Die Farben des Nachtfalters - Petina Gappah - E-Book

Die Farben des Nachtfalters E-Book

Petina Gappah

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Beschreibung

Sie heißt Memory und sitzt in einer Todeszelle in Simbabwes berüchtigtem Gefängnis Chikurubi. Für eine amerikanische Reporterin, die sich für ihren Fall interessiert, schreibt Memory ihre Geschichte auf. Es ist ein Schreiben um Leben und Tod. Memory ist eine weiße Schwarze, eine Albino, die bis zu ihrem 9. Lebensjahr in einer Township aufwuchs. Dann, so glaubt sie, wurde sie von ihren Eltern an den reichen weißen Großgrundbesitzer Lloyd Hendricks verkauft. Er kümmerte sich liebevoll um sie und ermöglichte ihr eine erstklassige internationale Ausbildung. Jetzt ist er tot und Memory des Mordes an ihm angeklagt. Wer war Lloyd Hendricks wirklich? Kann Memory ihren Erinnerungen trauen? Petina Gappah erzählt diesen faszinierenden, vor dem Hintergrund der Geschichte Simbabwes spielenden Roman fesselnd wie einen Krimi und verleiht ihrer Heldin eine unvergessliche literarische Stimme.

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Seitenzahl: 368

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Über dieses Buch

»Atemraubend brillant und herzzerreißend schön. Ein Meisterwerk.«

Taiye Selasi

 

Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen soll, beginnt nicht mit dem Grauen und Elend von Lloyds Tod. Sie beginnt an einem längst vergangenen Augusttag, als die Sonne mir das wunde Gesicht versengte, ich neun Jahre alt war und Vater und Mutter mich an einen fremden Mann verkauften.

 

 

 

»Petina Gappah ist eine glänzende Erzählerin.«

J.M. Coetzee

 

»Es geht um die großen Themen des Lebens: Schicksal, freier Wille, Liebe und Verlust, die Kollision von Tradition und Moderne, den Einfluss der Politik auf das individuelle Leben. Ein bewegendes, unglaublich lebendiges Buch über Erinnern und Vergeben.«

The Observer

 

 

 

 

Dieses Buch widme ich voller Zuneigung

Lee Brackstone, der mich heimgebracht hat.

 

 

 

Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.

 

Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich

(Deutsch von Dieter E. Zimmer)

Teil Eins

Mharapara Street 1468

1

Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen soll, beginnt nicht mit dem hässlichen Elend von Lloyds Tod. Sie beginnt an einem längst vergangenen Augusttag, als die Sonne mir das wunde Gesicht versengte. Ich war neun Jahre alt, und Vater und Mutter verkauften mich an einen fremden Mann.

Ich sage Vater und Mutter, tatsächlich war es aber meine Mutter. Beide habe ich jetzt so deutlich vor Augen wie damals, als wir Lloyd das erste Mal trafen. Sie tragen die Kleider, die sonst sonntags für den Kirchgang und für den Schaufensterbummel in der Innenstadt reserviert waren, denn wer seine Tochter einem wildfremden Mann übergibt, sollte schließlich den bestmöglichen Eindruck machen.

Meine Mutter trägt ein weißes Kleid, das mit großen roten Mohnblumen übersät ist. Um die Taille einen Gürtel aus demselben Stoff und auf dem Kopf einen roten Hut, geschmückt mit einer weißen Plastikblume. Schuhe und Handtasche sind weiß. Mein Vater trägt einen Safarianzug, an die Farbe kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht war es auch gar kein Safarianzug, und ich sehe ihn nur in einem vor mir, weil damals alle Männer solche Anzüge trugen. In seinem Haar glänzt Brylcreem.

Für mich war es ein Festtag. Ich trug mein Lieblingskleid, ein weißes Rüschenkleid mit lila Schleife, mein Weihnachtskleid vom Vorjahr. Ich war in der Stadt, weit weg von den Schikanen Nhaus, meines Schulhoferzfeinds, der mich daheim genauso quälte wie in der Schule, weil er in unserer Straße wohnte. Ich war mit meinem Vater in der Stadt, der beim Gehen meine Hand hielt. Darüber freute ich mich am meisten – dass ich ihn ganz für mich hatte, weil die eine Schwester in der Schule und die andere vor Kurzem gestorben war.

