Selias Geheimnis - Peter V. Brett - E-Book

Selias Geheimnis E-Book

Peter V. Brett

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Beschreibung

Bevor ihn alle Menschen als den Tätowierten Mann fürchteten und später als Erlöser feierten, war er einfach nur Arlen aus Tibbets Bach. Eine von denen, die ihn aufwachsen sahen, war Selia, die als Dorfsprecherin in Tibbets Bach für Ordnung sorgte und sich für Arlen einsetzte. Dass der oft widerwillige Respekt, der ihr von allen entgegengebracht wurde, sowie der abfällige Beiname »die Unfruchtbare« auf ein lange gehütetes Geheimnis der alten Frau zurückgingen, das ahnte niemand. Doch nun haben sich Seelendämonen den Geburtsort von Arlen ausgesucht, um als nächstes anzugreifen. Und in den Kämpfen um die Zukunft von Tibbets Bach brechen alte Wunden auf – heimliche Wunden, die Selia lange verborgen hielt. Als einige Dörfler sich plötzlich offen gegen sie stellen, beschließt Selia, sich nicht länger zu verstecken und ihr Geheimnis bloßzulegen. Das Geheimnis ihrer Liebe zu einer Frau …

Die Novelle Selias Geheimnis spielt nach den Ereignissen von Das Leuchten der Magie und Die Stimmen des Abgrunds. Das Buch enthält außerdem ein Grimoire der Siegelzeichen.

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Seitenzahl: 253

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Das Buch

Bevor ihn alle Menschen als den Tätowierten Mann fürchteten und später als Erlöser feierten, war er einfach nur Arlen aus Tibbets Bach. Er hatte Angst vor der Dunkelheit, in der die Dämonen Jagd auf alle Lebewesen machten, und er schaute auf zu denen, die trotzdem Mut bewiesen. Eine dieser wenigen Mutigen war Selia, die als Dorfsprecherin Arlen aufwachsen sah und sich für ihn einsetzte. Von allen respektiert, wurde sie dennoch nur »die Unfruchtbare« genannt. Dies ist ihre lange Zeit verschwiegene Geschichte …

Der Autor

Peter V. Brett, 1973 geboren, studierte Englische Literatur und Kunstgeschichte in Buffalo und entdeckte Rollenspiele, Comics und das Schreiben für sich. Danach arbeitete er zehn Jahre als Lektor für medizinische Fachliteratur, bevor er sich ganz dem Schreiben von fantastischer Literatur widmete. Mit seinen Romanen und Erzählungen aus der Welt von »Das Lied der Dunkelheit« hat er die internationalen Bestsellerlisten gestürmt. Peter V. Brett lebt in Brooklyn, New York.

Mehr über Peter V. Brett und seine Romane auf:

www.petervbrett.com

PETER V. BRETT

Eine Erzählung aus der Welt desFantasy-Bestsellers»Das Lied der Dunkelheit«

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe

BARREN

Deutsche Übersetzung von Ingrid Herrmann-Nytko

Deutsche Erstausgabe 10/2018

Redaktion: Charlotte Lungstrass

Copyright © 2018 by Peter V. Brett

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Illustrationen: Lauren Cannon

Karte: Andreas Hancock

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-23201-6V003

www.heyne.de

Für John Brett, Jr.

1970 – 1997

Es wird leichter, aber es wird nie leicht.

Ich weiß, wie sehr Kuriere jetzt gebraucht werden, Leesha.« Rennas Stimme klang ungewöhnlich ängstlich. »Aber wenn du einen nach Tibbets Bach schicken könntest …«

»Gleich nach dem Angriff haben wir einen losgeschickt«, sagte Leesha. »Aber es ist ein weiter Weg, selbst wenn das Pferd versiegelte Hufeisen trägt.«

Renna gab einen brummenden Laut von sich. »Das weiß ich selbst. Vor dem nächsten Neumond brauchst du gar nicht mit einer Antwort zu rechnen.«

Abermals klapperten die Würfel.

Inevera atmete tief durch. »Ich sehe ein Dorf, dessen Bewohner sich wie Marionetten bewegen, und ein Dämon zieht an den Fäden. Ich sehe, wie der Bruder seine Schwester umbringt, und wie der Vater den eigenen Sohn tötet.

Ich sehe eine leere Wiege.«

1

Das Großsiegel

334 NR

Selia regte sich und schlang die Arme fester um den Körper, der neben ihr lag. Glatte Haut über harten Muskeln, warm wie ein Krug voller frisch gebackener Kekse. Sie steckte ihre Nase in den dicken, geflochtenen Zopf und atmete tief ein. Der Duft war betörend.

Erschrocken riss Selia die Augen auf.

