Die Flammen der Dämmerung - Peter V. Brett - E-Book

Die Flammen der Dämmerung E-Book

Peter V. Brett

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Beschreibung

Der Krieg um das Schicksal der Menschheit hat begonnen

Die Menschheit ist gefangen in einem Albtraum: Jede Nacht steigen Dämonen aus dem Boden empor und machen Jagd auf alle Lebewesen. Nur wenige wagen es, diesen Kreaturen zu widerstehen, unter ihnen Arlen, der tätowierte Mann, und Jardir, der Anführer der Wüstenkrieger. Doch die Welt duldet nur einen Erlöser der Menschheit, und ein Krieg scheint unvermeidlich – während sich in den Tiefen der Finsternis das Heer der Dämonen zum Marsch rüstet und eine blutige Zukunft heraufdämmert. Der letzte Kampf um die Rettung der Menschheit vor den Dämonen der Nacht beginnt.

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Inhalt

PROLOG

1

2

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Lexikon krasianischer Namen und Begriffe

Danksagung

Dämonenzyklus

Newsletter-Anmeldung

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Hauptteil

Index

Danksagungen

Von Peter V. Brett sind imWILHELM HEYNE VERLAGerschienen:

DIE DÄMONENSAGA Die Romane:

Das Lied der DunkelheitDas Flüstern der NachtDie Flammen der DämmerungDer Thron der FinsternisDas Leuchten der MagieDie Stimmen des AbgrundsDer Prinz der Wüste

Die Novellen:

Der große BasarDas Erbe des KuriersSelias GeheimnisDas Feuer der Dämonen

PETER V. BRETT

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Titel der englischen Originalausgabe

THE DAYLIGHT WAR

Deutsche Übersetzung von Ingrid Herrmann-Nytko

Redaktion: Charlotte LungstrassCopyright © 2013 by Peter V. BrettCopyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Illustrationen: Lauren CannonKarte: Andreas HancockUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-07679-5V007

Für meine Eltern John und Dolores,die noch immer abendszusammen auf dem Sofa sitzen und lesen

Inhalt

Prolog Inevera

1 Arlen

2 Versprechen

3 Die Haferfelder

4 Die zweite Ankunft

5 Fürsorger Hayes

6 Der Ohrring

7 Ausbildung

8 Sharum beugen sich nicht

9 Ahmann

10 Kenevahs Sorge

11 Die letzte Mahlzeit

12 Die Hundertschaft

13 Ein Auftritt vor Publikum

14 Das Lied vom Erlöschen des Mondes

15 Die Papiermacher-Frauen

16 Wohin khaffit nicht folgen können

17 Zahven

18 Ein Treffen in gespannter Atmosphäre

19 Spucke und Wind

20 Ein einziger Zeuge

21 Auren

22 Neumond

23 Die Falle

24 Zermürbung

25 Der verlorene Bannzirkel

26 Sharum’ting

27 Das Erlöschen des Mondes

28 Frühe Ernte

29 Eunuch

30 Mein treuer Freund

31 Er lebt

32 Domin Sharum

Lexikon krasianischer Namen und Begriffe

Danksagung

PROLOG

Inevera

300 NR

Inevera und ihr Bruder Soli saßen im Sonnenlicht. Beide hielten den Rahmen eines Korbs zwischen ihren bloßen Füßen und drehten ihn, während sie mit geübten Fingern die Flechtarbeit verrichteten. So spät am Tag gab es in ihrem kleinen Verkaufsstand nur einen winzigen schattigen Fleck. Dort saß ihre Mutter Manvah und flocht ebenfalls einen Korb. Der Berg aus rauen Dattelpalmwedeln im Inneren des Kreises, den die drei Flechter bildeten, schrumpfte beständig, während sie emsig arbeiteten.

Inevera war neun Jahre alt. Soli war fast doppelt so alt wie sie, aber trotzdem noch sehr jung, um die Tracht eines vollwertigen dal’Sharum zu tragen; das frisch gefärbte tiefschwarze Tuch war noch keine Spur ausgebleicht. Vor knapp einer Woche hatte er diese ehrenvolle Tracht anlegen dürfen, und jetzt saß er auf einer Matte, damit der allgegenwärtige Staub im Großen Basar den Stoff nicht beschmutzte. Oben war das Gewand nur locker gerafft und zeigte eine glatte, muskulöse Brust, die vor Schweiß glänzte.

Mit einem Palmwedel fächelte er sich Kühlung zu. »Bei Everams Eiern, diese Gewänder bringen einen zum Schwitzen. Ich wünschte, ich könnte immer noch nur mit einem Bido bekleidet rumlaufen.«

»Du kannst im Schatten sitzen, wenn du möchtest, Sharum«, schlug Manvah vor.

Soli schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Hast du das erwartet? Dass ich in schwarzer Kleidung heimkomme und anfange, dich herumzukommandieren wie …«

Manvah kicherte. »Ich will nur sichergehen, dass du mein lieber Junge bleibst.«

»Aber nur zu dir und meiner süßen kleinen Schwester bin ich lieb«, erklärte Soli und zerstrubbelte Ineveras Haare. Sie schlug seinen Arm zur Seite, doch dabei lächelte sie. Wenn Soli da war, wurde immer viel gelächelt. »Gegenüber allen anderen Leuten bin ich so gemein wie ein Sanddämon.«

»Pah«, erwiderte Manvah und winkte ab, doch Inevera machte sich ihre eigenen Gedanken. Sie wusste noch genau, was er mit den beiden Majah-Bengeln gemacht hatte, die sie im Basar geärgert hatten, als sie noch jünger waren. Die Schwachen überlebten nicht in der Nacht.

Inevera war mit ihrem Korb fertig und stellte ihn auf einen der vielen Stapel. Sie zählte rasch nach. »Noch drei, dann ist dama Badens Bestellung komplett.«

»Vielleicht lädt Cashiv mich zum Fest anlässlich des Anschwellenden Mondes ein«, sagte Soli. Cashiv war dama Badens kai’Sharum, sein Hauptmann, und Solis ajin’pal, der Krieger, der in seiner ersten Nacht im Labyrinth an ihn gefesselt war und an seiner Seite kämpfte. Es hieß, es gäbe keine stärkere Bindung zwischen zwei Männern.

Manvah schnaubte durch die Nase. »In diesem Fall lässt dama Baden dich nackt und eingeölt einen Korb tragen und feiert das Anschwellen des Mondes, indem er seinen lüsternen alten Hofschranzen deinen blanken Hintern anbietet.«

Soli lachte. »Ich habe gehört, dass man sich wegen der alten Kerle keine Sorgen zu machen braucht. Die meisten von ihnen begnügen sich mit Gaffen. Es sind die Jüngeren, die Fläschchen mit Öl in ihren Gürteln tragen.«

Er seufzte. »Trotzdem, Gerraz wartete bei dama Badens letzter Speerfeier auf, und er hat mir erzählt, dass der dama ihm zweihundert Draki gab. Das ist einen wunden Hintern wert.«

»Lass das bloß deinen Vater nicht hören«, warnte Manvah. Solis Blick huschte zu der durch einen Vorhang abgetrennten Kammer im rückwärtigen Teil des Verkaufsstands, wo sein Vater schlief.

»Früher oder später wird er herausfinden, dass sein Sohn push’ting ist«, meinte er. »Ich werde nicht irgendein armes Mädchen heiraten, nur um das vor ihm zu verbergen.«

»Warum nicht?« fragte Manvah. »Sie könnte mit uns flechten. Und wäre es denn so schrecklich, sie ein paarmal mit deinem Samen zu schwängern und mir Enkel zu schenken?«

Soli verzog das Gesicht. »Wenn du Enkel willst, musst du eben warten, bis Inevera so weit ist.« Er blickte sie an. »Morgen ist Hannu Pash, liebe Schwester. Vielleicht finden die dama’ting einen Ehemann für dich!«

»Wechsle nicht das Thema!« Manvah schlug ihm mit einem Palmwedel auf die Hand. »Du fürchtest dich nicht vor den Mauern des Labyrinths, aber was zwischen den Schenkeln einer Frau verborgen ist, macht dir Angst?«

Soli schnitt eine Grimasse. »Im Labyrinth bin ich wenigstens von starken, schwitzenden Männern umgeben. Und wer weiß? Vielleicht findet einer der push’ting dama Gefallen an mir? Die mächtigen, so wie Baden, machen ihre Lieblings-Sharum zu ihren persönlichen Leibwachen, die nur während dem Erlöschen des Mondes kämpfen müssen! Stell dir vor, nur drei Nächte im Monat im Labyrinth!«

»Das sind immer noch drei Nächte zu viel«, knurrte Manvah.

Inevera war verwirrt. »Ist das Labyrinth nicht ein heiliger Ort? Ist es nicht eine Ehre, es betreten zu dürfen?«

Manvah gab einen grunzenden Laut von sich und nahm ihre Flechtarbeit wieder auf. Soli blickte sie lange an, und in seinen Augen lag ein abwesender Ausdruck. Sein freundliches Lächeln war wie weggewischt.

»Das Labyrinth bedeutet den Heiligen Tod«, erklärte er schließlich. »Einem Mann, der dort stirbt, ist ein Platz im Himmel gewiss, aber ich bin nicht sonderlich erpicht darauf, Everam jetzt schon zu begegnen.«

»Es tut mir leid«, sagte Inevera.

