Die Stimmen des Abgrunds - Peter V. Brett - E-Book
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Die Stimmen des Abgrunds E-Book

Peter V. Brett

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Beschreibung

Nach Das Leuchten der Magie ist Die Stimmen des Abgrunds der packende zweite Teil des fünften Bandes von Peter V. Bretts Dämonensaga, der im Original unter dem Titel The Core erschienen ist. Der letzte Krieg zwischen Menschen und Dämonen steht unmittelbar bevor, und die einzige Hoffnung der Menschheit ruht nun auf Arlen, seiner Frau Renna und seinem Rivalen Jardir. Denn nur, wenn es ihnen gelingt, den Willen eines der mächtigen Dämonenprinzen zu brechen und ihn zu zwingen, sie in den Abgrund zu führen, werden sie die dort herangezüchtete Dämonenarmee aufhalten können. Aber noch ist der Sieg gegen die Dämonen nur ein Traum …

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Seitenzahl: 760

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Das Buch

Immer tiefer hinab führt der Weg von Arlen, dem Tätowierten Mann, und Jardir, seinem Kampfgefährten. Beide werden von den Völkern der Menschen bereits als Erlöser verehrt, doch ihre größte Schicksalsprobe steht noch bevor. Jede Nacht steigen Dämonen aus der Tiefe der Erde empor und machen Jagd auf alle Lebewesen. Nur die Siegel, uralte magische Symbole, bieten den Menschen Schutz. Seit Arlen und Jardir jedoch die verschollen geglaubten Kampfsiegel wiederentdeckt haben, keimt eine neue Hoffnung in den Herzen der Menschen. Könnte es sein, dass die Dämonen ein für alle Mal besiegt werden können? Im Angesicht der dunkelsten Bedrohung seit Jahrhunderten, nachdem die freien Städte mit blutigem Krieg überzogen wurden und nun auch noch ein Dämonenschwarm in der Tiefe lauert, bereit für den letzten großen Angriff auf alle Menschen – jetzt müssen sich Arlen und Jardir ihrer großen Schicksalsprüfung stellen. Und so treten sie gemeinsam mit Arlens Frau Renna und Jardirs treuesten Gefährten den einsamen Weg in den Abgrund an, nicht ahnend, welches Grauen sie dort erwartet …

Die Stimmen des Abgrunds ist nach Das Leuchten der Magie der grandiose zweite Teil von The Core, dem fünften Band und Höhepunkt von Peter V. Bretts Dämonensaga:

Erster Band: Das Lied der Dunkelheit

Zweiter Band: Das Flüstern der Nacht

Dritter Band: Die Flammen der Dämmerung

Vierter Band: Der Thron der Finsternis

Fünfter Band: Das Leuchten der Magie

Sechster Band: Die Stimmen des Abgrunds

Der große Basar

Das Erbe des Kuriers

Der Autor

Peter V. Brett, 1973 geboren, studierte Englische Literatur und Kunstgeschichte. Danach arbeitete er zehn Jahre als Lektor für medizinische Fachliteratur, bevor er sich ganz dem Schreiben von fantastischer Literatur widmete. Mit seiner Dämonensaga stürmt er regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und hat sich weltweit ein begeistertes Publikum erschrieben. Der Autor lebt in Brooklyn, New York.

PETER V. BRETT

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

THE CORE (Part 2)

Deutsche Übersetzung von Ingrid Herrmann-Nytko

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Charlotte Lungstrass

Copyright © 2017 by Peter V. Brett

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Illustrationen: Lauren Cannon

Karte: Andreas Hancock

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,unter Verwendung von shutterstock(Amir Bajrich, Slava Gerj)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-22441-7V005

@HeyneFantasySF

Für Sirena Lilith,die dabei ist,mein Leben von Grund aufzu verändern.

Inhalt

1  Der Rachen des Abgrunds

2  Hinab in die Finsternis

3  Bettgenossen

4  Araine erzählt

5  Wölfe

6  Everams Brunnen

7  Hardens Hain

8  Schneesturm und Erdbeben

9  Die Brut des Bösen

10  Alas Speer

11  Getrennt

12  Rauch und Nebel

13  Jessas Mädchen

14  Sharak Ka

15  Pfeifers Geist

16  Alamen fae

17  Licht der Berge

18  Der Stock

19  Der Horc

20  In der Finsternis geboren

21  Der Pakt

Grimoire der Siege

Danksagung

1

Der Rachen des Abgrunds

334 NR

Geliebte.«

Der Mond war nur noch eine schmale, silberne Sichel, als Jardir am nächtlichen Himmel kreiste. Er sah die Scharen von Dämonen, die sich unten am Boden sammelten und in der magischen Sicht, die ihm seine Krone verlieh, wie Fackeln glühten.

»Ich bin hier, Geliebter«, antwortete Inevera beinahe sofort.

»Wir nähern uns der Pforte zum Abgrund«, sagte Jardir. »Hier leben kaum noch Menschen, aber es wimmelt von alagai. Die allgegenwärtige Magie wird stärker. Vielleicht ist dies unser letztes Gespräch, und danach kann ich dich nicht einmal mehr mittels der Kraft der Krone des Kaji erreichen.«

Tief unter ihm begleiteten der Par’chin und seine Jiwah Ka, deren Tarnsiegel auf ihrer Haut sanft schimmerten, den Karren, in dem sie Alagai Ka eingesperrt hatten. Shanvah saß auf dem Kutschbock. Der kleine Wagenkasten bestand aus Stahl, in den der Par’chin Siegel eingeritzt hatte. Diese Symbole sorgten dafür, dass das darin gefangene Böse nicht entweichen konnte, gleichzeitig verbargen sie es vor dem Bösen, das draußen lauerte. Neben Shanvah hockte ihr Vater angekettet auf der Bank und stierte mit blicklosen Augen in die Ferne.

Zusätzlich zu diesen Schutzvorkehrungen hüllte Shanvahs Stimme die Gruppe ein, verstärkt durch das Halsband, das ihre Speerschwester ihr gegeben hatte. Sie sang einen Vers aus dem Lied vom Erlöschen des Mondes, den sie ständig wiederholte, eine wunderschöne, ruhige Melodie, die sogar Jardir zu verzaubern drohte.

Von oben konnte Jardir die Siegel sehen, die seine Gefährten beschützten. Mit seinem magischen Blick nahm er sie als helles Funkeln wahr, wobei ihre Macht nur so weit reichte, wie ihr Leuchten die Dunkelheit durchdrang. Die Magie, die von Shanvahs Gesang ausging, war feinsinniger, doch an ihrer Wirkung bestand kein Zweifel. Wenn die alagai in ihren Bannkreis gerieten, veränderten sich ihre Bewegungen. Die Musik lenkte sie von der Gruppe fort, ohne ihren Argwohn zu erregen.

»Meine Nichte hat sich zu einer starken Persönlichkeit entwickelt«, sagte Jardir. »Everams Plan ist in der Tat unergründlich. Es gibt Speere des Erlösers, die zwanzig Jahre lang an meiner Seite gekämpft haben. Ich habe so viele Söhne, dass ich nicht einmal alle kenne. Und dennoch ist meine Nichte, kaum alt genug für eine Heirat, dazu ausersehen, mit mir in den Rachen des Abgrunds hinabzusteigen und die Bürde des Sharak Ka zu tragen.«

»Verzeih mir, Geliebter, dass ich mich gelegentlich abfällig über deine Schwestern geäußert habe«, sagt Inevera. »Sie haben drei der größten Krieger geboren, die Ala je gesehen hat.«

»Gebe Everam, dass ihre Anzahl ausreicht, um Ala zu retten.«

»Hast du Schlaf gefunden?«, fragte Inevera.

»Als die Sonne hoch stand, legten wir eine einstündige Rast ein.«

»Das ist zu wenig, mein Gemahl«, sagte Inevera. »Magie vermag den Körper zu stärken, doch der menschliche Geist wird durch Träume erfrischt. Wer nicht träumt, läuft Gefahr, wahnsinnig zu werden.«

»Dann werde ich beten, dass wir auch ohne ausreichend Träume unsere geistige Gesundheit behalten, bis wir unsere Pflicht erfüllt haben«, sagte Jardir. »Was danach geschieht, spielt keine Rolle.«

»Und ob es eine Rolle spielt!«, widersprach Inevera.

»Am morgigen Tag werden wir schlafen«, versprach Jardir. »In der kommenden Nacht erlischt der Mond. Dann lassen wir Alagai Ka frei, damit er uns den Weg zeigt, der in die Finsternis hinabführt. Ich fürchte, danach gibt es für uns keinen Schlaf mehr, bis wir entweder gesiegt haben oder tot sind.«

»Wo befindet ihr euch?«, wollte Inevera wissen.

»Nördlich des Berges, auf dem der Par’chin und ich den Domin Sharum ausfochten. Die Macht der Magie ist hier ungeheuer groß, Geliebte. Jetzt begreife ich, wieso es den Par’chin in diese Gegend gezogen hat.«

»Deine Stimme wird schwächer«, sagte Inevera. »Öffne mir dein Herz ein letztes Mal. Welche Gefühle bewegen dich, während ihr euch dem Rachen des Abgrunds nähert?«

»Ich fühle in mir Inbrunst. Tatendrang.« Jardir zögerte. Was er sagte, stimmte, aber es war nicht die volle Wahrheit. »Angst. Ich habe Angst, ich könnte dich enttäuschen. Ich könnte Ala enttäuschen. Ich habe Angst, ich könnte versagen, und Everam könnte mich in der Stunde meiner höchsten Not im Stich lassen.«

»Diese Ängste quälen Everams Kinder immer, und solange es Nie gibt, wird sich nichts daran ändern«, sagte Inevera. »Und der Erlöser wird von ihnen am meisten geplagt. Aber ich habe dich dein Leben lang beobachtet, Sohn des Hoshkamin. Wenn du die Bürde des Sharak Ka nicht zu tragen vermagst, dann ist sie zu schwer für einen Menschen. Dann ist sie einfach untragbar.«

Jardir schluckte. »Ich danke dir, Geliebte.«

»Danke mir, indem du …« Die Stimme brach ab, und dann hörte Jardir nur noch den Wind. Er hielt mitten in seinem Flug inne und schwebte dann noch einmal zurück, um die Verbindung wiederherzustellen, aber es gelang ihm nicht. Um Erfolg zu haben, hätte er sich weiter von seinen Reisegefährten entfernen müssen, als ihm ratsam schien.

