Die Fakultät - Pablo De Santis - E-Book

Die Fakultät E-Book

Pablo De Santis

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Beschreibung

Homero Brocca ist ein genialer Schriftsteller. Niemand hat ihn je gesehen, nirgends gibt es Bücher von ihm. Seine Texte existieren nur in unendlichen Varianten. Als der junge Esteban Miró seine erste wissenschaftliche Stelle im labyrinthischen alten Fakultätsgebäude antritt, in dem nur noch obskure Institute ihr Dasein fristen, ahnt er noch nicht, dass er in einen gnadenlosen Kampf um den seltsamen Autor hineingezogen wird. Die wissenschaftlichen Gralshüter von Broccas möglicherweise gar nicht existenten Werken schrecken vor nichts zurück. Das Verhältnis zwischen Literatur und Leben, Fiktion und Realität wird immer unentwirrbarer.

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Seitenzahl: 277

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch

Niemand hat den genialen Schriftsteller Homero Brocca je gesehen, seine Texte existieren nur in unendlichen Varianten. Als der junge Esteban Miró seine erste wissenschaftliche Stelle im labyrinthischen alten Fakultätsgebäude antritt, ahnt er noch nicht, dass er in einen gnadenlosen Kampf um den seltsamen Autor hineingezogen wird.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Pablo De Santis (*1963) wurde in seiner Heimat Argentinien mit Jugendbüchern bekannt. Den internationalen Durchbruch schaffte er mit den Romanen Die Fakultät und Die Übersetzung.

Zur Webseite von Pablo De Santis.

Claudia Wuttke (*1966) studierte Soziologie, Philosophie und Komparatistik in Hamburg, Madrid und Berlin. Nach vielen Jahren als Lektorin ist sie als freiberufliche Literaturagentin und Übersetzerin tätig.

Zur Webseite von Claudia Wuttke.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Pablo De Santis

Die Fakultät

Roman

Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Filosofía y Letras bei Ediciones Destino, Barcelona.

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung Pro Helvetia.

Originaltitel: Filosofía y Letras (1998)

© by Pablo De Santis 1998

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Martin Schwarz, Aus sprachloser Zeit, 1995/96; www.eigenartverlag.ch

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30613-4

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Version vom 27.05.2024, 18:24h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DIE FAKULTÄT

EinleitungErster Teil — KritikDas InstitutDie KryptaDie KaimaneTausend FassungenDer Kongress: VorbereitungenDer Kongress: ErgebnisseNovarios GeheimnisDie Expedition MarsillachDer vierte StockNoch ein blaues HeftDer StrickSubstitutionenMobiler LehrstuhlDas Sanatorium SpinozaBrests ErinnerungenSchiffbruch der GorgonaTrejos MuseumDie AktenPräsentationZweiter Teil — FiktionDer FahrstuhlLetztes GedichtDer AbstiegDie AufnahmeDie EnttäuschungDas Syndrom von MarconiBegegnung mit RusnikDas GerichtDie BeweiseDie Sitzung wird geschlossenMängelDie BibliothekDas dritte blaue HeftDer TunnelDie FluchtDritter Teil — Broccas PoetikDie Wohnung des NachtwächtersLesesaalBroccas TheorieHandgeschriebenes Kapitel – In dem Maße, wie der Roman vorankam …Die Lawine

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Für Ivana

Einleitung

Von dem alten Fakultätsgebäude ist heute nur noch eine von einem Aufseher bewachte Ruine übrig. Viele der Bücher sind in Kisten, Plastiksäcken und Ähnlichem im Keller der Zentralbibliothek verstaut worden, wo sie auf erneute Klassifizierung warten. Niemand weiß genau, wie viele Bände noch unter den Trümmern liegen.

Der eine oder andere Forscher wagt es ab und an, den Palast in Ruinen zu betreten und über die verschütteten Flure und blockierten Treppen zu klettern. Über die Fahrstuhlseile gelangt man noch zu den Instituten. Als sich das Unglück ereignete, waren die Lehrstühle für klassische Philosophie und für Neurolinguistik, das altsprachliche Seminar, das Institut für Nationale Literatur sowie zwei oder drei weitere, an die ich mich nicht erinnere, noch in Betrieb: Auch in meinem Kopf ist viel verschüttet.

Ich bin nach der Katastrophe mehrfach in das Gebäude gegangen, um die Papiere zu suchen, die das Herz dieser Geschichte sind. Auch heute kehrte ich zurück, aber aus anderem Grund: Ich war entschlossen, die ersten Seiten meines Berichts hier zu schreiben. Denn nur an diesem heruntergekommenen Ort kann ich damit beginnen.