»Bei der Nacht, Mädchen!« Sie rüttelte Lesa, um sie zu wecken. »Du bist schon wieder eingeschlafen!«

Selia blickte zum Fenster, wo ein matter Lichtschein durch die Blendläden fiel. »Gleich geht die Sonne auf! Du musst …!«

»Schhhhh.« Lesa schob eine Hand nach hinten und strich über Selias Gesicht, bis ihre schwieligen Finger sich sanft auf deren Lippen legten. »Mam und Dad sind zu Jeph Strohballens Hof gefahren, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Sie können gar nicht wissen, dass ich nicht zu Hause übernachtet habe.«

Lesa kuschelte sich wieder in das weiche Federkissen und fiel erneut in Schlaf. Selia holte tief Luft, schmiegte sich an sie und versuchte ebenfalls einzuschlafen. Lesa hatte recht.

Aber Selia hatte noch nie schlafen können, wenn Sorgen sie plagten. Lesas Eltern mochten nicht daheim sein, aber sie wohnte immer noch unter ihrem Dach. Die junge Frau zählte kaum zwanzig Sommer, während Selia auf achtundsechzig Winter zurückblicken konnte. Eine Liebschaft zwischen zwei Frauen reichte schon aus, um in der Gemeinde schief angesehen zu werden. Sich eine Frau ins Bett zu holen, die so viel jünger war als sie, konnte sie das Amt der Sprecherin kosten – wenn man sie nicht einfach der ungeschützten Nacht aussetzte, um sie ein für alle Mal loszuwerden.

Selbst wenn Selia die Augen fest zukniff, sah sie in Gedanken immer noch Renna Gerber vor sich, wie sie auf dem Stadtplatz an einen Pfahl gebunden darauf wartete, dass die Dämonen sie zerfleischten.

Nein. Bei uns wird so etwas nie wieder passieren.

Aber Selia erinnerte sich daran, wie schnell Jeorje die Gemeinde gegen Renna aufgehetzt hatte, und er hatte weit mehr Grund, Selia in den Horc zu wünschen, als irgendein dummes Bauernmädchen.

Selias Arm, den sie unter Lesa geschoben hatte, wurde taub. Die Hitze, die die junge Frau verströmte, ließ sie beide schwitzen, und nackte Haut klebte an nackter Haut. Selia war es zu unbequem, um noch einmal einschlafen zu können, deshalb zog sie vorsichtig ihren Arm zurück, ganz langsam, um ihre Freundin nicht zu wecken.

Sie verplante bereits den Tag. Lesas Eltern waren nicht die Einzigen, die sich heute zu Jeph Strohballens Hof begaben. Es war Neumond, und Jeph hatte den Stadtrat aufgefordert, sich in dieser Nacht auf seinem Besitz einzufinden.

Es war ungewöhnlich, ein Treffen der Ratsmitglieder außerhalb von Stadtplatz anzuberaumen – zumal bei Nacht. Aber es kursierten Gerüchte über das, was Jeph auf seinem Land baute, und alle wollten wissen, was genau es damit auf sich hatte.

Selia brauchte keine Mutmaßungen anzustellen. Letzten Monat hatte Arlen seinen Vater besucht. Das wusste sie, weil in derselben Nacht Renna Gerber in Selias Hof aufgetaucht war und sie und Lesa beim Knutschen erwischt hatte.

Arlen und Renna, die beide Tibbets Bach den Rücken gekehrt hatten, brachten Hinweise auf nie dagewesene, drohende Gefahren. Sie warnten vor gewitzten Dämonen. Gestaltwandlern. Horclingen, die im Verbund vorgingen und Siegel zerstörten, wie Holzfäller im Wald eine Lichtung schlugen. Für Tibbets Bach war es schon schwer genug, sich gegen die üblichen Dämonen zu wehren. Die Kampfsiegel verbreiteten sich, aber nur wenige Leute hatten sich in der ungeschützten Nacht behauptet. Auf das, was sie erwartete, waren die Menschen nicht vorbereitet.

Selia stand vom Bett auf und tappte leise zur Waschschüssel. Lesas Duft hing noch an ihr, der Beweis für ihre Sünde. Renna hatte sich versteckt, bis Selia Lesa fortgeschickt hatte, und später, bei Tee und Keksen, hatte sie das, was sie beobachtet hatte, mit keinem Wort verurteilt. Aber Selia hatte sich selbst dafür verwünscht, wie leichtsinnig sie geworden waren.

Die Leute nannten dich immer Selia die Unfruchtbare, hatte Renna bemerkt. Aber nach dem, was ich gesehen habe … Vielleicht bist du doch nicht so unfruchtbar.

Wenn Selia und Lesa so weitermachten, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Stadt alles über sie herausfand. Zweifelsohne erinnerten sich die älteren Bewohner an die Gerüchte aus vergangenen Tagen und stellten Vermutungen an.

Selia wusch sich das Gesicht. Das kalte Wasser ließ sie endgültig wach werden. Sie blickte in den versilberten Spiegel, in dem sie sich fast siebzig Jahre lang betrachtet hatte, doch das Gesicht, das ihr entgegenstarrte, kam ihr nur vage vertraut vor – eine verblasste Erinnerung, die plötzlich wieder auflebte.

Die tiefen Furchen in ihrem Gesicht waren verschwunden. Ihr einstmals graues Haar wuchs an den Wurzeln blond nach. Diese Haarfarbe war selten in Tibbets Bach, ein Erbe ihres Vaters Edwar, eines Milneser Kuriers, der sich entschlossen hatte, in der Gemeinde sesshaft zu werden.

