Die Flucht nach Ägypten - Grazia Deledda - E-Book

Die Flucht nach Ägypten E-Book

Grazia Deledda

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Beschreibung

Grazia Deledda, (1871-1936) war eine italienische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin der Literatur des Jahres 1926. Sie zählte zu den bedeutendsten Autorinnen des Naturalismus innerhalb der italienischen Literatur. In ihren Werken schildert sie das harte Leben der Sarden. Deleddas Bücher sind Schicksalsromane, die oft Frauen als zentrale Figuren haben, die in Konflikten um Ehre, Glauben und ge-sellschaftliche Vorurteile zerrieben werden. Das Nobelpreiskomitee verlieh ihr den Preis "für ihre von Idealismus getragenen Werke, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben auf ihrer heimatlichen Insel schildern und allgemein menschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandeln."

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Die Flucht nach Ägypten

Titel Seite

Grazia Deledda

Die Flucht nach Ägypten

Italienischsprachige Originalausgabe: Grazia Deledda: La fuga in Egitto. Rom. 1925.Deutsche Übersetzung: Ernst Fall: Die Flucht nach Ägypten. 1928.Neuausgabe: 2018 Helvetius Verlag, Saillon Textbearbeitung: Helvetius Verlag, SaillonCovergestaltung: © Helvetius Verlag, SaillonVertrieb: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Nachdem der Schulmeister Giuseppe De Nicola vierzig Jahre an der Elementarschule unterrichtet hatte, hatte er sich pensionieren lassen und schickte sich an, eine Reise zu unternehmen.

Die Vorgeschichte ist folgende: In seiner Jugend hatte er einen verwaisten Knaben adoptiert, in der Hoffnung, ihn zu seinem Nachfolger in der Schule seiner Heimat zu machen. Aber der Junge fand mehr Gefallen an einem abenteuerlichen Leben. Eines Tages war er von Hause durchgebrannt und, nachdem er sich in allen Berufen versucht hatte, vom Schiffsjungen bis zum Hafenlastträger, vom Gemsenjäger bis zum Zollbeamten, heiratete er schließlich die Witwe eines Barkeninhabers, dessen Nachlaß aus einem Häuschen mit Weingarten und Äckern bestand.

Nachdem er schließlich einen Beruf gefunden hatte, der ihm behagte, schickte der junge Mann seinem Adoptivvater ein Päckchen Zigarren, ein Überbleibsel aus seiner stürmischen Vergangenheit, nannte seine Tochter nach ihm Giuseppina Nicola und lud ihn überdies, auch im Namen seiner Frau ein, zu ihnen zu kommen und bei ihnen zu wohnen.

Und als der Schulmeister, der in einem weltverlorenen Winkel zwischen Bergen und Tälern wohnte, an diese neue Familie in der märchenhaften Landschaft am Meere dachte, reifte in ihm der Entschluß, sich auf die Reise zu machen, wie einer der Heiligen Drei Könige, der nach Bethlehem zog. Aber er fürchtete sich vor dem weiten Weg, vor den Eisenbahnunfällen, die damals sehr zahlreich waren, vor dem fünfmaligen Umsteigen, bevor er an sein Ziel gelangte.

So vergingen mehrere Jahre, bevor er sich pensionieren ließ. Als er jetzt ganz allein war, ohne die lärmende Familie seiner Schüler, entschloß er sich zu der großen Reise und brach wirklich auf, froh und gottesfürchtig, jedoch nicht frei von einer gewissen Angst.

Es war dies seine erste Reise, seine Hochzeitsreise mit dem Leben. Nicht einmal der jugendliche Sohn hatte, als er auf der Jagd nach dem Glück aus dem väterlichen Haus geflohen war, den Zwischenraum zwischen Traum und Wirklichkeit so im Fluge zurückgelegt wie er. Die Erde entfloh ihm unter den Füßen wie das schimmernde Parkett eines Tanzsaales. Die Natur tanzte um ihn herum, sie zog den Schleier von den stets wechselnden Landschaften weg und zog ihn wieder zu, sie entführte ihn mit sich, hinauf in die Berge bis zu den Wolken, in das Innere ihrer Tunnels, die schwarz und rauchig waren wie Schornsteine, über den himmelblauen Abgrund der Wildbäche und hinunter über die grünen Hänge.

Er hielt sich an dem kleinen Waggonfenster fest, wie die Kinder auf der Reise. Und als ihn das Dunkel der Tunnels verschlang, zog er den Kopf zurück, aus Angst, er könnte ihm abgerissen werden. Aber beim ersten Lichtschein steckte er ihn wieder hinaus, unbekümmert darum, daß der durch den Zug verursachte Wind in seinen grauen Haaren einen ganz tollen Tanz aufführte und seine Nase ganz rußig machte.

Ein junges Pärchen stand eng aneinander geschmiegt am anderen Fenster und verfolgte die Landschaft im Auge des anderen. Er beneidete sie nicht, denn sie alle hatten ja dasselbe Ziel.

Die erste Enttäuschung erwartete ihn bei seiner Ankunft, als er auf der kleinen Bahnstation, wo die hohen anmutigen Pappeln die ankommenden Reisenden durch Neigen ihrer Wipfel willkommen hießen, keinen Menschen antraf.

