Die Fesseln der roten Erde - Angelika Röbel - E-Book

Die Fesseln der roten Erde E-Book

Angelika Röbel

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Beschreibung

Die dreizehnjährige Marie wird nach New South Wales, Australien, deportiert. Bei einer älteren ebenfalls deportierten Gefangenen findet sie den mütterlichen Schutz, den sie in ihrem Alter noch dringend benötigt. Beide werden in Australien heimisch, als Marie von einem skrupellosen Siedler entführt wird. Nach Jahren gelingt ihr die Flucht und ohne es zu ahnen, wählt sie einen Weg, der mitten in das australische Outback führt. Von Ureinwohnern wird sie halbtot in der Wüste gefunden und geht fortan mit ihnen auf Wanderschaft. Als sie viele Jahre später nach Sydney zurückkehrt, wird sie auf eine harte Probe gestellt. Kann das Schicksal noch härter zuschlagen als bisher?

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Angelika Röbel

Die Fesseln der roten Erde

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2011

www.angelika-roebel.de

Das Titelfoto zeigt die „Bungle Bungle“ im Purnululu-Nationalpark in der Region Kimberley in Nord-West-Australien.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Coverbild: © Keith Wheatley – Fotolia

Copyright (2011) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Inhalt
Danksagung
Vorwort
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Nachwort

Danksagung

Die Recherchen für Die Fesseln der roten Erde waren sehr umfangreich. Ich habe die Hilfe von vielen Menschen in Anspruch genommen und ’zig Quellen zurate gezogen. Allen, die bereit waren, mir zu helfen, möchte ich hiermit danken.

Besonders erwähnen möchte ich:

Meine Familie, die mit viel Geduld bewiesen hat, dass sie immer hinter mir steht.

Meinem Sohn Nils Röbel, der meine Ideen für das Buchcover professionell umsetzte.

Elvira Bieda aus Weißenfels. Sie stellte mir ihre Kurzgeschichte von der Klosterruine und der Wiese zur Verfügung, um sie in meinem Roman mit zu veröffentlichen. Leider konnte sie ihre Geschichte in meinem Roman nicht lesen, da Elvira am 08. Oktober 2007 ganz plötzlich verstarb. Ihr Andenken in Ehren.

Inka Friedrich, Günter Queck und Annette Kretzschmar, die meinen Roman grammatisch auf Herz und Nieren prüften.

Pfarrer Thomas Bohne schenkte mir das Buch „Stille Nacht, heilige Nacht“. Dadurch konnte ich meine Wissenslücken über die Überlieferungen der Weihnachtsgeschichten füllen.

Meine Gynäkologin Dipl. Med. Kerstin Reinhardt aus Lützen, sie erklärte mir eine Fehlgeburt im sehr frühen Stadium.

Christin Ungewiß aus Heidelberg, zurzeit wohnhaft in Texas Huston. Sie half mir, die richtigen Worte bei einer kirchlichen Trauung zu finden.

Für das Lektorat bedanke ich mich bei Daniela Lorenz.

Vorwort

In der Zeit, von der dieser Roman handelt, werden ursprünglich andere Maßeinheiten verwendet. Da ich selbst ungern Romane lese, wo ich des besseren Verständnisses wegen ständig im Lexikon nachschlagen muss, habe ich mir erlaubt, für meine deutschsprachigen Leser auch gebräuchliche Maßeinheiten zu verwenden, sofern es nicht in der wörtlichen Rede vorkommt.

Worterklärungen

Lesen heißt träumen mit

offenen Augen

(Ernest Hemingway)

1. Kapitel

1788

Seit Tagen bereits war es windstill. Ein leichter Flockenwirbel sorgte dafür, dass immer wieder der Schnee von den Stufen gefegt werden musste. Außerhalb des Ortes Slane stand einsam ein mit Reet gedecktes Häuschen, das durch die Schneelast einzustürzen drohte.

Nervös ging die Großmutter wiederholt zum Fenster. Sie hauchte an die kleine vereiste Scheibe. Die Eisblumen schmolzen kreisförmig auseinander. Mit dem Ärmel wischte sie die Stelle trocken und schaute auf die verschneiten Wiesen. Aber von ihrer Enkelin war immer noch nichts zu sehen. Wo blieb das Kind nur?

Jeden Sonntag nach der Messe kam die Zwölfjährige zu ihr und gemeinsam verbrachten sie einen schönen Nachmittag. Aber seit einigen Wochen hatte sich das Mädchen sehr verändert. Es war so ernst und still geworden. Großmutter setzte sich wieder in den alten Ohrensessel und dachte nach. Sie überlegte, ob irgendein Grund für das seltsame Verhalten ihrer Enkelin zu finden war. Wenn sie nur mit ihrem Sohn darüber reden könnte!

Damals, ach wie lang ist das schon her, war er sehr glücklich mit seiner Frau gewesen. Als sie schließlich ein Kind erwarteten, schien das Glück perfekt zu sein. Doch seine Frau starb bei der Geburt der Tochter. Er gab dem Kind den Namen seiner Frau, Marie. Sechs Jahre zog er sie allein groß, bis er seine jetzige Frau heiratete. Sie war sehr herrisch und die Stieftochter stand ihr im Wege. Sie ließ das Mädchen körperlich schwer arbeiten. Manchmal weinte Marie, aber der Vater konnte ihr nicht helfen. Seit einem schweren Unfall im Stall war er ans Bett gefesselt. Seine Frau kümmerte sich gut um ihren Mann, während Marie kein gutes Verhältnis zur Stiefmutter hatte.

War es das, was das Kind so belastete? Unruhig stand die Großmutter wieder auf. Das Eisloch auf der kleinen Fensterscheibe war verschwunden. Wieder hauchte sie die Scheibe an. Nichts! Marie war immer noch nicht zu sehen. Kopfschüttelnd vor Sorge ging sie zum Kamin, legte einige Holzscheite auf die Feuerstelle und setzte sich wieder. Schnell hatte sie einen Gedanken aufgegriffen. Es musste etwas mit der Steuerschuld zu tun haben. Marie hatte ihr erzählt, dass ihre Stiefmutter auf den Vater schimpfte, weil er krank war und das Feld nicht bestellen konnte. Dadurch hatten sie ihren Zehnt nicht abliefern können und standen somit in der Schuld. Marie erwähnte, dass sie deswegen wahrscheinlich Haus und Hof verlassen müssten. Aber das war nun schon Wochen her. Eigentlich waren es sogar mehr als drei Monate, das konnte demnach kaum die Ursache für ihr Verhalten sein. Aber irgendwie mussten sie die Schuld beglichen haben. „Wenn nicht mit Geld, dann hat sie sicher ihren Körper dafür hergegeben. Zuzutrauen wäre es ihr.“ Bei diesen Worten, die sie laut sprach, nickte sie zur Bestätigung.

Die Großmutter stand auf, nahm eine kleine Decke, legte sie sich über den Kopf und die Schultern, zog ihre Holzschuhe an und öffnete die Tür. Eine klare, kühle Winterluft kam ihr entgegen. Vorsichtig ging sie die drei Stufen hinunter. Ihr Blick schweifte in die Ferne, über die irische See und auf der anderen Seite über die Hügel von Slane. Endlich sah sie Marie kommen. Ein Lächeln huschte über ihr altes, runzliges Gesicht. Großmutter ging die Stufen wieder zurück in ihr Haus und stellte einen verbeulten Teekessel auf die Feuerstelle. Sie hörte, wie Marie sich vor der Tür den Schnee von der Kleidung klopfte. Mit gesenktem Kopf kam das Mädchen herein.

„Da bist du ja endlich, Kind. Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.“ Großmutter umarmte ihre Enkelin und half ihr, den Mantel auszuziehen. Sie stellte ihr eine Tasse Tee auf den Tisch und schnitt vom Brot eine Scheibe ab. „Möchtest du Pflaumenmus dazu oder Speck?“

„Nichts, Großmutter, ich habe keinen Hunger.“

Die Großmutter lachte und setzte sich Marie gegenüber. „Aber Kind, das wäre doch das erste Mal“. Sie schob ihr die Musschüssel zu.

„Die Stiefmutter sagt, dass ich bei dir zu dick werde. Und wenn ich dick bin, kann ich nicht richtig arbeiten.“

Großmutter schnitt kopfschüttelnd noch eine zweite Scheibe Brot ab. „So, nun wird gegessen, und ich möchte von dir keinen Widerspruch hören!“

Während Marie kaute, sagte sie: „In meiner Manteltasche sind die Kirschzweige, die ich dir mitbringen sollte.“

Großmutter ging an den Schrank, holte eine Schüssel heraus und füllte diese mit Wasser. Die Kirschzweige legte sie hinein. Während sie das tat, sagte sie: „Morgen nehme ich die Zweige aus der Schüssel und stelle sie in einem Krug auf den Tisch.“

„Großmutter, ich weiß, dass heute der Tag der ‚Heiligen Barbara’ ist. Erzählst du mir noch einmal die Geschichte? Du kannst so schön erzählen, bitte“, bat Marie.