Selia sah auf ihre Hände. Die früher durchscheinende Haut war nun glatt und elastisch, die Altersflecken wurden von der Sonnenbräune überdeckt.

Sie richtete sich aus der halb gebückten Stellung auf, ohne dass ihr Rücken schmerzte. Schultern und Knie taten nicht mehr weh. Ihre Fingergelenke ließen sich frei bewegen.

In der Nähe der Waschschüssel stand griffbereit der Speer, den Arlen ihr geschenkt hatte. Mit den Fingerspitzen strich sie über die zierlichen, in den Schaft eingeschnitzten Siegel und erschauerte, als sie sich an den Strom von Magie erinnerte, der durch das Holz in ihren Arm geschossen war, als sie ihren ersten Dämon erlegte. Es war eine ungezügelte, berauschende Macht. Unter ihrem Einfluss bewegte sie sich mit einer regelrecht … übermenschlichen Kraft und Geschwindigkeit und kämpfte wie ein rasendes Tier.

Nach dem Kampf hielt das Gefühl der Unbesiegbarkeit nicht lange vor, doch ein wenig Energie blieb erhalten. Als sie am folgenden Tag aufwachte, fühlte sie sich so erfrischt wie seit Jahren nicht mehr.

Seitdem hatte Selia viele Dämonen getötet und die Bürgerwehr von Stadtplatz von einem Sieg zum nächsten geführt. Allmählich säuberte man jeden Hof und jedes Feld in Tibbets Bach von Horclingen.

Der Rausch der Magie machte süchtig, wie viele Leute am eigenen Leib erfuhren. Auch Selia war ihm erlegen. Er stärkte nicht nur den Körper, er steigerte auch die Leidenschaft.

Ihre Hand zuckte von der Waffe zurück als wäre sie plötzlich glühend heiß geworden. Dann warf sie einen Blick auf Lesa, die zufrieden schnarchte.

Jeder Narr, der einmal eine Jongleursvorstellung gesehen hatte, wusste, dass Magie ihren Preis hatte.

»Raus aus dem Bett, du faules Mädchen.« Selia versetzte Lesa einen Schubs. »Der Tee ist heiß, und zum Horc mit dir, wenn du ihn kalt werden lässt.«

Lesa schlug die Decke zurück und stand vom Bett auf. Ohne sich ihrer Nacktheit zu schämen, bückte sie sich, um ihre Hose vom Boden aufzuheben. Sie lächelte, als sie hochblickte und sah, wie Selia sie anstarrte.

Selia riss die Bluse vom Bettpfosten und warf sie dem Mädchen zu. Aber auch sie lächelte. »Zieh dich an. Ich hol schon mal die Butterkekse aus dem Ofen.«

Bald darauf betrat Lesa die Küche. Obwohl Selia ihr den Rücken zukehrte, merkte sie, dass die junge Frau nach dem mit Teig verschmierten Löffel in der Rührschüssel griff. Ohne hinzuschauen schnappte sie sich den Löffel und schlug damit auf Lesas Handrücken.

»Au!« Lesas Hand zuckte zurück.

»Den Löffel abzulecken ist eine Belohnung, kein Vorrecht.« Selia stellte einen Teller voll Kekse zum Abkühlen auf das Fenstersims. »Deck den Tisch und schenk Tee ein. Die Kekse von gestern sind in der Steingutschüssel.«

Lesa hob eine Faust und drehte sie, um die Teigspritzer zu zeigen, die am Handrücken klebten. Dann leckte sie den Teig genüsslich ab.

Selia drohte ihr mit dem Rührlöffel, und Lesa lachte, ehe sie sich auf die Schüssel mit den Keksen stürzte. »Manchmal vergesse ich, dass du immer noch die alte Lady Unfruchtbar bist.«

Selia zog fragend eine Braue hoch. »Nennen die Kinder mich jetzt so?«

Lesa errötete. »Ich wollte dich nicht …«

Selia winkte ab. »Schon gut. Aber was werden die anderen jungen Leute sagen, wenn sie erfahren, dass du mit der alten Lady Unfruchtbar schläfst?«

Lesa zwinkerte ihr zu. »Wenn wir zusammen im Bett sind, kommen wir ja kaum zum Schlafen.«

»Du weißt, was ich meine«, sagte Selia.

»Bei dir klingt das so, als würde es auf jeden Fall herauskommen«, sagte Lesa.