Unten lag der Vater der Dämonen dreifach gefesselt in seinem rollenden Kerker. Er war in seinem stofflichen, mit Siegeln versehenen Körper gefangen, mit silbernen, versiegelten Ketten gebunden und umgeben von Stahlwänden, die Siegel trugen.

Der Weg ist weit, und ihr seid Sterbliche, hatte Alagai Ka gesagt. Die Zeit wird kommen, da lässt eure Wachsamkeit nach, und dann bin ich frei.

Jardir wollte alles daransetzen, um dies zu verhindern. Zweimal hatten sie gegen Alagai Ka gekämpft, und beide Male hätte Nies Prinz sie beinahe besiegt. Sollte es ihm gelingen, Unterstützung herbeizurufen, wenn sie ihn freiließen, käme es zu einer Katastrophe. In dieser Gegend strolchten genug alagai herum, um selbst Everams Auserwählte zu vernichten.

»Lebe wohl, Geliebte«, wisperte er in den Wind, als er zurückflog, in der Absicht, den Karren mit seiner bösartigen Fracht zu bewachen.

Sie folgten uralten Straßen, die sie auf den staubigen Landkarten des Par’chin entdeckten. Sie durchquerten weite, baumlose Grassteppen und dichte Wälder, nahmen Abkürzungen, um Weilern und Flüchtlingslagern auszuweichen, und gelangten schließlich in die bewaldeten Vorberge. Schon bald war von der Straße nichts mehr zu sehen, im Laufe der Jahrhunderte war sie unter dichtem Pflanzenbewuchs verschwunden. Es gab Wege, die breit genug waren für den Karren, aber auch nur knapp.

Aus der Höhe entdeckte Jardir etwas Seltsames. Vor ihnen tauchte die Straße wieder auf. Allem Anschein nach war sie regelmäßig und obendrein erst vor Kurzem benutzt worden. Er flog höher und entdeckte den Grund dafür.

Mit Hilfe seiner Krone sprach er zu seinen Gefährten am Boden. »Vor uns liegt ein großes Dorf. Gebt gut auf den Vater der Dämonen acht, während ich Nachforschungen anstelle.«

»Ay, ich denke, das schaffen wir«, sagte der Par’chin.

Jardir sog Magie aus dem Speer und flog schnell auf die Ansiedlung in der Ferne zu. Nachdem er sich viele Wochen lang nur im Kriechtempo hatte bewegen können, genoss er es, seine Kräfte anzustrengen.

Das Dorf, das sich in einem Gehölz verbarg, kam in Sicht. Jardir hielt so abrupt inne, dass sein ganzer Körper erschüttert wurde.

Ein Kreis aus uralten Steinobelisken umgab das Dorf. Jeder dieser Steine war zwanzig Fuß hoch und wog mehrere Tonnen. Die Siegel auf den schartigen Oberflächen waren immer noch stark genug, um die alagai fernzuhalten.

Doch am meisten verblüffte Jardir, dass die Obelisken sowie das Dorf, das sie umringten, nach krasianischer Art angelegt waren. Bauweise und Schriftzüge waren jedoch nicht zeitgemäß, sondern erinnerten eher an die Ruinen von Anochs Sonne. Was hatte einen verlorenen Stamm seines Volkes so weit nach Norden verschlagen?

Und was war aus diesen Menschen geworden?

Shanvah sank auf die Knie, als sie nach einer Durchsuchung der Häuser zurückkehrte. »Es gibt keinerlei Anzeichen für einen Kampf, Erlöser. Wie es aussieht, haben die Dorfbewohner in kürzester Zeit ihre Habe zusammengerafft und die Siedlung aus freien Stücken verlassen.«

Der Par’chin runzelte die Stirn. »Das kommt recht häufig vor, seit euer Volk Speere schwingend aus der Wüste kam.«

Jardir überhörte die Stichelei. »Aber so weit in den Norden sind wir nicht vorgedrungen, Par’chin. Ich bezweifle, dass man hier überhaupt von meiner Ankunft gehört hat.«

»Erlöser«, sagte Shanvah. »Könnten dies die Überbleibsel von Anoch Dahl sein?«

Renna legte den Kopf schräg. »Die Stadt … der Dunkelheit?«

»Ganz recht«, bestätigte Jardir. »Kaji erbaute Anoch Dahl als Stützpunkt für seine Armee, mit der er in den Abgrund hinabstieg.«

Ihr werdet etwas finden, das Kaji zurückgelassen hat, hatte Inevera gesagt. Ein Geschenk deines Vorfahren, das euch durch die Dunkelheit geleiten soll. War es das? Ein Zeichen, das der Erlöser seinen Erben hinterlassen hatte?

Der Par’chin stieß den Atem aus. »Und dann haben dreitausend Jahre lang Menschen hier gelebt, nur um eines Tages grundlos ihre Sachen zu packen und sich davonzumachen? Wann könnte das denn passiert sein? Vor einem Jahr?«

»So lange ist es nicht einmal her«, berichtete Shanvah. »Die Siedlung wurde erst vor ein paar Monaten verlassen.«

»Als Alagai Ka während des Erlöschenden Mondes angriff«, mutmaßte Jardir.

»Das kann doch kein Zufall sein, das ist so klar wie der helle Sonnenschein«, steuerte Renna bei.

»Bald wissen wir mehr«, sagte Jardir. »Doch zuerst müssen wir uns ausruhen, solange die Sonne noch hoch am Himmel steht. Vielleicht ist es der letzte Schlaf in unserem Leben, denn heute Nacht lassen wir Alagai Ka frei.«

Unter dem verhassten Tagesstern herrschte in dem Gefängnis eine Gluthitze. Die Metallwände hatten die Wirkung eines Ofens, und die Temperaturen im Inneren hätten das Oberflächenvieh glatt getötet.

Die Hitze war jedoch nicht das Schlimmste, im Gegenteil, sie war das Einzige an der Gefangenschaft, was der Königliche Gemahl halbwegs ertragen konnte.

Alles andere war eine Tortur. Jedes Rütteln des primitiven Vehikels erschütterte den Dämon, zerrte an den silbernen Ketten, deren Siegel ihm beständig Schmerzen bereiteten und ihn an seine Schmach erinnerten. Wenn seine Kerkermeister ihm überhaupt Nahrung gaben, dann versorgten sie ihn mit tierischem Aas. Sie fütterten ihn mit schierem Fett. Wegen der Ketten war er gezwungen, auch noch den letzten Rest seiner Würde zu opfern und über den Boden des Karrens zu kriechen. Jede Bewegung wurde ihm zur Qual. Um die Nahrung aufzunehmen, musste er sein Gesicht gegen das ekelerregende Stück Fleisch pressen, das in der Hitze schmorte. Das Gefängnis stank danach.

Und dann der Gesang!

Der Dämon hasste alle seine Kerkermeister, doch allmählich verabscheute er die Sängerin am meisten. Durch die dicken Metallwände drang ihre Stimme nur gedämpft, und trotzdem war sie für ihn wie eine Folter, die einen urtümlich gebliebenen Teil seines mächtigen Geistes zerfetzte.

In den Gedanken und Erinnerungen des Erzeugers der Sängerin hatte der Königliche Gemahl dessen abartige Gefühle für dieses Mädchen erkannt – Liebe, Stolz, Hoffnung. Schon deshalb hatte der Dämon sie verachtet und Überlegungen angestellt, wie er sie verletzen könnte. Und damals hatte er ihre verfluchte Stimme noch gar nicht gehört.

Wie die Kampfsiegel, so war auch dieses Lied der Nachhall einer uralten Magie, die der Seelenhof für längst erloschen hielt. Die Klänge berührten die elementarsten Emotionen der Dämonenrasse, und Magie wurde von Gefühlen angezogen. Seinesgleichen erzeugte genau die Macht, die dieses Lied gegen sie benutzte.

Obwohl der Königliche Gemahl über die Vorgänge Bescheid wusste, wollte er vor der Melodie flüchten. Wenn die Menschen sich massenhaft dieser Macht bedienten, würde es schwierig sein, sie zu bekämpfen. Vielleicht sogar unmöglich, sollte der Stock auseinanderbrechen.

Der Königliche Gemahl erinnerte sich an die gewaltigen Chöre des Kavri und erschauerte.

Dadurch spannten sich die Ketten und versengten seine Haut. Mittlerweile versuchte er nicht mehr, die Verletzungen zu heilen, sondern ließ das kranke Fleisch absterben, damit es ihm als Schutz diente. Gleichzeitig setzte er seine kostbaren Vorräte an innerer Magie dazu ein, unter diesem toten Gewebe neue Hautschichten wachsen zu lassen. Es war ein langwieriger Prozess, doch in den kommenden Wochen würde er die Tinte auf seiner Haut zersetzen, auch wenn die eintätowierten Siegel seine Kräfte aufzehrten. Noch wusste er nicht, welcher Fall zuerst eintreten würde.