Zur Krönung kam in der Süßwarenabteilung des Kaufhauses eine Weiße auf mich zu, als wir die Aufzüge ansteuerten. Sie hatte eine Brille auf, mit einem Gestell, das zu den Schläfen hin spitz zulief und ihre Augen zu verzerren schien, als sähe ich sie durch eine der Milchflaschen mit den goldenen und silbernen Deckeln, die wir im Laden kauften. »Sie sieht ja aus wie ein Engel, ist sie nicht ein richtiger Engel?«, sagte sie. Dann gab sie mir einen Dollar. In meiner Hand fühlte sich die Münze groß und ungewohnt an.

Das erinnert mich an etwas anderes, das länger zurückliegt, an die 25-Cent-Münze, die mir eine Krankenschwester schenkte, als ich im Gomo, dem staatlichen Armenkrankenhaus, nach einer Spritze bitterlich weinte. Ich hatte davon Süßigkeiten gekauft, und Nhau überredete mich, sie draußen vor seiner Haustür einzugraben. So würden sie zu einem großen Süßigkeitenbaum heranwachsen, behauptete er.

Von der Süßwarenabteilung im Erdgeschoss gingen wir zum Aufzug. Ein Mann in weinroter Uniform, über dessen Gesicht eine große Narbe verlief, verkündete bei jeder Etage das Stockwerk. »Dritte Etage: Kinderspielzeug, Kinderkleidung und Teesalon«, sagte er, als wir ausstiegen.

Meine Eltern und ich setzten uns auf eine Seite der Nische. Eine Biene verharrte ein Weilchen über meinem Glas Cherry Plum Limo, bevor sie in das lila sprudelnde Getränk stürzte. Sie versuchte, wieder herauszufliegen, aber ihre Flügel waren nass und schwer, und sie zappelte in den Blubberbläschen herum. Zur Cherry Plum gab es außerdem noch Eiscreme, einen raffinierten Eisbecher, den Lloyd mir spendiert hatte – Lloyd saß auf der anderen Seite –, mit einer ganzen Banane und bunten Streuseln garniert.

Ich erinnere mich auch an die ersten Worte, die Lloyd zu mir sagte: »Mnemosyne, sprich.«

Damals konnte ich nicht ahnen, dass Lloyd mich neckte oder dass Mnemosyne genau dasselbe bedeutet wie mein Vorname Memory: Erinnerung. Aber vielleicht verwechsle ich das auch mit unserer zweiten Begegnung, als er mich zu seinem Auto und in mein neues Leben führte.

Natürlich könnte ich Ihnen auch zu Beginn alles über Lloyd erzählen. Ich könnte damit beginnen, dass ich ihn nicht umgebracht habe. »Mord«, sagte der Staatsanwalt, der vor Gericht die Anklage gegen mich erhob, »ist die widerrechtliche und vorsätzliche Tötung eines Menschen, der zum Tatzeitpunkt noch am Leben war.«

Nachdem die Polizei mich in der Nacht seines Todes geholt, mich verhaftet und in die Highlands-Wache gebracht hatte, nachdem ich drei Tage lang nichts gegessen oder getrunken, nachdem ich mir die Augen ausgeweint hatte – Lloyds wegen, machte ich mir weis, dabei war es tatsächlich vor Angst – und nachdem die Träume mich aufs Neue heimsuchten, sagte ich ihnen, was sie hören wollten.

Sie glaubten mir nicht, brachen in lautes Gelächter aus. »Sag uns einfach die wirklich wahre Wahrheit. Du warst seine Freundin und er dein Freund. Er war dein Sugardaddy. Sag uns einfach die Wahrheit – dass du ihn wegen seines Gelds umgebracht hast.«

Seltsam, was einem in solchen Momenten für Belanglosigkeiten in den Sinn kommen. Als ich den Officer ansah, der meine Vernehmung durchführte, fiel mir auf, dass seine hervorstehenden Augen ihm den stieren Blick eines trunkenen Wasserspeiers an einem öffentlichen Gebäude verliehen. »Oder hat er dich vielleicht gezwungen, mit ihm im Bett komische Sachen zu treiben? So was wiegt schwer, da verstehen wir keinen Spaß.«

Er ließ eine kräftige Lachsalve ab. In seinen Wangen erschienen zwei mächtige Grübchen, die für eine erstaunliche Verwandlung sorgten. Der Wasserspeier war zur Putte geworden.