»Wenn du erst mal eine alte Dame bist, weißt du, dass letzten Endes alles herauskommt.«

Lesa riss gereizt die Hände hoch. »Und wenn schon. Du bist die Sprecherin der Gemeinde Tibbets Bach. Jede Nacht ziehst du los und tötest Horclinge, damit die anderen in Sicherheit sind. Ohne dich wäre die Gemeinde verloren. Und ich war meinen Eltern immer eine gehorsame Tochter. Die Narben, die die Dämonen mir zugefügt haben, beweisen, was ich für Tibbets Bach alles getan habe. Was ist schon dabei, wenn die Leute herausfinden, dass wir warme Schwestern sind?«

Selia fuhr zusammen. »Woher kennst du diesen Begriff? Weißt du überhaupt, was er bedeutet?«

Lesa zuckte mit den Achseln. »Das weiß doch jeder. Warme Schwestern sind Mädchen, die mit anderen Mädchen Bussi-Bussi spielen.«

Selia biss sich auf die Zunge. »Als ich früher in der Schule unterrichtet habe, wurde über so etwas nicht geredet.«

Lesa blinzelte. »Du warst Schulmeisterin?«

»Nein.« Selia schüttelte den Kopf. »Aber meine Mutter, Lory.«

Lesa verspritzte Tee, während sie einen Keks in die Tasse tunkte und ihn sich in den Mund stopfte, ehe er weich wurde. Als sie dann sprach, versprühte sie Krümel. »Erzähl mir von ihr.«

Selia fuchtelte mit dem Holzlöffel in der Luft herum. »Jetzt ist keine Zeit für Geschichten. Die Sonne geht auf. Iss dein Frühstück auf und verdrück dich durch die Hintertür, ehe dich jemand sieht. Geh durch die Färbergasse.«

Lesa rümpfte die Nase. Die Gasse hinter der Färberwerkstatt, in der Jan seine Bottiche mit den Färbemitteln stehen hatte, stank bestialisch und wurde tunlichst gemieden. Der ideale Weg für jemanden, der unentdeckt bleiben wollte.

»Ich möchte aber lieber hierbleiben«, widersprach Lesa. »Sag den Leuten doch einfach, ich wäre im Morgengrauen gekommen, um dich zu begleiten.«

»Seit wann brauche ich Begleitung, um von meinem Haus aus in den Ortskern zu gehen?« Selia bedachte Lesa mit ihrem berühmten – oder berüchtigten? – Blick. Ihre Falten mochten sich geglättet haben, aber ihrem grauen Haar zollte man in der Gemeinde immer noch Respekt.

»Ay, Sprecherin.« Lesa wischte sich den Mund ab und ging ohne ein weiteres Wort.

Das wird dir noch leidtun. Erleichtert atmete Selia auf, als sich die Tür hinter dem Mädchen schloss. Wieder einmal Glück gehabt. Wie lange konnte das noch gutgehen?

Selia war der Appetit vergangen. Sie stellte die Schüssel mit den Keksen beiseite, holte ihr Schreibzeug und schrieb noch ein paar Briefe an ihre Verwandten in Fort Miln. Seit über einem Jahr war kein Kurier mehr aufgetaucht, aber früher oder später würde einer hier eintreffen, und ihr Vater hatte ihr beigebracht, sich stets auf alles vorzubereiten.

Nach einer Stunde packte sie die frisch gebackenen Kekse in einen Topf und begab sich in den Stall, wo Butter, ihr temperamentvoller Wallach, wartete. Die alte Kurierrüstung ihres Vaters steckte in den Satteltaschen, die sie jetzt von Butters Rücken herunterzog. Die Harnisch-Schmiede hatten ein paar Rüstungsteile entfernt oder umgesetzt und so lange gehämmert, bis ihr die Rüstung passte, doch der Geruch nach altem, schweißdurchtränktem Leder erinnerte Selia immer noch an Edwar. Es war tröstlich zu wissen, dass dasselbe Metall, das ihren Vater auf seinen Reisen geschützt hatte, nun ihr Schutz bot.

Sein Schild bestand aus Goldholz mit einer Auflage aus feinstem Milneser Stahl. Die Abwehrsiegel waren auch nach jahrzehntelangem Gebrauch noch stark. Und obwohl der Schild fünfzig Jahre lang nur als Zierrat den Kamin geschmückt hatte, als Edwar aus dem Kurierdienst ausschied, hatten sie nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Lediglich sein Speer hing noch über dem Kamin, denn die schöne Waffe war derjenigen, die Arlen ihr geschenkt hatte, weit unterlegen.

Selia führte ihr Pferd die Straße hinunter in die Ortsmitte von Stadtplatz. Sie war froh, dass Lesa nicht bei ihr war, als sie Fürsorger Harral, Meada Torfstecher und die Schmucke Coline erblickte, die bereits mit der Bürgerwehr auf dem freien Platz auf sie warteten. Es hätte nur Gerede gegeben, wenn sie in Lesas Begleitung aufgetaucht wäre.

Meadas Sohn Lucik war auch gekommen, ebenso seine Frau Beni. Außerdem fast ein Dutzend Männer und Frauen aus dem Weiler Torfhügel. Auf ihren runden Schilden prangten zwei konzentrische Kreise aus Siegeln, in deren Mitte ein schäumender Bierkrug gezeichnet war. Die Torfstecher-Sippe trug Harnische aus gehärtetem Leder mit eingebrannten Bannzeichen und hielt ihre versiegelten Speere griffbereit.