Soli schüttelte sich, und sofort kehrte das Lächeln zurück. »Beschäftige dich lieber nicht mit solchen Dingen, kleine Schwester. Das Labyrinth ist keine Bürde, die du tragen musst.«

»Jede Frau in Krasia trägt diese Bürde, mein Sohn«, hielt Manvah dagegen, »auch wenn wir nicht Seite an Seite mit euch kämpfen.«

Just in diesem Augenblick drang hinter dem Vorhang im rückwärtigen Teil des Verkaufsstands ein Stöhnen hervor, und etwas raschelte. Kurz darauf erschien Kasaad. Ineveras Vater würdigte Manvah keines Blickes, als er sie mit seinem Stiefel aus dem Schatten schob und den begehrten Platz für sich beanspruchte. Er warf zwei Kissen auf den Boden und ließ sich darauf plumpsen, noch während er einen winzigen Becher Couzi hinunterkippte. Im grellen Licht blinzelnd, schenkte er sich sofort den nächsten ein. Wie immer übersah er Inevera, als gäbe es sie gar nicht, und heftete seinen Blick unverzüglich auf ihren Bruder.

»Soli! Leg sofort diesen Korb weg! Du bist jetzt ein Sharum und darfst nicht mit den Händen arbeiten wie ein khaffit!«

»Vater, wir haben einen Auftrag, der gleich fällig ist«, entgegnete Soli. »Cashiv …«

»Pah!« Kasaad wedelte abfällig mit der Hand. »Es kümmert mich nicht, was dieser eingeölte und parfümierte push’ting will! Leg diesen Korb weg, und steh auf, ehe jemand sieht, wie du deine neue schwarze Tracht beschmutzt. Es ist schon schlimm genug, dass wir tagsüber unsere Zeit in dem dreckigen Basar vergeuden müssen.«

»Er scheint keine Ahnung zu haben, woher das Geld kommt«, grummelte Soli so leise, dass es Kasaad entgehen musste. Aber er hörte nicht auf zu flechten.

»Oder das Essen auf seinem Tisch.« Manvah verdrehte die Augen. Sie seufzte. »Mach lieber, was er sagt.«

»Da ich jetzt ein Sharum bin, kann ich tun und lassen, was ich will. Wie kommt er dazu, mir das Flechten von Palmwedeln zu verbieten, wenn mich das beruhigt?« Während Soli sprach, bewegten sich seine Hände sogar noch schneller, mit den Augen vermochte man seinen Fingern kaum noch zu folgen. Er war fast fertig mit seinem Korb, und er hatte nicht vor, die Arbeit abzubrechen. Staunend sah Inevera ihm zu. Soli konnte beinahe so schnell flechten wie Manvah.

»Er ist dein Vater«, betonte Manvah, »und wenn du ihm nicht gehorchst, lässt er seine Wut an uns allen aus.«

Sie wandte sich an Kasaad, und ihr Tonfall wurde sanfter. »Du und Soli, ihr braucht nur so lange zu bleiben, bis die dama die Abenddämmerung ausrufen, mein Gemahl.«

Kasaad zog eine saure Miene und stürzte den nächsten Becher Couzi hinunter. »Womit habe ich Everam so beleidigt, dass ich, der große Kasaad asu Kasaad am’Damaj am’Kaji, der unzählige alagai in den Abgrund geschickt hat, mich dazu herablassen sollte, einen Haufen Körbe zu bewachen?« Angewidert deutete er auf ihre Arbeit. »Ich sollte zum Appell antreten und mich auf den alagai’sharak und eine ruhmreiche Nacht vorbereiten!«

»Um mit den anderen Sharum zu saufen, meint er wohl«, flüsterte Soli Inevera zu. »Die Einheiten, die sich früh versammeln, gehen in das Zentrum des Labyrinths, wo heftig gekämpft wird. Je länger er hier herumtrödelt, umso geringer ist die Chance, dass er tatsächlich einen alagai zu sehen bekommt, während er mit Couzi vollgedröhnt ist wie ein bepisstes Kamel.«

Couzi. Inevera hasste dieses Getränk. Es wurde aus fermentiertem Getreide und Zimt hergestellt, in winzigen Tonfläschchen verkauft und aus noch winzigeren Bechern getrunken. Allein das Schnuppern an einer leeren Flasche verbrannte Ineveras Nase und machte sie schwindelig. In dem Geruch war keine Spur von Zimt zu entdecken. Angeblich schmeckte man das Gewürz erst nach drei Bechern heraus, aber konnte man sich noch auf das Wort von jemandem verlassen, der drei Becher Couzi getrunken hatte? Der Genuss verleitete zu Übertreibungen und Größenwahn.

»Soli!« schnappte Kasaad. »Überlass den Frauen die Arbeit und trink mit mir! Wir wollen den Tod der vier alagai feiern, die du gestern Nacht erlegt hast!«

»Man könnte glauben, ich hätte das ganz allein fertiggebracht, und nicht mit Unterstützung der gesamten Einheit«, brummte Soli. Seine Finger bewegten sich noch flinker. »Ich trinke keinen Couzi, Vater«, sagte er laut. »Der Evejah verbietet es.«

Kasaad schnaubte und kippte noch einen Becher herunter. »Manvah! Bereite deinem sharik-Sohn einen Tee zu!« Er hielt die Couziflasche wieder über den Becher, aber dieses Mal kamen nur ein paar Tropfen heraus. »Und mir bringst du eine neue Flasche Couzi.«

»Everam, schenke mir Geduld«, murmelte Manvah. »Das war die letzte Flasche, mein Gemahl«, rief sie.

»Dann geh und kauf neue«, schnauzte Kasaad.

Inevera hörte, wie ihre Mutter mit den Zähnen knirschte. »Die Hälfte der Zelte im Basar sind bereits geschlossen, mein Gemahl, und wir müssen diese Körbe fertigstellen, bevor Cashiv kommt.«

Kasaad winkte gereizt ab. »Wen interessiert das schon, wenn dieser nichtsnutzige push’ting warten muss?«

Soli sog zischend den Atem ein, und Inevera sah einen Blutflecken an seiner Hand, wo er sich am scharfen Rand eines Palmwedels geschnitten hatte. Er biss auf die Zähne und flocht weiter.

»Vergib mir, verehrter Ehegemahl, aber der Mann, den dama Baden damit beauftragt hat, die Bestellung abzuholen, wird nicht warten«, widersprach Manvah und setzte ihre eigene Arbeit fort. »Wenn Cashiv hier eintrifft und die Bestellung ist nicht fertig, geht er einfach weiter und kauft seine Körbe wieder einmal bei Krisha. Ohne diesen Auftrag haben wir nicht genug Geld, um unsere Kriegssteuer zu bezahlen, geschweige denn um noch mehr Couzi zu kaufen.«

»Was?!«, brüllte Kasaad. »Wo ist mein Geld geblieben? Ich bringe jede Woche hundert Draki nach Hause!«

»Die Hälfte davon geht gleich wieder als Kriegssteuer an die dama zurück«, erklärte Manvah, »und zwanzig Draki steckst du immer in deine eigene Tasche. Der Rest wird gebraucht, um dich mit Couzi und Couscous zu versorgen, und das reicht bei weitem nicht aus, hauptsächlich weil du jeden Sabbat ein halbes Dutzend durstiger Sharum nach Hause bringst. Couzi ist teuer, mein Gemahl. Die dama schneiden jedem khaffit, der es verkauft, die Daumen ab, und dieses Risiko schlagen sie auf den Preis drauf.«

Kasaad spuckte aus. »Khaffit würden die Sonne verkaufen, wenn sie sie vom Himmel holen könnten. Jetzt lauf los und kaufe mir neuen Couzi, damit ich die Warterei auf diesen halben Mann besser ertragen kann.«

Soli hatte seinen Korb fertig geflochten, stand auf und knallte ihn auf seinen Stapel. »Ich gehe, Mutter. Chabin wird noch welchen haben, und er schließt sein Geschäft nie, bevor die Abenddämmerung ausgerufen wird.«

Manvahs Augen wurden schmal, aber sie blickte nicht von ihrer Flechterei auf. Auch sie hatte angefangen, ihr Arbeitstempo zu steigern, und ihre Hände schienen nur so zu fliegen. »Ich möchte nicht, dass du weggehst, wenn die Arbeit eines ganzen Monats draußen steht.«

»Niemand wird uns berauben, solange Vater hier bei euch sitzt«, sagte Soli, doch als er seinen Vater anschaute, der versuchte, einen letzten Tropfen von der Couziflasche abzulecken, seufzte er. »Ich bin so schnell zurück, dass ihr meine Abwesenheit gar nicht bemerken werdet.«

»Zurück an die Arbeit, Inevera«, schnappte Manvah, als Soli losrannte. Inevera senkte den Blick und merkte erst dann, dass sie aufgehört hatte zu flechten, als sie den Verlauf der Dinge verfolgt hatte. Ohne zu zögern nahm sie ihre Arbeit wieder auf.

Inevera wagte es nicht, ihn direkt anzusehen, aber sie kam nicht umhin, ihren Vater aus dem Augenwinkel zu beobachten. Er glotzte Manvah an, die den Korb mit ihren geschickten Füßen drehte. Bei der Arbeit waren ihre schwarzen Gewänder hochgerutscht, und man sah ihre nackten Knöchel und Waden.

Kasaad fasste sich mit einer Hand in den Schritt und fing an, sich dort zu reiben. »Komm her, Weib, ich will …«

»Ich! Arbeite!« Manvah nahm einen Palmenzweig von dem Haufen und brach die Wedel mit einem scharfen Knacken ab.