Bei meiner Ankunft bekam ich, wie jeder Besucher, eine Zugangsberechtigung (völlig absurd, da es im Gebäude niemanden mehr gibt, dem man sie zeigen könnte), den obligatorischen Mundschutz (es war gerade die Theorie in Mode, Bücherstaub schadete der Gesundheit) und eine Taschenlampe, weil es keinen Strom gab und weite Teile des Gebäudes kein Tageslicht empfangen konnten. Ich unterschrieb die unerlässlichen Dokumente, durchquerte die Halle, und meine Expedition begann. Während ich durch die Flure ging, versicherte ich mir mehrfach laut: »Da ist niemand!« Aber ich glaubte, Geräusche hinter dem Papier zu hören. Die Fantasmen wachsen im Schutz der Säulen, Mauern und Höhlen aus vergessenen Büchern, Dokumenten jeder Art, Rechnungsblöcken und Monografien, die Tausende von Studenten im Verlauf von acht Jahrzehnten angesammelt hatten.

Auf den Überresten der zentralen Treppe ging ich in den ersten Stock. Weil der Zutritt zum zweiten gesperrt war, bahnte ich mir zwischen Wänden aus verblassten Ordnern und Säcken voller Schutt meinen Weg. In diesem Teil des Gebäudes zeigte das Unheil vage Spuren von Organisation: Die Reste des Mauerwerks waren auf eigenwillige Weise in bestimmten Bereichen zusammengekehrt. Nicht, dass das zu irgendetwas dienlich gewesen wäre, der Ort war schließlich bereits vollkommen verlassen, und niemand dachte daran, ihn zu restaurieren (was sowieso unmöglich gewesen wäre) oder ihn abzureißen, aber die aufgestellten Schilder, die bunten Bänder und schwarzen Müllsäcke verliehen ihm doch eine gewisse Rationalität.

Meine Taschenlampe schreckte vor einer Armee Kakerlaken zurück. Von ferne hörte man ein Geräusch – als laufe jemand über Glasscherben –, das mich fürchten ließ, dort sei eines dieser blutrünstigen Frettchen unterwegs, die die Verantwortlichen aus Indien eingeflogen hatten, um die unkontrollierte Vermehrung der Ratten zu verhindern. Die Tür zum Institut für Nationale Literatur war nicht verschlossen. Ich stellte die Underwood 1935 auf den Schreibtisch: Das harte Klackern der Tasten ist das einzige menschliche Geräusch, das man in meiner Nähe hört.

Es kostet mich einiges, zu schreiben, und ich glaube, ich hätte in der Stunde der Wahrheit meinen Wankelmut nicht besiegt, wenn die Verantwortlichen der Fakultät mich nicht mit der Niederschrift meiner Version der Ereignisse beauftragt hätten, verbunden mit dem Versprechen ihrer Publikation im Bulletin der Gesellschaftswissenschaften. Sie wollten ihr, so sagten sie, eine komplette Ausgabe widmen.

Tagelang versuchte ich daraufhin, mein Abenteuer in Worte zu kleiden. Doch ich kam über ein paar unverständliche Zeilen nicht hinaus. Ich unternahm mehrere Anläufe, zu unterschiedlichen Zeiten, mit der Maschine oder per Hand, bis ich herausfand, dass ich nur hier damit anfangen konnte, die Wahrheit aufzuschreiben. Deswegen kehrte ich an diesen kalten, staubigen Ort der Angst zurück.

Wenn ich meinem Freund Grog von der Pilgerschaft über die Gebäudestümpfe erzähle, wird er sagen: »Nicht die Mörder, die Überlebenden sind es, die an den Ort des Verbrechens zurückkehren.«

Erster Teil

Kritik

Das Institut

Meinen ersten Arbeitstag an der Fakultät hatte ich eine Woche nach meinem dreißigsten Geburtstag. Das Gebäude im Bajo-Viertel war eine Außenstelle der Universität, die kaum noch genutzt wurde. Umgeben von den Glaspalästen der Banken, eleganten Restaurants für die Angestellten und anderen schicken Ladenlokalen, wirkte es noch verlassener und heruntergekommener. Es beherbergte noch das Musikseminar (es gab einen Konzertsaal, einen Flügel und eine Tamburinsammlung), die Verwaltungen der Institute und das Seminar für orientalische Sprachen. Die Studenten der Fakultät kamen selten, was den Eindruck erweckte, das Gebäude sei den Studien des Abwesenden vorbehalten. In einer Statistik, die ich mit der tröstenden Gewissheit zur Kenntnis nahm, dass sich unsere finstersten Prophezeiungen über den geistigen Niedergang der Jugend bestätigten, hieß es, siebzig Prozent der Studenten wüssten noch nicht einmal von der Existenz des Gebäudes.

Ich hatte – ein wenig spät, wenn ich meiner Mutter glauben darf – jenen dunklen Moment bereits durchlebt, den der Erhalt eines akademischen Grades mit sich bringt. Mit dreißig Jahren hielt ich das pergamentene Blatt in den Händen und wusste, dass die erste Jugend vorbei war und dass nun, unwiderruflich, der Ernst des Lebens auf mich wartete und von mir forderte, eine Frau und Arbeit zu finden. Schon seit meiner frühesten Kindheit hatte ich Alpträume, man würde mich zwingen, in einer Fabrik, in einer Tischlerei oder als Maurer mein Geld zu verdienen, was zur Folge hatte, dass ich den Zeitpunkt, an dem ich dem so genannten Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen würde, möglichst lange hinauszögerte.