»Am Ende war es sicher das Geld. Diese Weißen schwimmen doch in Geld«, sagte seine Kollegin, eine stämmige Frau in verblichener Uniform, die bei jeder ihrer Bewegungen zu platzen drohte. Von ihrem Oberteil war bereits ein Knopf abgefallen.

Ich konnte den Blick nicht von ihren rosa Plastiklockenwicklern wenden. So verzweifelt meine Lage auch war, kam mir der völlig losgelöste Gedanke, dass man heutzutage bestimmt keine Haftwickler wie diese mehr herstellte, die mit spitzen Plastikstäbchen am Kopf befestigt werden.

»Eine so hübsche junge Frau«, sagte sie. »Du siehst echt nicht übel aus, abgesehen von, na, du weißt schon. Jedenfalls machst du das Beste draus, das muss man dir lassen. Und mal ganz ehrlich, warum solltest du sonst bei einem weißen Mann wohnen, so ganz allein, nur ihr beide in dem Riesenhaus?«

Beim Sprechen bohrte sie sich den rechten Daumen in das linke Nasenloch.

Ich wiederholte, was ich ihnen zuvor gesagt hatte. »Ich wohnte bei Lloyd Hendricks, weil meine Eltern mich als Kind an ihn verkauft haben.«

Noch ehe ich zu Ende gesprochen hatte, wusste ich, dass mir keiner glauben würde, und warum sollten sie auch, wenn ich es doch selbst kaum glauben konnte, wenn ich mir ein Leben lang den Kopf darüber zerbrochen habe? Von dem Moment an, als ich sah, wie meine Mutter sich das Geld, das Lloyd ihr gegeben hatte, in den BH steckte, von dem Moment an, als Lloyd hinter mir die Tür seines Autos schloss, habe ich mich stets gefragt, wie meine Eltern das fertiggebracht hatten.

»Meine Eltern haben mich an ihn verkauft«, wiederholte ich.

Officer Haftwickler blickte Officer Megagrübchen an und lachte.

»Was redet die denn da?«, sagte sie. Mit dem Zeigefinger schnippte sie sich den Rotzpopel vom Daumen. »Hierzulande werden keine Kinder verkauft«, fuhr sie fort. »Was redest du da?«

Ihr Stuhl schrammte lautstark über den Boden, als sie ihn vom Tisch wegschob und den Raum verließ. Ihre Stimme wehte vom anderen Ende des Flurs zu uns herüber: Huyai mundinzwirewo zvirimuno.

Auf diese Aufforderung hin wimmelte es im Zimmer bald von Polizisten. Während sie sich mit lauten Stimmen und unter höhnischem Gelächter um mich scharten, wurde mir klar, dass ich sie niemals würde überzeugen können. Wenn sie mir schon diese simple Tatsache nicht glaubten, wie sollte ich ihnen dann vermitteln, wie Lloyd tatsächlich ums Leben gekommen war? Über wie viel Vorstellungskraft verfügten diese Männer und Frauen in ihren grau-braunen Uniformen, die Frau mit den rosa Plastikwicklern, die aus allen Nähten platzte, der Mann, der sich unter anzüglichen Blicken allerlei Spielereien mit weißen Sugardaddys ausmalte, wie sollte man ihnen das Grauen nahebringen, das mich ereilte, nachdem ich Lloyd tot aufgefunden hatte?

Lloyd redete selten offen darüber, wie ich zu ihm gekommen war. Falls es überhaupt zur Sprache kam, behalf er sich immer mit Euphemismen. Er habe mich »aufgenommen«, mir »ein Zuhause geschenkt«, der gutherzige reiche Mann, der dem armen schwarzen Kind ein trautes Heim bietet, der fröhliche Cheeryble, der einem undankbaren Dickens’schen Waisenkind Gutes erweist. Nur dass es in Wahrheit so war, dass der weiße Mann das schwarze Kind kauft, auch wenn es gar nicht den Anschein hatte, da war ja noch dieses Na, du weißt schon, wie Officer Haftwickler es nannte, dieses Leiden, das mich schwarz macht und doch nicht schwarz, weiß und doch nicht weiß. So lief es nun mal, und ich werde Ihnen alles darüber erzählen.