Bei Selia waren die Veränderungen durch die Magie zwar augenfälliger, doch selbst der Begriffsstutzigste konnte sehen, dass auch diese Kämpfer unter dem Einfluss einer geheimnisvollen Kraft standen. Menschen, die Selia ihr Leben lang gekannt hatte, veränderten sich deutlich. Fürsorger Harrals Rüstung war am Pferd eines seiner Gehilfen befestigt, doch seinen Speer und den Kanon hatte er parat. Pralle Muskeln füllten die Ärmel seiner einstmals locker sitzenden Kutte aus.

Meadas graues Haar wies braune Strähnen auf. Sie hatte die Bürgerwehr von Torfhügel angeführt, als es darum ging, die Umgebung ihres Weilers von Dämonen zu säubern, doch dann gab sie den Speer an ihren Sohn weiter. Lucik war immer ein kräftiger Bursche gewesen, aber in den letzten Monaten hatte er fünfzig Pfund an Muskeln zugelegt. Sonst ein ruhiger Charakter, geriet er in Raserei, wenn er gegen Horclinge kämpfte.

»Sprecherin.« Lucik senkte den Blick, als Selia ihn ansah. Im Kampf war er ein Wüterich, gewiss, doch ansonsten glich er einem zutraulichen, jungen Hund.

»Guter Junge.« Sie widerstand dem Drang, ihn hinter den Ohren zu kraulen.

Meada schnaubte, als Lucik rot anlief. »Schön, dich zu sehen, Sprecherin.«

»Und ich freue mich, dich hier anzutreffen, Meada. Entschuldige, dass ich mich in letzter Zeit nicht bei euch habe blicken lassen.« Während Selia sprach, wanderten ihre Blicke über die versammelte Bürgerwehr von Stadtplatz. Jeweils fünf Reiter standen in fünf Reihen hintereinander. Fünfundzwanzig ihrer besten Kämpferinnen und Kämpfer, die für Ruhe sorgten und nach Sonnenuntergang die Menschen vor Horclingen beschützten. Die Siegel auf ihren hölzernen Schilden waren zu einem akkuraten Quadrat angeordnet, in dessen Mitte eine Landkarte von Tibbets Bach abgebildet war.

»Das macht doch nichts«, sagte Meada. »Der Schöpfer weiß, wie beschäftigt du damit warst, Horclinge zu töten, und dafür ist dir jeder dankbar.«

»Der Dank gebührt vielen Leuten, einschließlich dir und deinem Sohn.« Selia entdeckte Lesa an der ihr zugewiesenen Stelle in der zweiten Reihe der Formation. Nahe genug, um sie im Auge zu behalten, aber nicht so nahe, um eine Begünstigung zu argwöhnen. Normalerweise hätte Lesa Selia in die Augen geschaut und verschmitzt gelächelt, heute jedoch hielt sie ihren Blick starr geradeaus gerichtet.

Sie war immer noch verstimmt.

Ist vielleicht ganz gut so, wenn der Stadtrat sich trifft.

»Brine hat uns benachrichtigt, dass wir nicht auf die Holzfäller warten sollen«, sagte Harral. »Sie kommen auf eigene Faust zu Jephs Hof. Rusco Vielfraß ist im Morgengrauen aufgebrochen, zusammen mit einem Dutzend seiner Ladenwächter.«

Selia räusperte sich. »Ladenwächter« nannte Rusco diese Leute, doch sie entwickelten sich zu seiner persönlichen Leibgarde. Die Bürgerwehr von Stadtplatz bestand samt und sonders aus Freiwilligen, Männern und Frauen, die tagsüber ihren normalen Alltagsbeschäftigungen nachgingen und bei Sonnenuntergang nach draußen gingen, um ihre Mitmenschen zu beschützen. Die meisten stellten ihre versiegelten Waffen und ihre Ausrüstung selbst her, manche mit mehr, manche mit weniger Geschick.

Ruscos Ladenwächter trugen ausnahmslos Harnische aus derbem, mit Silber beschlagenem Leder. Ihre einheitlichen Speere waren von höchster Qualität und meisterlich versiegelt. Die drei konzentrischen Siegelkreise auf ihren mit Stahl verstärkten Schilden zeigten in der Mitte ein Bild des ursprünglichen Gemischtwarenladens, den Rusco nach seiner Ankunft in Tibbets Bach gegründet hatte.

Die Ladenwächter trugen ihren Teil dazu bei, Dämonen aus Stadtplatz zu vertreiben, und sie unterstützten die Bürgerwehr dabei, Horclinge zu töten, die sich auf wertvollen Landflächen herumtrieben. Aber es bestand nicht der geringste Zweifel daran, wer diese Truppe befehligte.

»Dann wollen wir keine Zeit verlieren.« Selia schwang sich auf ihr Pferd, und sie ritten los in Richtung Norden.

Auf Jephs Hof herrschte bereits rege Betriebsamkeit, als sie eintrafen. Ruscos Pavillonzelt war aufgebaut. Seine Töchter, Dasy und Catrin, beide mit muskelbepackten Armen, verkauften Speisen und Bier. Die Ladenwächter entluden immer noch Karren, und Rusco selbst schleppte zwei Fässchen Bier, die er sich unter die Arme geklemmt hatte.