„Ja, wo soll ich da nun anfangen, Kind? Also, heute am vierten Dezember ist der Tag der ‚Heiligen Barbara’. Aber sie lebte bereits vor langer, langer Zeit, im dritten Jahrhundert oder so. Auch wohnte sie nicht in unserem Land, sondern weit weg. Sie soll ein sehr schönes Mädchen gewesen sein und wurde wegen ihres christlichen Glaubens zum Tode verurteilt. Ihr Vater war ein großer Gegner des christlichen Glaubens und daher sorgte er selbst dafür, dass sie dieses Urteil bekam. Aber nicht nur das; sein Zorn darüber war so groß, dass er als Scharfrichter das Urteil mit eigener Hand an ihr vollzog. Ein schweres Gewitter, das gerade über dem Platz tobte, entlud seine Energie und der unnatürliche Vater wurde für diesen Frevel sogleich vom Blitz erschlagen. Von da an wurde die bald heiliggesprochene Barbara als Schutzheilige für Donner und Blitz angerufen. Über ihren Märtyrertod hinaus aber hinterließ sie ein wunderschönes Zeichen der Hoffnung – den Barbarazweig. Du hast mir heute einige Zweige vom Kirschbaum mitgebracht; sie sind noch ganz kahl, ohne Blätter und Blüten. In meiner Stube werden sie genau am 24. Dezember erblühen, dem Geburtstag unseres Herrn Jesus Christus.“ Dabei bekreuzigte sie sich, und Marie tat es ihr nach.

„Weißt du, Großmutter, die ‚Heilige Barbara’ hatte einen bösen Vater, und ich habe eine böse Stiefmutter.“

Die Großmutter legte neues Holz auf das Feuer und schürte mit einem Eisenstab die Glut. „Lass nur, Kind, auf jeden Fall sorgt sie für euch. Dein Vater kann es leider nicht mehr.“

Marie versteckte ihr Gesicht in ihren Handflächen und nickte.

Großmutter entging diese verzweifelte Geste allerdings nicht. Immer wieder versuchte sie durch gutes Zureden, dass Marie ein besseres Verhältnis zu ihrer Stiefmutter bekam. „Bedenke nur“, sprach sie zur Enkelin, „deine Stiefmutter hat, wie auch immer, euren Hof schuldenfrei gemacht. Das kann man ihr nicht hoch genug anrechnen. Dein Vater war darüber sicher sehr erleichtert.“

Marie stand auf, mit Tränen im Gesicht öffnete sie den Mund, als wollte sie etwas sagen, brachte aber keinen Ton hervor. Sie schüttelte den Kopf, zog schnell ihren Mantel über und wollte aus dem Haus rennen. Aber die Großmutter fasste sie an den Schultern. „Lauf nicht weg, Marie, ich habe eine ganze Woche auf dich gewartet. Ich mache mir deinetwegen große Sorgen. Bitte bleib noch.“

Mit wässrigem Blick schaute Marie ihre Großmutter an und nickte. Ihren Mantel hängte sie wieder an den Haken neben der Tür und setzte sich. Marie wollte nicht über ihre Probleme reden, darum musste sie Großmutter schnell auf andere Gedanken bringen. „Großmutter, …“

„Ja, mein liebes Kind?“, wurde sie unterbrochen.

„Großmutter, erzähl mir noch eine Geschichte, bitte!“

Sie wollte Marie den Wunsch erfüllen und überlegte kurz.

„Du kennst doch sicher das alte, verfallene Kloster jenseits des Waldes?“ Marie nickte. „Kennst du dann auch die unheimliche Geschichte von dem Kloster und der Wiese?“

Als Marie mit großen neugierigen Augen ihren Kopf schüttelte, begann sie zu erzählen.

„Also, vor vielen, vielen Jahrhunderten hatte sich ein neuer Bauer auf einem prächtigen Hof in der Nähe der Klosterruine niedergelassen. Jeden Tag sah er von seinem Anwesen aus die wunderschöne Wiese vor der Ruine. Obwohl er selbst genug Ackerland und Wiesen hatte, war sein Verlangen nach dem Besitz dieser einen sehr mächtig.

Eines Abends erzählte er im Gasthof den Einheimischen des Dorfes von seinem Wunsch. Jeder Anwesende sah ihn bestürzt an. Man riet ihm davon ab, sich jemals auch nur mit dem Gedanken zu tragen, diese Wiese zu besitzen oder sie zu mähen. ‚In der Ruine ist es nicht geheuer, in Vollmondnächten spuken dort schwarz gekleidete Wesen über der Wiese’, sagte man.

Seit der Zerstörung des Klosters durch marodierende Banden und der Verschleppung der Nonnen hatte sich nie wieder jemand dem Kloster genähert. Bis auf einen Bauern, der vor Jahren die Wiese mähte, um gutes Geld zu machen. Er verschwand plötzlich. Niemand hatte ihn jemals wieder gesehen. Das gemähte Gras verwandelte sich in der Nacht zu unzähligen Heuschrecken, die die gesamte Ernte des Dorfes vernichteten. Die Folge davon war eine große Hungersnot.

Das ist schon sehr, sehr lange her, sodass sich nur noch die Dorfältesten daran erinnern konnten.“

Großmutter stand auf und rieb sich den schmerzenden Rücken. Sie holte die Kanne Tee vom Ofenrand und goss Marie und sich selbst die Tasse wieder voll. Danach erzählte sie weiter.

„Als der Bauer wieder zu Hause war, tat er das, was er gehört hatte, als Hirngespinst einiger alter Männer ab. Er nahm sich vor, in der kommenden Vollmondnacht die Klosterruine und die Wiese zu beobachten. Als es Tage später soweit war, setzte er sich an ein Fenster seines Hauses und wartete. Lange Zeit tat sich nichts, nur die Tiere des angrenzenden Waldes ästen friedlich am Rand der Wiese. Selbst sie trauten sich nicht, diese Wiese zu betreten, um von dem saftigen Gras zu fressen. Kurze Zeit später sah er einige schwarz gekleidete Gestalten auf ihr. Es sah für den Bauern aus, als würden sie beten. Um das alles genauer beobachten zu können, lief er aus dem Haus auf die Ruine zu. Doch als er näher kam, sah er nur noch einige Nebelschleier über der Wiese schweben. So tat er das Gesehene als einen natürlichen Vorgang ab. Er ging zurück zum Haus und legte sich schlafen. Hätte er jedoch noch einmal aus dem Fenster geschaut, wären ihm die Gestalten viel deutlicher aufgefallen. Es waren die Nonnen, die vor Jahrhunderten aus diesem Kloster verschleppt worden waren. Sie beteten und berührten die Wiese mit ihren Händen und den Gewändern. Jede pflückte sich eine wunderschöne Wiesenblume, und danach war der Spuk verschwunden und alles war wieder wie vorher.“

Die Großmutter stöhnte unter ihren Rückenschmerzen. „Den Rest erzähl ich dir das nächste Mal, wenn du kommst.“

„Bitte Großmutter, bitte erzähl doch weiter. Ich kann nicht bis zum nächsten Sonntag warten. Bis dahin habe ich doch alles wieder vergessen. Es ist so spannend, und ich finde es nicht schön, wenn man mittendrin aufhört.“ Marie himmelte bittend ihre Großmutter an. Diesem Blick konnte sie einfach nicht widerstehen.

„Weißt du was? Während du erzählst, knete ich deinen Rücken“, schlug Marie begeistert vor.

Lächelnd setzte sich die Großmutter auf den Hocker, damit Marie besser an ihre schmerzenden Stellen kam. Und dann erzählte sie weiter.

„… Ich muss erst kurz nachdenken, wo ich war. Ach ja; Also am nächsten Abend erzählte der Bauer lachend im Gasthof von seinem Erlebnis in der vergangenen Nacht. Die Anwesenden bekamen einen furchtbaren Schreck. Denn immer, wenn jemand von diesen Erscheinungen berichtete, wurde das Dorf von einem Unheil heimgesucht. Diesmal verging jedoch die Zeit, ohne dass etwas passierte. Und Monate später dachte keiner mehr an das Geschehene.

Wieder wurde es Frühling, die Wiese grünte und blühte wunderschön. Der Bauer bekam immer mehr Verlangen, das Gras auf der Wiese zu mähen. Er konnte es nicht mehr aushalten, nahm die Sense und ging zu ihr.

Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien, die Vögel sangen und nichts deutete auf etwas Schreckliches hin.

Als der Bauer die Wiese betrat, verstummten plötzlich alle Vögel. Die Luft wurde schwer und heiß. Der Himmel färbte sich graugelb. Doch all das sah der Bauer nicht. Er begann mit seiner Sense das Gras zu hauen. Ohne seine Umwelt wahrzunehmen, mähte er Schwaden um Schwaden. Er sah nicht, dass es immer dunkler und bedrohlicher wurde. Ein Sturm kam auf und plötzlich kamen schwarz gekleidete Gestalten aus der Ruine. Sie umkreisten den Bauern in immer enger werdenden Spiralen, kamen immer näher heran und jetzt endlich bemerkte er, dass er nicht mehr allein war. Doch es war zu spät. Es erhob sich ein fürchterliches Getöse und Geheule. Der Bauer wurde von einer Windböe erfasst und in die Höhe geschleudert. Als er tot auf die Erde zurückfiel, wurde es wieder ruhig und friedlich, so als wäre gar nichts geschehen.