Kasaad schien über ihre Reaktion ehrlich verblüfft zu sein. »Warum verweigerst du dich deinem Ehemann, eine knappe Stunde bevor er in die Nacht hinausgeht?«

»Weil ich mir für diese Körbe wochenlang den Rücken kaputtgeschuftet habe«, versetzte Manvah. »Weil es schon spät ist und es in der Gasse still geworden ist. Und weil wir einen kompletten Vorrat im Freien stehen haben, der nur von einem lüsternen Besoffenen bewacht wird!«

Kasaad stieß ein bellendes Lachen aus. »Wer würde sich an dem Zeug schon vergreifen?!«

»Eine gute Frage«, hörte man eine Stimme. Alle drehten sich um und sahen Krisha, die um den Ladentresen bog und den Stand betrat.

Krisha war eine kräftige Frau. Nicht fett – nur wenige Bewohner des Wüstenspeers genossen diesen Luxus –, aber sie war die Tochter eines Kriegers, grobknochig, mit einem schweren Gang und schwieligen Händen. Wie alle dal’ting, so war auch sie von Kopf bis Fuß in dieselben schwarzen Gewänder gehüllt wie Manvah. Sie war ebenfalls eine Korbflechterin und eine von Manvahs Hauptkonkurrentinnen im Kaji-Stamm – nicht so geschickt, aber dafür umso ehrgeiziger.

Vier weitere Frauen in der schwarzen dal’ting-Tracht folgten ihr in das Zelt. Zwei waren ihre Schwestergemahlinnen, deren Gesichter mit schwarzem Stoff bedeckt waren. Die beiden anderen waren ihre unverheirateten Töchter mit unverhüllten Gesichtern. So wie sie aussahen, schreckte dies mehr potenzielle Ehemänner ab, als welche anzulocken. Keine der Frauen war klein, und sie verteilten sich wie Schakale, die einem Hasen hinterherpirschen.

»Du arbeitest noch spät«, bemerkte Krisha. »Bei den meisten Ständen sind die Zeltklappen schon geschlossen.«

Manvah zuckte mit den Schultern, ohne den Blick von ihrer Flechtarbeit abzuwenden. »Die Ausgangssperre wird erst in einer guten Stunde ausgerufen.«

»Cashiv kommt immer am Abend vor dama Badens Fest anlässlich des Anschwellen des Mondes, nicht wahr?«, fragte Krisha.

Manvah blickte nicht hoch. »Meine Kunden gehen dich nichts an, Krisha.«

»Oh doch, wenn du deinen push’ting-Sohn dazu benutzt, sie mir wegzustehlen«, sagte Krisha mit tiefer, drohender Stimme. Ihre Töchter gingen zu Inevera und trennten sie von ihrer Mutter. Die Schwestergemahlinnen schoben sich tiefer in den Laden hinein zu Kasaad.

Jetzt schaute Manvah Krisha an. »Ich habe dir nichts weggenommen. Cashiv kam zu mir und sagte, deine Körbe würden auseinanderbrechen, wenn man sie füllt. Gib deinen Flechterinnen die Schuld und nicht mir, wenn du keine Geschäfte machst.«

Krisha nickte und griff nach dem Korb, den Inevera gerade dem Stapel hinzugefügt hatte. »Du und deine Tochter leisten gute Arbeit«, stellte sie fest und fuhr mit dem Finger über das Geflecht. Dann warf sie den Korb auf den Boden und trat mit einem Fuß fest darauf.

»Frau, was fällt dir ein?!«, brüllte Kasaad fassungslos. Er sprang auf die Füße, jedenfalls versuchte er es, doch er begann zu taumeln. Dann sah er sich nach seinem Speer und dem Schild um, aber die befanden sich hinten im Zelt.

Während er sich bemühte, einen klaren Gedanken zu fassen, bewegten sich Krishas Schwestergemahlinnen gleichzeitig. Aus den weiten Ärmeln ihrer Gewänder rutschten kurze, in schwarzen Stoff gewickelte Baststöcke in ihre Hände. Eine der Frauen packte Kasaad bei den Schultern und drehte ihn um, damit die andere ihm einen wuchtigen Schlag in die Magengrube verpassen konnte. Kasaad ächzte vor Schmerzen, die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, doch gleich darauf traf ihn ein heftiger Stoß in die Leiste. Kasaads Ächzen verwandelte sich in ein schrilles Geheul.

Inevera schrie auf und schnellte auf die Füße, aber Krishas Töchter packten sie mit brutalem Griff. Manvah wollte ebenfalls aufstehen, aber Krisha trat ihr fest ins Gesicht, und sie kippte um. Sie brach in lautes Geschrei aus, aber es war schon spät, und niemand antwortete auf ihren Hilferuf.

Krisha blickte auf den Korb, der auf dem Boden stand. Er hatte ihren Fußtritt ausgehalten und seine ursprüngliche Form wieder angenommen. Inevera grinste, bis die Frau sich darauf stellte und dreimal auf dem Korb herumsprang, der dann auseinanderbrach.

Auf der anderen Seite des Standes prügelten Krishas Schwestergemahlinnen immer noch auf Kasaad ein. »Er kreischt wie eine Frau«, lachte eine und verpasste ihm noch einen Hieb zwischen die Beine.

»Und er kämpft sogar noch schlechter!«, schrie die andere. Sie ließen seine Schultern los, und Kasaad sackte nach Luft schnappend zu Boden, wobei seine Miene eine Mischung aus Schmerzen und Demütigung widerspiegelte. Die Frauen ließen von ihm ab und fingen an, die Stapel umzutreten und die Körbe mit ihren Baststöcken zu zerschmettern.

Inevera versuchte sich loszureißen, aber die jungen Frauen verstärkten nur ihren Griff. »Halt still, oder wir brechen dir die Finger, damit du nie wieder flechten kannst!« Inevera hörte auf, sich zu wehren, aber ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen; sie änderte leicht ihre Stellung und machte sich bereit, ihren Fuß mit aller Kraft auf den Spann der ihr am nächsten stehenden Frau niedersausen zu lassen. Sie sah ihre Mutter an, doch Manvah schüttelte den Kopf.

Kasaad hustete Blut und stemmte sich auf die Ellenbogen. »Huren! Wenn die dama das erfahren …!«

Krisha unterbrach ihn mit einem gackernden Lachen. »Die dama? Willst du zu ihnen gehen, Kasaad, Sohn des Kasaad, und ihnen erzählen, dass du dich mit Couzi besoffen hast und von Frauen verprügelt wurdest? Das wirst du nicht mal deinem ajin’pal erzählen, wenn er dich heute Nacht besteigt!«

Kasaad bemühte sich aufzustehen, aber eine der Frauen rammte ihm flink ihren Fuß in den Magen, und er wurde auf den Rücken geworfen. Er rührte sich nicht mehr.

»Pah!« rief die Frau. »Er hat sich bepisst wie ein kleines Kind!« Sie alle lachten.

»Das bringt mich auf eine Idee!«, schrie Krisha, ging zu einem der umgekippten Korbstapel und hob ihre Gewänder. »Warum sollen wir uns abmühen, diese jämmerlichen Körbe zu zerbrechen, wenn wir sie stattdessen beschmutzen können?« Sie ging in die Hocke und entleerte ihre Blase, wobei sie die Hüften hin und her schwenkte, damit der Strahl möglichst viele Körbe traf. Die anderen Frauen lachten und lüfteten ihre Gewänder, um ihrem Beispiel zu folgen.

»Arme Manvah!«, spottete Krisha. »Zwei männliche Familienmitglieder, aber keiner davon ist ein echter Mann. Dein Gemahl ist schlimmer als ein khaffit, und dein push’ting-Sohn ist so sehr damit beschäftigt, Schwänze zu lutschen, dass er nicht mal hier sein kann.«

»Da irrst du dich!« Inevera drehte sich um und sah, wie Solis kräftige Finger sich um das Handgelenk einer der Frauen schlossen, die sie festhielten. Die Frau schrie gellend vor Schmerzen, als Soli ihren Arm mit einer erbarmungslosen Drehung hochriss und ihre Schwester dann mit einem Fußtritt zu Boden schickte.

»Sei still!«, blaffte er die schreiende Frau an und stieß sie zurück. »Wenn du noch einmal meine Schwester anfasst, reiße ich dir die Hand ab, anstatt sie nur zu verrenken.«

»Das werden wir ja sehen, push’ting«, fauchte Krisha. Ihre Schwestergemahlinnen hatten ihre Gewänder gerichtet und stürzten sich auf Soli, die Stöcke zum Schlag erhoben. Krisha schüttelte kurz ihr Handgelenk, und ihr eigener Knüppel fiel in ihre Hand.

Inevera hielt den Atem an. Soli, der unbewaffnet war, näherte sich ihnen ohne Furcht. Die erste Frau schlug nach ihm, aber Soli war schneller; er wich dem Schlag seitwärts aus und packte den Arm der Frau. Man hörte ein Knacken, und sie stürzte schreiend zu Boden, während ihr Stock nun in Solis Hand lag. Schon griff ihn die andere Frau an, doch er wehrte ihren Schlag ab und schlug ihr grob ins Gesicht. Seine Bewegungen waren fließend und eingeübt, wie bei einem Tanz. Inevera hatte ihm zugesehen, wie er die Kampfkunst des sharusahk trainierte, wenn er beim Erlöschen des Mondes vom Hannu Pash nach Hause kam. Die Frau sank zu Boden, und Inevera sah, wie sie ihren Schleier herunterzog, um einen großen Schwall Blut auszuhusten.

Soli ließ den Stock fallen, als Krisha sich auf ihn stürzte; er fing mit der bloßen Hand ihre Waffe ab und hielt sie fest. Mit der freien Hand ergriff er die Frau beim Kragen, schleuderte sie herum und schob sie über einen Haufen Körbe. Nun zwang er ihr Gesicht nach unten, packte den Saum ihrer Gewänder und riss sie bis zur Taille hoch.