Derweil konnte der Königliche Gemahl nur in der Dunkelheit abwarten, während der Wagen durch das Land holperte. Welchen Weg sie nahmen, konnte er nicht sehen, und seine Fesseln hinderten ihn daran, mit seinem Geist die Umgebung zu erforschen.

Diese Einschränkung machte ihm am meisten zu schaffen. Seit er aus dem Ei geschlüpft war, hatte sein Bewusstsein ein von dem Körper unabhängiges Eigenleben geführt. Es konnte gewaltige Entfernungen im Nu überbrücken. Er war niemals allein gewesen, hatte ständig die Triebe seiner Drohnen gespürt, die Stimmen seiner Brüder gehört.

Jetzt gab es nichts mehr von alledem.

Lediglich das An- und Abschwellen der Hitze, die der Tagesstern verbreitete, gab dem Königlichen Gemahl eine Art Zeitgefühl, doch das reichte aus. Der Neue Mond war nahe. Wenn sie ihn jetzt nicht auf diese geistlose Drohne setzten und sich an den langen Abstieg hinunter zum Seelenhof machten, wäre das ganze Unterfangen sinnlos geworden. Schon sehr bald würde die Königin mit der Eiablage beginnen, wenn sie nicht bereits dabei war.

Sollte das Geschehen schon im Gange sein, war ihnen allen der Untergang sicher. Der Königliche Gemahl würde auf gar keinen Fall überleben. Aber wenn nicht, wenn ihnen noch eine gewisse Frist blieb, mussten sie alles daransetzen, zur Königin zu gelangen, bevor sie anfing, ihre Eier zu legen. Auch wenn er sich ihr nur als Gefangener nähern konnte, war ihm schon gedient. Waren sie erst einmal in die Tiefe hinabgestiegen, wo die Magie mächtig anschwoll und er auf zahlreiche Drohnen zurückgreifen konnte, würden sich Fluchtmöglichkeiten ergeben, sobald die Wachsamkeit seiner Kerkermeister erlahmte.

Mit einem jähen Ruck kam sein Gefängnis zum Stehen.

Als die schwere Tür des Wagens aufgerissen wurde und der grelle Schein des Sternenlichts ihn traf, stieß der Königliche Gemahl ein zorniges Zischen aus.

Während seine lidlosen Augen sich an die Helligkeit gewöhnten, hob der Königliche Gemahl den Blick und merkte sich den Stand der Gestirne. Seelendämonen brachte man gleich nach dem Schlüpfen bei, die verhassten Sterne zu lesen. Am Seelenhof stieg man nur dann im Rang auf, wenn man mit den Kriegen an der Oberfläche vertraut war und entsprechende Erfahrungen sammelte.

Sie befanden sich unweit des Pfades.

Am Zugang versammelten sich seine Kerkermeister – der Entdecker und die Jägerin, der Erbe und die verfluchte Sängerin.

Neben ihnen stand in Ketten das Reittier des Königlichen Gemahls, die Drohne Shanjat.

»Puh! Das stinkt ja infam hier drinnen!« Der Entdecker schnitt eine übertriebene Grimasse und spuckte auf den Boden, aber seine Aura sprach eine andere Sprache. Es handelte sich um eine Dominanzgebärde, mit der er den Königlichen Gemahl wütend machen wollte, in der Hoffnung, er würde irgendeine wichtige Information preisgeben.

Der Entdecker wagte es, Hand an den Königlichen Gemahl zu legen, zerrte ihn an den glühenden Ketten aus dem Gefängnis und schleuderte ihn mitten in ihrem Kreis auf den Boden. Die Nachtluft war kalt und so nahe am Pfad mit starker Umweltmagie befrachtet. Die Siegel auf seinem Körper zogen diese Energie auf natürliche Weise an, und die Symbole fingen an zu brennen. Er ließ das Fleisch absterben und kostete prüfend von der Magie, die der Wind herantrug.

Einer von seinesgleichen hielt sich in der Nähe auf, zweifelsohne bewachte er die Pforte. Es handelte sich um einen der wenigen direkten Zugänge zum Horc, und in einem Umkreis von mehreren Hundert Meilen war er der einzige, der groß genug war, um Gefangene durchzulassen. Ein idealer Ort für einen Stock, vorausgesetzt, ein Seelendämon war mächtig genug, um ihn gegen seine Rivalen zu verteidigen.

Der besondere Beigeschmack der Magie verriet dem Königlichen Gemahl, dass der, welcher hier Wache hielt, seiner eigenen Linie entstammte. Er war der Älteste seiner Brut, sein vertrauenswürdigster Leutnant. Aus Gewogenheit hatte er ihn viel zu lange am Leben gelassen, und jetzt verfügte er über Macht. Er war stark genug, um die Häscher des Königlichen Gemahls zu vernichten, wenn es ihm gelänge, sie zu überrumpeln.

Der Königliche Gemahl rollte über den Boden und landete vor den Füßen seines Reittiers. Ein Teil von ihm wollte sich weigern, mit diesem Stück Vieh eine Bindung einzugehen, nur um die Menschen daran zu erinnern, dass sie keine Macht über ihn hatten. Dass er sie im entscheidenden Moment immer noch narren konnte, wenn er es wollte.

Aber sich jetzt zu verweigern, wäre unklug gewesen. Zuerst musste er sie einlullen, halbwegs ihr Vertrauen gewinnen, und selbst die begrenzte Unterstützung, die sein Reittier ihm gewähren konnte, war besser, als ganz auf sich allein gestellt zu sein.

Als er gegen den in einer Sandale steckenden Fuß prallte, gab es einen flüchtigen Körperkontakt. Mehr brauchte der Königliche Gemahl nicht, um in dieses willenlose Vieh hineinzuschlüpfen und die Kontrolle über seinen Körper zu übernehmen. Die Drohne öffnete ihre Gewänder, bückte sich, hob den Königlichen Gemahl hoch und setzte ihn auf ihren Rücken. Zum Schutz vor dem Sternenlicht bedeckte sie ihn dann mit dem Stoff.

Der Dämon verschloss sich vor dem schmerzenden Licht und blickte von da an durch die Augen der Drohne. Ketten, die an einem derben Gürtel befestigt waren, hinderten sie an dem vollen Gebrauch ihrer Gliedmaßen. Ihre Bewegungsfreiheit reichte gerade mal dazu aus, über Hügel zu marschieren und Bergflanken hinaufzuklettern.

Sie befanden sich an einer Brutstätte der Menschen, und zwar an der, die der Königliche Gemahl zerstört hatte, als er vor einigen Zyklen vor dem Einlass Wache hielt. Nachdem er den Geist des Anführers dieser Siedlung verspeist hatte, kannte er den Ort in- und auswendig.

»Das habt ihr gut gemacht«, lobte er seine Häscher in den Knurrlauten, die bei ihnen als Sprache galten. »Der Einlass ist nahe. Ich kann euch den Weg zeigen.«

»Warum auf einmal diese Eile?«, fragte die Jägerin.

»Ein Fisch auf dem Trockenen hat es auch eilig, wieder ins Wasser zu kommen«, erwiderte der Königliche Gemahl. »Und dir kann es nie schnell genug gehen, das Fleisch von meinesgleichen zu fressen.«

»Quatsch!« Die Aura der Jägerin flackerte vor Zorn, und der Königliche Gemahl ergötzte sich daran. Die Menschen waren ja so leicht zu provozieren.

»Du kannst lügen, soviel du willst«, sagte der Königliche Gemahl. »Die Wahrheit steht in deiner Aura geschrieben. Du redest dir selbst ein, dass du losziehst, um die Menschheit zu retten, aber in Wirklichkeit gierst du nur nach der Macht.«

Die Jägerin ballte eine Faust, und sofort strömte Magie zu ihr hin. Sie brauchte nur wenig Energie in ihre Tätowierungen einzusaugen, um den Königlichen Gemahl zu töten, doch der blieb unbesorgt.

Und prompt griff auch schon der Entdecker ein. »Nur ruhig Blut, Ren. Du weißt doch, wie die sind.«

Bei diesen Worten kühlte sich die Aura der Jägerin ab. »Ay.«

»Was ist das für ein Ort, Dämon?« Der Erbe schwenkte beim Sprechen seine Waffe, und der Königliche Gemahl fasste sie argwöhnisch ins Auge. Kavris Speer war nur eine von vielen Möglichkeiten, mit denen seine Häscher ihn bezwingen konnten, doch der Königliche Gemahl fürchtete diese Waffe seit Tausenden von Jahren. Sein eigener Erzeuger war ihr zum Opfer gefallen. »Allem Anschein nach haben Angehörige meines Volkes hier gelebt. Was ist aus ihnen geworden?«

Unzählige Lügen kamen ihm in den Sinn, doch am köstlichsten schmeckte die Wahrheit. »Das ist Anoch Dahl, die Stadt der Nacht. Hier versammelten sich Kavris Streitkräfte. Dieser Ort war Kavris Machtsitz im Norden, bevor sein Reich zerstört wurde. Nur wenige seiner Leute blieben hier zurück, um den Einlass zu bewachen.«

»Und was ist mit ihnen geschehen?«, wollte der Erbe wissen.

»Sie vergaßen, was sie bewachen sollten, und warum«, sagte der Königliche Gemahl. »Ihre Wachsamkeit ließ nach, so wie auch die eure nachlassen wird, und ihre Siegel versagten. Ich konnte zu ihnen vordringen und sie hinunter in den Seelenhof bringen, wo sie meiner persönlichen Speisekammer zugeführt wurden.« Seine Antwort machte die Menschen nervös. Er sah es in ihren Auren und amüsierte sich darüber.