Am Abend warteten die Männer im Gasthof vergeblich auf ihn. In schrecklicher Vorahnung fassten sich einige ein Herz, um nach dem Bauern zu sehen. Als sie am Hof ankamen, trauten sie ihren Augen nicht. Das Haus war völlig zerstört.

Bis zum heutigen Tag hat sich niemand mehr in die Nähe der Klosterruine gewagt. Aber in den Vollmondnächten tanzen weiter dunkle Nebelschleier über der Klosterwiese.“

„Das war ja eine schöne, aber auch traurige Geschichte.“

„Aus jeder Geschichte sollte man etwas lernen“, sprach die Großmutter. „Was lernst du aus dieser?“

Marie überlegte kurz. „Man soll mit dem zufrieden sein, was man hat, und nicht aus Neid oder Habgier auf das blicken, was einem nicht gehört.“

Wohlwollend nickte die Großmutter.

„Du bist sehr klug, Marie. Ich bin stolz auf dich.“

„Passieren in dem verfallenen Kloster auf der anderen Seite des Waldes tatsächlich heute noch solche Dinge?“

„Wer weiß“, antwortet die Großmutter geheimnisvoll. „Aber ich würde dir empfehlen, das nicht zu überprüfen.“

Wieder traten Tränen in Maries Augen. „Ich dachte nur, ich könnte dorthin gehen, wenn…“

„Untersteh dich, auch nur daran zu denken! An der Geschichte ist mehr Wahrheit als du ahnst. Versuch mit deiner Stiefmutter auszukommen, dann wird das Leben für dich erträglicher werden.“

Wieder bekamen Maries Augen diesen unsagbar traurigen Ausdruck. Großmutter hatte mit ihrer Geschichte nur für wenige Minuten ein Strahlen in das Gesicht ihrer Enkelin zaubern können.

Marie weinte. Sie stand auf und zog ihren Mantel an. „Ich geh jetzt, Großmutter. Soll ich den Vater von dir grüßen?“

Großmutter blickte sorgenvoll auf Marie und nickte nur. Sie war verzweifelt, wollte helfen, aber wusste nicht wie! Sie kam nicht mehr an das Kind heran. Traurig setzte sie sich wieder in ihren Ohrensessel.

Sie überlegte, womit sie Marie eine Freude bereiten könnte, denn schließlich rückte der Heilige Tag immer näher. Dann hatte sie eine Idee. Ihre rote verschlissene Strickjacke hatte zu lange Ärmel. Immer musste sie diese umkrempeln. Sie nahm eine Schere und trudelte von beiden Ärmeln ein Stück ab. Die Wolle wurde anschließend auf ein Brett gewickelt und gewaschen. Danach stellte sie das Brett zum Trocknen an den Rand des Ofens, während sie die losen Maschen an ihrer Jacke mit der Nadel aufnahm, um den Rand zu befestigen.

Am nächsten Tag wickelte sie das getrocknete Garn zu einem Knäuel zusammen. Sie strickte zwei dicke Strümpfe davon. Einen rollte sie zusammen und steckte ihn in den anderen. Die halten bestimmt ihre Füße schön warm, dachte sie. Aber was stecke ich noch hinein? Sie wollte ihn für Marie füllen. Aber womit? Großmutter hatte nichts, was sie schenken konnte. Aber dann fiel ihr doch noch etwas Gutes ein.

Drei Wochen war Maries letzter Besuch nun schon her. Ob sie heute am Heiligen Tag kommen würde? Großmutter war ganz zuversichtlich. Sie steckte ihr Geschenk in den Strumpf und den aufgeblühten Barbarazweig band sie außen am Strumpf fest.

Großmutter stand am Fenster und sah Marie kommen. Sie freute sich. Was verbarg sie unter ihrem Mantel? Sicher wird das Kind eine Überraschung für mich gebastelt haben, glaubte die Großmutter zu wissen. Sie hat doch so geschickte Hände.

Als Marie eintrat, umarmten sie sich. „Ich wünsche dir eine gesegnete Weihnacht, Marie.“

Traurige Augen sahen die Großmutter an. „Ich dir auch.“

„Komm, zieh deinen Mantel aus.“ Großmutter wollte ihr dabei helfen.

„Nein, mir ist kalt.“

Na gut, dachte die Großmutter. Das muss ja eine tolle Überraschung sein, die sie vor mir verbirgt. Sie holte den Strumpf und hielt ihn Marie hin. „Ein gesegnetes Fest, Marie.“

Maries Augen leuchteten einen Moment hell auf. „Danke, Großmutter. Er ist ja tatsächlich aufgeblüht.“

Marie löste den Faden, um den aufgeblühten Zweig abzunehmen und steckte ihn wieder in den Krug mit Wasser. Sie bemerkte, dass etwas im Strumpf war. Sie griff hinein und holte den anderen zusammengerollten Strumpf heraus.

„Ich hoffe, sie passen dir“, entgegnete die Großmutter mit einem gütigen Gesichtsausdruck.

„Sicher, und die halten bestimmt schön warm. – Großmutter, wollen wir ein Lied zum Fest singen? Du singst so schön, bitte.“

„Aber natürlich mein Kind, das gehört doch dazu. Weißt du, weil unser Zweig so schön aufgeblüht ist, singen wir das Lied ‚Es ist ein Ros entsprungen’. Ich finde es passt gut dazu.“

„Ich dachte immer, da ist von einem Pferd die Rede?“, wunderte sich Marie.

„Nein, Marie, da hast du aber noch nie richtig auf den Text geachtet. Es wird auch von einer Wurzel und dem Blümlein gesungen. Daran kann man schon erahnen, dass es sich nicht um ein Pferd, sondern um eine Blume handelt.“

„Wie lange gibt es das Lied schon?“

„Schon sehr lange. Meine Großmutter sang es bereits. Ich glaube, unser Pater erwähnte einmal, dass es bereits 1599 in Deutschland gesungen wurde.“

Maries riss die Augen auf. „So lange schon!“

„Ja, Marie. Ich erinnere mich, dass mir meine Großmutter erzählte, wie dieses Lied entstanden ist.“

Groß wurden nun Maries Augen vor Staunen. „Und, weißt du es noch? Ich meine, wie es entstanden ist?“

Als die Großmutter Maries Begeisterung erkannte, antwortete sie spontan: „Ich will versuchen, mich an die Einzelheiten zu erinnern, Marie.“ Und nach einer kleinen Pause begann die Großmutter zu erzählen.

„Bernhardus war ein Mönch aus dem Benediktinerkloster Corvey an der Weser. Im tiefsten Winter stapfte er in einer dunklen Nacht durch den hohen Schnee. Sein Ziel war die Kapelle. Er wollte sie zur Christmette, die am nächsten Tag stattfinden sollte, herrichten. Als er eintrat, blickte er zufällig auf die Mauer hinter dem Altar und sah zu seinem Erstaunen eine zarte, kleine Blüte. Er erinnerte sich, dass er dort einst eine Blume eingepflanzt hatte. Ein Missionar aus dem hohen Norden hatte sie ihm mitgebracht. ‚Aber eine Blüte, jetzt im Winter, in der Weihnachtsnacht?’, dachte er. Und während er darüber meditierte, flogen ihm Gedanken und Worte zu. Sie formten sich zu Reimen. Er wiederholte sie, bis sie sich fest in sein Gedächtnis geschrieben hatten.“

Während die Großmutter ihre Geschichte beendete, sah sie, wie verträumt und in Gedanken die kleine Marie, ihre Enkelin, dasaß. „Woran denkst du, Marie?“

„Ach, ich finde es schön, dass man heute noch weiß, was damals passierte.“

„Marie, das ist nicht mehr als eine schöne Geschichte, eine Legende. Im Laufe der Jahre veränderte sie jeder, der sie erzählte, ein wenig. Natürlich ist der Kern der Geschichte Wahrheit. Aber ebenso gut kann der Entstehungsort auch ein ganz anderer gewesen sein. Nun wollen wir aber singen, Marie.“

Es ist ein Ros entsprungen

aus einer Wurzel zart,

wie uns die Alten sungen,

von Jesse kam die Art,

und hat ein Blümlein bracht

mitten im kalten Winter,

wohl zu der halben Nacht.

Die Großmutter faltete ihre Hände zum Gebet und Marie tat es ihr nach.

„Du hast eine wunderschöne Stimme, Marie.“

Marie war in dieser Stunde sehr glücklich. Sie hielt immer noch Großmutters Strümpfe in ihrer Hand. Da bemerkte sie, dass noch etwas im Strumpf war.

„Aber hier ist ja noch etwas drin!“, stellte Marie erstaunt fest.

Sie griff in den Strumpf und holte etwas Metallenes heraus. Auf ihrer Handfläche betrachtete sie ein fast schwarzes Amulett. An manchen Stellen glitzerte es, weil da die schwarze Farbe abgeplatzt war. Es zeigte zwei Halbmonde, die sich jeweils an den Spitzen berührten und somit ein Oval bildeten. Auf der Innenseite der Halbmonde waren je zwei kleine Sterne. Fragend schaute Marie ihre Großmutter an.