Mein materieller Bedarf war gedeckt. Ich lebte mit meiner Mutter in einer spärlich, aber komfortabel eingerichteten Wohnung, die wir uns dank ihrer Pension, die sie als ehemalige Dozentin bezog, und einigen Ersparnissen, die uns mein Vater hinterlassen hatte, leisten konnten. Trotzdem: Ich wollte ausziehen, und dafür brauchte ich Arbeit. Ich bat meine Mutter um Hilfe, ohne ihr den zweiten Teil des Plans zu verraten.

Vielleicht sollte ich erwähnen, dass der vollständige Name meiner Mutter in gelehrten Kreisen wohl bekannt ist: Ich spreche von der Studienprofessorin Estela Korales de Miró, deren Name sowohl auf dem Umschlag des Handbuchs der spanischen Sprache für das dritte Schuljahr als auch auf dem des Handbuchs für den Schüler aus der Provinz Buenos Aires prangt. Als Schuldirektorin verabscheute sie jede Form der Demagogie: Noch heute erinnere ich mich an die nächtlichen Übergriffe von Schülern, die mit ihren Methoden nicht einverstanden waren und Steine gegen unsere Fenster warfen. Nichts davon brachte sie von dem Weg ab, den sie sich für ihr Leben zurechtgelegt hatte. Somit konnte ich mir sicher sein, dass sie Wort halten würde, als sie versprach, mir Arbeit an der Fakultät zu besorgen.

Meine Mutter hatte während ihrer Jahre im Bildungsministerium eine Menge Freundschaften geknüpft. Einer dieser Freunde war der Professor Emiliano Conde, Direktor des Instituts für Nationale Literatur und Mitglied der Academia de Letras. Ich rief ihn an, und er gab mir einen Termin für Ende April, morgens im Institut. Zu meinem ersten Bewerbungsgespräch trug ich einen alten, etwas zu großen Anzug meines Vaters sowie meine einzige Krawatte. Im Institut angekommen, empfing mich die Bibliothekarin, eine blasse Frau mit dicken Brillengläsern, mit der Nachricht, Doktor Conde habe angerufen und ließe sich entschuldigen, aber gern würde er mich in drei Tagen erwarten. Wieder Anzug, Krawatte, polierte Schuhe. Aber auch dieses Mal erschien Doktor Conde nicht.

»Um ehrlich zu sein, er kommt nie«, sagte die Bibliothekarin. »Ich habe ihn schon seit einer ganzen Weile nicht gesehen. Ab und zu ruft er an oder schickt einen Zögling von der Akademie, um seine Post zu holen. Nicht mal in sein Büro kommt man rein, weil er niemandem den Schlüssel gibt. Seit Wochen ist dort weder gefegt noch gelüftet worden.«

Bei meinem dritten Besuch im Institut richtete mir die Bibliothekarin, die Celia hieß, von Conde aus, ich hätte den Job.

»Aber er kennt mich doch gar nicht …«

»Egal, er wird sich deinen Lebenslauf angesehen haben. Heutzutage ist ein clever geschriebener Lebenslauf eine starke Waffe.«

Ich wusste nicht, ob ein Lebenslauf eine starke Waffe war, aber ich war mir sicher, dass meine Mutter ungefähr die Schlagkraft der Roten Armee hatte. Der so lange gefürchtete Moment war eingetreten: Ich hatte Arbeit! Celia gab mir ein paar Papiere, die ich unterschreiben musste, schickte mich zur Vervollständigung weiterer Unterlagen in ein Büro im Erdgeschoss und zeigte mir hinterher die Küche am Ende des Flurs. Als wir zurückkamen, erklärte sie mir die Ordnung des Archivs.

»Mit den Karteikarten musst du gut aufpassen. Doktor Conde besteht darauf, dass jedes neue Buch mit einer kurzen Zusammenfassung katalogisiert wird.«

»Kommen viele?«

»Kein einziges. Aber man weiß ja nie.«

Das Institut für Nationale Literatur umfasste vier Räume: einen Empfangs- und Lesesaal, einen zweiten Lesesaal, einen dahinter gelegenen Raum, der für die Studenten mit spezifischen Forschungsvorhaben reserviert war, sowie das stets verschlossene Büro des Doktor Conde. Celia nannte diese Räume Empfang, Zweiter Saal, Höhle und Krypta. Die Nutzung der einzelnen Räume war nach einem streng hierarchischen Prinzip organisiert, das dem Status des jeweiligen Studenten entsprach. So arbeiteten im Empfangssaal Studenten, die man nicht kannte, im zweiten Lesesaal solche, die regelmäßig kamen oder denen man vertraute, in der Höhle saßen die Spezialisten und in der Krypta niemand. Nur Conde persönlich.

