrenzsystem nicht begünstigt wird. Doch die von der Max-Planck-Gesellschaft geschaffenen besonderen Be25dingungen und die kooperative Unterstützung meiner Kolleginnen und Kollegen am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte haben mir die einzigartige Möglichkeit eröffnet, eine solche umfassende Kooperation über viele Jahre zu unterhalten. Ein Großteil des vorliegenden Buchs entstand in meiner Zeit als Vorsitzender der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftlichen Sektion der Max-Planck-Gesellschaft, und ich bin meinen dortigen Kolleginnen und Kollegen äußerst dankbar für die zahllosen stimulierenden Diskussionen in dieser Zeit. Die vorliegende Arbeit ist auch ein Ausdruck meiner Dankbarkeit gegenüber der Gesellschaft, den Kolleginnen und Kollegen des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, meinen Mentoren und den vielen weiteren Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden, die mit mir diese Erfahrung der Zusammenarbeit geteilt haben.

Die Darstellung der allgemeineren gesellschaftlichen Rolle von Abstraktionen ist den Studien zur Geschichte und Philosophie der Religionen von Klaus Heinrich verpflichtet, dessen Vorlesungen ich als Student fasziniert verfolgt habe. Die Analyse des reflektierenden Denkens – das in unterschiedlicher Weise für die Arbeiten von Peter Damerow und Yehuda Elkana zentral ist – steht in einer im weitesten Sinne piagetschen Tradition, die für Peter und mich auf exemplarische Weise durch Wolfgang Edelstein und seinen Forschungsbereich »Entwicklung und Sozialisation« am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung verkörpert wurde.

Meinen speziellen Dank möchte ich auf all die ausweiten, die die Arbeit an dieser vorläufigen Synthese mit erheblichen Aufwendungen ihrer Zeit unterstützt haben. Die ersten Seiten habe ich als Francis Bacon Visiting Professor am California Institute of Technology zu Papier gebracht, wo ich mich auf Einladung von Diana und Jed Buchwald aufhielt, die das Projekt von Beginn an ermutigt haben. Seither erfuhr das Manuskript unzählige Überarbeitungen. Jede neue Version wurde von Lindy Divarci, 26der Publication Managerin der Abteilung I des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, kritisch gelesen und gewissenhaft lektoriert. Ohne ihre Loyalität und unschätzbare Hilfe hätte dieses Buch niemals das Licht der Welt erblickt. Wesentlich unterstützt wurde sie in der zweiten Hälfte des Projekts durch Manon Gumpert, die die Anmerkungen, Fakten und Zitate überprüft hat. Zudem hat Manon die Bibliografie ergänzt und durchgesehen und beim Lektorat des endgültigen Manuskripts geholfen. Das Schlusslektorat der englischen Fassung lag in den Händen von Zachary Gresham, der mit seinem scharfen Auge, seiner außergewöhnlichen Sorgfalt und seiner erstaunlichen Ausdauer und Kreativität dazu beigetragen hat, mein deutsches Englisch in ein amerikanisches zu verwandeln. Sein Beitrag zu dem Glossar am Ende des Bandes ist von unschätzbarem Wert. Die deutsche Übersetzung, die ich an einigen wenigen Stellen noch ergänzt und präzisiert habe, wurde von Sven Scheer mit einem Einfühlungsvermögen besorgt, das mich immer wieder erstaunt hat, und vom Suhrkamp Verlag, insbesondere von Eva Gilmer, äußerst sorgfältig betreut. Einige zusätzliche Passagen wurden eingefügt, um aktuellere Entwicklungen zu berücksichtigen, etwa die globale Coronakrise betreffend, die in enger Beziehung zur Dynamik des Anthropozäns steht.