»Wie kann der Dämon all das wissen?«, fragte die Sängerin.

Der Königliche Gemahl richtete die Augen seiner Drohne auf sie. »Weil er die Erinnerungen ihres Anführers verzehrte, so wie er auch die meinen in sich aufnahm, Tochter. Deshalb weiß er, wie sehr ich mich schämte, als deine hässliche Mutter mir als erstes Kind ein Mädchen gebar. Ich war zu feige, um deine Mutter zu bestrafen, aber ich fand eine heasah, die so aussah wie sie, um meine Enttäuschung an ihr auszulassen.«

»Lauter Lügen, erfunden vom Vater der Lügen«, knurrte die Sängerin, doch in ihrer Aura flimmerten Zweifel und Schmerz.

Das Gelächter ihres Vaters verletzte die Sängerin noch weit mehr. »Diesem gewaltsamen Kopulieren entsprang ein Bastard, den ich mehr liebte als dich.«

Sie kreischte ihn an, und die schrillen Töne zerkratzten seine Aura. Shanjat fiel auf die Knie und hielt dem Königlichen Gemahl die Ohren zu, doch trotz der Qualen erfreute er sich an der Verzweiflung der Sängerin. Der Geist der Menschen war überaus zerbrechlich. Wenn man im richtigen Moment an die richtige Stelle tippte, zersprang er.

Der Erbe legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie beruhigte sich. Danach sorgte der Königliche Gemahl dafür, dass die Drohne breit grinste.

Doch er war einen Schritt zu weit gegangen. Der Erbe hob seinen Speer, und ein Strahl aus Energie flutete über die Siegel, die seine Häscher ihm in das Fleisch tätowiert hatten.

Der Königliche Gemahl konnte Schmerzen ertragen, doch das war selbst für ihn zu viel. Die Gewänder der Drohne hielten ihn an seinem Platz, als er sich selbst nicht mehr festhalten konnte, und dann brach auch der mentale Kontakt zu seinem Reittier ab. Die Drohne kippte um und stürzte auf den heftig zuckenden Leib des Königlichen Gemahls.

Urplötzlich hörten die Schmerzen auf. Der Königliche Gemahl verschaffte sich wieder Zugriff auf den Körper der Drohne und hievte sich langsam auf die Füße.

Dieses Mal war es die Jägerin, die einen Magiestrom auf ihn richtete, die Nervenbahnen des Königlichen Gemahls verbrannte und ihn auf den Boden zurückwarf. Er wurde ernsthaft verletzt. Und es würde ihn wertvolle Magie kosten, um die Verletzung zu heilen. Das restliche Vieh sah nur teilnahmslos zu, wie die Jägerin ihn quälte.

Als sie endlich damit aufhörte, trat der Entdecker vor. »Du sprichst nur dann, wenn du zum Sprechen aufgefordert wirst. Ansonsten weißt du, was dir blüht. Du beantwortest unsere Fragen und bringst uns dorthin, wo wir hin wollen. Und halte ja dein verfluchtes Maul, sonst lassen wir dich draußen in der Sonne schmoren und suchen uns den Weg selbst.«

»Ihr werdet ihn niemals finden«, behauptete der Königliche Gemahl. »Nicht in hundert Jahren, und so viel Zeit habt ihr nicht einmal.«

»Diese Menschen, die du gefangen genommen hast.« Die Aura des Entdeckers verdüsterte sich vor Abscheu. »Haben sie den ganzen Weg bis zu deiner … Speisekammer allein zurückgelegt?«

Der Königliche Gemahl ließ die Drohne nach menschlicher Art den Kopf schütteln. »Ich schickte ihnen einen Mimikry, um sie an den … schwierigeren Hindernissen vorbei zu lotsen. Außerdem markierte ich die Herde mit Magie, sodass alle Kreaturen der Finsternis wussten, dass sie mir gehört.«

»Was sind das für Hindernisse?«, fragte der Entdecker.

»Schon als eure Vorfahren in die Tiefe hinabstiegen, war es ein langer und beschwerlicher Weg«, sagte der Königliche Gemahl. »Und seit Kavri seine Legionen hinunterführte, sind mehrere Jahrtausende vergangen. Tunnel sind eingestürzt oder wurden überflutet. Alte Gänge gab man auf und grub dafür neue. Manchmal führt der Weg steil in die Tiefe, gelegentlich muss man glatte Felswände hochklettern. Dieser Drohne dürfte es nicht leichtfallen, solche Passagen gefesselt zu bewältigen.«

»Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist«, sagte der Entdecker. »Aber rechne lieber nicht damit, dass wir die Fesseln abnehmen.«

»Früher oder später komme ich ohnehin frei«, behauptete der Königliche Gemahl. »Und dann werde ich mit euren Seelen einen Festschmaus feiern.«

»Gut möglich.« Die Jägerin rückte auf ihn zu, und aus ihrer Aura loderten Stichflammen. »Versuch doch, dich zu befreien. Dann bringen wir dich um und feiern mit dir ein Festmahl.«

Sie fletschte die Zähne. Sie waren nicht lang und scharf wie die der Dämonen, doch trotzdem überlief den Königlichen Gemahl ein eisiger Schauer. »Was glaubst du, läuft das bei uns Menschen genauso wie bei deinesgleichen? Dass wir auf einmal alles wissen, was du weißt, wenn wir dein Gehirn vertilgt haben?«

Die Jägerin zog die Klinge aus ihrem Gürtel. Dieser Gegenstand besaß beträchtliche Macht, in ihm steckte eine berauschende Mischung aus Emotionen, die ganz von selbst Magie ansaugte. »Bei der Nacht, vielleicht gehen wir das Ganze verkehrt an. Vielleicht sollte ich dich jetzt gleich aufschlitzen, und später führe ich uns nach unten.«

Sie tat einen Schritt nach vorn, und der Königliche Gemahl wusste, dass er das Spiel zu weit getrieben hatte. Sie meinte, was sie sagte. Sie würde ihn töten und vermutlich verrückt werden, wenn sie seinen uralten Geist verzehrte.

Die Vorstellung bereitete ihm jedoch keine Genugtuung. Wenn er nicht am Leben blieb, war es ihm völlig gleichgültig, wie der Kampf zwischen den Menschen und seinesgleichen ausging.

Er blickte den Entdecker an und sah die Spur eines gesunden Verstandes, als der Mann sich zwischen den Königlichen Gemahl und seine Gefährtin stellte. »Tief durchatmen, Ren. Wir haben nicht die geringste Ahnung, ob es auch bei uns klappen würde.« Ihre Aura blieb aufgewühlt, zeugte von Unberechenbarkeit, aber sie wich ein kleines Stück zurück, und der Königliche Gemahl atmete erleichtert auf.

Er ließ seine Drohne in die Augen des Entdeckers blicken. Es war ein seltsames Gefühl, in die Augen einer anderen Kreatur zu sehen, ohne gleichzeitig in deren Geist lesen zu können. Wie hatten die Menschen mit ihren unterentwickelten Sinnen nur so mächtig werden können?

»Für dich und mich gibt es einen schnelleren Weg, Entdecker«, sagte der Königliche Gemahl ruhig. »Einen, den wir im Nu zurücklegen können, und der uns einen wochenlangen Marsch erspart. Der deiner Gefährtin und eurem Nachwuchs ein Risiko erspart.«

»Wir bleiben zusammen«, warf der Erbe ein. »Entweder wir gehen alle, oder es geht keiner.«

»Er misstraut dir«, klärte der Königliche Gemahl den Entdecker auf. »Seine Aura verrät es ganz deutlich. Er fürchtet, du könntest ihn verraten. Die gesamte Menschheit verraten.« Die Spannungen zwischen den beiden Männern waren ihm nicht entgangen. Er wusste um die Zweifel. Die beiden waren sich nicht so einig, wie sie es gern vorgaben.

Er ließ die Drohne den Kopf schräg legen. »Ist es das, was dir Sorgen bereitet, Entdecker? Was aus dir werden könnte, so nahe an der Machtquelle des Horc? Du traust dir ja selbst nicht. Du glaubst, dein sogenannter Verbündeter könnte recht behalten, und irgendwann lässt du alle im Stich.«

Der Entdecker hob eine Hand, sog Magie an und überschwemmte damit die Siegel des Königlichen Gemahls. Die Drohne brach zusammen, und Mensch wie Dämon wälzten sich zuckend und heulend auf dem Boden. Der Seelendämon schmeckte menschliches Blut und merkte, dass die Drohne sich in die Zunge gebissen hatte.

»Ich habe dich gewarnt, was dir blüht, wenn du dein Maul nicht halten kannst«, sagte der Entdecker und zog die Magie wieder zurück. »Der Einzige, dem wir nicht trauen, bist du.«

»Und dennoch wollt ihr, dass ich euch in die Tiefe hinunterführe«, sagte der Königliche Gemahl, der immer noch seine am Boden liegende Drohne umklammerte.

»Ja, und zwar ein bisschen plötzlich«, mischte sich die Jägerin ein.

Der Königliche Gemahl dachte nach. Er konnte sie zu dem Einlass bringen, sie direkt vor die Krallen seines Abkömmlings führen und dann vielleicht zusehen, wie sie alle niedergemacht wurden.