2

Ich sollte mich fürchten. Ich sollte nachts von Angstträumen schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken. Ich sollte Herzklopfen bekommen, den Appetit verlieren und ständig Durchfall haben.

Ich habe mich gefürchtet. Ganz am Anfang, als ich auf die Gerichtsverhandlung wartete und mir keine Freilassung gegen Kaution gewährt wurde, teilte ich mir die Zelle mit Mavis Munongwa, der einzigen anderen Frau, die hier wegen Mordes einsitzt. Das war, bevor ich in eine Einzelzelle kam.

Ich hielt mir die Ohren zu, wenn Mavis die Namen der Kinder herausbrüllte, die sie umgebracht hatte. Manchmal fürchtete ich mich davor, die Augen zu schließen und einzuschlafen. Aber sogar dann ergriff die Furcht nicht vollständig von mir Besitz. Mich schützte der Eindruck, dass all dies unwirklich war. Dass es nicht wahr sein konnte. Dass es zu absurd war, um wahr zu sein.

Auch jetzt fürchte ich mich noch ab und zu, aber die Furcht sucht mich meistens in meinen Träumen heim, wenn ich so lange ertrinke, bis ich aus dem Schlaf hochfahre. Von diesen Träumen abgesehen schlafe ich gut – so gut ich eben auf der Pritsche schlafen kann, die das Gefängnis stellt, in einer Zelle, deren Maße die vorgeschriebene Größe in den internationalen Abkommen zur menschenwürdigen Behandlung von Strafgefangenen unterschreiten. Ich esse ordentlich – so ordentlich ich eben kann, wenn das Essen so mies ist wie hier.

Meistens langweile ich mich nur. Alles, was man über einen längeren Zeitraum macht, wird irgendwann zur Routine, sogar das Warten auf den eigenen Tod.

Das schreibe ich in meiner Zelle, weil Loveness mir erlaubt hat, die Notizbücher und Stifte mitzunehmen. Es ist drei Wochen her, dass Sie mir die Bücher gegeben haben und ich zu schreiben anfing. Sie waren mein erster Besuch von außerhalb. Und Sie waren für uns alle hier drin sicher der erste Besuch aus dem Ausland. Selbst hier in Chikurubi schätzen wir vor allem das, was von außerhalb unserer Heimat kommt, wie überall in Simbabwe. Ausgenommen vielleicht Synodia, unsere Chefwärterin.

Synodia und Loveness haben hinterher über Sie gesprochen. Die beiden konnten kaum glauben, dass ein weißes Journalistenweib, wie Loveness Sie nannte, den weiten Weg von Amerika hierher auf sich nimmt, nur um mit einer Mörderin wie mir zu sprechen. Synodia entriss mir die Visitenkarte, die Sie hinterlassen hatten, und las Ihren Namen und Ihre Adresse vor, als wären es Lügen, die ich mir ausgedacht hatte, um sie zu ärgern. »Linda Carter«, las sie vor, mit dem Daumen auf der Karte. »Wer ist diese Linda Carter?«

»Sie heißt Melinda Carter«, sagte ich. »Eine Journalistin, die in Washington lebt, in Amerika.«

Synodia verzog ungläubig das Gesicht. »Bählinda, Schmählinda«, sagte sie und schleuderte mir die Karte entgegen. »Pahschington, Schmarrschington. Kann man Amerika vielleicht essen? Na? Wenn du das kannst, sollst du dich an Amerika vollfressen. Bahmerika, Buhmerika.«

Was sie so von sich gibt, nenne ich Synodiaden. Ich bin sicher, dass sie beim Formulieren genau weiß, was sie damit meint. Doch sobald sie den Mund aufmacht, geht irgendwie jeder Sinn verloren.

Sie waren mein erster Besuch, abgesehen von Vernah Sithole, meiner Anwältin. Mein erster Besuch von außerhalb in den zwei Jahren, drei Monaten, sieben Tagen und dreizehn Stunden, die ich schon hier bin. Bevor Vernah sich für meinen Fall zu interessieren begann, war die einzige Außenstehende, die ich zu sehen bekam, die Frau von der Goodwill-Organisation.