„Dieses Amulett wurde in unserer Familie immer weitergegeben. Du kannst es sogar in der Mitte brechen und später deinem Liebsten geben, sofern ihr euch einmal trennen müsst. Ich bekam es von meiner Großmutter, die mich aufzog, und nun sollst du es bekommen. Ich hoffe, dass es dir Glück bringen wird, Marie.“ Großmutter nahm das Amulett und zeigte auf die Mitte. „Hier, hier kann man ganz deutlich sehen, dass es schon einmal halbiert wurde. Später, als sich die getrennten Personen wieder zusammenfanden, hat man die beiden Hälften in einer Schmiede wieder vereint.“ Sie gab es Marie, die das Amulett nun ganz genau betrachtete. Es hatte sogar zwei kleine Ösen für den Faden. Marie hängte sich das Amulett um den Hals. „Danke, Großmutter! Weißt du, wer da voneinander getrennt war? War das deine Großmutter?“, wollte Marie wissen.

„Nein, Kind, das weiß ich nicht mehr. Vielleicht hatte meine Großmutter es mir erzählt. Aber in den Jahren habe ich es sicher vergessen.“

„Schade, mich hätte das sehr interessiert. Weißt du, ob es jedem Glück bringt, der es besitzt?“ Maries Augen wurden groß und bereits seit einigen Minuten glänzten sie wieder glücklich.

„Ganz bestimmt. Du musst nur fest daran glauben“, antwortete die Großmutter geheimnisvoll.

„Zeig das Amulett aber nicht deiner Mutter. Es kann sein, dass sie darauf Anspruch erhebt. Du weißt schon, wegen der Erbfolge.“

„Sie ist nicht meine richtige Mutter. Sie ist meine Stiefmutter!“, gab Marie heftig zur Antwort.

„Beruhige dich, Kind. Du hast ja Recht, aber ich denke, es wird Zeit, dass ihr euch vertragt. Sie arbeitet schwer für euch.“

„Ich muss schwer arbeiten, nicht sie!“

Großmutter schüttelte nun aber energisch den Kopf. „Und wer hat die Schulden abbezahlt? Dafür solltest du ihr wenigstens dankbar sein.“

Marie weinte. Schluchzend sagte sie: „Ich musste die Schulden abbezahlen! Ich, ich ganz allein!“

Nun endlich zog Marie ihren Mantel aus, aber sie hatte nichts Gebasteltes darunter. Großmutter wurde schneeweiß im Gesicht; sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Sie öffnete ihre Arme, drückte Marie ganz fest an sich und beide weinten. Als Großmutter sich wieder gefasst hatte, fragte sie: „Wie ist das passiert, Marie?“

„Der Steuereintreiber wollte die offene Schuld holen, aber wir hatten nichts, weil doch Vater krank ist. Er verlangte von uns, dass wir den Hof sofort verlassen. Die Stiefmutter erwiderte darauf, dass sie eine Idee hätte, wie sie ihre Schulden abbezahlen könnten. Dabei zeigte sie auf mich. Der große Rothaarige nickte zustimmend, packte mich und schleppte mich in die Scheune.“ Weiter sprach Marie nicht. Das brauchte sie auch nicht. Großmutter verstand auch so alles.

„Weiß dein Vater, was geschah?“

„Nein, Stiefmutter sagte, dass sie mich totschlägt, wenn er etwas davon erfahren sollte.“

Großmutter war verzweifelt. Sie überlegte, wie es nun weitergehen sollte. „Auf jeden Fall bleibst du bei mir, du gehst nicht mehr zurück. Morgen besuche ich deinen Vater und sage ihm, dass du bei mir bleibst, weil ich deine Hilfe benötige.“

Am Abend bereitete sie für Marie ein Nachtlager neben dem Ofen vor und als Marie sich zudeckte, strich Großmutter ihr liebevoll übers Haar. „Weißt du noch, wann das geschehen ist, Marie?“

Diese nickte und sagte: „Mitte August.“

Am nächsten Vormittag ging die Großmutter zu ihrem Sohn, Etienne. Sie wusste, dass er allein war, da sich seine Frau in der Kirche zur Christmette befand. Großmutter nahm aus dem Versteck den Schlüssel. Sie trat ins Haus und an der Schlafzimmertür, hinter der ihr Sohn lag, klopfte sie kurz an und betrat den Raum.

„Oh, Mutter, du bist schon lange nicht mehr hier gewesen. Es freut mich sehr, dich zu sehen. Einen gesegneten Tag wünsche ich dir, Mutter. Wie geht es dir?“

„Das wünsche ich dir auch, mein Sohn. Mir geht es gut.“

Sie bemerkte, dass er tatsächlich von nichts wusste. Ganz vorsichtig und behutsam lenkte sie das Gespräch auf die Abgaben.

„Ich weiß nicht, wie sie es angestellt hat. Sie sagte nur, ich soll nicht fragen und froh sein, dass wir nicht vom Hof müssen. Aber ich machte mir natürlich auch so meine Gedanken. Ich vermute, dass sie sich dem Steuereintreiber hingegeben hat. Von mir kann sie ja nichts mehr erwarten. Also fragte ich auch nicht.“ Nachdenklich schaute er nun seine Mutter an. In diesem Moment begriff er, dass sie etwas Schreckliches wusste, von dem er nichts ahnte. Er konnte es von ihrem Gesicht ablesen. Doch was er dann hörte, konnte er einfach nicht glauben. Was hatte diese, seine Frau, seiner kleinen Tochter angetan. Was für eine Schande. Für welch hohen Preis waren sie schuldenfrei geworden, lieber wäre er ins Armenhaus gegangen.

„Ich kam eigentlich nur, um dir zu sagen, dass Marie von nun an bei mir bleibt.“

Er nickte, und aus Wut und Trauer um seine kleine Tochter, deren Leben durch seine Frau ruiniert worden war, sagte er: „Das hätte viel früher geschehen sollen, nun ist es für meine Kleine zu spät.“

Obwohl es erst Mittag war, holte die Großmutter einen Holzspan aus dem Küchenherd und zündete damit die Öllampe an, die auf der Kommode stand. Sie trug die Lampe zum Nachttisch, schaute mit Tränen in den Augen ihren Sohn an und nickte ihm aufmunternd zu. Sie bückte sich zu ihm hinunter und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Doch bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich an der Tür noch einmal um und sagte: „Ich verspreche dir, dass ich mich um Marie kümmern werde. Sie sagte mir, dass sie dich sehr lieb hat.“

Er verstand ihre Worte, und als er wieder allein im Zimmer lag, tat er das, was von ihm erwartet wurde. Es gab keinen anderen Ausweg. Mit zitternder Hand griff er nach der brennenden Öllampe.

Als die Großmutter zu ihrem Haus ging, drehte sie sich nicht um. Sie wusste, dass hinter ihr eine schwarze Rauchsäule in den Himmel stieg. Mit nichts war ihre Schwiegertochter gekommen und mit nichts wird sie gehen müssen. Das sollte ihr Lohn für die Sünde sein, die sie an Marie begangen hatte.

Als Marie davon hörte, weinte sie um ihren Vater, aber war doch froh, letztendlich der bösen Stiefmutter entkommen zu sein.

Der letzte Schnee war getaut und die Sonnenstrahlen erwärmten den noch zum Teil gefrorenen Boden. Vereinzelt waren an geschützten Stellen bunte Blütentupfer zu erkennen. Vögel kreischten in den Bäumen und kündeten das Frühjahr an.

Marie stand schwarz gekleidet vor dem Erdhügel auf dem Friedhof. Heute wurde ihre Großmutter zur letzten Ruhe gebettet. Ganz plötzlich, ohne irgendwelche Anzeichen, war sie gestorben. Marie konnte sich nicht einmal von ihr verabschieden. Es war erst drei Tage her, da lag ihre geliebte Großmutter am Morgen tot im Bett. Und nun stand Marie an ihrem Grab. Außer dem Totengräber war niemand weiter anwesend. Marie fühlte sich allein und verlassen. Nicht ein Wort begleitete die Großmutter zu ihrer letzten Reise. Hilflos schaute Marie zum Totengräber. Doch dieser blickte sie traurig an und zuckte mit den Schultern. Marie wusste, dass er stumm war, nicht reden konnte. Tränen rannen über ihre Wangen und tropften vom Kinn. In Gedanken nahm sie von der Großmutter Abschied. Du warst mein Halt und gabst mir Geborgenheit, dachte Marie. Du gabst mir den Trost, den ich brauchte, um die Vergangenheit zu verarbeiten. Wie ich ohne dich weiterleben soll, weiß ich nicht. Marie suchte nach den richtigen Worten in ihren Gedanken. Ich glaube, man sagt noch: „Ruhe in Frieden, Amen“, ging es ihr durch den Kopf. Sie faltete ihre Hände zum Gebet und sprach laut das Vaterunser.