Meine erste Woche verbrachte ich damit, ein voll gestopftes Regal mit vergilbten Feuilletons aus dem letzten Jahrhundert zu sortieren. Danach machte ich es mir zur Aufgabe, Platz für einen Stapel Zeitschriften aus den Zwanzigerjahren zu finden und die ältesten Karteikarten zu erneuern, die einem regelrecht zwischen den Fingern zerbröselten, wenn man sie anfasste. Am Freitag dann verkündete Celia, man hätte ihr eine bessere Stelle angeboten: Ab sofort gehörte das Institut mir allein. In ihren Augen aber hatte sie den Blick derer, die noch einmal voll Mitleid auf das sehen, was sie zurücklassen, und glauben, ein besseres Schicksal erwarte sie.

Nachdem Celia gegangen war, hatte ich eigentlich nichts mehr zu tun. Meine Arbeitszeiten waren Montag bis Freitag, 16 bis 20 Uhr. Während dieser vier Stunden blätterte ich ausgiebig im Politikteil der Zeitung, las gelegentlich einen Roman oder löste Kreuzworträtsel. Ab und an stöberte ich in der Bibliothek nach Material für meine Doktorarbeit, einer Biografie über den Dichter und Psychiater Enzo Tacchi, der vierzig Jahre lang Arzt am Hospiz de la Merced war. Nach einem von ihm entwickelten stenografischen System war es Tacchi gelungen, die oft wirren Aussagen der Patienten zu dokumentieren. Häufig besuchte er auch Gefängnisse, um mit Mördern zu sprechen und die Form ihrer Schädel zu erforschen. Das Ergebnis waren Tausende, mit winzigen Buchstaben voll gekritzelte Karteikarten. Mir war es gelungen, einige von ihnen in Fotokopie zu erhalten, die ich geduldig übersetzte. Weil aber Tacchi seine Beobachtungen ständig nach einem anderen Prinzip zusammengetragen hatte, schritt meine Arbeit nur sehr mühsam voran.

Gestört wurde meine Ruhe nur durch gelegentliches Klopfen an der Tür. Jedes Mal dachte ich, es sei Doktor Conde, doch es kamen lediglich Studenten, die ein Buch suchten, das sie in den anderen Räumen nicht finden konnten. Eines Nachmittags dann – ich war, wie ich es mir angewöhnt hatte, lange vor dem regulären Dienstschluss schon am Zusammenräumen – kam eine große, blasse, mit einem grünen Kostüm bekleidete Frau ins Institut. Um ihren Hals trug sie einen Kettenanhänger mit ägyptischem Motiv.

»Und Celia?«, fragte sie laut, ohne zu grüßen.

»Ist nicht mehr da. Gegangen für immer«, erklärte ich mit der Genugtuung, ihr eine auf ewig gültige Absage erteilt zu haben.

»Ich will sterben.«

Mit leerem Blick ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

»Sind Sie der neue Bibliothekar?«, fragte sie schließlich, als sie ihre Enttäuschung halbwegs überwunden hatte.

»Ja.«

»Hat Celia Ihnen von unserer Abmachung erzählt?«

»Nein.«

»Gut. Auch egal. Lass mich in die Höhle. Ich muss diese Woche arbeiten.« Unvermittelt war sie zum Du übergegangen, und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass sie mir einen Befehl erteilte oder weil sie Vertrauen gefasst hatte. »Den Schlüssel zu Condes Büro hast du nicht, oder?«

»Nein. Celia hatte ihn auch nicht.«

»Zu dumm, Conde würde mich hineinlassen. Wir sind seit Jahren befreundet.«

Ich öffnete die Tür zur Höhle. Die Frau gab mir die Hand.

»Professor Selva Granados.«

»Esteban Miró.«

Selva Granados fing an, stoßweise Papiere aus ihrer Nylontasche zu ziehen und sie auf dem ganzen Tisch zu verteilen.

»Was ist Ihr Gebiet?«

»Ich habe mich auf Homero Brocca spezialisiert.« Sie wirkte enttäuscht, als sie merkte, dass mir der Name nichts sagte.

»Ein großer Schriftsteller. Ein echtes Genie. Ein Solitär, ein Verfluchter. Auf der ganzen Welt gibt es nur drei Wissenschaftler, die über sein Werk forschen. Einer von ihnen ist Professor Conde, die andere bin ich.«

»Und der Dritte?«

»Ein Stümper. Sind Sie sicher, dass Conde Ihnen gegenüber Brocca nie erwähnt hat?«

»Ja.«

»Mal ehrlich …«

»Ich habe Conde noch nie gesehen. Ich arbeite erst seit kurzem hier.«

Während der ganzen Zeit, die Selva Granados hinter verschlossener Tür in der Höhle verbrachte, hörte ich sie mit sich selbst sprechen. Als sie wieder herauskam, bat sie mich, ein Buch aus der Bibliothek mit nach Hause nehmen zu dürfen. Kaum hatte ich es ihr gegeben, eilte sie ohne auf den Weg zu achten davon. Zurück blieben ein Hauch von Traurigkeit und ein paar umgestürzte Stühle.