»Bitte«, jammerte Krisha. »Mach mit mir, was du willst, aber lass meinen Töchtern ihre Jungfräulichkeit!«

»Pah!« Mit angeekelter Miene spuckte Soli aus. »Eher würde ich ein Kamel von hinten nehmen als dich!«

»Ach, komm schon, push’ting«, höhnte sie und wackelte vor ihm mit den Hüften. »Stell dir vor, ich sei ein Mann, und vergnüge dich mit meinem Arsch.«

Soli nahm Krishas Baststock und drosch damit auf sie ein. Seine Stimme war tief und übertönte das laute Klatschen auf ihrem nackten Fleisch und ihr Schmerzensgeheul. »Ein Mann muss kein push’ting sein, um sich davor zu ekeln, seinen Schwanz in einen Misthaufen zu stecken. Und was deine Töchter angeht, ich würde nichts unternehmen, was ihre Heirat mit irgendeinem armen khaffit hinauszögert, bloß damit sie ihre hässlichen Gesichter endlich unter einem Schleier verstecken.«

Er nahm seine Hand von ihrem Nacken und trieb sie und die anderen Frauen mit scharfen Hieben aus dem Verkaufsstand hinaus. Krishas Töchter halfen, ihre Schwestergemahlinnen zu stützen, als die fünf Frauen die Gasse entlangstolperten.

Manvah rappelte sich auf die Füße und klopfte sich den Staub ab. Sie ignorierte Kasaad und ging gleich zu Inevera. »Bist du verletzt?« Inevera schüttelte den Kopf.

»Überprüfe die Waren«, befahl Manvah. »Sie hatten nicht viel Zeit. Schau nach, ob wir noch etwas retten können …«

»Zu spät«, sagte Soli und deutete die Gasse hinunter. Drei Sharum näherten sich. Ihre schwarze Kluft war ärmellos, und die Brustharnische aus schwarzem Stahl waren so geformt, dass sie die ohnehin vollkommenen, muskulösen Oberkörper noch zusätzlich betonten. Schwarze Seidenbänder waren um ihre schwellenden Bizepse gebunden, und an den Handgelenken trugen sie mit Nieten beschlagene Armschützer. Auf dem Rücken hatten sie ihre glänzende goldene Schilde festgeschnallt, sie trugen lässig ihre kurzen Speere und hatten den geschmeidigen Gang schleichender Wölfe.

Manvah schnappte sich einen kleinen Krug voll Wasser und schüttete ihn über Kasaad aus, der stöhnte und sich halbwegs auf die Füße hievte.

»Rein mit dir, schnell!«, fauchte Manvah und versetzte ihm einen Tritt, damit er sich bewegte. Kasaad ächzte, aber es gelang ihm, in das Zelt und außer Sichtweite zu kriechen.

»Wie sehe ich aus?« Soli zupfte an seiner Kleidung herum und machte sie vorne noch weiter auf.

Es war eine alberne Frage. Kein Mann, den Inevera je gesehen hatte, war auch nur halb so hübsch wie ihr Bruder. »Sehr gut«, flüsterte Inevera zurück.

»Soli, mein süßer ajin’pal!«, rief Cashiv. Er war fünfundzwanzig, ein kai’Sharum und bei weitem der Attraktivste der drei; sein kurz getrimmter Bart war mit Duftöl eingerieben und seine glänzende Haut war von der Sonne gebräunt. Seinen Brustharnisch schmückte dama Badens Symbol, die aufgehende Sonne – zweifelsohne aus echtem Gold –, und in der Mitte seines Turbans prangte ein großer Türkis. »Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen, wenn wir die Ware für heute Abend abholen …« Er war jetzt nahe genug, um das Chaos in ihrem Verkaufsstand zu sehen. »Ach du meine Güte! Ist eine Kamelherde durch euer Zelt getrampelt?« Er schnüffelte. »Und hat im Laufen gepisst?« Er nahm den Nachtschleier aus weißer Seide, der locker um seinen Hals geschlungen war, und zog ihn sich über die Nase. Seine Gefährten taten es ihm gleich.

»Wir hatten ein paar … Probleme«, gestand Soli. »Meine Schuld, weil ich kurz weggegangen bin.«

»Das ist wirklich eine Schande.« Cashiv ging zu Soli, ohne von Inevera auch nur die geringste Notiz zu nehmen. Er streckte einen Finger aus und strich damit über Solis muskulöse Brust, wo ein wenig Blut hingespritzt war. Nachdenklich rieb er das Blut zwischen Daumen und Zeigefinger. »Aber wie es scheint, kamst du noch rechtzeitig zurück, um die Dinge zu regeln.«

»Diese spezielle Kamelherde dürften wir wohl für immer los sein«, pflichtete Soli ihm bei.

»Aber sie hat genug Schaden angerichtet«, meinte Cashiv betrübt. »Wir werden unsere Körbe schon wieder bei Krisha kaufen müssen.«

»Bitte.« Soli legte eine Hand auf Cashivs Arm. »Wir brauchen diesen Auftrag. Nicht der ganze Vorrat ist ruiniert. Könnten wir euch nicht wenigstens die Hälfte davon verkaufen?«

Cashiv blickte auf die Hand, die auf seinem Arm ruhte, und lächelte. Verächtlich zeigte er auf das Durcheinander aus Körben. »Pah! Wenn auf einen gepisst wurde, sind alle verdorben. Derart beschmutzte Waren werde ich doch nicht meinem Gebieter bringen. Gieß einen Eimer Wasser darüber aus und verscherbel sie an khaffit.«

Er trat dichter an Soli heran und legte ihm eine Hand auf die Brust. »Aber wenn du Geld brauchst, dann kannst du es dir vielleicht verdienen, indem du morgen beim Fest Körbe trägst, anstatt sie zu verkaufen.« Er schob seine Finger unter Solis geöffnete Gewänder und streichelte seine Schulter. »Du könntest mit der dreifachen Summe nach Hause gehen, die die Körbe wert sind, wenn du … deine Sache gut machst.«

Soli lächelte. »Körbe sind mein Geschäft, Cashiv. Keiner kennt sich damit besser aus als ich.«

Cashiv lachte. »Morgen früh holen wir dich zum Fest ab.«

»Wir treffen uns auf dem Exerzierplatz«, sagte Soli. Cashiv nickte, und er und seine Gefährten schlenderten ein Stück weiter die Gasse hinunter zu Krishas Verkaufsstand.

Manvah legte ihre Hand auf Solis Schulter. »Es tut mir leid, dass du das tun musstest, mein Sohn.«

Soli zuckte die Achseln. »An manchen Tagen ist man der Schwanz, und an manchen Tagen der Hintern. Es wurmt mich nur, dass Krisha gewonnen hat.«

Manvah lüftete ihren Schleier gerade so weit, dass sie auf den Boden spucken konnte. »Krisha hat keineswegs gewonnen. Sie hat keine Körbe, die sie verkaufen kann.«

»Woher willst du das wissen?« fragte Soli.

Manvah kicherte. »Vor einer Woche habe ich Ungeziefer in ihrem Lagerzelt ausgesetzt.«

Nachdem Soli geholfen hatte, den Stand aufzuräumen, begleitete er sie zu dem kleinen Lehmziegelbau, in dem sie wohnten. Inzwischen riefen die dama von den Minaretten des Sharik Hora die Abenddämmerung aus. Die meisten Körbe hatten sie gerettet, aber einige mussten ausgebessert werden. Auf dem Rücken trug Manvah ein großes Bündel Palmwedel.

»Ich muss mich beeilen, um rechtzeitig zum Appell anzutreten«, sagte Soli. Inevera und Manvah umarmten und küssten ihn, ehe er kehrtmachte und in die dunkler werdende Stadt rannte.

Im Haus öffneten sie die mit Siegeln versehene Falltür in ihrer Behausung und stiegen für die Nacht in die Untere Stadt hinab.

Jedes Gebäude in Krasia besaß mindestens eine Etage unter dem Erdboden, von der aus Durchgänge in die eigentliche Untere Stadt führten, eine riesige Bienenwabe aus Tunneln und Kavernen, die sich meilenweit erstreckten. Dort suchten die Frauen, Kinder und khaffit, die Händler und Handwerker, jede Nacht Zuflucht, während die Krieger den alagai’sharak kämpften. Große Blöcke aus behauenem Stein versperrten den Dämonen einen direkten Zugang aus den Tiefen von Nies Abgrund, und in die Quader waren mächtige Siegel eingemeißelt, um die, welche anderenorts nach oben gestiegen waren, in Schach zu halten.

Die Untere Stadt war eine undurchdringliche Schutzzone, die nicht nur die einheimische Bevölkerung beherbergen konnte, sondern eine eigenständige Stadt bildete, sollte das Undenkbare eintreten und der Wüstenspeer von den alagai erobert werden. Es gab Schlafquartiere für jede Familie, Schulen, Paläste, Häuser der Andacht und noch vieles mehr.

Inevera und ihre Mutter verfügten nur über einen kleinen Keller in der Unteren Stadt, mit Schlafpritschen, einem Kühlraum für Lebensmittel und einem winzigen Gemach mit einer tiefen Grube, wo sie ihre Notdurft verrichteten.

Manvah entzündete eine Lampe, sie setzten sich an den Tisch und aßen eine kalte Abendmahlzeit. Als die Schüsseln weggeräumt waren, breitete sie die Palmwedel aus. Inevera wollte ihr helfen.