Ein kurzer Kommentar zu den zahlreichen Abbildungen, die den Text ergänzen: In der Geschichte des menschlichen Denkens haben Bilder eine zentrale Rolle gespielt. Sie sind ein bedeutendes Beispiel der vielfältigen materiellen Verkörperungen des Denkens, die ich hier als »externe Repräsentationen« bezeichne, um sie von den »internen Repräsentationen« im menschlichen Geist zu unterscheiden. Doch diese ein wenig technische Terminologie sollte nicht dazu verleiten, diese Verkörperungen als passiv aufzufassen. Im Gegenteil: Bilder und andere externe Repräsentationen führen ein Eigenleben und prägen das menschliche Denken nicht weniger, als sie von diesem geprägt werden. Viele der Abbildungen in diesem Buch dienen nicht einfach als dem Text un27tergeordnete Illustrationen, sondern transportieren eigene Botschaften, mal im Dialog mit dem Inhalt des Textes, mal sogar in einer gewissen Spannung dazu. In einer auf Aby Warburg, Erwin Panofsky und Horst Bredekamp zurückgehenden Tradition respektiere ich die Autonomie der Bilder ebenso sehr, wie ich denjenigen dankbar bin, die sie zu diesem Band beigetragen haben, insbesondere Laurent Taudin, der den Text mit seinen charmanten und gelegentlich provokanten Zeichnungen bereichert, sowie auch Lindy Divarci, die das gesamte visuelle Material sorgfältig ausgewählt und arrangiert hat.

Der Weg bis zur endgültigen Fertigstellung war lang. Ohne das Engagement, die großzügige Hilfe und die verlässliche Unterstützung meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Abteilung I und der Gäste und Freunde unserer Abteilung hätte ich ihn nicht zurücklegen können. Ohne die zuverlässige Unterstützung meiner Sekretärin Petra Schröter, die seit der Gründung des Instituts an meiner Seite ist, wäre das alles nicht möglich gewesen. Ich danke außerdem Urs Schoepflin, dem früheren Leiter der Institutsbibliothek, und Esther Chen, ihrer jetzigen Leiterin, sowie den Kolleginnen und Kollegen der Bibliothek und der Digitalisierungsgruppe für ihre unschätzbare Hilfe bei der Beschaffung von Literatur und zahlreichen der Illustrationen.

Ein herzlicher Dank geht an Massimiliano Badino, Antonio Becchi, Alexander Blum, Sonja Brentjes, Jochen Büttner, Robert K. Englund, Rivka Feldhay, Gideon Freudenthal, Sascha Freyberg, Hanoch Gutfreund, Margaret Haines, Svend Hansen, Julia Mariko Jacoby, Ursula Klein, Jürgen Kocka, Roberto Lalli, Manfred Laubichler, Mark Lawrence, Ariane Leendertz, Wolfgang Lefèvre, Stephen Levinson, Robert Middeke-Conlin, Gabriel Motzkin, Pietro D. Omodeo, Naomi Oreskes, Daniel Potts, Carsten Reinhardt, Giulia Rispoli, Christoph Rosol, Matthias Schemmel, Robert Schlögl, Florian Schmaltz, Urs Schoepflin, Helmut Trischler, Matteo Valleriani, Helge Wendt und Dirk Wintergrün. Mit ihnen allen habe ich, insbesondere bei Abteilungs28treffen am Institut, ausführlich über frühere Versionen des Buchs oder über einzelne Abschnitte diskutiert; ihre großzügig mit mir geteilten detaillierten Kommentare, kritischen Anmerkungen und Vorschläge haben zu umfassenden Revisionen geführt. Im Laufe der Jahre habe ich mit unzähligen weiteren Kolleginnen und Kollegen zusammengearbeitet und mich intensiv ausgetauscht, darunter Giuseppe Castagnetti, Benjamin Johnson, Sara Nelson, Marcus Popplow, Simone Rieger, Bernd Scherer, Benjamin Steininger, Thomas Turnbull und Milena Wazeck. Mit vielen von ihnen verbinden mich gemeinsame Veröffentlichungen, und ich danke ihnen für die Erlaubnis, Passagen aus solchen für die Zwecke des vorliegenden Werks zu überarbeiten. Ich danke außerdem Paolo Galluzzi, Kostas Gavroglu, Gerd Graßhoff und Patrizia Nanz für zahllose wertvolle Diskussionen, die ebenfalls in diesen Band eingeflossen sind. Mein Dank schließt auch meine akademischen Lehrer Ruedi Seiler und Giovanni Gallavotti ein, die mich in die Welt der Physik und der Mathematik eingeführt haben. Ein besonderer Dank geht an die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte für ihre verlässliche Unterstützung und Ermutigung über die Jahre, insbesondere auch an den gegenwärtigen Vorsitzenden und seine Stellvertreterin, Fabio Bevilacqua und Ana Simões.