Aber wie würde sich sein Rivale beim Anblick des gefesselten und hilflosen Königlichen Gemahls verhalten? Würde er ihn befreien, ihn retten? Undenkbar. Er würde das tun, was jeder andere an seiner Stelle tun würde. Nämlich den Königlichen Gemahl töten, seinen Geist verzehren, und derart gestärkt in den Horc zurückkehren. Dort würde er in den Rang des Königlichen Gemahls aufrücken und eine neue Generation von Dämonen zeugen.

»Der Einlass wird bewacht«, knurrte er.

»Und wie wird er bewacht?«, fragte der Entdecker.

»Kannst du es nicht fühlen? Einer meiner Nachkommen hält vor dem Eingang Wache. Sogar ich kann ihn spüren, obwohl ihr mich verkrüppelt habt.«

Die Menschen erstarrten und neigten wie lauschend die Köpfe. Sie waren vorübergehend abgelenkt, und diesen Moment hätte der Königliche Gemahl zur Flucht nutzen können, doch dazu war er zu geschwächt, und er fürchtete, die Jägerin könnte ihre Drohung wahr machen.

»Ich höre etwas«, sagte der Erbe nach einer Weile. »Ein Wispern in der Nachtluft.«

Der Entdecker runzelte die Stirn, denn er war es nicht gewöhnt, dass ihm jemand im Hinblick auf Magie voraus war. Er verfügte über das größere Geschick, doch die Artefakte, die der Erbe bei sich trug, waren kein eitler Tand. Es waren geweihte Objekte, und der Glaube, den Millionen von Menschen in sie gesetzt hatten, verlieh ihnen eine heilige Macht, die auch nach Jahrtausenden noch wirkte.

»Tatsächlich«, sagte der Entdecker nach einer Weile. »Jetzt höre ich es auch.«

»Ich hör gar nichts«, brummte die Jägerin.

»Der Prinzling versteckt sich hinter Siegeln, genau wie wir«, sagte der Erbe.

»Lenke die Magie auf dich und versuche, in den Strömungen zu lesen«, riet der Entdecker. »Suche nach Leere, nach etwas, das einem Loch in einer Straße gleicht.«

Die Jägerin schloss wieder die Augen und zog eine tierische Grimasse, während sie angestrengt lauschte. Schließlich riss sie die Augen auf, drehte sich um und zeigte in die Richtung, in der sich der Einlass befand. »Wir müssen dorthin.«

Der Erbe wandte sich an die Sängerin. »Shanvah?«

Ihre Aura verriet, dass sie sich schämte, und der Königliche Gemahl weidete sich daran. Sie verneigte sich. »Es tut mir leid, Erlöser. Ihr drei verfügt über sechs Sinne, aber mir hat Everam lediglich fünf gewährt.«

»Mach dir nichts draus«, sagte der Erbe. »Dafür kann keiner von uns singen.«

Es fiel ihm schwer, sich durch die Drohne seine Verachtung nicht anmerken zu lassen. Ihr Verständnis der Macht, die sie umgab, war bestenfalls dürftig. Die geringsten Drohnen fanden sich mittels ihrer Instinkte besser zurecht als die jämmerlichen Menschlinge, die unter ihresgleichen als Auslese galten.

Der Königliche Gemahl konnte Emotionen seinem Willen unterwerfen, denn nur so ließ Magie sich lenken. Und trotzdem kostete es ihn Mühe, dieses Schamgefühl zu unterdrücken, das ihn immer wieder heimsuchte, diese Schmach, dass er sich von … Säugetieren hatte überrumpeln und gefangen nehmen lassen.

Gleichzeitig gab die Vorstellung ihm Hoffnung. Wenn dieses Vieh kaum imstande war, die Strömungen zu lesen, eröffnete sich ihm eine Reihe von Möglichkeiten, die Magie heimlich für seine Zwecke zu nutzen.

Ein Problem blieb jedoch, auf welche Weise er sich einer Energiequelle bedienen konnte. Die Siegel auf der Haut des Königlichen Gemahls hinderten ihn daran, die ihm innewohnende Energie ausströmen zu lassen oder die Umgebungsmagie anzulocken. Er hätte die Drohne als Mittel zum Zweck einsetzen können, aber Shanjat, obwohl gesund und kräftig, trug keinerlei Siegel, und sein Wille war gebrochen. Für Magie war er so gut wie unempfänglich, gewissermaßen totes Material. Um für die Magie zugänglich zu werden, hätte er ein Gerät gebraucht, das Energie speicherte, wie die Objekte, die seine Häscher bei sich trugen.

Es bedurfte nur einer kleinen Ablenkung, dann gelang es dem Dämon vielleicht, sich lange genug in den Besitz eines dieser Dinge zu bringen, um bestimmte Siegel mit Magie zu füllen. Abwehrsiegel wären für ihn kein Hindernis, wenn er die menschliche Drohne für sich arbeiten ließ.

Doch über die Lösung dieses Problems wollte er später nachdenken. Im Augenblick hatte er dringlichere Sorgen. »Ihr werdet meinen Abkömmling töten müssen, wenn wir durch den Einlass in die Dunkelheit hinabsteigen wollen.«

Der Entdecker wandte sich wieder dem Königlichen Gemahl zu. »Willst du uns glauben machen, dass du uns dabei hilfst, deinen eigenen Sohn umzubringen? Vielleicht hast du ihn bereits gewarnt, dass wir im Anmarsch sind, und wir laufen in eine Falle.«

»Selbstverständlich hätte ich ihn gewarnt, wenn ich gekonnt hätte«, sagte der Königliche Gemahl. »Aber sowie mein Abkömmling meinen geschwächten Zustand erkennt, wird er ohne zu zögern auch mich töten.«

»Seinen eigenen Vater?« Der Entdecker schien skeptisch. Seine Abscheu vor den Dämonen spiegelte sich in seiner Aura wider.

»Das kannst du ihm glauben«, sagte die Jägerin.

»Höre auf deine Gefährtin, Mensch.« Die Drohne drehte sich um und lächelte den Erben an. »Er wäre sicher nicht der erste Prinz, der seinen Vater beseitigen würde, um dessen Nachfolge anzutreten.«

Er hatte geraten, doch die Aura des Erben bestätigte ihm prompt, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Genau wie am Seelenhof, so bekämpften auch die aufgeblasenen Söhne des Erben einander, seit durch dessen Fortgehen ein Machtvakuum entstanden war. Die Rebellion an der Oberfläche schrie förmlich danach, niedergeschlagen zu werden.

»Wenn mein Abkömmling merkt, dass ich gefesselt bin, wird er genüsslich meinen Geist verspeisen und meine Macht seiner eigenen hinzufügen. Danach wäre keiner von euch ihm gewachsen. Er wird sich an euren Gedanken und Erinnerungen gütlich tun und alles über euch und eure Pläne erfahren, ehe er in den Horc zurückkehrt, um einer neuen Generation von Dämonen seine eigenen Merkmale einzuprägen. Diese Dämonen werden schnell zur Reife gelangen, an die Oberfläche steigen und eure Welt unterwerfen, lange bevor eure simplen Großsiegel das erreichen, was ihr eine ›kritische Masse‹ nennt.«

Seine Häscher tauschten Blicke aus, dann wandte sich der Erbe ihm zu. »Zurück in dein Gefängnis, Prinz der Lügen!« Er ließ Energie in die Siegel strömen, und abermals stürzten der Seelendämon und die Drohne zu Boden, wo sie sich in Qualen wanden.

Der Entdecker trat vor und zerrte ihn von der Drohne weg, doch der Königliche Gemahl spürte kaum das Brennen der Ketten auf seiner Haut. Kurz bevor sie voneinander getrennt wurden, berührte die zuckende Kralle des Dämons einen Gegenstand, der an einer Lederschnur vom Hals der Drohne hing und zwischen den kräftigen Brustmuskeln ruhte.

Die Sängerin hatte einen schlimmen Fehler gemacht. Sie glaubte, das Glasfläschchen mit ihren Tränen, das ihr Erzeuger an seiner Brust barg, habe einen rein symbolischen Wert, aber die Phiole enthielt tatsächliche Macht. Nicht viel, doch da sie gesättigt war mit ihrem Kummer, zog sie Magie an und speicherte sie.

Weil die Drohne von den Siegeln auf der Haut des Königlichen Gemahls nicht behindert wurde, konnte sie mit Hilfe des Fläschchens einfache Symbole mit Magie aufladen.

Vielleicht reichte es aus, um den Königlichen Gemahl zu befreien.

Dreimal prüfte Arlen die Siegel, als er Alagai Ka wieder in den Stahlkasten einsperrte. Die Schutzsiegel waren stark, aber Arlen wusste, wozu Seelendämonen imstande waren. Hatte dieser andere Dämonenprinz den Wagen mitsamt seiner Fracht erst einmal geortet, dann würde er nicht lange brauchen, um die Abschirmung zu durchdringen.

Jardir strahlte eine spürbare Anspannung aus. »Ich traue diesem Diener der Nie nicht.«

»Es gibt ja auch nicht den geringsten Grund, weshalb du ihm trauen solltest«, sagte Arlen.

»Monatelang hatten wir ihn eingesperrt«, sagte Jardir. »Woher weiß er über meine Söhne Bescheid?«

»Ich glaube nicht, dass er wirklich etwas gewusst hat«, meinte Arlen. »Er kennt Shanjats Erinnerungen, hat einfach aufs Geratewohl geraten, als deine Abwehr schwach war, und in deiner Aura sah er dann die Bestätigung.«

»Oder wir waren nicht vorsichtig genug, wenn wir uns in Shanjats Gegenwart unterhalten haben«, sagte Renna.