Der Totengräber legte zum Trost eine Hand auf Maries Schulter. Es fühlte sich für Marie wie eine schwere Last an. Als dann das Grab zugeschüttet wurde, stand sie an der Seite und schaute zu. Ihre drei liebsten Menschen lagen nun hier begraben – ihre Mutter, daneben ihr Vater, und die Großmutter hatte einen Platz neben dem Vater bekommen. Das beruhigte Marie ungemein. Sie zupfte das Unkraut von den Gräbern ihrer Eltern. Während der Totengräber noch mit dem Zuschütten beschäftigt war, entdeckte Marie am Rand des Friedhofes Veilchen und wilde Stiefmütterchen. Mithilfe eines spitzen Steines löste sie ganz vorsichtig die Wurzeln aus der Erde und pflanzte sie auf die Gräber. Sie war noch bis zum Sonnenuntergang bei denen, die sie am liebsten hatte.

Marie war inzwischen dreizehn Jahre alt geworden. Da sie sich bisher vor den Menschen von Slane verborgen hatte, wusste niemand von ihrem kleinen Geheimnis. Sie dachte, dass sie hier im Haus ihrer Großmutter weiterleben konnte. Großmutter hatte für ihre ärmlichen Verhältnisse eine gut gefüllte Vorratskammer. Wenn sie sparsam mit den Vorräten umging, müsste sie es allein bis zum Sommer schaffen. Im Garten wuchs ja auch einiges. So dachte Marie.

Es ging auch ungefähr sechs Wochen gut. Man wusste von dem Mädchen, das allein in dem Haus wohnte. Aber niemand kümmerte sich darum.

An einem warmen Maitag schaute Marie zufällig aus dem Fenster und erschrak. Zwei Reiter kamen auf das Haus zu. Einen davon kannte sie sehr gut. Seine feuerroten Haare leuchteten schon von weitem. In panischer Angst wollte sie das Haus verlassen. Ihr blieb nur die Flucht durch das Fenster. Aber da diese viel zu klein waren, kamen sie als Fluchtweg nicht infrage. Schnell ging sie in den Speicher, der einen Zugang zum Wohnraum hatte. Aber die Luke, die nach draußen führte, war mehr als einen Meter über dem Boden. Marie war kurz vor ihrer Niederkunft und hatte daher große Probleme, mit ihrem gewölbten Bauch bis zum Boden zukommen. Es kostete sie große Anstrengungen, aber in ihrer Furcht schaffte sie es, die Höhe zu überwinden. Unweit vom Haus begann der Wald. Von den Reitern unbemerkt, erreichte sie diesen. In einem alten hohlen Baum versteckte sie sich. Dort wollte sie warten, bis die Reiter wieder weg waren. Die Stimmen der Männer hallten zu ihr herüber, sie konnte jedoch deren Worte nicht verstehen. Sie sah, wie der Rothaarige Fackeln anzündete und auf das Reetdach warf. Ein nicht hörbarer Schrei entwich ihrem entsetzten Gesicht. Maries letzter Zufluchtsort stand wenige Augenblicke später lichterloh in Flammen.

Sie zitterte vor Wut und Angst zugleich – Angst vor den Männern und vor der Zukunft. Lautlos weinte sie, und nach Stunden der Verzweiflung schlief sie erschöpft in der Baumhöhle ein.

Als Marie am anderen Tag erwachte, vergewisserte sie sich, ob Großmutters Haus oder das, was es einmal war, beobachtet wurde. Zögernd und ständig um sich schauend, kam sie aus ihrem Versteck. Halb gebückt näherte sie sich den verkohlten Resten.

Das Häuschen ihrer Großmutter war völlig abgebrannt. Bis auf den Schornstein stand nichts mehr da. Lediglich einige unbrauchbar gewordene Pfannen und Töpfe fand sie in der Asche. Mit einem Stock suchte sie nach etwas Verwertbarem. Aber es fand sich nichts, was ihr irgendwie nützlich sein könnte. Als sie sich zum Gehen abwandte, wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf einen Gegenstand gelenkt, der durch das Sonnenlicht im Vorbeigehen glitzerte. Sie bückte sich danach und hob ihn auf. Ihre Freude war groß, als sie das Amulett ihrer Großmutter fand. Das Feuer hatte es bis auf eine kleine Stelle rußgeschwärzt. Marie nahm ihren Rockzipfel und putzte es damit sauber. Aus ihrer Bluse zog sie dann einen Faden heraus und hängte sich damit das Amulett um den Hals. Dann verließ Marie den traurigen Ort, der eigentlich nur schöne Erinnerungen in ihr weckte. Aber sie konnte auf keinen Fall hier bleiben. Sie musste in den Wald gehen, der ihr Schutz bot. Vielleicht gehe ich zu der verfallenen Klosterruine, von der die Großmutter mir erzählt hatte, dachte Marie in ihrer Verzweiflung.

Vor lauter Sorgen hörte sie den Vogelgesang, der sie umgab, nicht. Wenn sie doch nur für einen Moment ihre Großmutter sehen und mit ihr sprechen könnte, um von ihr einen Rat oder Unterstützung zu empfangen. Sie wusste, dass Großmutters Worte ihr Kraft gegeben hätten, um mit dem eigenen Leben fortzufahren. Momentan war sie verzweifelter denn je.

Aber trotz allem hatte sie auch ab und zu positive Gedanken, hatte Hoffnungen und Träume, die sie gern der Großmutter mitteilen wollte. Seit einigen Stunden schmerzten ihr Leib und Rücken. Aber sie achtete nicht darauf. Sie hoffte einen Unterschlupf zu finden, aber es fand sich nichts. Die Ruine hinter dem Wald war sehr weit entfernt und sie war sich inzwischen nicht einmal mehr sicher, ob der Weg, den sie eingeschlagen hatte, der richtige war. Großmutter hatte sie auch vor Höhlen gewarnt. Wilde Tiere könnten sich darin befinden, hatte sie gesagt.

Wieder war da dieser krampfartige Schmerz. Marie krallte sich von einem Baumstamm zum nächsten. Wie in Trance hörte sie ein Gewitter näher kommen. Und jedes Mal, wenn der Donner grollte, ließ sie ihre Anspannung los und schrie die Schmerzen aus sich heraus. Durch das laute Dröhnen des Donners waren Maries Schreie nicht zu hören. Obwohl es inzwischen stark regnete, schwitzte Marie. Erschöpft lehnte sie sich sitzend an einen Baumstamm und weinte. Marie war am Ende ihrer Kräfte und dachte wieder an ihre Großmutter und die Geschichte von der Klosterruine. Ich muss den Weg dorthin finden, ich brauche einen Unterschlupf! Plötzlich hörte sie ihre Großmutter sagen: „Untersteh dich, auch nur daran zu denken. An der Geschichte ist mehr Wahrheit als du ahnst.“

„Großmutter, bitte, hilf mir!“, flehte Marie in die schwarze Nacht hinein. Der Schmerz ließ nach und Marie stand wieder auf. Weinend lief sie weiter durch den Wald. Sie wusste inzwischen nicht mehr, wie lange sie bereits gelaufen war. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und plötzlich sah sie die verfallenen Gemäuer einer alten Burgruine aus dem Dunkeln schemenhaft auftauchen. Die Ruine aus Großmutters Geschichte, dachte Marie. Sie hatte keine Angst vor den Gespenstern, die in der Geschichte vorkamen. An den alten Mauern entlang tastete sie sich unter starken Wehen in das Burginnere. Marie hatte gehofft, wenigstens ein Dach über dem Kopf zu finden, aber in der Mitte der Ruine stand nur eine uralte Buche. Sie konnte nicht mehr laufen, denn sie spürte, dass etwas Warmes an ihren Schenkeln herunterlief. Erschöpft lehnte sie sich an die dicke Buche. Und wieder durchbohrte ein heftiger Schmerz ihren kindlichen Körper. Als die Wehe verebbte, zog sie ihre Unterwäsche aus und ging instinktiv in die Hocke. Ihre Knie zog sie umklammernd an beide Seiten ihres Bauches. Die nächste Wehe kam und der stark gewölbte Leib verspannte sich, während Marie ihre Hände vor Schmerzen in das nasse Moos grub. Eine Minute später entspannte sich ihr Körper wieder und sie sackte in sich zusammen. Ihre Beine streckte sie erholsam aus, bis zur nächsten Wehe. Durch den Regen klebten ihr die Haare am Kopf und die Sachen lagen klitschnass und eng an ihrem Körper.

Marie war in diesem Moment froh, dass ihr die Großmutter immer wieder von der bevorstehenden Geburt erzählt hatte. Wahrscheinlich ahnte sie, dass Marie das alleine schaffen musste.

Dann, nach einer endlos erscheinenden Ewigkeit hatte sie plötzlich unter starken Schmerzen einen Drang zum Stuhlgang und gab ihm nach. „Marie, wenn du sehr starke Schmerzen hast, dann stecke dir einen dicken Zweig in den Mund, auf den du beißen kannst“, hörte sie ihre Großmutter sagen. Und sie griff nach einem neben ihr liegenden starken Ast und steckte ihn sich quer in den Mund, damit sie bei der nächsten Wehe fest zubeißen konnte. Sie presste, so fest sie konnte und ein lauter, anhaltender Schrei entwich ihr. Die Sinne wollten ihr schwinden und der Schmerz durchbohrte ihren ganzen Körper. Als das Baby aus ihr glitt, und der Schmerz plötzlich nachließ, wurde ihr von der Anstrengung übel und sie erbrach sich. Marie schrie nach ihrer Großmutter, und plötzlich versank alles um sie herum hinter einem grauen Nebel.