Es war Vernahs Idee, dass ich Ihnen meine Geschichte erzählen sollte. Bevor sie das Interview mit Ihnen in die Wege leitete, forderte sie mich auf, jedes Detail aufzuschreiben, an das ich mich erinnerte, alles zu notieren, was mir Sympathiepunkte eintragen könnte. »Für die Berufung spielt das eine große Rolle«, sagte sie. »In Mordfällen ist die Todesstrafe nämlich vorgeschrieben, also müssen wir mildernde Umstände geltend machen. Das ist die einzige Möglichkeit, das Urteil abzuändern.«

Hierzulande gibt es nicht diesen endlosen Reigen von Berufungsverfahren wie in Amerika. Und es gibt keinen Gouverneur, der einen in letzter Minute filmreif begnadigt. Ich kann nur ein einziges Mal in Berufung gehen, beim Obersten Gericht. Vernah hat sowohl gegen das Strafmaß als auch gegen den Schuldspruch Berufung eingelegt. Die Richter haben drei Möglichkeiten: Sie können den Schuldspruch bestätigen und am Strafmaß festhalten, sie können den Schuldspruch bestätigen, das Strafmaß jedoch aufheben und im besten Fall sowohl den Schuldspruch als auch das Strafmaß aufheben.

Ja, den Juristenjargon beherrsche ich jetzt fließend, ich bin Expertin geworden in meinem eigenen Fall. Vielleicht wäre ich gar nicht hier, wenn Vernah mir schon bei meiner Verhaftung beigestanden oder wenn sie mich während der Verhandlung verteidigt hätte. Ich hatte überhaupt keinen Anwalt. Als ich den Mord an Lloyd gestand, hatte ich tagelang weder geschlafen noch gegessen. Noch ein Grund, warum Vernah überzeugt ist, dass meine Berufung Erfolg haben wird.

Sie hat ja auch angeregt, dass ich Ihnen schreibe. »Erzählen Sie es Melinda Carter«, sagte sie. »Erzählen Sie ihr alles, auch das, was sie Ihrer Meinung nach schon weiß.«

Sie können sich nicht vorstellen, wie merkwürdig es ist, ausgerechnet Ihnen das alles zu schreiben. Wie alle Leser Ihrer Zeitschrift bin ich mit Ihren Texten vertraut. In jeder Ausgabe, die ich mir kaufte, habe ich die großen Interviews mit Prominenten übersprungen, die Berichte über den Krieg im Irak und die Finanzskandale, um allmonatlich als Erstes Ihre Kolumne zu lesen.

Daher weiß ich, dass Sie sich auf die Aufdeckung von Justizirrtümern spezialisiert haben. Vernah hat mir gesagt, dass Sie ein Jahr hier bleiben wollen, um für eine Artikelserie über unser aberwitziges Rechtssystem zu recherchieren.

Verity Gutu, tatsächlich eine veritable, nie versiegende Quelle oft belangloser Informationen, hat mir gesagt, bei Vernah Sithole sei ich in guten Händen. Sie hat wortwörtlich gesagt: »Bei diesem Anwaltsweib Sithole bist du in guten Händen.«

Loveness hat mir erzählt, wie sie in Gweru eine Frau verteidigte, die ihr Baby in eine Latrinengrube geworfen hatte. Das kleine Mädchen hatte nicht überlebt, es war in einem Meer von Fäkalien, Urin und saurem Schweiß ertrunken. Loveness sagte, dank Vernah sei die Frau mit einem Jahr auf Bewährung davongekommen. Der Richter meinte, es sei eine Schande, dass die Anwältin mehr Reue gezeigt habe als ihre Mandantin.

Bis die Begnadigung, für die Vernah kämpft, erfolgt, wenn sie denn erfolgt, schreibe ich im Schatten des Galgens. Wenn es nach der Staatsanwaltschaft und der Gefängnisbehörde geht, werde ich an einem Strick baumeln, bis mir das Genick bricht, mein Darm sich entleert und mein Leben erlischt, und ich werde ein Armenbegräbnis bekommen und ein anonymes Grab.