»Von jetzt an müssen wir noch besser aufpassen«, sagte Arlen. »Den Gefängniskarren können wir nicht mit hinunternehmen. Ren, du und Shanvah werden den Wagen bewachen, während Ahmann und ich losziehen und diesen anderen Seelendämon zur Strecke bringen.«

»Ay, das hat ja auch beim letzten Mal so gut geklappt«, spottete Renna. »Drei von uns waren nötig, um einen Seelendämon zu töten, der gemerkt hatte, dass wir kommen.«

»Wenn es ein Hinterhalt ist, können wir ohnehin nicht viel gegen einen Dämon ausrichten, der vor einer Höhle lauert, aus der ein so starker Magiestrom austritt«, sagte Arlen. »Und wenn es keine Falle ist, brauche ich dich hier.«

»Warum?«, fragte Renna.

»Falls wir getötet werden, musst du dafür sorgen, dass von Alagai Ka nichts übrig bleibt, das dieser andere Seelendämon fressen kann.«

»Dämonenscheiße«, fauchte Renna. »Das kann Shanvah übernehmen. Du willst nur nicht, dass ich mitkomme.«

»Wie könnte ich dich mitnehmen wollen?«, gab Arlen zurück. »Beim Schöpfer, Ren, man sieht jetzt schon, dass du schwanger bist.«

»Quatsch! Ich hab nur ein bisschen zugenommen. Schließlich ess ich ja für zwei.«

»Ich kann in deinen Bauch hineinsehen, Ren«, sagte Arlen. »Das Baby wächst viel zu schnell. Dasselbe ist mit Leesha passiert. Ihr Kind kam Monate zu früh auf die Welt.«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Es war immer ein Fehler, in einem Streit Leeshas Namen zu erwähnen.

»Ay, sie hat den dama die Köpfe eingetreten und die ganze verdammte Zeit Dämonen getötet, damit die Talbewohner was über sie zu erzählen haben«, giftete Renna. »Willst du sagen, dass ich nicht so hartgesotten bin wie Leesha Papiermacher?«

»Sie wurde angegriffen und hat sich gewehrt«, sagte Arlen. »Sie stieg nicht in den Horc hinunter, um dort zu kämpfen.«

»Aus dir spricht der Dämon«, sagte Renna. »Er versucht, unsere Gruppe zu spalten. Uns zu schwächen.«

»Das heißt aber nicht, dass es falsch wäre, uns aufzuteilen«, beharrte Arlen. »Das ist ihre Art, Ren. Sie knallen einem die Wahrheit um die Ohren, wenn man sie am wenigsten hören will. Die Wahrheit kann nämlich verflucht wehtun.«

»Und wenn es dann dazu kommt, musst auch du Einsicht zeigen, Par’chin«, mischte sich Jardir ein. »Denk nach. Deine jiwah ist viel zu stark, als dass wir sie zurücklassen könnten. Das weißt du ganz genau. Wir können nicht auf sie verzichten, wir brauchen ihre Hilfe. Und außer ihr ist keiner da, den wir zu unserer Unterstützung mitnehmen könnten. Wir alle müssen Opfer bringen.«

Arlen funkelte ihn wütend an. »Du hast gut reden, Ahmann. Du hast jede Menge Kinder, jede Menge Ehefrauen. Ich habe nur diese eine, und sie ist schwanger mit unserem ersten Kind.«

»Glaubst du, es macht mir nichts aus, meine Nichte, die kaum im heiratsfähigen Alter ist, mit hinunter in den Abgrund zu nehmen?«, schoss Jardir zurück. »Glaubst du, es ist mir egal, dass mein einziger Enkelsohn auf dem Rücken seiner Mutter mitten in ein Verbrechernest getragen wird, nur um einen khaffit zu retten?«

»Das ist nicht dasselbe, und das weißt du!«, schnauzte Arlen. »Würdest du Olive Papiermacher mit uns in den Abgrund nehmen?«

Jardir zögerte keine Sekunde lang. »Wenn dadurch unsere Chancen, Alagai’ting Ka zu vernichten, auch nur um eine Spur größer würden, ja, dann würde ich sie mitnehmen, Par’chin. Ich würde alle meine Gemahlinnen und alle meine Kinder mit in den Abgrund nehmen, um diese Pflicht zu erfüllen. Das gebietet mir mein Glaube an Everam. Das bedeutet es, nach dem Gesetz des Evejah zu leben. Der Erste Krieg geht vor. Alles andere ist zweitrangig. Inevera hat die Würfel befragt, nachdem sie sie in das Blut deiner jiwah getaucht hatte. Sie muss mit uns in den Abgrund hinabsteigen, andernfalls sind unsere Chancen auf Erfolg noch viel, viel geringer, als sie ohnehin schon sind.«

Seine Aura spiegelte eine Überzeugung, die Arlen erschreckte und um die er ihn beneidete. Wie einfach wäre das Leben, wenn er diese Schicksalsgläubigkeit teilen könnte.

»Ich habe mich entschieden«, sagte Renna.

»Ay, aber deine Entscheidung muss mir nicht gefallen. Wir sollten auf dem Hof meines Dads sein, die Felder bestellen und neun Monate lang auf das Kind warten, so wie alle anderen Leute, verflucht nochmal. Sind wir Idioten, oder was?«

»Mein Leben lang habe ich nichts anderes gewollt, als einen Hof zu bewirtschaften und Kinder zu kriegen«, sagte Renna. »Du warst der Idiot, Arlen, als du weggelaufen bist und diesen Schlamassel ins Rollen gebracht hast. Und jetzt müssen wir die Sache zu Ende bringen. Auf dem Hof deines Dads wären wir auch nicht in Sicherheit gewesen. Es ist nirgendwo sicher, solange wir diese Horclingsbrut nicht ein für alle Mal ausrotten.«

»Na schön!«, knurrte Arlen. »Aber die Würfel haben doch sicher nicht gesagt, dass du nicht wenigstens so lange beim Wagen bleiben kannst, bis wir uns einen sicheren Zugang zum Abgrund verschafft haben.«

Renna verschränkte die Arme. »Du kannst mich nicht aufhalten. Wenn ihr aufbrecht, folge ich euch, es sei denn, du sperrst mich zu dem Dämon in den Wagen.«

Arlen ballte die Fäuste. Als Heranwachsender hatte er von Ragen und Elissa viele Male gehört, dass es nicht leicht sei, eine Ehe zu führen, und dass man einander entgegenkommen müsse. Doch erst jetzt verstand er, was sie damit gemeint hatten.

Während sie den Berghang hinaufkletterten, bündelte Arlen Energie in die Siegel auf seiner Haut, die für Verwirrung und Tarnung sorgten. Er spürte, wie der Horclingprinz die Umgebung mit seinem Geist erforschte, aber er schien nicht gezielt nach ihnen zu suchen.

Renna folgte Arlens Beispiel. Wenn er sie direkt anschaute, kam sie ihm körperlos vor, wie ein Spiegelbild in einer Glasscheibe. Jeder Versuch, sie genauer ins Auge zu fassen, machte ihn schwindelig. Und je nach Blickwinkel verschwand sie beinahe vollständig.

Sie sagte, ihr ginge es genauso, wenn sie ihn betrachtete. Eigentlich sollten ihre Siegel nur bei Dämonen wirken, aber er und Renna hatten soviel Horclingfleisch gegessen, dass bestimmte dämonische Eigenschaften auf sie übergegangen waren. Sie blieben dicht beieinander, um sich nicht aus den Augen zu verlieren.

Jardir, dem die Krone magische Sicht verlieh, konnte ihren Weg mühelos verfolgen. Er schwebte über ihnen am nächtlichen Himmel, während sie sich der Höhle näherten, durch die man in die Tiefe gelangte.

Dass Jardir aus dem Wind das Flüstern des Dämons heraushören konnte, machte Arlen immer noch betroffen. Je mehr Arlen über die Krone und den Speer des Kaji lernte, umso höher stieg die erste Damajah in seiner Achtung. Sie hatte damals, vor mehreren Jahrtausenden, diese beiden Artefakte geschaffen. Arlen konnte guten Gewissens behaupten, der beste Bannzeichner seiner Zeit zu sein, aber verglichen mit dem magischen Orchester, welches diesen Objekten innewohnte, war er wie ein kleines Kind, das mit einem Stock auf einen Topf schlägt. Jardir war nicht imstande, sich in Nebel aufzulösen, doch indem er im Umgang mit der Krone und dem Speer immer geschickter wurde, entdeckte er Kräfte, über die nicht einmal Arlen verfügte.

Sie gelangten an den Rand des Siegelnetzes, das den Seelendämon schützte. Baumdämonen hatten es mit ihren Krallen in die Bäume gekerbt, die den Fuß des Bergs umringten. Das Massiv war jedoch zu gewaltig, um gänzlich verschleiert zu werden, zumal dem Spalt in den Felsen große Mengen von Magie entströmten. Mit seinen normalen Augen konnte Arlen in das Netz hineinsehen, doch wenn er seinen magischen Blick einsetzte, war es, als würde er in einen dichten, glühenden Nebel starren.

Arlen ahnte, dass dieser Bannbereich nicht dazu gedacht war, Dämonen fernzuhalten, sondern Menschen. Jeder, der versuchte, die Grenze zu passieren, würde in einem Schauer aus Lichtblitzen und unter Schmerzen zurückgeschleudert werden und den Seelendämon auf sich aufmerksam machen.

Auch Jardir hielt in seinem Flug inne. Arlen sah, wie er am Rande des Siegelnetzes schwebte und es von oben studierte.