Am nächsten Tag ging ich noch einmal die Übersetzung der Beobachtung Nr. 115 von Enzo Tacchi durch. Antonio Castelli, Häftlingsnummer 459, eingeliefert ins Gefängnis am 12. März 1880; er ist Italiener, 33 Jahre alt, von nervösem Temperament und robuster Konstitution. Seine Brust ist von Abzeichen und Medaillen bedeckt, die er aus Resten alter Hemden seiner Kumpels selbst gefertigt hat; sein Vermögen ist beträchtlich, er ist mit drei Prinzessinnen verlobt, von denen die Prinzessin María Antonia Castelli, Verwandte seines Freundes, des Richters Recobeco, seine Wünsche am besten befriedigt. Dennoch zögert er den Tag seiner Heirat hinaus, da er noch auf die Meinung seiner Freunde wartet, der Senatoren und Abgeordneten des Ehrwürdigen Nationalkongresses, sowie seines Verwandten, des Königs Macabrón.

Ein Tropfen fiel von der Decke, zerplatzte auf dem Blatt und verwischte das M von Macabrón. Ich sah nach oben und entdeckte einen Wasserfleck, der schnell größer wurde. Ich rief bei der Verwaltung an, wo man mir sagte, dass der Klempner gleich kommen würde. Er kam nicht. Auch nicht am nächsten Tag. Ich ging in das Büro des Hausmeisters, der sich jedoch wegen Krankheit einen Tag freigenommen hatte. Die Angestellten, ein dünner Mann in blauem Kittel und eine füllige Frau, die Solitär spielte, sahen sich alarmiert an und meinten, dass nun vielleicht doch kein Weg daran vorbeiführte, den Nachtwächter einzuschalten.

Nachdem ich die Institutstür (aus Furcht, jemand könnte die kostbaren Bücher stehlen) abgeschlossen hatte, ging ich in den vierten Stock. Auf den Fluren stapelten sich von Feuchtigkeit, Licht und Staub zersetzte Ordner. Auf den Rücken standen Namen und Daten aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren. Seit Jahren war diese Etage völlig verwaist und fungierte nur noch als Lager. Im Internen Bulletin der philosophischen und literaturwissenschaftlichen Fakultät war einst ein Artikel über die Ursachen der Schließung des vierten Stocks. Wissen besetzt Raum erschienen, in dem von einem Beschluss aus dem Jahr 1957 die Rede war, laut dem alle diese Papiere verbrannt werden sollten. Weil aber die Fakultät nie über ausreichende Mittel verfügte, um die Tonnen von Papier zu verladen und ihrer endgültigen Bestimmung zuzuführen, wurden die Ordner auf immer dort belassen, und ihre Zahl wuchs täglich. Vor Jahren hatte eine Kommission die Papierstapel nach wirklich bedeutsamen Dokumenten durchforstet. Das archäologische Team, bestehend aus Studenten unter der Leitung von Professoren, hatte die Aufgabe, Material zu sammeln und es dann einer Kommission von Honoratioren zu übergeben, die die endgültige Auswahl treffen sollten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden nie veröffentlicht. Ich werde später auf die tragische Geschichte der Expedition zurückkommen.

Die kleine Wohnung des Nachtwächters war auf die Terrasse draufgebaut worden. Um sie herum lagen Berge von Kabeln, zerbrochene Flaschen und tote Tauben. Für den Fall, dass er um diese Zeit schlief, klopfte ich leise an die Tür, um ihn nicht zu wecken. Ich wusste, dass er allein lebte, aber gesehen hatte ich ihn noch nie.

Jemand sah durch den Spion. Sekundenlang herrschte Stille.

»Der Nachtwächter arbeitet nur nach einundzwanzig Uhr«, sagte eine weiche, latent abweisende Stimme.

»Ich bin vom Institut für Nationale Literatur. Ich habe ein Problem mit einem lecken Rohr.«

»Der Nachtwächter kümmert sich nicht um Leitungsschäden. Der Nachtwächter achtet darauf, dass nachts niemand eindringt.«

»An wen kann ich mich wenden?«

»An niemanden.«

»Die Bücher werden verfaulen.«

»Alle Bücher werden so enden. Das ist nicht mein Problem. Müll und Feuchtigkeit und zersetzte Bücher. Etwas anderes gibt es hier nicht. Gehen Sie an Ihren Platz zurück. Kümmern Sie sich nicht weiter darum. Hören Sie dieses Geräusch?« Ich hörte gar nichts. »Das sind die Insekten, die das Holz, den Boden, die Balken zerfressen. Hören Sie, wie das Wasser durch die Wände sickert. Eine Decke ist gerade runtergekommen.«

Die Schritte des Nachtwächters entfernten sich. Ich blickte von außen durch den Spion. Drinnen konnte ich einen Korbstuhl erkennen. Über der Lehne hingen ein altes graues Sakko und eine metallene Dienstmarke mit der Aufschrift: NACHTWÄCHTER. Auf dem Stuhl lag ein Helm mit einer Lampe vorne, wie ihn Bergarbeiter benutzen.