»Bei der Nacht«, staunte Coline. »Er sieht wieder aus wie damals, mit dreißig.«

Rusco war immer ein Kraftprotz gewesen, aber er hatte mehr als sechzig Winter auf dem Buckel, und seit ein paar Jahren sah man es ihm an. Doch genau wie Selia schien er immer jünger zu werden, und die Falten in seinem Gesicht waren verschwunden. Haupthaar und Bart waren kohlschwarz, wobei er die letzten grauen Fäden herausgezupft hatte. Die kahle Stelle auf seinem Kopf war dichten Locken gewichen.

»Das ist unnatürlich«, sagte Coline. Harral grunzte zustimmend. Sogar Meada nickte.

Selia wandte sich zu ihnen um und zog eine Augenbraue hoch.

»Bei dir ist es was anderes, Sprecherin«, sagte Coline. »Du bist jede Nacht draußen und riskierst dein Leben, um andere Menschen zu schützen. Das ist nicht dasselbe wie Ladenwächter zu bezahlen, damit sie jeden Fünfttag einen Dämon in Ketten anschleppen, dessen Magie Rusco sich dann einverleibt.«

»Ay, mag schon sein«, sagte Selia. »Aber der alte Vielfraß hat dieser Gemeinde auch viel Gutes getan. Anderenfalls hätte ich ihn schon längst wegen Betrugs aus dem Ort gejagt.«

»Ay«, pflichtete Meada ihr bei. »Du darfst jedoch nicht vergessen, dass er dafür stimmte, Renna Gerber der Nacht zu überantworten, weil er glaubte, das sei für sein Geschäft das Beste.«

Coline senkte den Blick und machte ein verlegenes Gesicht. Denn auch sie hatte dafür gestimmt, Renna den Horclingen zu überlassen. Niemand, nicht einmal Selia, hatte ihr das wirklich vergeben.

»Der Schöpfer schickt uns Prüfungen sowie Triumphe«, warf Harral ein. »Vielleicht hat er Rusco eigens hierher gesandt, damit er für Rennas Hinrichtung stimmte. Womöglich hat dies den Erlöser zu uns geführt, damit er die Zerwürfnisse in unserer Gemeinde beilegt.«

»Wenn dieser Kurier der Erlöser ist, fresse ich meine Keksschüssel«, sagte Selia. »Er hat hier keinen Streit geschlichtet. Tibbets Bach ist zerstrittener denn je.«

»Auch das gehört zum Plan des Schöpfers«, sagte Harral. »In Tibbets Bach herrscht seit Langem Abendstimmung. Vielleicht muss erst die Nacht über uns hereinbrechen, bevor der neue Morgen dämmert.«

Selia rümpfte die Nase. »Was der Schöpfer mit uns vorhat, können wir nicht wissen, pflegte mein Dad zu sagen. Wir wissen nur, dass er nicht vom Himmel herabsteigt, um unsere Post zu befördern.«

»Was hat er damit gemeint?«, fragte Coline.

»Damit hat er gemeint, dass wir unsere Probleme selbst lösen müssen.« Selias Blicke kreuzten sich mit denen der Kräutersammlerin. »Und dass es uns obliegt, die richtigen Entscheidungen zu treffen.«

Coline zuckte zusammen und wandte den Blick ab. »Ay, Sprecherin.«

Jeph Strohballen präsentierte sein neues Großsiegel wie ein preisgekröntes Schwein beim Fest zur Sommersonnenwende. Jetzt stellte sein Land ein einziges in sich geschlossenes Schutz- und Abwehrsiegel dar. Gebildet wurde es durch Zäune, Sträucher, Hecken, Steinwege und Scheunen mit gebogenen Dächern. Die Hopfenfelder verliefen nicht mehr in geraden Reihen, sondern waren zu gekrümmten Linien gestutzt. Schlichte Formen verschmolzen übergangslos miteinander und verwoben sich zu höchst komplizierten Mustern. Mit großen Augen wanderten die Leute umher, während sie darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen, den Wachturm zu erklettern, um sich das Großsiegel von oben anzuschauen.

Jeph löste sich von einer Gruppe, als er Selias Ankunft bemerkte. »Sprecherin.«

»Du bist jetzt selbst ein Sprecher, Jeph Strohballen«, erinnerte Selia ihn. »Also darfst du Selia zu mir sagen.«

Jeph schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht so weit. Ich will in der Gemeinde keine führende Rolle einnehmen.«

»Ob es dir passt oder nicht, Jeph, du bist bereits ein Anführer. Um Menschen zu führen, bedarf es mehr als schöner Worte. Die Leute brauchen ein Vorbild, und mit diesem Monumentalwerk, das du geschaffen hast, hast du uns alle maßlos beeindruckt.«

»Wartet erst ab, bis es dunkel wird«, sagte Jeph.

Lautes Gebrüll ertönte, und sie sahen Mack Weide, der sich wütend von Rusco abwandte. Der Vielfraß stand mit vor der Brust verschränkten Armen da. Hinter ihm hatten sich zwei seiner Ladenwächter in drohender Haltung aufgebaut.