Renna reckte ihren Arm in die Höhe. »Ich will auch sehen, was er sieht.«

Arlen nahm sie an die Hand. »Aber gib acht, dass du dich nicht zu sehr in Nebel verflüchtigst.«

»Das hast du mir schon tausend Mal gesagt«, maulte Renna. »Wenn du es übertreibst, versagen unsere Siegel. Der Dämon bemerkt uns, und es kommt zu einem Kampf. Wer den stärkeren Willen hat, wird siegen.«

»Keiner von uns wünscht sich einen solchen Kampf, den wir tunlichst vermeiden sollten«, sagte Arlen. »Vor allen Dingen, wenn der Dämon ein Siegelnetz hat, mit dem er seinen Geist vor uns schützt.«

»Ich pass schon auf.«

Sie verwandelten sich in Nebel, allerdings nicht vollständig. Es kam darauf an, dass sie genügend Festigkeit bewahrten, um ihre Siegel lebendig zu erhalten, aber sie mussten genug Stofflichkeit abgeben, um leichter zu werden als Luft. Wie ein Tanzpaar auf einem Fest stießen sie sich gemeinsam vom Boden ab und schwebten in die Höhe, wo Jardir auf sie wartete.

Die Nacht war klar, und obwohl nur die Sterne ihr Licht verbreiteten, entdeckte Arlen mit seinen scharfen Augen den schmalen Pfad, der zum Einlass hinaufführte. Die Höhle war kleiner, als er erwartet hatte, doch von ihr ging so viel magische Energie aus, dass nicht einmal der Dämonenprinz sie kaschieren konnte. Rings um den Höhleneingang erhoben sich uralte Steinsäulen mit zerstörten und beschädigten Siegeln.

»Der Rachen des Abgrunds«, flüsterte Jardir ehrfürchtig. »Ein geweihter Ort, der ebenfalls von den alagai gefrevelt wurde.«

»Du bist der General«, sagte Arlen. »Wie willst du vorgehen?«

Jardir dachte nach. »Als die Horclingprinzen beim Erlöschen des Mondes in Everams Füllhorn eindrangen, schnitten sie Großsiegel in die Felder. Ähnliches hat der Dämon hier getan. Damals konnte ich mit Hilfe der Krone in diese Großsiegel eindringen.«

»Kannst du das Netz durchbrechen, ohne dass der Dämon auf dich aufmerksam wird?«, fragte Arlen.

Jardir runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher. Der letzte Prinz, mit dem ich es zu tun bekam, war schwächer. Sein Bannbereich war noch nicht komplett abgeriegelt, und seine Aufmerksamkeit nach innen gekehrt. Dieser Feind hingegen ist gut vorbereitet. Ich kann seinen Willen spüren, ich fühle, wie er von seinem Versteck aus seine Sinne ausdehnt.«

»Ich könnte ihn ablenken«, schlug Arlen vor. »Ein gewaltiger, ungezielter Ausstoß von Magie würde das gesamte Netz aufleuchten lassen. Wenn du den richtigen Moment abpasst, merkt der Dämon vermutlich nicht, wie du durch das Netz schlüpfst.«

»Wir beide werden ihn ablenken«, verbesserte Renna. »Sowie du das Netz berührst, wird er zurückschlagen. Du sagst doch selbst, dass wir verletzlich sind, wenn wir uns in Nebel auflösen.«

»Ein Grund mehr, warum du dich zurückhalten solltest«, erwiderte Arlen.

Renna schüttelte den Kopf. »Ich schicke einen Magiestrahl von der anderen Seite des Bergs los, drei Atemzüge, nachdem du deinen abgeschossen hast. Das gibt dir eine Chance zu flüchten. Und dann machen wir so lange mit dem Energiebeschuss weiter, bis Jardir den Dämon getötet hat.«

»Sehr lange halten wir das aber nicht durch«, gab Arlen zu bedenken.«

»Das wird auch nicht nötig sein«, behauptete Jardir. »Ich werde so schnell sein wie Everams Speer.«

Arlen holte langsam und tief Luft. »Hoffentlich.«

»Wenn du schon kein Vertrauen zu Everam hast, Par’chin«, sagte Jardir, »dann vertraue wenigstens deinem ajin’pal. Und jetzt fort mit euch.«

Arlen drückte Rennas Hand. Obwohl sie für jeden anderen so körperlos war wie eine Seifenblase, fühlte sie sich unter seiner Berührung fest an. Ihre Blicke trafen sich, dann drehte Renna sich um und schwebte davon. Jardir hüllte sich in seinen Tarnumhang, und sein Bild verschwamm vor Arlens Augen. Arlen sank ein Stück in die Tiefe und flog ein Stück weit in die entgegengesetzte Richtung.

Danach driftete er dicht über den Bäumen außerhalb des Netzes und sog Energie in sich auf. Die Gegend war übersättigt mit Magie, die wie ein Wasserfall in Kaskaden aus dem Höhleneingang strömte. Der Energieschwall, der ihn traf, war so stark, dass der Seelendämon ihn mit Sicherheit spürte. Als Nächstes schleuderte er einen Energiestoß gegen das Siegelnetz, das zu leuchten begann wie ein Sternbild am nächtlichen Himmel.

Noch während er den magischen Blitz auslöste, setzte er sich in rasantem Tempo in Bewegung. Gerade noch rechtzeitig, denn aus dem Höhlenschlund schoss ein gewaltiger Energiestrahl und zielte genau auf die Stelle, an der er noch Sekundenbruchteile zuvor gewesen war. Die Wucht der Magie zersplitterte die Baumwipfel und setzte ein riesiges Waldstück in Brand.

Kaum waren die grellen Funken im Netz erloschen, da flackerten die Siegel von Neuem auf, als Renna einen Energieblitz abfeuerte.

Wieder löste sich aus der Höhle ein Strom aus gebündelter Magie, nur zielte er dieses Mal in Rennas Richtung. Aber zweifellos hatte sie längst ihren Standort gewechselt. Arlen wiederholte den Beschuss, doch das Siegelnetz hielt immer noch stand. Allerdings gab es dieses Mal kein Gegenfeuer. Aus der Höhle ertönte ein schrilles Kreischen. Er erstarrte, vergaß sogar zu atmen. Hatte Jardir zugeschlagen?

Das Kreischen wollte nicht aufhören. Es wurde immer lauter, und die Töne schraubten sich in ohrenbetäubende Höhen. Unbewusst ballte Arlen die Fäuste, als eine Art dichte Wolke aus dem Versteck des Dämons quoll – Hunderte kleine Winddämonen, ungeheuer beweglich und schnell, die mit ihren ledrigen Schwingen die Luft peitschten.

Der Strom nahm kein Ende. Zu Tausenden flatterten sie nun aus dem Höhlenschlund, flogen erschreckend synchron, als die Wolke sich in zwei Säulen teilte und in entgegengesetzten Richtungen den Rand des Siegelnetzes umkreiste. Unter ihnen befanden sich Mimikrys, die im Siegellicht heller glänzten als die anderen Dämonen.

»Verflucht!« Arlen spuckte in den Wind. Wenn sie hier blieben, würde ein derart großer Schwarm sie im Nu entdecken. Sowie einer der Dämonen gegen sie prallte, hätte der Seelendämon sie geortet.

»Schnell wie Everams Speer, ich mach mir gleich in den Bido«, knurrte er und flitzte davon.

Er musste Renna finden.

Renna war dem Energiestrahl so nahe, dass sie spürte, wie er ihre Füße versengte. Doch sofort veränderte sie ihre Position und flog den Weg zurück, den sie gekommen war, für den Fall, dass ein weiterer Ausstoß an Magie folgte.

Die Zusammenballung von Energie in der Mitte des Verstecks verströmte jetzt eine gleißende Helligkeit. Der Dämon sog große Mengen von Magie aus der Höhle in sich auf. Keine Kreatur konnte so viel Energie für längere Zeit in sich speichern, aber kurzfristig machte sie den Dämon unglaublich gefährlich.

Und dann rauschten die Winddämonen aus der Höhle heraus.

Aus der Ferne erinnerten sie Renna an die Fledermäuse, die in der Scheune ihres Vaters hausten, doch als sie näherkamen, sah sie, dass sie groß waren wie Hunde. Unter ihrem Panzer aus scharfen Schuppen ballten sich kräftige Muskeln, und in den aufgesperrten Mäulern blitzten spitze Zähne.

Sie machte sich davon, aber die Dämonen kreisten in zwei Richtungen an der Grenze des Siegelnetzes entlang. Auf diese Weise bildeten sie ein sich rasch ausdehnendes Netz, in dem sie und Arlen sich bald verheddern würden – falls sie ihn nicht bereits eingefangen hatten. Die aus der Höhle flutende Magie begann, zornig zu pulsieren.

Während ihres Fluges zeichnete sie hastig Windsiegel und verstreute sie hinter sich wie Reißzwecken. Dämonen prallten davon ab, als sie kurz davor waren, sie einzuholen, und brachten die akkurate Formation durcheinander. Aber es waren viel zu viele, um sie ernsthaft vertreiben zu können.

Vor sich sah sie, wie das Winddämonengeschwader Arlen überholte. Der machte kehrt und speiste Energie in seine Windsiegel. Die Tätowierungen funkelten in einem silbernen Glanz von blendender Helligkeit. Dämonen prallten vom Bannbereich ab und stießen mitten im Flug zusammen. Als die Lichtflut nachließ, hatte Arlen sich aus dem Schwarm gelöst und flog eilig in ihre Richtung.

Die Dämonenwolke überholte auch Renna. Sie tat es Arlen gleich und lenkte ebenfalls Energie in ihre Windsiegel, welche die Dämonen zurückschleuderten. Einer jedoch blieb verschont, prallte gegen sie und wickelte sich um sie wie eine Schlange.