Die Quellen, auf die ich mich in meinem Text jeweils stütze, sind in den entsprechenden Anmerkungen angegeben. Außerdem habe ich Wikipedia genutzt, insbesondere für einige biografische Angaben und die Bildunterschriften, sofern nicht anders angegeben. Ich möchte allen danken, die zu dieser wunderbaren, als Gemeingut zugänglichen Wissensquelle beitragen. Nicht zuletzt möchte ich mich bei zwei anonymen Gutachtern der Princeton University Press für ihre wertvollen Vorschläge und hilfreiche Kritik zu einer früheren Version des Textes bedanken, ebenso bei dem ehemaligen Verlagslektor Al Bertrand und dem aktuellen Verlagslektor Eric Crahan für ihre Ermunterung und hilfreichen Ratschläge während des gesamten Entstehungsprozesses.

29Für die verbleibenden Fehler und Missverständnisse bin allein ich verantwortlich. Ohne Frage eine Gemeinschaftsleistung ist jedoch, was an dem vorliegenden Band von Wert sein mag.

31Teil 1Was ist Wissenschaft? Was ist Wissen?

33Kapitel 1Wissenschaftsgeschichte im Anthropozän

Wer sich daher nicht ernstlich wünscht, daß es der ganzen Menschheit gut gehe, der vergeht sich an ihr. Er ist aber auch kein wahrer Freund seiner selbst, wenn er sich wünscht, als Gesunder unter Kranken, als Weiser unter Dummen, als Guter unter Schlechten, als Glücklicher unter Elenden zu leben.

– Johann Amos Comenius, Pampaedia (Allerziehung)

Wo das Erkenntnisproblem nicht an den Anfang der Betrachtung tritt, da ist ihm seine wahrhafte Kraft bereits geraubt. Es ist die entscheidende Leistung der modernen Philosophie, daß sie die Erkenntnis nicht mehr als eine Einzelfrage betrachtet, die sich nebenher aus anderen systematischen Voraussetzungen her behandeln und lösen ließe, sondern sie als die schöpferische Grundkraft im Aufbau der intellektuellen und sittlichen Gesamtkultur begreifen lernt.

– Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit

Stürmische Zeiten

Die Menschen haben den Planeten verändert,1 ja, sie haben ihn radikal verändert, mit dramatischen Folgen. Es gibt so gut wie keinen unberührten Flecken Natur mehr.2 Ein Großteil der nicht von Eis bedeckten Erdoberfläche wurde umgeformt. Das Polareis schmilzt, der Meeresspiegel steigt und die Lebensräume an 34den Küsten und in den Ozeanen sind massiven Veränderungen unterworfen. Mehr als die Hälfte des Süßwassers auf dem Planeten wird vom Menschen ausgebeutet. Aquakulturen versauern und verseuchen die Meere. Unter der Erdoberfläche verwandeln Schürf- und Bohrarbeiten den Planeten. Der Bau Tausender Staudämme und großflächige Abholzungen haben gravierende Auswirkungen sowohl auf den Wasserkreislauf als auch die Erosionsraten und damit auf die Evolution und geografische Verbreitung unzähliger Arten. Der Verlust der Biodiversität ist um ein Vielfaches höher, als er es ohne menschliche Eingriffe wäre. Im Schnitt jedes zweite bis dritte Stickstoffatom in unserem Körper wurde schon einmal von der Düngemittelindustrie verarbeitet. Menschen und die von ihnen domestizierten Tiere bilden den überwiegenden Teil der Biomasse aller lebenden Säugetiere.