Manvah schüttelte den Kopf. »Ins Bett mit dir. Morgen ist für dich ein wichtiger Tag. Ich will nicht, dass du mit roten Augen und müde vor den dama’ting erscheinst, wenn sie dich befragen.«

Inevera betrachtete die lange Schlange von Mädchen und deren Müttern, die alle darauf warteten, in den dama’ting-Pavillon eingelassen zu werden. Die Bräute des Everam hatten verfügt, dass sich, wenn die dama am Tag der Frühlingstagundnachtgleiche die Morgendämmerung ausriefen, sämtliche neun Jahre alten Mädchen zum Hannu Pash einzufinden hätten, um zu erfahren, welchen Lebensweg Everam für sie bestimmt hatte. Für einen Knaben konnte der Hannu Pash mehrere Jahre dauern, doch bei den Mädchen genügte eine einzige Weissagung der dama’ting.

Die meisten wurden einfach für fruchtbar erklärt und bekamen ihr erstes Kopftuch, einige hingegen verließen den Pavillon als Verlobte, oder man gab ihnen eine neue Berufung. Andere wiederum, hauptsächlich die Armen und des Lesens und Schreibens Unkundigen, kaufte man ihren Vätern ab und bildete sie im Kissentanz aus; danach schickte man sie in den großen Harem, wo sie Krasias Kriegern als Jiwah’Sharum dienten. Ihnen wurde die Ehre zuteil, neue Krieger zu gebären, um die zu ersetzen, die im allnächtlich stattfindenden alagai’sharak, dem Kampf gegen die Dämonen, ihr Leben ließen.

Voller Aufregung war Inevera aufgewacht, hatte ihr gelbbraunes Kleid angezogen und ihr dichtes schwarzes Haar gebürstet. Es fiel in natürlichen Wellen und glänzte wie Seide, doch heute war der letzte Tag, an dem alle Welt es sehen durfte. Als Mädchen würde sie in den dama’ting-Pavillon hineingehen, aber wenn sie ihn wieder verließ, galt sie als junge Frau, und nur ihrem zukünftigen Ehemann war es erlaubt, ihre Haare zu betrachten. Die gelbbraune Kleidung würde man ihr wegnehmen und durch geziemende schwarze Gewänder ersetzen.

»Es mag zwar Tagundnachtgleiche sein, aber der Mond ist voll«, sagte Manvah. »Das ist zumindest ein gutes Omen.«

»Vielleicht holt mich ein Damaji in seinen Harem«, sinnierte Inevera. »Ich könnte in einem Palast leben, und meine Aussteuer wäre so groß, dass du nie wieder als Flechterin zu arbeiten bräuchtest.«

»Du kämst nie wieder ins Sonnenlicht hinaus«, murmelte Manvah so leise, dass die Umstehenden es nicht hören konnten, »könntest außer mit deinen Schwestergemahlinnen mit niemandem sprechen und müsstest einem Mann Vergnügen bereiten, der dem Alter nach dein Urgroßvater sein könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenigstens sind unsere Steuern bezahlt, und du hast zwei Männer als Fürsprecher, deshalb besteht kaum ein Risiko, dass du in den großen Harem verkauft wirst. Und selbst das wäre ein viel besseres Schicksal als für unfruchtbar erklärt und als nie’ting verstoßen zu werden.«

Nie’ting. Inevera schüttelte sich bei dem Gedanken. Mädchen, die sich als unfruchtbar erwiesen, wurde die schwarze Tracht verweigert, sie mussten für den Rest ihres Lebens gelbbraune Sachen tragen und durften ihr Gesicht ob ihrer Schande nicht verdecken.

»Vielleicht werde ich auserwählt, eine dama’ting zu sein«, spann Inevera weiter.

Manvah schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Sie wählen niemals eine aus.«

»Großmutter sagt, in dem Jahr, als sie geprüft wurde, hätte man ein Mädchen erwählt.«

»Das war vor mindestens fünfzig Jahren«, entgegnete Manvah, »und die verehrte Mutter deines Vaters, möge Everam sie segnen, neigt zur … Übertreibung.«

»Woher kommen dann all die nie’dama’ting?«, wunderte sich Inevera, auf die sich in ihrer Ausbildung befindlichen dama’ting anspielend, die ihre Gesichter nicht bedeckten, sich aber zum Zeichen ihres Verlöbnisses mit Everam in Weiß kleideten.

»Manche sagen, Everam selbst schwängert seine Bräute, und die nie’dama’ting seien seine Töchter«, antwortete Manvah. Inevera sah sie an und lupfte eine Augenbraue, als frage sie sich, ob ihre Mutter einen Scherz mache.

Manvah zuckte die Achseln. »Diese Erklärung ist genauso gut wie jede andere. Ich versichere dir, dass keine der Mütter auf dem Markt je erlebt hat, dass ein Mädchen auserwählt wurde, noch haben sie ein Gesicht wiedererkannt.«

»Mutter! Schwester!«

Ein strahlendes Lächeln erhellte Ineveras Züge, als sie Soli näher kommen sah, gefolgt von Cashiv. Die schwarze Tracht ihres Bruders war noch staubig vom Kampf im Labyrinth, und sein Schild, den er über eine Schulter geschlungen hatte, wies frische Dellen auf. Cashiv war so makellos und adrett wie immer.

Inevera rannte zu Soli und umarmte ihn. Lachend hob er sie mit einer Hand hoch und schwenkte sie durch die Luft. Inevera kreischte vor Vergnügen, ohne sich auch nur einen Augenblick lang zu fürchten. Nichts konnte sie ängstigen, wenn Soli in ihrer Nähe war. Sanft wie eine Feder setzte er sie wieder ab und ging dann zu ihrer Mutter, um sie zu umarmen.

»Was tust du hier?« fragte Manvah. »Ich dachte, du seist schon unterwegs zu dama Badens Palast.«

»Das bin ich auch«, erwiderte Soli, »aber ich konnte doch meine Schwester nicht zu ihrem Hannu Pash gehen lassen, ohne ihr Alas Segen zu wünschen.« Liebevoll zerstrubbelte er Ineveras Haar. Sie schlug nach seiner Hand, doch wie immer war er schneller und zog sie rechtzeitig zurück.

»Denkst du, Vater wird auch noch kommen, um mich zu segnen?«, fragte Inevera.

»Ah …« Soli zögerte. »Soviel ich weiß, schläft Vater immer noch hinten im Stand. Letzte Nacht schaffte er es nicht mal, zum Appell anzutreten, und ich sagte dem Exerziermeister, er litte an einem Bauchfieber … wieder einmal.« In einer hilflosen Geste zuckte Soli mit den Schultern, und Inevera senkte den Blick, weil er ihr die Enttäuschung nicht anmerken sollte.

Soli bückte sich und hob mit einem Finger behutsam ihr Kinn, damit sie einander in die Augen sehen konnten. »Ich weiß, dass Vater dir nur das Allerbeste wünscht, genau wie ich, er kann es nur nicht so zeigen.«

Inevera nickte. »Ich weiß.« Ein letztes Mal schlang sie die Arme um Solis Nacken, bevor er ging. »Danke.«

Cashiv sah Inevera an, als hätte er sie erst jetzt bemerkt. Er zeigte sein hübsches Lächeln und verneigte sich. »Gesegnet mögest du sein, Inevera vah’Kasaad, während deiner Verwandlung zur Frau. Ich wünsche dir einen guten Ehegemahl und viele Söhne, alle so ansehnlich wie dein Bruder.«

Inevera lächelte und spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, während die beiden Krieger davonschlenderten.

Endlich setzte sich die Schlange in Bewegung. Der Tag zog sich in die Länge, während sie in der prallen Sonne standen und jeweils nur ein Mädchen mit seiner Mutter eingelassen wurde. Manche kamen bereits nach wenigen Minuten wieder zurück – andere blieben fast eine volle Stunde lang drin. Alle trugen beim Herausgehen schwarze Kleidung, die meisten wirkten eingeschüchtert und erleichtert zugleich. Einige der Mädchen starrten wie versteinert ins Leere und rieben sich geistesabwesend die Arme, während ihre Mütter sie heimwärts bugsierten.

Als sie sich der Spitze der Schlange näherten, festigte Ineveras Mutter ihren Griff um die Schultern des Mädchens, und ihre Fingernägel gruben sich durch das Kleid in ihr Fleisch.

»Halte den Blick auf den Boden gerichtet, und sprich nur, wenn man dich dazu auffordert«, zischte Manvah. »Beantworte niemals eine Frage mit einer Gegenfrage, und gib keine Widerworte. Sprich mir nach: ›Ja, dama’ting.‹«

»Ja, dama’ting«, wiederholte Inevera.

»Merke dir diese Antwort gut«, drängte Manvah. »Wenn du eine dama’ting beleidigst, beleidigst du das Schicksal selbst.«

»Ja, Mutter.« Inevera schluckte hart und merkte, wie sie sich innerlich verkrampfte. Was ging in diesem Pavillon vor? Hatte ihre Mutter nicht dasselbe Ritual durchgemacht? Wovor hatte sie solche Angst?

Eine nie’dama’ting öffnete den Zelteingang, und das Mädchen, das vor Inevera an der Reihe gewesen war, kam heraus. Sie trug nun ein Kopftuch, doch es war von gelbbrauner Farbe, so wie das Kleid, das sie immer noch anhatte. Ihre Mutter tätschelte ihre Schultern und murmelte tröstende Worte, während sie weiterstolperten, doch beide weinten.

Die nie’dama’ting betrachtete die Szene mit heiterer Gelassenheit, dann wandte sie sich an Inevera und ihre Mutter. Sie war vielleicht dreizehn Jahre alt, groß und stämmig, mit vorspringenden Wangenknochen und einer Hakennase, die sie wie ein Raubvogel aussehen ließ. »Ich bin Melan.« Sie bedeutete ihnen, einzutreten. »Dama’ting Qeva wird euch jetzt empfangen.«

Inevera holte tief Luft, als sie und ihre Mutter die Schuhe abstreiften, Schutzsiegel in die Luft zeichneten und in den dama’ting-Pavillon hineingingen.