Die Dämmerung eines neuen Tages brach herein, als Marie großen Durst verspürte. Immer noch umhüllt von einer sanften Wolke der Ohnmacht, lächelte Marie. Sie sagte flüsternd: „Großmutter, du verschüttest das Wasser in mein Gesicht!“ Über die gehörten Worte fand sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Tränen schossen in ihre Augen, als sie merkte, dass es nicht die geliebte Großmutter war, sondern der Regen. Im nächsten Moment stellte Marie fest, dass sie keine Schmerzen mehr hatte. Froh darüber, atmete sie tief und erleichtert ein und aus. Sie bemerkte, dass ihr stark gewölbter Bauch viel flacher war. Immer noch in der Hocke am Baum gelehnt, schaute sie nun unter ihren Schoß. Ein kleiner Mensch lag da auf dem feuchten Moos.

Marie hörte sich in Gedanken mit der Großmutter reden: „Marie, ich muss mit dir über die Geburt reden!“

„Aber wieso Großmutter, du bist doch dabei.“ Sie war sich damals dieser Tatsache so sicher, dass ihr nie die Idee in den Sinn kam, dass das Schicksal es anders vorgesehen hatte. Aber sie hörte zum Glück trotz allem aufmerksam zu, was ihr die Großmutter zu erklären versuchte.

„…wenn die Schmerzen unerträglich werden, hocke dich am besten hin und zieh die Knie neben deinen Körper.“

Das habe ich gemacht, Großmutter, dachte Marie. Dann hörte sie wieder, wie die Großmutter sprach: „Das Kind ist mit dir durch eine Nabelschnur verbunden. Du nimmst zwei Fäden und bindest einen Faden um die Nabelschnur nah an dem Kind ab und ein Stück dahinter den anderen. Zwischen den beiden Fäden durchtrennst du die Nabelschnur.“

Marie sah auf ihr Kind und mit einem Faden aus ihrem Rocksaum band sie die Nabelschnur ab. Aber zum Durchschneiden hatte sie nichts bei sich, weder ein Messer noch eine Schere. Also durchtrennte sie die Nabelschnur mit einem Biss. Wieder hatte sie Schmerzen im Bauch und ein wenig später spürte sie, dass aus ihrer Körperöffnung ein großer Bluthaufen glitt. Angst überkam sie, weil sie nicht wusste, was das war.

Marie zog einen ihrer beiden nassen Unterröcke aus und wickelte fürsorglich den Jungen darin ein. Sie entdeckte in der linken Leistenbeuge ihres Kindes ein Mal. Es sah aus wie ein kleiner Tropfen. Das Kind war ruhig und bewegte sich nicht. Ihre Brüste schmerzten und bald stellte sie fest, dass es ihr gut tat, wenn sie in der Hocke war und ihre Knie darauf drückten. Also schnürte sie ihr Leibchen enger. So fest, bis sie es als Erleichterung empfand. Bei dem Versuch, aufzustehen, fand sie Halt an dem dicken Buchenstamm. Marie hatte entsetzliche Angst – Angst vor der Zukunft, Angst vor anderen, die ihre Situation missverstehen könnten. Angst eigentlich vor allem, was auf sie zukommen könnte und weinte. Von dem Gewitter war nichts mehr zu hören. Aber es regnete unaufhörlich weiter.

„Großmutter“, sagte Marie leise zu sich, „in der alten Ruine sind wirklich keine Geister. Es ist nur ein altes verfallenes Kloster, mehr nicht. Aber deine Geschichte darüber hatte mir gut gefallen.“

Ganz in der Nähe läuteten Glocken und Marie entschloss sich, mit ihrem Bündel auf dem Arm, in die Richtung des Glockenklanges zu gehen. Unter ständigen Leibschmerzen kam sie nur langsam voran. Immer wieder musste sie sich setzen. Hilflos schaute sich Marie um und entdeckte schließlich auf einer Lichtung eine kleine Kapelle. Marie weinte immer noch; aber inzwischen nicht mehr vor Angst, sondern weil sie wusste, dass sie sich nun von ihrem Kind trennen musste. Da der Junge sich immer noch nicht bewegte, legte sie ihn auf die Stufen des Portals. Marie wollte schon gehen, hielt aber inne und drehte sich nochmals um. Sie griff unter ihre Bluse und holte das Amulett ihrer Großmutter hervor, schaute es sich noch einmal an und brach es dann in der Mitte auseinander. Eine Hälfte, den Halbmond mit zwei Sternen, legte sie dem Jungen auf die Brust. Dann betätigte sie die Glocke, die am Eingang des Portals hing, und lief, so schnell es eben möglich war, davon.

Noch immer regnete es, und als Marie am Rand des Waldes angelangt war, sah sie in einiger Entfernung die Stadt Drogheda.

Die aufgehende Sonne ließ den Nebel, der über der Stadt lag, silbrig erscheinen. Bald war auch das üppige grüne Tal zu erkennen, das sich seitlich von Drogheda der Küste entgegenstreckte.

Diese Stadt kannte Marie, denn sie war schon öfters mit dem Vater hier gewesen. Damals war sie noch mit dem Vater allein gewesen. Zu den Markttagen brachten sie damals ihr Gemüse hierher und verkauften es. Und wenn der Vater einen guten Gewinn erzielt hatte, kaufte er vom Erlös eine Zuckerstange für das Mädchen. Marie lächelte bei diesen Gedanken. Aber gleich darauf wurde ihr Gesicht ernst und wütend. Denn an so einem Markttag hatte er auch die böse Stiefmutter kennengelernt.

Soeben war die Sonne aufgegangen und blendete Maries Augen. Müde und erschöpft begab sie sich wieder in den Schutz des Waldes. Dort fand sie einen Felsvorsprung und setzte sich darunter, um sich auszuruhen. Mit regennassen Blättern entfernte Marie die Reste der Blutspuren an ihren Beinen. Marie hatte Angst, dass jemand hinter ihr Geheimnis kommen könnte. Sie musste alle Spuren verwischen. Aber noch bevor sie sich genauer betrachten konnte, schlief sie erschöpft ein. Als sie erwachte, leuchteten die Sterne am Himmel. Die nassen Sachen waren an ihrem Leib getrocknet, aber trotzdem war ihr kalt. Sie fühlte sich krank und stellte fest, dass ihr Kopf sehr heiß war. Durst quälte sie. Aber über diesen Gedanken schlief sie wieder ein. Am nächsten Tag gegen Mittag, die Sonne stand bereits ziemlich hoch, erwachte sie. Marie fühlte sich heute etwas besser. Verschlafen blickte sie an sich hinunter und stellte fest, dass sie mit so schmutzigen Kleidern nicht in die Stadt gehen konnte. Der Schmutz und das Blut, die an ihren Sachen hafteten, ließen sich durch Reiben nicht entfernen. Marie erinnerte sich, dass sie gestern an einem kleinen Bachlauf vorbeigekommen war. Also lief sie wieder in den Wald zurück, um ihn zu suchen. Das klare, kühle Wasser war erfrischend und als sie sich gewaschen hatte, säuberte sie auch ihre Wäsche. Auf niedrig hängenden Zweigen trockneten die Kleider schnell in der Sonne. In der Zwischenzeit fuhr Marie mit den Fingern durch ihr blondes Haar und machte es mit einem Knoten im Nacken fest. Ein kleines Stöckchen nahm sie dazu als Hilfsmittel. Das bereits getrocknete Häubchen setzte sie sich auf, band die Bänder unter ihrem Kinn zu einer Schleife und schob die restlichen Haare, die noch hervorlugten, darunter.

Marie wusste, dass sie nun in die Stadt gehen musste. Es wurde Zeit, sich etwas Essbares zu besorgen. Als sie ihre trockenen Sachen angezogen hatte, schaute sie wiederholt an sich hinunter. Den zerrissenen Unterrock knüllte sie zu einem Knäuel zusammen, um so den Blutfluss aufzufangen. Ich glaube, so kann ich gehen, dachte sie. Vieles ging ihr auf dem Weg durch den Kopf, vor allem der Tod der Großmutter. Sie war die Einzige, die ihr hätte helfen können, aber es gab sie nicht mehr. Sie hatte, außer dem halben Amulett, nichts Persönliches bei sich. Nichts, was ihr weiterhelfen könnte, gar nichts. Tränen der Verzweiflung und der Wut liefen ihr übers Gesicht. Warum war sie vom Schicksal so hart bestraft worden? Was hatte sie getan, dass Gott sie so strafte? Eigentlich sollte ihr das Amulett doch Glück bringen, das hatte jedenfalls die Großmutter gesagt. Wann kam es, das Glück? Marie hatte keine Antwort darauf. Sie wusste nur eins: sie hatte großen Hunger.