Mithilfe energieintensiver chemischer Prozesse nutzt und erzeugt der Mensch funktionale Werkstoffe, die unter natürlichen Bedingungen selten vorkommen, doch durch ihn allgegenwärtig geworden sind. Dazu gehören elementares Aluminium, Blei, Kadmium und Quecksilber ebenso wie Flugascherückstände aus der Verbrennung von Kohle und Öl bei hohen Temperaturen, Beton, Plastik und sonstige menschengemachte Stoffe, von denen viele über in der Natur nicht vorhandene Eigenschaften verfügen. Plutonium aus atmosphärischen Kernwaffentests wird noch Hunderttausende von Jahren in den Sedimenten zurückbleiben und nur langsam zu Uran und schließlich zu Blei zerfallen. Wir stellen direkt die höchste Konzentration der Treibhausgase Kohlendioxid und Methan seit mindestens 800 ‌000 Jahren fest, indirekt seit mindestens vier Millionen Jahren, und die Werte steigen weiter steil an. Selbst wenn wir die Nutzung fossiler Brennstoffe umgehend einstellten, würde es Jahrtausende dauern, bis die Konzentration wieder auf das vorindustrielle Niveau fiele.

Einige der Veränderungen geschehen in weit höherem Tempo, als sie es durch natürliche Prozesse würden. Die Kohlendioxidkonzentration steigt gegenwärtig mindestens zehnmal, womög35lich jedoch hundertmal schneller als zu jedem anderen Zeitpunkt der vorangegangenen 420 ‌000 Jahre. Parallel dazu verbreiten sich neue Krankheiten, deren Erreger sich dank kurzer Lebenszyklen sehr schnell an die neuen Bedingungen anpassen. Wie schnell können sich dagegen die menschlichen Gesellschaften anpassen? In jedem Fall werden sich die anhaltenden Veränderungen in verschiedenen Teilen der Erde unterschiedlich auswirken und ihr globaler Charakter wird für die davon Betroffenen nicht immer unmittelbar zu erkennen sein. Tiefgelegene Städte in Gewässernähe werden zunehmend durch Überschwemmungen gefährdet. Neue Formen der Gentrifizierung sind die Folge, da die Preise in den trockenen und sicheren Gebieten steigen und die ärmere Bevölkerung vertrieben wird. Vormals fruchtbares Ackerland trocknet infolge von Dürren aus, was zu Verteilungskämpfen und Migrationsbewegungen in reichere Länder führt. Auf den ersten Blick mögen die Industrieländer sogar vom Klimawandel profitieren, indessen die Entwicklungsländer darunter leiden – doch letztendlich verlieren alle. Es gibt kein Entkommen, auch nicht für die Reichen.

Kurz gesagt: Unser Planet verändert sich, und das mit irreversiblen Konsequenzen. Die weltweite Bevölkerungszahl wächst rapide. Der Mensch hat massiv in die Systemkreisläufe der Erde eingegriffen, insbesondere in den Kohlenstoffkreislauf – was den Klimawandel in Gang gesetzt hat –, aber auch in die Kreisläufe von Wasser, Stickstoff, Phosphor und Schwefel, die allesamt für das Leben auf der Erde fundamental sind. Die Menschheit hat die Energiebilanz auf der Erdoberfläche nachhaltig verändert, sodass unser Planet in eine neue Epoche eingetreten ist. Der Mensch agiert nicht vor dem Hintergrund einer vermeintlich unveränderlichen Natur, vielmehr ist er tief mit ihrer Struktur verwoben und prägt ihre unmittelbare Zukunft ebenso wie ihre ferne. Bei allen Eingriffen in die Erdkreisläufe ist der Mensch jedoch weiterhin ein Teil der Biosphäre und kann diese nicht hinter sich lassen (siehe Farbtafel I). Wir sind keine außenstehenden Beobachter!

36Die tiefgreifende Korrektur unseres Verständnisses vom Zustand des Planeten lässt sich nur mit dem Umsturz unserer physikalischen Begriffe von Raum und Zeit infolge von Einsteins Relativitätstheorien vergleichen. In der klassischen Physik erscheinen Raum und Zeit als die feste Bühne, auf der sich das Weltgeschehen abspielt. Doch laut Einsteins Theorie ist diese Bühne keineswegs der unveränderliche Rahmen einer Aufführung, sondern Teil von ihr. Es gibt keine absolute Trennung zwischen Darstellern und Kulisse. Raum und Zeit bilden nicht den bloßen Hintergrund der physikalischen Prozesse, sie nehmen an ihnen teil. Die neue Realität des Planeten zwingt uns in ähnlich radikaler Weise, unsere Situation zu überdenken: Wir leben nicht in einer stabilen Umwelt, die lediglich als Bühne und Ressource unseres Handelns dienen würde. Vielmehr sind wir Akteure in einem umfassenden Drama, in dem der Mensch und die nichtmenschliche Welt gleichermaßen eine Rolle spielen.