Sonnenlicht sickerte durch das in die Höhe strebende Dach aus Leinen und füllte das große Zelt mit strahlender Helligkeit. Alles hier war weiß, angefangen von den Zeltwänden bis zu den lackierten Möbeln und dem Fußboden aus dickem Leinen.

Umso bestürzender wirkte das Blut. Große rote und braune Flecken besudelten den Boden des Eingangsbereichs, und eine breite Spur aus schmutzigen roten Fußabdrücken führte vorbei an rechts und links angebrachten Trennwänden.

»Das ist Sharum-Blut«, ließ sich eine Stimme vernehmen. Erschrocken prallte Inevera zurück, denn erst jetzt bemerkte sie die Braut des Everam, die direkt vor ihnen stand, und deren weiße Robe beinahe völlig mit dem Hintergrund verschmolz. »Es stammt von den Verwundeten, die im Morgengrauen vom alagai’sharak hierhergebracht wurden. Jeden Tag wird der Leinenfußboden weggeschnitten und während des Aufrufs zum Gebet auf den Spitzen der Minarette des Sharik Hora verbrannt.«

Als wäre dies das Stichwort gewesen, hörte Inevera nun die Schmerzensschreie, die sie umgaben. Hinter den dicken Trennwänden wanden sich Männer in Qualen. Sie stellte sich vor, unter ihnen sei ihr Vater – oder schlimmer noch Soli –, und zuckte bei jedem Aufschrei und jedem Stöhnen zusammen.

»Everam, hol mich zu dir!«, brüllte ein Mann verzweifelt. »Ich will nicht als Krüppel weiterleben!«

»Gebt Acht, wohin ihr tretet«, mahnte dama’ting Qeva. »Eure Fußsohlen sind nicht würdig, das Blut zu berühren, das ehrenhafte Krieger für euch vergossen haben.«

Inevera und ihre Mutter schlängelten sich an den Blutflecken vorbei, um vor die dama’ting zu treten, die vom Kopf bis zu den Zehen in weiße Seide gehüllt war, die lediglich ihre Augen und Hände unbedeckt ließ. Qeva war groß gewachsen und kräftig wie Melan, besaß jedoch frauliche Rundungen.

»Wie lautet dein Name, Mädchen?« Die Stimme der Braut des Everam hatte einen tiefen, harten Klang.

»Inevera vah’Kasaad am’Damaj am’Kaji, dama’ting«, antwortete Inevera, sich tief verbeugend. »Benannt nach der Ersten Gemahlin des Kaji.« Manvahs Fingernägel krallten sich bei diesem Zusatz in ihre Schulter, und unwillkürlich schnappte sie nach Luft. Der dama’ting schien es nicht aufzufallen.

»Zweifellos glaubst du, dass dich das zu etwas Besonderem macht.« Qeva schnaubte durch die Nase. »Wenn Krasia einen Krieger für jedes nichtsnutzige Mädchen hätte, das diesen Namen trug, wäre der Sharak Ka zu Ende.«

»Ja, dama’ting«, bestätigte Inevera und verbeugte sich abermals, während ihre Mutter den Griff um ihre Schulter lockerte.

»Du bist hübsch«, bemerkte die dama’ting.

Inevera verneigte sich. »Danke, dama’ting.«

»Die Harems können immer ein hübsches Mädchen gebrauchen, wenn es zu nichts anderem taugt«, fuhr Qeva fort und sah dabei Manvah an. »Wer ist dein Ehegemahl, und welchen Beruf übst du aus?«

»Dal’Sharum Kasaad, dama’ting«, antwortete Manvah und verneigte sich. »Und ich stelle Flechtarbeiten aus Palmwedeln her.«

»Erste Gemahlin?«, hakte Qeva nach.

»Ich bin seine einzige Frau, dama’ting«, gestand Manvah.

»Männer denken, sie nehmen sich weitere Gemahlinnen, wenn sie erst Erfolg haben, Manvah vom Stamm der Kaji«, erklärte Qeva, »doch das Gegenteil trifft zu. Hast du versucht, Schwestergemahlinnen zu finden, wie der Evejah es gebietet, damit sie dir bei deiner Flechtarbeit helfen und deinem Gemahl weitere Kinder gebären können?«

»Ja, dama’ting. Viele Male sogar.« Manvah knirschte mit den Zähnen. »Ihre Väter … wollten der Verbindung nicht zustimmen.«

Die Braut des Everam gab einen brummenden Laut von sich. Die Antwort verriet ihr viel über Kasaad. »Bekommt das Mädchen eine Ausbildung?«

Manvah nickte. »Ja, dama’ting. Inevera geht bei mir in die Lehre. Sie ist eine sehr geschickte Flechterin, und ich habe ihr Rechnen und das Führen von Hauptbüchern beigebracht. Sie hat den Evejah einmal für jede der sieben Säulen des Himmels gelesen.«

Der Blick der dama’ting blieb unergründlich. »Folgt mir.« Sie drehte sich um und schritt tiefer in den Pavillon hinein. Das Blut auf dem Fußboden kümmerte sie nicht, ihre fließenden Seidengewänder glitten leicht darüber hinweg. Kein Tropfen blieb daran kleben, als hätte selbst das Blut sich diesen Frevel nicht angemaßt.

Melan eilte hinter ihr her; die nie’dama’ting wich den Blutflecken behände aus, und Inevera und ihre Mutter trotteten ihr nach. Das Innere des Pavillons war ein Labyrinth aus weißen Tuchwänden mit vielen überraschenden Windungen, die Inevera erst bemerkte, wenn sie sie erreicht hatten. Hier war der Boden frei von Blut, und selbst die Schreie der verwundeten Sharum drangen nur noch gedämpft zu ihnen herüber. Als sie dann um eine Querwand bogen, wechselten die Wände und die Decke plötzlich von Weiß zu Schwarz. Es war, als würde man vom Tag in die Nacht eintreten. Noch eine Biegung weiter wurde es so dunkel, dass ihre Mutter in den schwarzen dal’ting-Gewändern kaum auszumachen war, und sogar die weißgekleidete dama’ting und ihre Schülerin verschwammen zu geisterhaften Schemen.

Jählings blieb Qeva stehen; Melan trat vor sie und zog eine Falltür auf, die Inevera nicht einmal gesehen hatte. Im Inneren der Öffnung bemerkte sie andeutungsweise eine Steintreppe, die in eine noch tiefere Finsternis hinabführte. Die aus Stein gehauenen Stufen fühlten sich unter ihren bloßen Füßen kalt an, und als Melan hinter ihnen die Luke schloss, herrschte totale Dunkelheit. Langsam stiegen sie nach unten, wobei Inevera schreckliche Angst hatte, sie könnte ausrutschen und die Braut des Everam mit sich die Stufen hinunterreißen.

Zum Glück war die Treppe nur kurz, und tatsächlich strauchelte Inevera vor lauter Überraschung, als sie unverhofft den Absatz erreichten. Sie fing sich jedoch schnell, und niemand schien ihr Missgeschick zu bemerken.

In Qevas Hand erschien ein rotes Licht und verbreitete einen unheimlichen, bösen Schimmer, der es ihnen gestattete, einander zu sehen, der jedoch wenig dazu beitrug, die beklemmende Düsternis rings um sie her zu mildern. Die dama’ting führte sie an einer Reihe von dunklen Zellen entlang, die in den rohen Fels getrieben waren. Zu beiden Seiten waren Siegel in die Wände gemeißelt.

»Du wartest hier mit Melan«, beschied Qeva Manvah und forderte Inevera auf, eine der Zellen zu betreten. Das Mädchen fuhr zusammen, als die schwere Tür sich hinter ihnen schloss.

In einer Ecke des Raums befand sich ein steinernes Podest, und dort legte die dama’ting das glühende Ding ab. Es sah aus wie ein Klumpen Kohle, in den glimmende Siegel eingekerbt waren, doch selbst Inevera wusste es besser. Es handelte sich um alagai hora.

Dämonenknochen.

Qeva wandte sich wieder ihr zu, und Inevera registrierte das Aufblitzen einer gebogenen Klinge in ihrer Hand. In dem roten Licht sah das Messer aus, als sei es mit Blut befleckt.

Kreischend wich Inevera zurück, doch die Zelle war winzig, und bald spürte sie, wie sie mit dem Rücken gegen die Steinwand stieß. Die dama’ting hielt die Klinge dicht vor Ineveras Nase, und das Mädchen schielte bei dem Versuch, die Schneide zu sehen.

»Fürchtest du dich vor dem Messer?«, fragte die dama’ting.

»Ja, dama’ting«, platzte Inevera mit brechender Stimme heraus.

»Schließ die Augen«, befahl Qeva. Inevera schlotterte vor Angst, doch sie gehorchte; das Herz hämmert laut in ihrer Brust, während sie darauf wartete, dass sich die Klinge in ihr Fleisch bohrte.

Doch der Messerstich blieb aus. »Stelle dir eine Palme vor, Tochter einer Flechterin«, sagte Qeva. Inevera begriff nicht ganz, was die dama’ting von ihr wollte, aber sie nickte. Es fiel ihr leicht, dieses Bild heraufzubeschwören, denn sie kletterte jeden Tag auf Palmen, turnte mühelos die Stämme hinauf, um Palmwedel für die Flechtarbeit zu ernten.

»Fürchtet eine Palme den Wind?«, fragte die dama’ting.