Als ich ins Institut zurückkam, hatte sich die Decke weiter gelöst. Das Wasser tropfte aus verschiedenen Stellen auf den mit Putz verschmierten Tisch, auf die Regale, die Bücher, den Karteikasten. Das gesamte Stockwerk stand unter Wasser. Einen Moment lang blieb ich auf dem Stuhl sitzen und sah mir die Katastrophe hilflos an.

Die Krypta

Ich musste meine Arbeit an Enzo Tacchi einige Tage unterbrechen, um notdürftig Buch für Buch aus den obersten Regalen zu säubern. Viele waren mit Farbresten und Putz besudelt. Die feuchten Bücher stellte ich zum Trocknen raus und legte die am schlimmsten beschädigten zur Seite. Ich kaufte Pappe und Klebstoff und versuchte sie, mit ein bisschen Leinwand, das ich von zu Hause mitgebracht hatte, zu binden. Das Ergebnis war mittelprächtig, aber immerhin rettete ich ihnen das Leben.

Am Tag nach dem Unglück mit der Decke kam ein Klempner, um das kaputte Rohr zu reparieren. Er versprach, die Decke neu zu kalken, tat es aber nie. Ich selbst musste den Schutt wegräumen, den er hinterlassen hatte, weil niemals jemand zum Putzen ins Institut kam. Damit war ich beschäftigt, als Conde auftauchte.

Ich erkannte ihn sofort, weil meine Mutter mir einmal ein Foto gezeigt hatte, auf dem sie zusammen vor dem Ministerium posierten. Conde war groß und grauhaarig, er trug eine Brille mit dicken Gläsern und war trotz seines Alters noch ein stattlicher Mann. Von meiner Mutter wusste ich, dass Conde auf dem Konservatorium studiert und schon als junger Mensch im Teatro Colón gespielt hatte. Allerdings sah er sich in den berühmten »Aufstand der Geigen« gegen den Dirigenten des Orchesters, Casimiro Propp, verwickelt, der in der Entlassung sämtlicher Violinisten kulminierte und zur Folge hatte, dass das Orchester für sechs Monate das einzige der Welt war, das ohne Geiger spielte. Obwohl Emiliano Conde stets beteuerte, mit der Sache nichts zu tun gehabt zu haben, konnte er nie zur klassischen Musik zurückkehren. Seine Kollegen verloren sich als Musikdozenten oder als Tangospieler. Conde widmete sich der Literaturwissenschaft. Er war das jüngste Mitglied der Academia de Letras.

»Jedes Mal wenn ich reinkomme, eine Katastrophe. Das letzte Mal die Ratte; diesmal ein Einsturz.« Er gab mir die Hand. »Hören Sie auf zu fegen. Kommen Sie in mein Büro, wir müssen reden. Wie geht es Ihrer Mutter?«

Gut, antwortete ich. Dabei hatte ich vor einigen Tagen angekündigt, dass ich mir eine Wohnung im Zentrum suchen würde. Seitdem quälten meine Mutter schlimme Alpträume, aus denen sie schreiend erwachte. Manchmal sang sie im Schlaf die Nationalhymne oder warf fantasierte Schüler aus dem Raum. Oder sie dachte grimmig an eine meiner flüchtigen Liebeleien.

»Sagen Sie ihr, dass ich bei Gelegenheit auf einen Tee vorbeischaue. Ich habe Ihre Mutter aus der Zeit beim Bildungsministerium in sehr guter Erinnerung. Unsere Büros lagen nebeneinander. Innerhalb eines Semesters hatten wir gemeinsam ein Netz aus Informanten aufgebaut, mit dem wir jede Schule dieser Stadt kontrollieren konnten. Dann wurde es zerschlagen. Die ganze Arbeit im Eimer …«

Conde öffnete die Tür zur Krypta. Aus dem Büro drang ein kalter Luftzug. Das Fenster hatte monatelang offen gestanden. Um den Raum zu betreten, musste man zwei Marmorstufen hinabsteigen. Im Dämmerlicht erkannte ich ein schmales Zimmer, von dessen mit Diplomen und Fotografien behängten Wänden der Putz blätterte. In der Mitte des Raumes stand ein dunkler Holzschreibtisch mit unzähligen Schubfächern, auf dem eine Schreibunterlage aus Leder und ein aus einer Kanonenkugel gemachter Stiftehalter lagen. Ich holte mir einen Stuhl und setzte mich Conde gegenüber.

»Haben Sie sich im Institut eingelebt? Gefällt Ihnen die Arbeit? Wie läuft Ihre Doktorarbeit?«

Er ließ mir kaum Zeit, zu antworten.

»Ich sammle Material. Archivunterlagen von Irrenanstalten, klinische Berichte, medizinische Zeitschriften.«

»Sehr außergewöhnlich! Was ist Ihr Thema?«

Ich erzählte ihm von Enzo Tacchi. Missbilligend sah er mich an.