Im Jahr 2000 war der Nobelpreisträger Paul Crutzen, der die für das Ozonloch verantwortlichen Mechanismen entdeckt hatte, nicht mehr so recht zufrieden mit der offiziellen Darstellung des Zustands der Erde und der Behauptung, wir würden weiterhin in der Epoche des »Holozäns« leben. In der komplexen Klassifikation, durch die Geologen die gewaltigen erdgeschichtlichen Zeiträume gliedern, ist das Holozän – übersetzt in etwa »das ganz Neue« – die auf das Pleistozän folgende zweite Epoche des sogenannten Quartärs. Es mag befremdlich klingen, doch tatsächlich ist das Quartär ein vor ca. 2,6 Millionen Jahren angebrochenes Eiszeitalter; genauer gesagt, wird es durch die abwechselnde Ausbreitung und den Rückzug polarer Eismassen charakterisiert. Das Holozän wiederum ist eine Zwischeneiszeit mit zurückweichendem Eis. Seit seinem Beginn vor 11 ‌700 Jahren herrschen ungewöhnlich stabile klimatische Verhältnisse.3 Im Februar 2000 nun überkam Crutzen bei einer Tagung des International Geosphere-Biosphere Programms (IGBP) in Cuernavaca, in der Nähe von Mexiko-Stadt eine plötzliche Abneigung gegen den Begriff 37des Holozäns. Seiner Ansicht nach wurde damit der menschliche Einfluss auf das Erdsystem heruntergespielt. Crutzen forderte die übrigen Tagungsteilnehmer auf, den Begriff »Holozän« nicht länger zu verwenden, und suchte spontan nach einem neuen: »Wir sind nicht mehr im Holozän. Wir sind im … im … im Anthropozän!«4

Wie sich in der Folge herausstellte, hatte der Limnologe Eugene F. Stoermer den Begriff bereits seit den 1980er-Jahren benutzt.5 Verwandte Vorstellungen waren auch von anderen Wissenschaftlern unabhängig voneinander eingeführt worden. Hervorzuheben ist insbesondere der von Wladimir Wernadski, Édouard Le Roy und Teilhard de Chardin benutzte Begriff der »Noosphäre«. Sie schilderten die Menschheit (wenngleich in höchst unterschiedlichen Begriffen) als machtvolle geologische Kraft und bezogen auch die ethischen Implikationen dieser Einschätzung ein.6 Die Vorstellung vom Menschen als einer mächtigen planetaren Kraft reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück, als der französische Naturforscher Comte de Buffon (Georges-Louis Leclerc) bemerkte, die »gesamte Erdoberfläche trägt den Abdruck der menschlichen Stärke«.7 Doch die zentrale Stellung dieses Konzepts in der gegenwärtigen breiten Diskussion über die den ganzen Planeten betreffenden Veränderungen und die Rolle, die die Menschheit dabei spielt, geht auf den geschilderten Schlüsselmoment im Jahr 2000 zurück. Seither haben Crutzen und unzählige weitere Wissenschaftler aus zahlreichen Disziplinen kontrovers über den Begriff des Anthropozäns diskutiert sowie darüber, inwiefern er zum Verständnis der gegenwärtigen Lage beiträgt, aber auch über seine Brauchbarkeit als Bezeichnung einer eigenständigen geologischen Epoche.8 Mit der Frage der stratigrafischen Existenz des Anthropozäns und dessen möglichem Beginn ist die Anthropocene Working Group (AWG) befasst, ein 2009 als Teil der Untergruppe für Quartärstratigrafie gegründetes interdisziplinäres Gremium, an dem Erdwissenschaftler ebenso wie Historiker beteiligt sind. Das Hauptziel der AWG38ist es, wissenschaftliche Beweise zu liefern, die robust genug sind, damit das Anthropozän von der International Union of Geological Sciences (IUGS) formell als eine Epoche innerhalb der geologischen Zeitskala ratifiziert werden kann. Ein erstes physisches Treffen der AWG-Mitglieder fand 2014 am Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) statt. 2019 empfahl die AWG in einer verbindlichen Abstimmung, eine neue, funktional und stratigrafisch vom Holozän abzugrenzende Epoche anzunehmen, das Anthropozän als eine formale chronostratigrafische Einheit zu behandeln, und als Leitfaden für die Basis des Anthropozäns eines der stratigrafischen Signale um die Mitte des 20. Jahrhunderts zu nutzen.9 Unabhängig von dem letztendlichen Votum der geologischen Experten (für deren Zustimmung auf jeder Stufe des offiziellen Verfahrens mindestens 60 Prozent der Stimmen nötig sind) hat uns der Begriff des Anthropozäns bereits jetzt die Augen für die grundlegende Veränderung der globalen Umwelt geöffnet, ebenso wie für die Tatsache, dass die Menschheit die Erde in einem den geologischen Kräften vergleichbaren Ausmaß verwandelt.