Heute habe ich über die Frage nachgedacht, die Sie mir bei unserem zweiten Treffen gestellt haben: Warum hat sich keiner der hiesigen Journalisten für meine Geschichte interessiert? An meinen weniger zynischen Tagen würde ich antworten, dass es Wichtigeres gibt: Wer wird die Wahlen gewinnen? Wer wird als Nächster regieren? Welcher Mann hat seine Frau getötet und womit? Wer wird bei Big Brother Africa gewinnen? Fußball- und Cricket-Ergebnisse. Geheimnisvolle Vorkommnisse, in denen es um Zauberei geht, Grabraub, Kobolde und böse Flüche.

In vielerlei Hinsicht bin ich froh, dass niemand meine Geschichte erzählen wollte. Als die Zeitungen die ersten Meldungen über Lloyds Tod brachten, konzentrierten sie sich voll und ganz auf mein Leiden, genau wie früher in der Township, in der ich aufgewachsen bin, bevor Lloyd mich gekauft hat. Die Kinder begegneten allen Andersartigen mit brutaler Ehrlichkeit. Wenn sie jemanden erblickten, dem beispielsweise die Beine fehlten, war das für sie keine Person, die ohne Beine – oder ohne Augenlicht – zurechtkommen musste. Sie brüllten: Hona chirema, hona bofu, komm, sieh dir den Krüppel an, komm, sieh dir den Blinden an, und stellten jede Behinderung heraus.

Dabei wurzelte ihre Haltung gewissermaßen in der Sprache. Bofu gehört zur Nominalklasse fünf, die Dinge bezeichnet, genau wie benzi, das Wort für eine verrückte Person. Chirema gehört zur Nominalklasse sieben, wie chimumumu, die ebenfalls unbelebte Dinge bezeichnet oder unvollständige, behinderte Wesen. Als murungudunhu oder musope befinde ich mich wie normale Menschen in der Nominalklasse eins. Murungudunhu hat aber eine tiefere Bedeutung. Als murungudunhu bin ich eine schwarze Frau, deren weiße Haut nicht als murungu gilt, also nicht als Privileg, sondern als dunhu, als lächerlich und vorgetäuscht – ein grässliches Weiß.

Ich glaubte zunächst, dass es mir schwerfallen würde, all das für Sie aufzuschreiben, aber die Erinnerungen strömen mir nur so zu, schneller, als ich sie festhalten kann. Mobhis Füße, die Sohlen mit Erde der Mharapara Street beschmiert, ragen aus dem tödlichen Eimer heraus. Donner und scharfe Blitze über den Hügeln von Umwinsidale. Das Lachen von Lloyd und Zenzo geht in die Stimme des Baptisten über, der mir befiehlt, dem Satan zu entsagen. Die Wellen des Mukuvisi, sie schlagen über meinem Kopf zusammen und ich schreie vor Entsetzen.

Seit ich hier bin, kehren die Erinnerungen zurück. Lange bevor Vernah Sithole mich gebeten hat, alles für Sie aufzuschreiben, war ich mit einer gähnenden Leere konfrontiert, in der es nichts anderes zu tun gab, als zu grübeln und nachzusinnen. In den zwölf toten Stunden zwischen nachmittags um halb fünf – wenn wir für die Nacht eingesperrt werden – und morgens um halb fünf, wenn die Sirene schrillt, gibt es hier nichts zu tun. Bücher gibt es keine außer der Bibel, und ich kann mit niemandem reden, weil ich meine eigene Zelle habe.

Eigentlich dürfen wir unsere Bibel in die Zelle mitnehmen, aber Synodia erlaubt es mir nur selten. Sie ärgert sich schon darüber, dass es mich überhaupt gibt. Es geht ihr gegen den Strich, dass ich Englisch spreche, dass ich früher mit Weißen zusammengelebt habe, dass ich im Ausland studieren konnte, es geht ihr gegen den Strich, dass ich hier wegen Mordes einsitze.

Also denke ich über mein Leben nach, arbeite die Ereignisse auf, die mich hierhergeführt haben, immer wieder aufs Neue, ordne und gestalte sie in einem endlosen Kreislauf um: Was wäre gewesen, wenn?