»Marginalien, ich bitte Sie. Na, jetzt ist es zu spät, das Ruder noch rumzureißen. Sie hätten sich einen unserer Gründertexte nehmen sollen, einen Klassiker.«

»Darüber wurde schon so viel geschrieben. Was könnte ich dem noch hinzufügen?«

»Die Interpretationsmöglichkeiten sind unerschöpflich. Über ein großes Buch kann nie genug gesagt werden. Doch wenn ich ehrlich bin, habe auch ich ein sehr persönliches Thema gewählt, einen Klassiker von morgen. Man könnte sagen, dieser Schriftsteller ist meine Verpflichtung. Kennen Sie das Werk von Homero Brocca?«

»Ihre Bekannte erwähnte ihn.«

»Welche Bekannte?«

»Professor Granados.«

»Diese Verrückte ist nicht meine Bekannte. Die will mir Brocca aus den Händen reißen. Einer von den Aasgeiern, die nur darauf warten, sich auf die Beute zu stürzen, die andere gerissen haben.«

Conde sah zum Fenster und seufzte.

»Entschuldigen Sie bitte meinen Ärger, aber ich habe allen Grund, mir Sorgen zu machen. Meine Arbeit über Brocca hat mir eine Menge Feinde eingebracht. Sie sind neidisch, dass ich seine Bücher gelesen hatte, bevor sie verloren gingen. Allein eine Erzählung ist übrig geblieben, und niemand weiß, welches die endgültige Fassung ist.«

»Und der Rest?«

»Ging verschütt. Eine Katastrophe. Ich wünschte, ich hätte jede Zeile, jeden Absatz auswendig gelernt. Ich wünschte, sie alle könnten ihn so lesen, wie ich ihn einst gelesen habe. Das Privileg, sein einziger Leser zu sein, ist auch eine Strafe.«

Ich hatte von Manuskripten gehört, die ihre Verfasser vernichtet hatten oder die auf den Scheiterhaufen der Zensur verbrannten, aber niemals vom vollständigen Verschwinden eines veröffentlichten Buches.

»Brocca hat fünf Bücher veröffentlicht, alle im Selbstverlag. Ich habe mich mit Dutzenden von Buchhändlern unterhalten, und nur einer hat mir versichert, ein Buch von Brocca in den Händen gehalten zu haben. Er konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, ob er es weiterverkauft hatte oder ob es im Lager verloren ging. Ich suchte in den Archiven der alten Druckereien, die Autoren seiner Generation gedruckt haben, aber der Name Brocca tauchte nirgends auf. Im Institut gab es zwei seiner Romane: Der Schrei und Die Falle. Ich hatte sie kaum gelesen, da wurden sie gestohlen. Das war vor vielen Jahren. Und seitdem ist keines seiner Bücher jemals wieder aufgetaucht.«

»Hat er keine Angehörigen, die die Originale verwahren?«

»Es gibt niemanden. Die Spur Broccas verliert sich im Nichts, als ob er nie existiert hätte. Wenn jemand von seinem Werk mehr als nur die eine Erzählung kennen lernen will, muss er sich notgedrungen an mich wenden. Ich habe zwei Bücher über ihn geschrieben: Genie und Person des H.B. und Das Werk Broccas: Letzte Deutungen. Wenn Sie Interesse haben, sie sind hier. Ich wüsste gern, was Sie darüber denken.«

Ich fragte, ob er auch einen Kaffee wolle. Kurz darauf kam ich mit zwei Tassen Nescafé und einigen Tütchen Zucker zurück. Wegen der rostigen Leitungen war das Wasser in letzter Zeit etwas dunkel. Ich hatte mich bereits an den Geschmack gewöhnt.

»Ausgezeichnet der Kaffee.« Er leerte die Tasse mit einem Schluck. »Es ist an der Zeit, Ihnen zu sagen, dass ich nicht nur gekommen bin, um Sie kennen zu lernen oder Ihnen gute Ratschläge für Ihre Arbeit zu geben. Ich möchte, dass Sie mit mir an der einzigen der Menschheit zur Verfügung stehenden Erzählung Broccas arbeiten. Substitutionen heißt sie. Damit werden Sie zwei Monate beschäftigt sein, und ich verspreche Ihnen eine Summe, die Sie eingedenk der Tatsache, dass akademische Aufgaben unter uns gesagt gemeinhin ad honorem vergütet werden, nicht enttäuschen wird. Das Honorar stellt die Stiftung Ohne Hürden.«

Ohne nachzudenken, fragte ich direkt nach dem Geld, bevor ich mich nach der Art der Arbeit erkundigte. Conde erwähnte eintausendfünfhundert Dollar. Die Summe kam mir bei der Suche nach einer Wohnung, die etwas Abstand zwischen die Studienprofessorin Korales de Miró und mich bringen würde, gelegen. Ich schien begeistert auszusehen, denn Conde sagte warnend:

»Bedenken Sie, dass Sie viel lesen müssen. Die Textkritik folgt strikt wissenschaftlichen Kriterien. Wir müssen unsere Fantasie nutzen, aber auch Statistiken.«

Professor Conde schaute auf die Uhr und sagte, er habe einen Termin beim Augenarzt.