Mack trabte in ihre Richtung, und Selia seufzte. Weide hatte sich zu einer wahren Nervensäge entwickelt, seit der Rat ihn als Sprecher für die Bauernschaft abgewählt und Jeph den Posten gegeben hatte.

»Alles in Ordnung, Mack Weide?«, rief Selia ihm entgegen.

»Nein, nichts ist in Ordnung, beim Horc, verdammt!«, schrie Mack. »Der Vielfraß will mir keinen versiegelten Speer verkaufen, weil ich anschreiben lassen muss!«

»Du hättest längst deinen eigenen Speer haben können«, sagte Jeph, »wenn du nicht so feige gekniffen hättest, als der Kurier bei uns war.« Zwischen den Leuten, die damals Renna Gerber hatten schützen wollen, und denen, die sie zum Tode verurteilten, herrschte eine tiefe, unüberbrückbare Kluft.

»Ich habe gar keinen Speer gebraucht«, schnauzte Mack, »bis Rusco den alten Gerber-Hof gekauft hat und seine Ladenwächter losschickte, um die Horclinge vom Land zu vertreiben. Daraufhin wanderten die Bestien zu mir ab. Sie erschrecken das Vieh und greifen die Siegel an, bis sie versagen. Und jetzt leiht mir der alte Vielfraß nicht mal einen Speer!«

Selia schürzte die Lippen. Sie hatte genauso wenig Mitleid mit Mack wie Jeph, aber in Gedanken hörte sie den klugen Ratschlag ihres Vaters.

Wer für die Gemeinde spricht, setzt sich für jeden ein und begünstigt oder benachteiligt niemanden.

»Morgen Nacht schicke ich die Bürgerwehr zu dir, die anfangen wird, dein Land von Horclingen zu säubern«, versprach Selia.

Als Nächste trafen Brine der Breite und sein angenommener Sohn Manie ein. Selia erinnerte sich noch gut daran, wie der Junge eines Nachts zitternd an ihrem Tisch gesessen hatte, als die Horclinge im Jahr 319 NR die Siegel des Weilers am Wald durchbrochen hatten. Mittlerweile war Manie ein erwachsener Mann, groß gewachsen und mit schwellenden Muskeln. Auf seinem Rücken prangte eine versiegelte Breitaxt, als er und sein Vater begleitet von zwanzig hünenhaften Holzfällern in Jephs Hof Einzug hielten.

Es wurde Nachmittag, ehe die Fischer-Sippe die Straße heraufkam. Raddock Advokat, ihr Sprecher, war älter als Selia. Sein dichter Bart war ganz weiß, das Gesicht tief zerfurcht.

Raddock riss die Augen auf, als er Selia sah. Seit er ihr das letzte Mal begegnet war, schien sie um Jahrzehnte jünger geworden zu sein. Sie sah beinahe wieder so aus wie vor fünfzig Jahren, als Raddock ihr den Hof gemacht hatte. »Schätze, ich sollte mich nicht wundern, dass auch du das Widernatürliche ausnutzt, Selia.«

Selia spürte Wut in sich aufsteigen. »Ich habe nichts weiter getan, als mich für das Wohl der Gemeinde einzusetzen, während du und die deinen zu stur wart, um auch nur einen Finger für die Allgemeinheit zu krümmen!«

So viel zum Thema Unvoreingenommenheit. Aber Raddock brachte sie einfach immer zur Weißglut.

»Und zum Wohl der Gemeinde gehört auch, dass du die Fischer-Sippe bestrafst, Sprecherin?« Garric Fischer war wesentlich jünger als Selia, überragte sie um mindestens eine Haupteslänge und wog anderthalb Mal so viel wie sie. Er beugte sich vor, in dem Versuch, sie einzuschüchtern. Doch selbst als alte Frau mit schmerzenden Knochen hatte Selia vor nichts und niemandem Angst gehabt. Und wer ihr jetzt dumm kam, den würde sie in den Horc schicken, das war so sicher wie der Sonnenaufgang.

»Ich bestrafe niemanden.« Selia überlegte, wie sie den drohend vorgebeugten Mann zu Boden schlagen konnte, ohne ihm die Knochen zu brechen. »Ich habe die Bürgerwehr losgeschickt, um in Fischweiher aufzuräumen, wie wir es vereinbart hatten.«

»Ay, aber dafür beanspruchen sie ein Zehntel der gefangenen Fische!«, knurrte Raddock. »Und deine Bürgerwehr schikaniert uns und plündert uns aus!«

Selia blinzelte. »Wie bitte?«

»Sie berauschen sich an Dämonenmagie und blicken auf normale Menschen herab!«, fuhr Raddock fort. »Garric hat gesehen, wie Mitglieder der Torfstecher-Sippschaft gegen seinen Zaun pissen und Dämonenscheiße auf die Türschwelle schmieren. Neulich hat jemand einen Horcling in meinem Hof am Boden festgenagelt. Bei Sonnenaufgang brannte er lichterloh wie ein Scheiterhaufen.«

Nichts davon konnte Selia überraschen. Im vergangenen Jahr hatte die Fischer-Sippe Tibbets Bach buchstäblich auf den Kopf gestellt, und viele Leute nahmen ihnen das sehr übel. Raddock hatte recht mit seiner Behauptung, dass die Magie die Ursache dafür war, wenn Menschen außer Rand und Band gerieten. Ohnehin schon erhitzte Gemüter gerieten vollends außer Kontrolle, und manche Leute ließen sich zu Taten hinreißen, die unentschuldbar waren.