Drogheda war eine kleine Stadt, deren Ausbreitung zum Hafen hin schmaler wurde. Durch den lang anhaltenden Regen waren die Straßen aufgeweicht. Überall sah man Pfützen, in denen hier und da kleine Vögel badeten. Auch Hunde stillten ihren Durst. Maries Blick fiel auf eine fein gekleidete Dame. Sie hatte ein langes hellgrünes Kleid an und dazu einen weit geschwungen schwarzen Hut mit einer hellgrünen Feder. Das Ganze saß schief auf dem Kopf. Schwarzer Tüll bedeckte ihr Gesicht. Vermutlich war dies der letzte Modeschrei. Sie raffte ihren langen Rock vorn ein wenig hoch. Marie sah, dass sie auf hohen Absätzen daher stolziert kam. Plötzlich verlor sie auf dem rutschigen Untergrund den Halt, glitt aus und landete mit ihrem Hinterteil mitten in einer Pfütze. Als sie schimpfte, lachten einige umstehende Männer. Auch Marie konnte sich trotz ihres Hungers ein Lächeln abgewinnen.

Auf dem Marktplatz boten einige Bauern ihre Erzeugnisse zum Kauf an, wie sie es damals mit dem Vater getan hatte. Frisch duftendes Maisbrot erregte Maries Interesse. Sie stellte sich vor diesen Stand.

„Was willst du hier? Verschwinde! Nur Diebesgesindel treibt sich hier rum“, rief ihr eine Marktfrau mit böser Stimme zu.

Marie drehte sich um, weil sie annahm, dass jemand hinter ihr stand. Aber als sie niemanden entdeckte, wusste sie, dass die Marktfrau sie damit meinte.

Hungrig, erschöpft, traurig und müde setzte sich Marie an die Seite und beobachtete das Treiben. Nur wenige Menschen kauften etwas. Kaum jemand hatte Geld.

Als die Sonne sich langsam dem Horizont näherte, packten die Marktleute ihre nicht verkauften Waren auf die Wagen. Die Frau mit dem Maisbrot schimpfte über das schlechte Geschäft an diesem Tag. Ihr Wagen rumpelte über die kaputte Straße. Ein Maisbrot fiel vom Wagen mitten in eine Pfütze. Marie sprang auf und rannte hinzu. Sie hob das im Schlammwasser bereits aufgeweichte Brot auf und biss genüsslich hinein.

Eine kräftige Hand packte sie von hinten. „Hab ich es mir doch gedacht, dass du eine Diebin bist. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile!“

Die Marktfrau bog mit ihrem voll beladenen Wagen um die Ecke und bekam von alledem nichts mit.

Marie erstarrte vor Schreck und konnte kein Wort zu ihrer Verteidigung sagen. Die Hand des Constables griff sie im Genick und schleifte sie zur Wache. Krampfhaft hielt Marie das Maisbrot in der Hand. Sie durfte es nicht fallen lassen.

Ohne ein weiteres Wort wurde sie zu mehreren Frauen in eine Zelle gesperrt. Der Constable schob Marie hinein und schloss hinter ihr das Gitter wieder ab. In dem völlig überfüllten Raum trat Marie einer Frau, die auf dem Boden saß, auf die Hand. „Pass doch auf, du dummes Kind!“, schimpfte diese.

„Entschuldigung“, murmelte Marie.

Gierige Hände griffen nach Maries Maisbrot. Jeder, der irgendwie herankam, riss sich ein Stückchen davon ab.

„Pass lieber auf dein Brot auf, sonst hast du bald nichts mehr davon“, ermahnte dieselbe Frau.

Hilflos schaute sich Marie um. Die Frau half ihr nochmals, indem sie sagte: „Eh, lasst eure schmutzigen Finger von dem Brot. Es gehört dem Mädchen.“

Ein kleines Stück war noch übrig geblieben. Marie teilte es und gab eine Hälfte der Frau. Sie nahm es und sagte: „Ich heiße Elizabeth, aber alle nennen mich Lilly.“

Marie schaute sie an. „Ich heiße Marie und weiß nicht, warum ich hier bin. Das Brot lag doch in einer Pfütze, ich habe es nicht gestohlen. Wirklich nicht.“

„Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“, fragte sie das Kind.

Marie schüttelte den Kopf und Tränen liefen über ihr Gesicht. „Sie sind tot. Ich bin ganz allein.“

Lilly drückte Marie an sich. Sie spürte, dass sie das Kind beschützen musste.

Ein gut gekleideter älterer Mann betrat den Raum. Er hatte eine Glatze und einen grauen gezwirbelten Bart. Er rümpfte die Nase. „Hier stinkt es ja zum Himmel“, meinte er entsetzt. Ohne eine Erklärung des Constables abzuwarten, fragte er: „Wie viel haben Sie zusammenbekommen?“

„Neunundzwanzig Frauen und ein Mädchen“, gab dieser schnell zur Antwort.

„Ein Mädchen?“ Suchend ging sein Blick in die Zelle.

„Ja, sie hat ein Brot gestohlen“, fügte der Constable hinzu.

„Gut“, sagte der Mann und schlug mit seinem Gehstock auf den Schreibtisch. „Dann haben wir demnach dreißig Frauen für den Transport nach Terra Australis.“

„Wo liegt das?“, wollte der Constable wissen.

„Noch nichts von Terra Australis gehört?“, war die Gegenfrage.

Doch der Constable zuckte mit den Schultern.

Der Mann mit der Glatze drückte wichtigtuerisch seinen Rücken durch und erklärte in einem arroganten Ton: „Dort haben wir eine Strafgefangenenkolonie errichtet. Cook entdeckte die Botany Bay und meinte, dass diese Stelle als Hafen zu nutzen wäre. Kapitän Phillip von der Ersten Flotte fand allerdings diesen Platz als ungeeignet und segelte noch einige Meilen nach Norden. Er fand Port Jackson, einen natürlichen Hafen, umgeben von zwei Landzungen, die die Bucht vor der offenen See schützen. Vor zwei Jahren kam Kapitän Arthur Phillip mit seiner Flotte von elf Schiffen dort an. Die Kolonie nannte er Sydney Cove. Die Regierung beabsichtigt, eine zweite Flotte nach Terra Australis zu schicken. Vor allem weil dort dringend Nahrungsmittel, Saatgut, lebende Tiere für die Züchtung, Gebrauchsgegenstände und besonders neue Arbeitskräfte gebraucht werden. Jetzt kommt es also nur noch darauf an, dass die Gefangenen so schnell wie möglich verurteilt werden, damit wir die zweite Flotte zusammenstellen können. Es ist alles vorbereitet, denn die neue Kolonie benötigt unbedingt den Nachschub.“ Nach einer kleinen Pause sprach er weiter. „Für wann ist das Schnellverfahren angesetzt?“

„Morgen soll allen der Prozess gemacht werden“, fügte der Constable schnell hinzu.

„Gut, dann haben wir noch Zeit und können in Ruhe alles Notwendige vorbereiten. Und sorgen Sie dafür, dass diese stinkenden Eimer aus der Zelle entfernt werden.“

Der Constable nahm den Schlüssel vom Haken und schloss die Zelle auf: „Du und du, ihr schafft die Eimer raus!“

Die beiden Frauen kamen eingeschüchtert mit den Eimern, gefüllt mit Exkrementen, aus der Zelle. Sie schütteten den Inhalt auf die Straße, so wie es jeder tat. Die geleerten Eimer brachten sie wieder in die Zelle zurück.

„Hast du das gehört, Mädchen?“, flüsterte Lilly.

„Ja“, erwiderte Marie, „aber ich habe den Sinn der Worte nicht verstanden.“

Ungläubig über das eben Gehörte, starrte Lilly an die Zellendecke. „Ich glaube, die wollen uns als Strafgefangene in ein fernes Land schicken, das Terra Australis heißt.“

Marie wandte sich vertrauensvoll an diese Frau: „Ist das weit?“

Geduldig bekam sie Antwort. „Ich habe bereits davon gehört. Terra Australis ist sehr, sehr weit weg. Man fährt viele Monate auf einem Schiff dorthin. Es liegt mit Sicherheit weit hinter dem Regenbogen.“

Marie staunte und konnte sich trotz der guten Erklärung die Entfernung nicht vorstellen.

Fast alle der dreißig Frauen wurden zum Tode verurteilt und gleichzeitig zur lebenslänglichen Deportation nach Terra Australis begnadigt.

Kate Price, dreißig Jahre alt, wurde wegen des Verdachts, ein zwei Meter langes Rohr gestohlen zu haben, zu achtzehn Jahren Deportation nach Terra Australis verurteilt.

Deborah Cutler, einundzwanzig Jahre alt, wurde wegen Diebstahls von einem Pfund Rindfleisch im Wert von einem Schilling zum Tode verurteilt, begnadigt zur lebenslänglichen Deportation nach Terra Australis.

Rebekka Prentice, siebenundzwanzig Jahre alt, wurde wegen Diebstahls von einer Tüte Mehl und einer Tüte Salz zum Tode verurteilt, umgewandelt in lebenslängliche Deportation nach Terra Australis.

Marie Tannert, dreizehn Jahre alt, wurde wegen Diebstahls eines Maisbrotes zu siebzehn Jahren Deportation nach Terra Australis verurteilt.

Elizabeth Broughton, dreißig Jahre alt, wurde wegen Prostitution und Todschlags zum Tode verurteilt, umgewandelt in lebenslängliche Deportation nach Terra Australis.

Emily Selby, dreiundzwanzig Jahre alt, wurde wegen des Verdachts, ein paar Gummistiefel gestohlen zu haben, zu lebenslänglicher Deportation nach Terra Australis verurteilt…

Als alle dreißig Gefangenen ihr Urteil vernommen hatten, brach für die meisten eine Welt zusammen.