»Nein, dama’ting«, erwiderte Inevera.

»Was macht sie?«

»Sie biegt sich, dama’ting.«

»Der Evejah lehrt uns, dass Angst und Schmerzen nichts weiter sind als Wind, Inevera, Manvahs Tochter. Lass diese Gefühle einfach an dir vorbeiwehen.«

»Ja, dama’ting«, antwortete Inevera.

»Wiederhole es dreimal«, befahl Qeva.

»Angst und Schmerzen sind nur Wind«, sagte Inevera, tief durchatmend. »Angst und Schmerzen sind nur Wind. Angst und Schmerzen sind nur Wind.«

»Öffne die Augen und knie nieder«, fuhr Qeva fort. Nachdem Inevera der Aufforderung gefolgt war, fügte sie hinzu: »Strecke deinen Arm aus.« Als Inevera ihren Arm hob, hatte sie das Gefühl, er gehöre gar nicht zu ihrem Körper, aber er zitterte nicht. Die Braut des Everam streifte Ineveras Ärmel hoch, schnitt in den Unterarm und zog eine hellrot blutende Linie.

Inevera sog scharf den Atem ein, aber weder zuckte sie zurück noch entfuhr ihr ein Schrei. Angst und Schmerzen sind nur Wind.

Die dama’ting hob ihren Schleier an und leckte die Klinge ab, um Ineveras Blut zu schmecken. Sie steckte das Messer in ein Futteral an ihrer Taille, dann streckte sie ihre kräftige Hand aus und quetschte die Schnittwunde, bis Blut auf eine Handvoll schwarzer, mit Siegeln versehener Würfel tropfte.

Inevera biss die Zähne zusammen. Angst und Schmerzen sind nur Wind.

Als das Blut auf die Würfel traf, begannen diese zu glühen, und Inevera begriff sich, dass auch diese aus alagai hora bestanden. Ihr Blut kam mit Dämonenknochen in Berührung. Der Gedanke entsetzte sie.

Die dama’ting trat einen Schritt zurück, stimmte einen leisen Sprechgesang an und schüttelte die Würfel, die mit jedem Moment, der verstrich, intensiver glühten.

»Everam, Spender von Licht und Leben, ich flehe dich an, lass deine geringe Dienerin wissen, was da kommen wird. Erzähle mir von Inevera, Tochter des Kasaad, aus der Kaji-Blutlinie von Damaj.«

Damit warf sie die Würfel vor Inevera auf den Boden. Ihr Licht explodierte in einem Blitz, der das Mädchen blinzeln ließ, dann schwächte es sich zu einem stumpfen Pulsieren ab, während die glühenden Symbole auf dem Boden die Schicksalsfäden bloßlegten, aus denen ihre Zukunft gewebt war.

Die dama’ting sagte nichts. Mit schmalen Augen starrte sie eine geraume Zeit lang die Symbole an. Inevera hätte nicht sagen können, wie lange die Betrachtung dauerte, aber sie schwankte, als ihre Beinmuskeln, die nicht daran gewöhnt waren, so lange so knien, allmählich unter ihr nachgaben.

Qeva sah sie an, als sie das Wanken bemerkte. »Setz dich auf deine Fersen und halt still!« Sie stand auf und bewegte sich in der engen Zelle im Kreis, um das Muster der Würfel aus jedem Blickwinkel zu begutachten. Langsam verblasste das Glühen, doch die dama’ting grübelte immer noch.

Trotz der Ermahnung, sich wie eine Palme im Wind zu verhalten, wuchs Ineveras Nervosität. Ihre Muskeln schmerzen vor Anspannung, und mit jeder Sekunde, die verging, verdoppelte sich ihre Angst. Was sah die Braut des Everam? Sollte sie ihrer Mutter weggenommen und in einen Harem verkauft werden? War sie vielleicht unfruchtbar?

Endlich fasste Qeva das Mädchen ins Auge. »Wenn du die Würfel in irgendeiner Weise berührst, ist das dein Tod.« Nach dieser Warnung verließ sie den Raum und schnauzte Befehle. Das Geräusch rennender Schritte erklang, als Melan loshetzte.

Einen Moment später betrat Manvah die Zelle, machte vorsichtig einen Bogen um die Würfel und kniete hinter Inevera nieder. »Was ist passiert?« flüsterte sie.

Inevera schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Die dama’ting starrte die Würfel an, als sei sie sich nicht sicher, was sie verkünden.«

»Oder die Prophezeiung gefiel ihr nicht«, murmelte Manvah.

»Was geschieht jetzt?«, fragte Inevera und spürte die Kälte, die ihr über das Gesicht kroch.

»Sie holen Damaji’ting Kenevah«, antwortete Manvah, worauf Ineverah erschrocken nach Luft schnappte. »Sie wird das letzte Wort sprechen. Und jetzt bete.«

Inevera erschauerte, als sie den Kopf senkte. Sie hatte bereits eine fürchterliche Angst vor der dama’ting. Der bloße Gedanke, dass deren Oberste Gebieterin kommen würde, um sie zu prüfen …

Bitte, Everam, flehte sie, lass mich fruchtbar sein und dem Stamm der Kaji Söhne gebären. Meine Familie könnte die Schande nicht ertragen, wenn ich kha’ting wäre. Erfülle mir diesen einen Wunsch, und ich werde auf ewig deine Dienerin sein.

Lange knieten sie in dem trüben roten Licht und beteten.

»Mutter?«, fragte Inevera schließlich.

»Ja?«

Inevera würgte an dem Knoten in ihrer Kehle. »Wirst du mich auch noch liebhaben, wenn ich unfruchtbar bin?« Ihre Stimme versagte. Sie wollte nicht weinen, aber sie ertappte sich dabei, wie sie Tränen fortblinzelte.

Im nächsten Moment schloss Manvah sie in die Arme. »Du bist meine Tochter. Ich würde dich selbst dann noch lieben, wenn du die Sonne auslöschen würdest.«

Nachdem sie endlos lange gewartet hatten, kam Qeva zurück, gefolgt von einer anderen Braut des Everam – diese war älter, magerer, und machte einen klugen, scharfsinnigen Eindruck. Sie trug die weiße Tracht der dama’ting, ihr Schleier und die Kopfbedeckung hingegen bestanden aus schwarzer Seide. Damaji’ting Kenevah, die mächtigste Frau in ganz Krasia.

Die Damaji’ting blickte auf die beiden Frauen, die sich eng umschlungen hielten. Hastig fuhren Inevera und ihre Mutter auseinander, wischten sich die Augen und fielen wieder auf die Knie. Ohne ein Wort zu sagen, begab sich die Damaji’ting zu den Würfeln. Viele Minuten lang studierte sie das Muster.

Schließlich knurrte Kenevah: »Nimm sie mit.«

Inevera stieß einen leisen Schrei aus, als Qeva zu ihr marschierte, sie beim Arm packte und sie auf die Füße riss. Verzweifelt blickte sie ihre Mutter an und sah, dass sich Manvahs Augen vor Furcht weiteten. »Mutter!«

Manvah warf sich bäuchlings auf den Boden und umklammerte den Saum von Qevas weißer Robe, als die dama’ting Inevera wegzerrte. »Bitte, dama’ting«, bettelte sie. »Meine Tochter …«

»Deine Tochter geht dich nichts mehr an«, fiel Kenevah ihr ins Wort, und Qeva trat nach ihr, damit sie den Saum ihres Gewandes losließ. »Sie gehört jetzt Everam.«

»Es muss sich um einen Irrtum handeln«, stammelte Inevera benommen, als Qeva sie mit festem Griff die Straße entlangführte. Sie kam sich eher vor, als würde sie zum Auspeitschen an einen Schandpfahl geschleift, anstatt in einen Palast. Damaji’ting Kenevah und Melan, die nie’dama’ting-Schülerin, begleiteten sie.

»Die Würfel irren sich nie«, erwiderte Kenevah. »Und du solltest dich glücklich schätzen. Du, die Tochter einer Korbflechterin und eines unbedeutenden Sharum, wirst Everam anverlobt. Begreifst du nicht, welch große Ehre deiner Familie heute widerfährt?«

»Warum durfte ich mich dann nicht von ihr verabschieden? Nicht einmal von meiner Mutter?« Beantworte niemals eine Frage mit einer Gegenfrage, hatte Manvah ihr eingeschärft, aber im Augenblick war Inevera alles egal.

»Ein glatter Bruch ist das Beste«, meinte Kenevah. »Deine Familie steht jetzt tief unter dir. Sie ist unwichtig. Während deiner Ausbildung ist es dir nicht erlaubt, sie zu sehen, und wenn du so weit bist, dich der Prüfung zu unterziehen, ob du würdig bist, die weiße Tracht anzulegen, wirst du gar keine Sehnsucht mehr nach deinen Leuten haben.«

Zu einer derart albernen Bemerkung fiel Inevera nichts ein. Sie sollte nicht mehr den Wunsch verspüren, ihre Mutter zu sehen? Oder ihren Bruder? Undenkbar. Sogar ihren Vater würde sie vermissen, obwohl Kasaad ihre Abwesenheit vermutlich gar nicht bemerken würde.

Bald kam der Kaji-Dama’ting-Palast in Sicht. Er stand selbst den grandiosesten Prachtbauten der mächtigsten Damaji in nichts nach und war von einer zwanzig Fuß hohen, mit Siegeln versehenen Mauer umgeben, die sowohl Schutz bot vor Feinden, die bei Tageslicht angriffen, als auch vor alagai. Über der Mauerkrone konnte sie die hohen Türme und die große Kuppel des Palastes sehen, aber Inevera hatte niemals einen Blick hinter die Mauern geworfen. Niemand außer den dama’ting und ihren Schülerinnen durchschritt jemals das wuchtige Tor. Kein Mann, nicht einmal der Andrah höchstselbst, durfte einen Fuß auf diesen geweihten Boden setzen.