»Gucken Sie sich diese Brille an. Haben Sie schon mal dickere Gläser gesehen? Von jeher werden in unserer Familie Brillen getragen, ein Leben lang, und immer verlieren wir sie. Ich selbst bin erstaunlich geschickt im Verlieren von Brillen. Irgendwann später tauchen sie wieder auf. Ich habe schon Päckchen von anderen Universitäten mit verlorenen Brillen bekommen. Das sind nicht immer meine, allenfalls zehn Prozent gehören mir, aber ich bin schon so berüchtigt, dass mir jede herrenlose Brille per Einschreiben direkt nach Hause geschickt wird. Ich habe eine Kiste voll mit Brillen. Wenn Sie mal eine brauchen …«

Ich sagte ihm, das sei im Moment nicht notwendig, ich hätte meine eigene. Der Professor klopfte mir zur Besiegelung unseres Paktes auf den Rücken und ging mit dem Versprechen, mir bald das notwendige Arbeitsmaterial zu bringen. Ich fegte den letzten Schutt zusammen und kümmerte mich den Rest des Tages um die beschädigten Bücher.

An eben jenem Nachmittag, ich wollte schon gehen, bekam ich Besuch von zwei Frauen in grauen Kitteln, die mich zu einer Versammlung im Souterrain einluden. Ich versprach zu kommen, vergaß es dann aber völlig. Während ich noch meine Sachen zusammensuchte – ich ließ sie immer im dritten Raum, der Höhle –, schob jemand eine Zeitschrift unter der Tür durch. Es war ein schmales Heft mit dem Titel: Verschwundene Aufzeichnungen. Zeitung des Studienkreises Homero Brocca.

Die Vorsitzende des Studienkreises und Verfasserin aller Artikel war die Literaturwissenschaftlerin Selva Granados, und auf den acht Seiten ihres Berichtes beschuldigte sie Conde, für das Verschwinden der Bücher Broccas verantwortlich zu sein.

Die Kaimane

Ich hatte mich schnell mit dem chaotischen System der Bibliothek vertraut gemacht und fand die Bücher auf Anhieb, um die mich die Studenten baten. Selten kamen an einem Nachmittag mehr als eine Hand voll. Ich gab ihnen die Bände, mit denen sie sich zurückzogen, woraufhin ich selbst stundenlang ungestört lesen oder schreiben konnte. Doch nicht alle Besuche waren so diskret.

Granados tauchte im Institut auf und bat mich um eine fünf Jahre alte Ausgabe der akademischen Jahrbücher. Ich nahm den verstaubten Band aus einem der unteren Regale, in dem auch Teile der Zeitschrift P.B.T. gesammelt wurden. Es gab in der Ausgabe nur ein Thema: Homero Brocca. Der Autor sämtlicher Artikel war Emiliano Conde. Dessen Kurzbiografie wies so viele Übereinstimmungen zu seinem Untersuchungsgegenstand auf – sein Lieblingswein, die Gewohnheit, das Werk Broccas bevorzugt in einem Sessel am Kamin zu studieren, die Vorliebe für Minzlikör –, dass der Leser geneigt war, hinter beiden ein und dieselbe Person zu vermuten.

»Haben Sie Conde kennen gelernt?«, fragte Selva Granados beiläufig und auf das Du verzichtend.

»Ja.«

»Und, wie finden Sie ihn?«

»Ein echter Gelehrter«, antwortete ich aus purer Gemeinheit.

»Von wegen Gelehrter. Er ist ein Besserwisser, ein Egoist. Brocca ist sein Opfer.« Sie zeigte in Richtung von Condes Büro. »Da hat er ihn eingesperrt.«

Sie meinte das im übertragenen Sinne: Natürlich wisse sie, dass Brocca beim Untergang der Gorgona bei einem der schweren Südoststürme auf dem Rio de la Plata verschollen sei.

»Er will uns einreden, dass seine Bücher verloren gegangen sind.«

»Und das stimmt nicht?«

»Natürlich nicht! Er hat sie versteckt, damit niemand sonst über sie schreiben kann. Ich habe das Forschungszentrum Homero Brocca gegründet und versucht, bei verschiedenen Stiftungen Unterstützung zu finden, aber Conde hat mich schachmatt gesetzt. Wie soll ich wohl verhandeln, wenn er die Bücher als Faustpfand behält?«

»Könnte es nicht sein, dass jemand anders weitere Exemplare hat?«

»Nein, der hätte sie längst verkauft. Bedenken Sie, wie hoch die im Kurs stehen. Sämtliche Antiquare der Stadt haben seit Jahren Broccas Daten, aber keiner hat je auch nur ein einziges Buch ergattert. Man vermutet, dass sie beim Lagerbrand des Tor-Verlages in Flammen aufgegangen sind.«

Granados schlug den Band LXI der akademischen Jahrbücher auf einer der ersten Seiten auf. Homero Brocca. Eine Chronologie hieß es dort.