Sie stieß den Atem durch die Nase aus. »Danke, dass du mich auf diese Missstände aufmerksam gemacht hast, Raddock. Ich sorge dafür, dass dieser Unfug sofort aufhört.«

»Das reicht aber nicht, Selia«, geiferte Raddock. »Ich will, dass Strafen verhängt werden. Stam Schneider hat mit Maddy Fischer im Boot ihres Vaters rumgemacht! Er hat sie unter Deck gelockt!«

Selia ballte eine Faust und stellte sich vor, sie würde Stam erdrosseln. »Er hat sich Maddy gegen ihren Willen aufgedrängt?«

»Ob sie es freiwillig oder unfreiwillig mit ihm getrieben hat, spielt doch keine Rolle!«, wütete Raddock. »Sie ist dreißig Sommer jünger als er! Das ist doch abartig!«

Selias Blick huschte zu Lesa, und dieses Mal sah das Mädchen ihr selbstbewusst in die Augen. Sie stand mit den übrigen Mitgliedern der Bürgerwehr von Stadtplatz zusammen, und alle rüsteten sich zum Einschreiten, sollte die Fischer-Sippschaft einen handfesten Streit beginnen. Raddock merkte, dass die Blicke der beiden Frauen sich kreuzten, und mit finsterer Miene betrachtete er die Bürgerwehr. Die Fischer-Sippe war mit einem Dutzend Männer aufgetaucht, aber beide Seiten wussten, dass sie es nicht mit Kämpfern aufnehmen konnten, die Nacht für Nacht Dämonen töteten.

»Maddy zählt neunzehn Sommer, Raddock«, sagte Selia. »Sie entscheidet selbst, mit wem sie sich einlässt. Und dich geht das schon gar nichts an.«

»Aber was ist mit ihrem Dad?«, trumpfte Raddock auf. »Er wollte die beiden auseinanderbringen, und Stam hat ihm ein blaues Auge verpasst.«

Selia schürzte die Lippen. »Ich werde mit Stam reden und der Sache auf den Grund gehen. Wenn es so ist, wie du sagst, dann muss er die Finger von dem Mädchen lassen und mit ihrem Vater Frieden schließen.«

»Mit einem Gespräch ist es nicht getan, Selia«, sagte Raddock. »Laut Gesetz muss er auf dem Stadtplatz ausgepeitscht werden.«

Selia schüttelte den Kopf. »Als wir das letzte Mal einen Menschen auf dem Platz an einen Pfahl banden, geriet die ganze Gemeinde aus den Fugen. Das darf nie wieder vorkommen.«

»Du findest auch immer einen Vorwand, um der Fischer-Sippe Gerechtigkeit zu verweigern«, höhnte Raddock. »Du machst dir nicht mal mehr die Mühe so zu tun, als hätte der Stadtrat ein Wörtchen mitzureden.«

»Blödsinn!«, schnauzte Selia. »Aber nicht jeder Streit landet vor dem Stadtrat, Raddock. Vielleicht lässt sich dieser Hader aus der Welt schaffen, wenn Stam sich entschuldigt, Maddy in Ruhe lässt und für Fischweiher ein paar neue Bootssegel anfertigt.«

»Ich will keine verdammten Segel!«, grollte Raddock.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Selia. »Du willst immer nur Blut sehen, Raddock. Das war schon vor fünfzig Jahren so, und seitdem hast du dich nicht geändert.«

Raddock verzog das faltige Gesicht. »Es gelüstet mich nicht nach Blut, Selia. Das Einzige, was ich jemals eingefordert habe, war Respekt, und den hat man mir verweigert. Damals und auch jetzt. Ich will respektiert werden, aber offenbar ist das zu viel verlangt.«

Nicht zum ersten Mal juckte es Selia in den Fingern, ihm eine saftige Maulschelle zu verpassen. Hatte er denn vergessen, wie übel er ihr und anderen mitgespielt hatte, als sie noch jung waren? Wie konnte er es wagen, sich so aufzuspielen?

»Die Fischer-Sippe befindet sich im Recht, Selia.«

Selia drehte sich um und sah, dass Jeorje Südwächter mit fünfzig bewaffneten Wachleuten eingetroffen war. Die Männer trugen ihre traditionelle Kluft – gebleichte weiße Hemden, schwarze Hosen mit Hosenträgern, hohe schwarze Stiefel, schwarze Jacken und breitkrempige Hüte. Die Jacken waren unförmiger als noch vor einem Jahr, da zur Abwehr von Horclingen Platten aus versiegeltem Glas eingenäht worden waren. Auch die Hüte waren verstärkt und mit dicken Kinnriemen ausgestattet.