Jedenfalls hatte man Inevera dies erzählt, doch als sich die Flügel des Portals – die sich scheinbar von selbst geöffnet hatten – wieder hinter ihnen schlossen, sah sie zwei muskulöse Männer, welche sie zuschoben. Bekleidet waren sie lediglich mit weißen Bidos und Sandalen, und ihr Haar und ihre Körper glänzten vor Öl. Beide trugen goldene Fesseln um die Knöchel und Handgelenke, aber Inevera sah keine Ketten, die die Fuß- und Handschellen miteinander verbanden.

»Ich dachte, Männer seien aus dem Palast ausgeschlossen«, bemerkte Inevera, »um die Keuschheit der dama’ting nicht zu gefährden.«

Die Bräute des Everam gaben ein bellendes Lachen von sich, als hätten sie einen umwerfend komischen Witz gehört. Sogar Melan gluckste in sich hinein.

»Das stimmt nur zur Hälfte«, klärte Kenevah sie auf. »Die Eunuchen haben keine Hoden, und deshalb gelten sie in Everams Augen nicht als Männer.«

»Sie sind also … push’ting?« fragte Inevera.

Kenevah lachte gackernd. »Ihre Hoden sind zwar weg, aber trotzdem funktionieren ihre Speere gut genug, um die Arbeit eines richtigen Mannes zu leisten.«

Inevera lächelte gequält, als sie die breite Marmortreppe hochstiegen; die Stufen waren glattpoliert und glänzten in einem makellosen Weiß. Bemüht, sich so klein und unauffällig wie möglich zu machen, drückte sie die Arme eng an ihren Körper, während andere gut aussehende, athletische Sklaven in goldenen Fesseln die prächtige Eingangstür öffneten. Die Männer verneigten sich, Qeva streckte die Hand nach einem der Burschen aus und streichelte mit dem Finger die Unterseite seines Kinns.

»Es war ein anstrengender Tag, Khavel. Komm in einer Stunde mit erhitzten Steinen und Duftöl in meine Gemächer, um die Verspannungen wegzumassieren.« Der Sklave verbeugte sich tief, sagte jedoch nichts.

»Dürfen sie nicht sprechen?«, fragte Inevera.

»Sie können nicht«, erklärte Kenevah. »Als man ihre Hoden entfernte, schnitt man ihnen auch die Zunge heraus, und sie kennen keine Schriftzeichen. Sie wären nie imstande, von den Wunderdingen zu berichten, die sie im Dama’ting-Palast sehen.«

In der Tat strotzte der Palast vor einem verschwenderischen Luxus, der Ineveras kühnste Fantasien übertraf. Alles – die Säulen, die hohe Kuppeldecke, die Fußböden, Wände und Treppen – bestand aus vollkommenem weißem Marmor, der auf Hochglanz poliert war. Dicke gewebte Teppiche, die sich unter ihren bloßen Füßen erstaunlich weich anfühlten, lagen in den Hallen verteilt und füllten sie mit bunten Farben. An den Wänden hingen Gobelins – Meisterstücke der Handwerkskunst, welche die Geschichten des Evejah zum Leben erweckten. Wunderschöne glasierte Keramiken standen auf marmornen Sockeln, zusammen mit Kunstgegenständen aus Kristall, Gold und poliertem Silber, angefangen von zierlichen Skulpturen und Filigranarbeiten bis hin zu schweren Kelchen und Schüsseln. Im Basar hätte man solche Wertgegenstände schwer bewacht – jedes einzelne Teil hätte man für eine Summe verkaufen können, von der eine Familie zehn Jahre lang leben könnte –, doch wer in ganz Krasia hätte es gewagt, die dama’ting zu bestehlen?

In den Korridoren begegneten ihnen andere Bräute, entweder einzeln oder in schwatzenden Gruppen. Alle trugen die gleichen Gewänder aus fließender weißer Seide, mit übergeschlagenen Kapuzen und Schleiern vor dem Gesicht – selbst hier drin, wo kein Mann sie sehen konnte. Wenn Kenevah an ihnen vorbeiging, blieben sie stehen und verneigten sich tief, und obwohl sie sich bemühten, es zu vertuschen, musterte jede von ihnen Inevera mit neugierigen und nicht gerade freundlichen Blicken.

Mehr als eine der Bräute, die ihnen entgegenkamen, war hochschwanger. Es war schockierend, dama’ting in diesem Zustand zu sehen, vor allen Dingen, wenn die einzigen Männer, die sie in ihrer Nähe duldeten, kastriert waren; aber Inevera verbarg ihre Verblüffung, indem sie eine undurchdringliche Miene aufsetzte wie jemand, der sich im Basar aufs Feilschen einstellt. Eine Frage hätte Kenevahs Geduld vielleicht überstrapaziert, und wenn sie hier leben musste, würde sie die Antwort schon noch früh genug erfahren.

Der Palast besaß sieben Flügel, einen für jede Säule im Himmel, wobei der mittlere Komplex gen Anochs Sonne wies, der letzten Ruhestätte des Kaji. Dies hier war der persönliche Trakt der Damaji’ting, und man führte Inevera in das prächtig ausgestattete Empfangszimmer der Ersten Braut. Qeva und Melan erhielten die Anweisung, draußen zu warten.

»Setz dich«, befahl die Damaji’ting und deutete auf ein paar mit Samt bezogene Sofas, die vor einem glänzend polierten Schreibtisch aufgestellt waren. Schüchtern nahm Inevera Platz; in diesem riesigen Arbeitszimmer kam sie sich klein und unbedeutend vor. Kenevah setzte sich hinter den Schreibtisch, legte die Fingerspitzen aneinander und starrte Inevera an, die sich unter dem gnadenlosen Blick krümmte.

»Qeva sagte mir, dass du über deine Namensvetterin im Bilde bist«, begann Kenevah in barschem Ton, und Inevera fragte sich, ob die Damaji’ting sich vielleicht über sie lustig machte. »Erzähle mir, was du über sie weißt.«

»Inevera war die Tochter des Damaj, des engsten Freundes und Ratgebers Kajis«, antwortete Inevera. »Im Evejah steht, sie sei so schön gewesen, dass Kaji sich auf den ersten Blick in sie verliebte und behauptete, es sei Everams Wille, sie unter all seinen Frauen zur Ersten Gemahlin zu erheben.«

Kenevah schnaubte. »Die Damajah war mehr als das, Mädchen. Viel mehr. Wenn sie mit Kaji in den Kissen lag, flüsterte sie Worte der Weisheit in sein Ohr und verschaffte ihm dadurch eine unerhörte Machtfülle. Es heißt, sie hätte mit Everams Stimme gesprochen, und deshalb bedeutet dieser Name ›Everams Wille‹. Inevera war auch die erste dama’ting«, fuhr Kenevah fort. »Sie lehrte uns die Kunst des Heilens, das Wissen um Gifte und die hora-Magie. Sie webte Kajis Umhang, der ihn unsichtbar machte, und schnitt die Siegel in seinen mächtigen Speer und in seine Krone.«

Kenevah fasste Inevera scharf ins Auge. »Und sie wird zurückkehren, wenn der Sharak Ka naht, um den nächsten Erlöser zu finden.«

Inevera rang nach Luft, aber Kenevah maß sie nur mit einem nachsichtigen Blick. »Ich habe hundertmal erlebt, wie Mädchen mit deinem Namen der Atem stockt, wenn sie das hören, aber keine von ihnen hat je einen Erlöser entdeckt. Wie viele Ineveras gibt es allein in der Damaj-Sippe? Zwanzig?«

Inevera nickte, und Kenevah brummte zufrieden. Aus ihrem Schreibpult zog sie ein dickes Buch mit einem abgewetzten Lederrücken. Von der früheren Blattgoldverzierung waren nur noch ein paar matte Flecken übrig.

»Der Evejah’ting«, sagte Kenevah. »Du wirst dieses Buch lesen.«

Inevera verneigte sich. »Natürlich, Damaji’ting, obwohl ich den Heiligen Text schon viele Male gelesen habe.«

Kenevah schüttelte den Kopf. »Du hast den Evejah gelesen, Kajis Version, die im Lauf der Jahre obendrein noch geändert wurde, um den Zwecken der dama zu dienen. Aber der Evejah ist nur die halbe Geschichte. Der Evejah’ting, sein Begleitbuch, wurde von der Damajah selbst geschrieben und enthält ihre persönlichen Weisheiten und den Bericht über Kajis Aufstieg. Du wirst jede Seite auswendig lernen.«

Inevera nahm das Buch in die Hand. Die Seiten waren unglaublich dünn und weich, aber der Evejah’ting war genauso dick wie der Evejah, den Manvah sie zu lesen gelehrt hatte. Sie drückte das Buch fest an ihre Brust, als wolle sie es vor Dieben schützen.

Die Damaji’ting reichte ihr einen prallen Beutel aus schwarzem Samt. Als Inevera ihn entgegennahm, klapperte etwas darin.

»Dein hora-Beutel«, erklärte Kenevah.

Inevera wurde blass. »Er enthält Dämonenknochen?«

Kenevah schüttelte den Kopf. »Es wird mehrere Monate dauern, bis du ausreichend geschult bist, um echte hora auch nur zu berühren, und dann werden wahrscheinlich noch ein paar Jahre vergehen, ehe man dir erlaubt, die Kammer der Schatten zu betreten und deine Würfel zu schnitzen.«