„Es wäre für uns sicher besser, wenn man uns hier zum Tode verurteilt hätte. Da würden wir es wenigstens hinter uns haben. Wer weiß, was uns noch alles zustoßen wird“, jammerte Deborah. „Dabei bin ich unschuldig, ich hab das Fleisch nicht gestohlen. Es war vom Ladentisch gefallen und ich wollte es nur wieder aufheben. Ich schwöre es.“

„Du bist nicht die Einzige, die unschuldig ist. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass in Terra Australis Gefangene gebraucht werden.“ Etwas leiser fügte Lilly hinzu: „Wahrscheinlich vor allem Frauen.“

Wieder fing Deborah zu heulen an: „Ich will nicht dahin. Dann sollen sie mich doch zum Tode verurteilen“, schluchzte sie leise.

Lilly schüttelte über so viel Unvernunft den Kopf. „Wie kann man nur so einen Quatsch erzählen und rumjammern. Das Wichtigste ist Leben! Wir leben, alles andere wird sich ergeben.“

Aber diese Meinung teilte kaum jemand mit Lilly.

Angstvoll schaute Marie sie an.

Lilly zwinkerte ihr aufmunternd zu. „Das schaffen wir schon. Ich werde auf dich aufpassen, so gut es geht.“

Zwei Tage nach diesem Ereignis kam der Mann mit der Glatze wieder. „Ich möchte meine Fracht abholen“, sagte er mit arrogantem Ton.

Der Constable tippelte auf seinen dicken, kurzen Beinen zum Schrank und zog einen schweren Sack heraus. „Von mir aus kann es losgehen“, meinte er eifrig. Im Sack rasselten die Fußeisen. Er schüttete sie auf den Boden.

Die Frauen ahnten, dass etwas Schreckliches geschehen würde. Ängstlich schreiend, drängten sie sich in der Zelle nach hinten.

Der Constable schloss die Tür auf und winkte nervös den Frauen zu. Aber keine der Frauen reagierte darauf. Er musste sich schon die Mühe machen und selbst die Zelle betreten. Dabei achtete er peinlichst genau darauf, wo er hintrat, um sich seine Schuhe nicht mit Kot zu beschmutzen. Es hatte sich wieder Unrat am Zellenboden angesammelt. Die zwei Eimer, die für die Notdurft in der Zelle standen, waren schon wieder randvoll. Daher entleerten sich die Frauen, wo sie gerade saßen.

Wahllos griff er sich eine Frau, die sich verzweifelt an den Stäben festhielt.

„Das hilft doch nichts“, versuchte er beruhigend auf die Frau einzureden. Ängstlich wie ein scheues Reh ging sie schließlich mit und ließ sich die Füße fesseln.

Die fünf Zentimeter breiten Eisen um die Knöchel waren nicht vernietet, sondern sie wurden mit Vorhängeschlössern befestigt und durch eine sechzig Zentimeter lange Kette miteinander verbunden. Damit waren die Frauen in der Lage zu gehen, aber große Schritte waren nicht möglich. Eine sehr lange Eisenkette hatte ungefähr jeden Meter eine Öse und diese wurden mit den Fußfesseln verbunden. Manche Frauen weinten vor Angst, andere zeigten ihre Furcht nicht und wirkten kalt. Wieder andere versprühten mit ihren Augen Hass und Verachtung. Aber, ob so oder so, es half alles nichts; wie sie sich auch gaben, sie wurden trotz allem eine nach der anderen aus der Zelle geholt.

Nach Marie griff sich der Constable wahllos eine weitere Frau. Aber Lilly drängelte sich vor. „Bitte, Constable“, bettelte sie, „lassen Sie mich hinter meine Tochter. Bitte trennen Sie uns nicht“, log sie.

Marie drehte den Kopf zu Lilly um, als sie das hörte, und fing von ihr ein flüchtiges Augenzwinkern ein.

Der Constable knurrte nur: „Was, du bist ihre Mutter? Das ist ja für mich völlig neu. Ob’s nun gelogen ist oder nicht, soll mir egal sein. Einmal Diebesgesindel, immer Diebesgesindel. Aber meinetwegen. Ihr werdet sowieso bald getrennt. In Terra Australis fragt keiner nach der Verwandtschaft.“

Sie überhörte einfach seine Bemerkung. „Danke, das ist zu gütig von Ihnen.“

Marie dachte nur, diese Mutter ist auf jeden Fall besser als meine Stiefmutter.

Mit lautem Kettengerassel wurden sie durch die Straßen von Drogheda geführt. Manche Menschen schauten ihnen neugierig nach oder rannten auf die andere Straßenseite, um nur nicht mit ihnen zusammen gesehen zu werden. Andere versteckten sich in offen stehenden Haustoren, um danach einen scheinbar unbemerkten, flüchtigen Blick auf die Gefangenen zu werfen. Es wäre ja möglich, eine Bekannte zu entdecken. Kinder liefen allerdings ohne Hemmungen neben ihnen her und hänselten die armen Geschöpfe.

Marie schaute sich die wenigen Menschen genau an. Eigentlich hoffte sie darauf, jemanden zu erkennen, der ihr aus dieser Lage helfen könnte. Aber mit jedem weiteren Schritt schwanden ihre Hoffnungen. Wen sollte sie auch kennen? Sie lebte in Slane und nicht in der weit entfernten Stadt Drogheda. Und selbst in Slane hatte sie das letzte Jahr im Verborgenen gelebt, da sie Angst gehabt hatte, dass irgendjemand ihr Geheimnis erfahren könnte.

Lilly, die hinter ihr lief, tippte ihr auf die Schulter. Sie hatte bemerkt, wie Marie sich Hilfe suchend umsah. „Das bringt nichts, Kleines. Keiner wird dich kennen, selbst die besten Freunde wenden sich in so einer Situation von dir ab.“

Tränen schossen in Maries Augen. Sie nahm ihren Rockzipfel und putzte sich die Nase. Die Ketten schmerzten bereits nach wenigen Metern an den Knöcheln. Nur mit kleinen kurzen Schritten kamen sie rasselnd dem Hafen näher. Immer wieder stürzten die Frauen über die Ketten und die Gefangenen kamen zum Stehen. Schon von weitem konnte man die Segelmasten der Schiffe erkennen. Aber der Weg bis dahin war noch weit.

Plötzlich sah Marie einen älteren Mann entgegenkommen. Sie kannte ihn, Hoffnung stieg in ihr auf. Ja, dachte sie, das ist doch der Totengräber von Slane. Er erkannte sie ebenfalls. Marie weinte und blieb kurz stehen. Auch der Mann hielt kurz inne und strich ihr liebevoll und mit traurigem Blick über die Wange. Dann ging er weiter und Marie blickte ihm nach.

„Wer war das?“, wollte Lilly wissen. „Warum hat er nichts zu dir gesagt?“

„Er ist stumm“, schluchzte Marie. Und sie dachte bei sich, dass es gut war, dass er sie erkannt hatte. Er wird sich bestimmt um die drei Gräber auf dem Friedhof in Slane kümmern.

Am Hafen angekommen, sahen sie ein Schiff an der Anlegestelle. Es hatte drei große Masten, an denen später die Segel herunter gelassen wurden. Die Takelage des Prahmsegels hing wie ein gigantisches, gespenstisch wirkendes Spinnennetz im Himmel. Marie wunderte sich über die vielen Seile, mit denen die Masten miteinander verbunden waren. Als sie vor dem Schiff standen, musste Marie ihren Kopf bis in den Nacken legen, um das Ende der Masten zu erkennen, so hoch waren diese. Am Rumpf des Schiffes stand etwas in großen Buchstaben geschrieben.

Sie drehte sich zu Lilly um: „Kannst du lesen?“, wollte sie wissen. „Was steht auf dem Schiff?“

„Ich will es versuchen“, antwortete Lilly leise.

Sie beherrschte ein wenig die Buchstaben. Sie las ganz langsam, indem sie einen Buchstaben an den nächsten fügte. „La – dy – Ju – li – ana. Lady Juliana“, sagte sie dann zur besseren Verständigung nochmals.

Marie lächelte. „Ein schöner Name.“

„Ja“, flüsterte Lilly hinter ihr, „aber nur der Name ist schön. Da drinnen wird die Hölle sein.“

Marie verschränkte ihre Arme. Bei dem Gedanken lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. „Warum, was meinst du damit?“, fragte sie ängstlich.

Lilly sah einen Aufseher auf sich zukommen. Sie flüsterte: „Pssst, leise.“

Mit wütendem Gesichtsausdruck kam der Aufseher auf sie zu. „Hört mit dem Gequatsche auf, setzt lieber eure faulen Knochen in Bewegung, damit wir hier fertig werden.“ Mit dem Handrücken gab er Lilly eine Ohrfeige. Ihre Oberlippe platzte auf und blutete. Lilly nahm ihren Rockzipfel und versuchte die Blutung zu stillen. Die linke Gesichtshälfte schwoll sofort an.

Marie fühlte sich schuldig. Nur durch ihre viele Fragerei war Lilly in diese Situation gekommen.