Durch das zusätzliche Gewicht stürzten beide in die Tiefe. Renna ließ Energie in ihre Mimikrysiegel einströmen und versuchte, sich aus den Schlingen zu befreien, aber der Dämon ließ nicht locker und zog sie mit sich nach unten.

»Ren!«, schrie Arlen, doch der Boden raste bereits auf sie zu, und er würde sie nicht rechtzeitig erreichen. Sie sammelte Kraft in ihren Muskeln und Knochen, versuchte, ihren Bauch zu schützen, und hoffte, sie würde den Aufprall überleben.

Doch plötzlich entlud sich ein letzter Energieschwall aus der Höhle. In Wellen breitete er sich ringförmig aus, als hätte man einen Stein ins Wasser geworfen, und war befrachtet mit einem heulenden Schrei, den man mit den Ohren nicht hören konnte.

Sie kannte dieses Gefühl, hatte es schon einmal gespürt. Es war die Schockwelle, die der mentale Todeskampf eines Seelendämons auslöste. Sie rollte durch die immense Kolonie von Fledermausdämonen, ließ sie vom Himmel purzeln, und endlich lockerte der Mimikry seine Umklammerung. Sie kämpfte sich von ihm frei, und er krachte jaulend in die Baumspitzen.

Es gab eine Reihe von Explosionen, als Jardir Magie aus der Höhle saugte und sie in riesige Aufprallsiegel strömen ließ. Mit diesen Siegeln zerstörte er ganze Baumgruppen, welche die Schlüsselsiegel des Bannbereichs bildeten. Im nächsten Moment brach das Siegelnetz zusammen, und Renna raste auf die Höhle zu. Als sie kurz vor dem Einlass innehielt, holte Arlen sie ein. Seine Miene war grimmig, und sie wappnete sich für den nächsten Streit. Doch er sagte nichts, sondern richtete seine volle Aufmerksamkeit auf den Höhleneingang.

Die Säulen zu beiden Seiten des Einlasses waren stark verwittert und zerschrammt. Der Zahn der Zeit hatte an ihnen genagt, und Horclinge hatten sich an ihnen ausgetobt. Doch sie waren unverkennbar krasianischen Ursprungs. Trotz jahrtausendelanger Abnutzung durch Wind und Wetter konnte Renna immer noch die Dämonenfratze erkennen, die über der Höhle in den gewachsenen Fels gemeißelt war und deren weit aufgesperrtes Maul den Einlass in den Abgrund darstellte.

Arlen blieb dicht neben ihr. »Der Rachen des Abgrunds ist also nicht nur irgendein Name.«

»Alles andere hätte mich auch schwer enttäuscht.« Renna schwebte bis vor den Eingang, sog die reichlich vorhandene Magie ein und machte sich auf alles gefasst, als sie und Arlen die Höhle betraten.

Jardir wartete bereits auf sie. Mit erhobenem Speer stand er vor dem Kadaver eines Seelendämons. Als sie näher kamen, senkte er die Waffe. »Zwei Mimikrys waren auch noch hier. Aber sie starben zusammen mit ihrem Gebieter.«

Arlen nickte. »So wie die Fledermausdämonen da draußen.«

»Ein paar Mimikrys könnten überlebt haben«, sagte Renna. »Falls sie nicht voll getroffen wurden.«

Jardir nickte. »Wir sollten so schnell wie möglich Shanvah und den Gefangenen holen, bevor die überlebenden Dämonen Zeit finden, sich zu erholen.«

»Aber wir müssen den Karren hier hochhieven, bis vor den Höhleneingang«, sagte Arlen. »Es genügt, wenn ein Mimikry diesen Seelendämon mit einer Kralle berührt, und wir sind erledigt.«

»Wie schön, dass es dort, wo wir hingehen, keine Dämonen gibt«, brummelte Renna vor sich hin.

Arlen seufzte und kniff sich in den Nasenrücken. »Wenn du eine bessere Idee hast, Ren, dann ist jetzt der richtige Augenblick, um damit rauszurücken.«

Renna betrachtete den Seelendämon. »Hab nur mit mir selbst gesprochen. Wir sind alle nervös. Ihr zwei saust jetzt los und holt den Wagen. Ich bleib hier und halte die Stellung.«

Sie hatte damit gerechnet, dass Arlen misstrauisch würde, aber er schien bloß froh zu sein, ihr nicht widersprechen zu müssen. Außerdem hatte er recht. Es wäre sinnlos, seinen Plan infrage zu stellen, ohne einen besseren vorweisen zu können.

Die beiden Männer flogen davon, und sie wandte sich dem toten Dämon zu. Ob es tatsächlich in beide Richtungen funktionierte? In einer Hinsicht hatte Alagai Ka recht: Sie konnte den Erfolg ihrer Mission nicht aufs Spiel setzen, indem sie ihren einzigen Führer so mir nichts, dir nichts umbrachte. Aber vor ihr lag ein anderer Seelendämon, dessen Körper noch warm war …

Ehe sie es sich anders überlegen konnte, zückte sie ihr Messer. Die versiegelte Klinge schnitt tief in das zähe, knotige Fleisch, das den Schädel des Seelendämons überzog. Sie schälte die Haut ab und legte den darunterliegenden Knochen frei. Mit den Händen wischte sie das hervor quellende Dämonenblut weg und leckte sich dann die Finger ab.

Den ekelhaften Gestank des schwarzen Sekrets nahm sie kaum noch wahr, und auch der faulige Geschmack machte ihr nichts aus. Doch sie lernte, die feinen Unterschiede in der Magie zu erkennen. Sie konnte das Blut eines Steindämons von dem eines Felsendämons unterscheiden, spürte das Kribbeln, das ein Blitzdämon auf der Zunge hinterließ, und das so ganz anders war als das flüchtige Aroma eines Winddämons. Am deutlichsten erinnerte sie sich an das Blut eines Mimikrys, das sie von ihrer Messerklinge und ihrer Haut geleckt hatte. Sie ließ die Magie in ihrem Mund kreisen wie ein Stück Kautabak.

Aber nichts von alledem hatte Renna auf den Ansturm von Energie vorbereitet, den das Blut des Seelendämons auslöste. Er versetzte sie in einen Schockzustand, wie ein Sprung in eiskaltes Wasser. Zuerst zitterte sie, dann fühlte sie sich so lebendig und hellwach wie noch nie in ihrem Leben. Es war als koste sie sämtliche Aromen von Magie, und noch viel mehr.

Mit einem kräftigen Schlag des Aufprallsiegels am Griff ihres Messers zertrümmerte sie den dicken Schädelknochen, dann schob sie die Klinge in die Öffnung und hebelte die Schädeldecke auf, um das darunterliegende Gehirn freizulegen.

Es erinnerte an Gelatine, war glatt und glänzte vor Blut. Im Siegellicht hatte Renna noch nichts gesehen, das so hell strahlte wie der Schädelinhalt des Seelendämons. Sie schnitt ein großes Stück heraus, packte es und stopfte es sich gierig in den Mund.

Der Energiestrom, den der Geschmack des Blutes erzeugt hatte, war nichts verglichen mit dem magischen Blitz, der in ihrem Mund explodierte. Sie erlebte einen Begeisterungstaumel, die Welt rings um sie her schien sich all ihren Sinnen zu öffnen. Nie hätte sie dergleichen für möglich gehalten. Jeder einzelne Augenblick dehnte sich ins Unendliche aus, während ihr Bewusstsein erleuchtet wurde. Sie bestaunte die starr in der Luft stehenden Staubkörnchen, sah die Wirbel und Strudel in der Magie, die die Höhle füllten wie ein gefrorener Wasserfall.

Aber dieses Wissen sprudelte so schnell in sie hinein, dass ihr Verstand nicht mitkam. Was zuerst anmutete wie ein stärkender Balsam, drohte sie zu ertränken.

Energie knisterte in ihren Adern, flackerte ihre Nervenstränge entlang. Es war nicht dieses trockene Brennen, das einen überfiel, wenn man zu viel Magie in sich eingesogen hatte. Sie fühlte sich als hätte man sie bei lebendigem Leib auf einen lodernden Scheiterhaufen geworfen. Sie schrie, und mit jedem Laut schien sie Feuer zu spucken.

Eine Flut von chaotischen Eindrücken überschwemmte sie. Sinne, für die sie nicht mal einen Namen hatte, lieferten ihr Wissen wie ein entfesselter Fluss, der in der Frühlingsschmelze zu Tal braust. Bilder, die keinen Sinn ergaben.

Sie spürte auch Emotionen. Doch für die hatte Renna einen Namen.

Sie fühlte das Böse. Es drang in sie ein. Es reicherte sich in ihr an. Es verdarb sie.

Renna fiel zu Boden – oder sie hatte vielmehr den Eindruck, dass der Boden sich ihr entgegenhob, und danach war sie im Mahlstrom gefangen. Sie übergab sich, würgte schwarzes Dämonenblut und glibberige aschgraue Gelatine hervor, die mit Galle vermischt eine Pfütze vor ihrem Gesicht bildeten. Sie konnte weder denken noch ihren Körper fühlen, wusste nicht, ob sie überhaupt noch atmete. Sie fühlte nur noch Schmerzen und eine unfassbare Verwirrung. Vor ihren Augen flimmerte es, und sie begann krampfhaft zu zucken.

Dann fiel sie in bodenlose Schwärze.

»Man kann ihr nicht trauen, Par’chin!«

»Man kann keinem von uns trauen«, sagte Arlen. »Aber wie du selbst sagst, ist außer uns keiner da, der die Mission übernehmen könnte.«