Jimmy Blue Butter beneidet mich um mein altes Leben mit Lloyd. Sie beneidet mich um Summer Madness, das Haus, das in ihrer Vorstellung zu einem riesigen Herrensitz angewachsen ist. Sie versteht nicht, wie jemand, der einst so prachtvoll residierte, klaglos auf einer Gefängnispritsche schlafen oder grün verschimmeltes Brot essen kann. Sie versteht nicht, wie ich mit den anderen irgendwelches unbrauchbares Zeug wieder zusammenflicken kann, in der verdreckten Abstellkammer, die wir Strafkammer nennen, oder wie ich stundenlang in der Wäscherei stehen kann, um die Kleider unserer Wärterinnen zu waschen und zu bügeln, die auf der herzlichen Anrede »Mbuya« beharren, während sie uns ihre kleinliche Tyrannei spüren lassen.

Ich würde ihr gern sagen, dass Armut mich kein bisschen schreckt, weil ich sie erlebt und ich sie überwunden habe. Ich möchte ihr sagen, dass sogar Prachthäuser Kummer und Elend bergen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie das jemals begreifen wird. Ich würde ihr gern sagen, dass sie mehr Elend bergen als andere, weil sie dafür mehr Platz bieten.

3

Noch immer tauchen sie manchmal auf – Vater und Mutter. Sie bringen meine wachen Stunden aus dem Takt, sie kommen völlig ungebeten, wenn ich in der Wäscherei bin oder in der Strafkammer, vor dem Frühstück, wenn ich unter der Leitung von Synodia Kirchenlieder singe. Sie kommen, wenn ich im Gefängnisgarten an etwas anderes denke und sie gar nicht gerufen habe. Sie kommen mit meinen Schwestern, Joy, die wir Joyi nannten, und Moreblessings, genannt Mobhi. Sie kommen mit meinem Bruder Gift, den wir Givhi nannten.

Erst beim Versuch, die eigene Lebensgeschichte aufzuschreiben, wird einem bewusst, wie schwer es ist, den Anfang zu finden. Ich wünschte, ich könnte so anfangen, wie man es üblicherweise tut, könnte Ihnen alles über meinen Vater und meine Mutter erzählen, wie sie sich kennengelernt haben und wer ihre Eltern waren und wer ihre Ahnen. Bevor sie mich an Lloyd verkauften und ich wegzog, wusste ich nichts über sie, abgesehen davon, dass sie mein Vater und meine Mutter waren.

Hierzulande verlangt die orale Tradition, dass man sich zu Beginn seiner Geschichte in die eigene Familie einordnet: »Ich bin das älteste von sieben Kindern« – »Ich bin das letztgeborene von vier Kindern« – »Ich bin das mittlere von sieben Kindern; zwei sind gestorben, und so leben nur noch fünf.« In diesem einen Satz wurzelt die ganze Identität: Ich bin die Erste, die Mittlere, die Vierte, die Zweite, die Letzte.

Also sollte ich vielleicht auch dort ansetzen. Ich war das zweite von drei Kindern. Das älteste war meine Schwester Joyi, ein missverständlicher Ausdruck, denn sie war das älteste lebende Kind, aber nicht das erstgeborene. Dieser Vorrang gebührte Gift, meinem toten Bruder, er hätte den Namen weitergeben sollen, mit dem das Andenken meiner Eltern für immer bewahrt wäre.

Meine Mutter wurde MaiGivhi gerufen, mein Vater Ba’Givhi, doch anstelle eines lebenden Givhi gab es meine Schwester Joyi, ein Jahr und ein paar Monate älter als ich, dann gab es mich und schließlich Mobhi, die Jüngste, die schon mit vier Jahren starb.

Wenn sie auftauchen, dann so wie in meiner Erinnerung, außer Givhi, der für mich immer nur ein Name war oder höchstens ein verschwommenes Gesichtchen auf den Schwarz-Weiß-Fotos im Album meiner Mutter. Er kommt mir als formlose Gestalt in den Sinn, in die grüne Decke mit dunkelgrau gestreiftem Rand gewickelt, die Decke, die auch sein Leichentuch war. Wenn er mich in meinen Träumen heimsucht, ertrinkt er. Manchmal ertrinken wir zusammen. Ich will nach ihm greifen, aber die Chimäre zieht mich tiefer, immer tiefer… Sie lässt mich nicht los, und ich verliere ihn aus den Augen.