Angesichts der massiven Auswirkungen der menschlichen Eingriffe in die Umwelt des Planeten ist die traditionelle Trennlinie zwischen Natur und Kultur problematisch geworden. Wir leben heute in einer »anthropologischen Natur«,10 die das Ergebnis unserer eigenen Eingriffe ist. Die Zeitskalen der Menschheitsgeschichte und der Geologie sind mittlerweile untrennbar miteinander verwoben. Unser wirtschaftlicher Stoffwechsel verbrennt in einer Zeitspanne von wenigen Hundert Jahren fossile Energieträger, die in mehreren Hundert Millionen Jahren entstanden sind. Und ebenso, wie aus geologischer Zeit historische Zeit wird, verwandelt unser Einfluss als geologische Kraft die Menschheitsgeschichte in einen wesentlichen Teil der geologischen Geschichte.11

39Wer zerstört unseren Planeten?

Die Frage, ob – und wenn ja, wann – das Anthropozän begonnen hat, ist nach wie vor umstritten. Unstrittig ist dagegen, dass die menschliche Veränderungskraft auf Wissen beruht, das über Generationen hinweg angehäuft und umgesetzt wurde, wobei sich die Geschwindigkeit dieses Prozesses seit der wissenschaftlichen Revolution, der industriellen Revolution und der in den 1950er-Jahren einsetzenden »Großen Beschleunigung« stetig steigert.12 Parallel dazu häuften sich jedoch auch die ungewollten Folgen des menschlichen Handelns. Vielleicht hatte ja niemand ernsthaft die Absicht, die Erde zu zerstören, dennoch sind zahllose Menschen enorme Risiken eingegangen! Manche haben bewusst nichts gegen offenkundige Gefahren unternommen und einfach ihre zerstörerischen profitorientierten Unternehmungen fortgesetzt. Auch Akteure aus Wissenschaft und Technik haben wesentlich dazu beigetragen, uns in diese Situation zu bringen, und das durchaus im Bewusstsein der problematischen Folgen. Der globale Kapitalismus, die Industrialisierung, das Verkehrswesen und das Bevölkerungswachstum wären ohne die Fortschritte von Wissenschaft und Technologie undenkbar gewesen.13 Sie haben uns aus dem Zeitalter der Pferdepflüge und -kutschen in die Ära der industrialisierten Landwirtschaft und der selbstfahrenden Fahrzeuge katapultiert und uns mit den – ungleich verteilten – Wohltaten der modernen Medizin beschenkt. Doch gerade die Fortschritte von Wissenschaft und Technologie haben zugleich unbeabsichtigte oder zynisch in Kauf genommene Auswirkungen gehabt, darunter das unkontrollierte Wachstum, die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen und den rapiden Anstieg der Treibhausgase mit ihren Auswirkungen auf das weltweite Klima.14