Joyi ist klein und flink, ihre Haut hat die Farbe von heißem Karamell. Sie bringt die Stimmen der Kinder unserer Straße mit. Vom Kinderzimmer aus sind die Lieder zu ihren Lieblingsspielen zu hören. Tinotsvaga maunde, maunde, maunde. Tinotsvaga maunde, masikati ano. – Tauya kuzoona Mary, Mary, Mary. Tauya kuzoona Mary, Mary, Mary woo.

Mobhi tapst auf fetten Babybeinchen herbei, zieht eine Wasserspur hinter sich her. Fliegt hoch, lacht, fällt herab. Mein Vater fängt sie auf und wirft sie wieder hoch. Sie lacht, dass die Erde bebt.

Mein Vater bringt die Stimmen aus seinem Radiogerät mit, sie singen Mirandu und Sina Makosa, Sweet Mother und Celebration, er bringt die wehmütige Anfangsmelodie der Sendung mit den Todesmeldungen mit, Zvisiviso Zverufu, und die fröhlichen Grüße aus Kwaziso.

Er bringt die Stimme von Evans Mambara mit, die sich vor Begeisterung überschlägt, als die Menge im Rufaro-Stadion Moses Chunga und Joel Shambo beim Endspiel der Castle-Meisterschaft bejubelt, und die von Peter Lovemore, die immer höher wird, während er unsichtbare Pferde in unser Wohnzimmer zaubert, aus einem Ort herbeigaloppierend, an dem wir nie gewesen sind. »Hier kommt Prince of Thieves, dicht gefolgt von Midnight Oil, aber Prince of Thieves setzt sich durch, nicht zu fassen, ja, Prince of Thieves führt, Prince of Thieves macht das Rennen, Prince of Thieves gewinnt dieses großartige Rennen an diesem herrlichen Nachmittag im Borrowdale Park.«

Sie bringen die Geschichten mit, die wir uns im Radio angehört haben, Romane mit ominösen Titeln, die von Schicksalsschlägen und den Prüfungen des Lebens künden. Eines Tages wirst du an mich denken, Ich bin tot und wünsche dir nur das Beste, Scham ist oft schlimmer als der Tod, Was habe ich dir denn getan? Ist der Plan einmal gefasst, gibt es kein Zurück. Das Radio brachte uns die Welt dieser Bücher nahe, eine harte, grausame Welt voller Verrat, Verschwörungen und unvorhersehbarer Gefahren.

Und sie bringen die Musik mit, die wir abends anhörten, wenn wir nicht gerade den Romanen im Radio lauschten, sie bringen die Platten meiner Mutter mit und unsere Lieblingssongs, Lieder, die zugleich Geschichten sind. Wir haben nicht immer jedes Wort verstanden. Was machten die Gatlin-Brüder genau, als sie sich alle nacheinander Becky nahmen? Was war bei »The Gambler« der Unterschied zwischen fall down und hall down? Was bedeutete Almanach? Wo waren diese Orte, almost heaven, West Virginia, wo war Tennessee, wo in aller Welt war Sweet Home Alabama?

Und meine Mutter? Sie ist jedes einzelne Lied und mehr als das. Sie ist Jeannie, die Angst vor der Dunkelheit hatte. Sie ist Tommy, der größte Feigling weit und breit. Wenn sie kommt, begleitet sie das Kratzen eines Plattenspielers. Sie bringt eine Geburtstagstorte mit und schleudert sie an die Wand. Meine Mutter ist der lange, dünne Zweig des Pfirsichbaums von nebenan. Sie ist die Stimme der Chimäre, die in meinen Träumen lauert. Sie ist die Fremde, die mir im Spiegel entgegenblickt, wenn ich es am wenigsten erwarte. Sie ist mein klopfendes Herz, meine pochende Angst.

4

Ich bin schon so lange hier, dass mir dieser streng durchstrukturierte Ort inzwischen sehr vertraut ist, die langen Flure, die engen Zellen. Die Strafkammer, wo wir uns die Finger an stumpfen Nadeln blutig stechen, beim Versuch, Uniformen zu flicken, die schon längst ausgemustert gehören; die Wäscherei, wo wir die Kleider der Wärterinnen waschen und bügeln; der Waschraum, wo wir unsere Körper waschen in Becken, die nur für Hand und Gesicht gedacht sind; und die Kantine, wo jede Mahlzeit von dem höllischen Lärm begleitet wird, den vierhundert Löffel beim Schaben auf vierhundert Metalltellern veranstalten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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