Er glaubte sich verirrt zu haben. Er war der einzige Reisende gewesen, der ausgestiegen war, der Zug setzte bereits seine Fahrt fort, zischend und pfeifend, als ob er ihn auspfeifen wollte. Und die Ruhe der Weinberge, die unerwartete Regungslosigkeit der Erde, die Sträucher, die mit schlafenden Schmetterlingen übersät zu sein schienen, selbst die Grashalme, die sich über ihre langen und lebhaften Schatten beugten, versetzten ihn in einen Zustand fiebriger Betäubung. Durch all das Grün sah er nur das rote Dach des Stationsgebäudes. Nachdem er die Station verlassen hatte, blieb er stehen, um zu warten, indem er sich kerzengerade wie der Zeiger einer Wage zwischen seinen beiden Koffern aufstellte. Aber vor sich sah er nur eine breite mit Gras bewachsene Allee und hinten am anderen Ende ein großes Oval, halb Meeresbläue, halb Himmel.

Über der Allee, zwischen zwei Reihen von schlanken, hohen Pappeln und rundlichen, niedrigen Akazien, die wie junge Pärchen aussahen, war der Himmel hoch und hell, aber von einer unsagbaren Traurigkeit, um so mehr, als man nicht weiß warum. Es ist die Traurigkeit der großen Einsamkeiten, die nicht in der Luft liegt, sondern im Herzen des Menschen, der sieht.

Und der Mann mit den beiden Koffern hatte das Gefühl, in einer Stadt gelandet zu sein, die schlimmer war als die unbekannteste und weltverlorenste Gegend, in der niemand seine Sprache sprach. Und er wird lange gehen müssen und allein an einem verlassenen Strand ankommen.

Plötzlich übermannte ihn die Sehnsucht nach seinem kleinen Häuschen in der Ferne. Warum hatte er nur sein altes Haus verlassen, sein Städtchen, wo seine Eltern begraben lagen, wo er noch Freunde hatte?

Wie die jungen Leute und Schwächlinge, die die Freude der Einsamkeit nicht kennen, hatte er sich von dem Himmelblau der Entfernungen täuschen lassen. Er hatte geglaubt, nur das für sein Leben Notwendige in diesen beiden Koffern eingepackt zu haben, deren frischer Ledergeruch sofort den reisenden Neuling verriet. Aber das Leben rächte sich: jetzt lasteten diese Koffer wie volle Keile seiner ganzen Vergangenheit auf ihm.

Und jetzt erst fühlte er die unüberwindliche Entfernung, die ihn von jener Familie trennte, die ja schließlich nicht die seine war.

Die Familie wird vom Manne aus dem eigenen Ich erzeugt, mit seinem Samen, mit seinem Blute, mit seinem Schweiß. Und zwischen ihm und jener Familie bestand nur ein sentimentales Band, das leichter war als Spinnengewebe.

Tatsache war jedenfalls, daß niemand ihm entgegengekommen war.

Trotzdem dachte er nicht daran umzukehren, im Gegenteil, er begann ruhig durch die lange Allee zu marschieren, indem er sich sofort mit der Hoffnung tröstete, daß seine Einsamkeit und jene dieser heiteren Gegend bald gute Freunde werden würden.

Wir werden Freundschaft schließen, meine liebe Straße. Du bereitest mir einen schönen Empfang, du bist die einzige, die mir entgegengekommen ist und mir Gesellschaft leistet.

Die Straße meinte es in der Tat immer besser mit ihm, sie war weich von feinen und duftenden Gräsern. Durch die Wölbungen zwischen zwei Bäumen sah er hindurch auf liebliche Wiesen, auf denen weiße Kühe und schwarze Pferde weideten, und die mit Ocker- und Rosafarbe bemalten Bauernhütten, die blühenden Hecken und die leuchtenden Laubengänge: alles lackiert wie auf Ansichtskarten.

Hinter den Bäumen verborgen erwartete ihn manche Enzianblüte und wiegte sich hin und her, als er vorbeiging. Und auch die schwache Stimme des Meeres drang jetzt an sein Ohr, wie die eines Freundes, obzwar zwischen ihm und dem Meere, dessen Bekanntschaft er noch nicht gemacht hatte, ein Mißverständnis bestand, dessen Ursache Angst und Abneigung waren.

Von dieser dunkelblauen Mauer, die sich immer höher vor ihm auftat, hoben sich deutlich die ersten zwei Gestalten ab, die in ihm die Hoffnung aufkeimen ließen, sich nicht verirrt zu haben, oder daß es jetzt wenigstens mit ihrer Hilfe gelingen würde, den richtigen Weg zu finden, um so mehr als sie ihm entgegen kamen und seine Koffer wie Sehenswürdigkeiten betrachteten. Da beschleunigte er seine Schritte und sein Herz füllte sich mit Licht.

Vielleicht war das braune Kind im roten Kleid, das eine junge Frau an der Hand führte, seine kleine Enkelin.

Es war wirklich seine Enkelin.

»Sind Sie der Herr Schulmeister De Nicola?« fragte die Frau mit männlicher Stimme, indem sie sich martialisch vor ihm aufstellte. »Ihr Sohn mußte wegen eines dringenden Geschäftes plötzlich wegfahren und seine Frau liegt mit Fieber zu Bett, das alle drei Tage wiederkommt. Begrüß doch deinen Großvater, Ola. Geben Sie mir Ihr Gepäck.«

Ola betrachtete von unten herauf das Gesicht des Großvaters, nachdem ihre schwarzen schiefen, goldene Strahlen sprühenden Augen seine ganze Gestalt von unten bis oben gemustert hatten, wobei ihr nicht die geringste Kleinigkeit entging. Sie schien keine Lust zu haben, Guten Tag zu sagen, sie zog sich vielmehr zurück und faßte den Zipfel ihres Kleidchens. Trotzdem war aus der Haltung des faltigen Kleidchens, aus der Spannung der kleinen Person, vor allem aber aus dem goldigen Gesicht, das zur Hälfte in eine Fülle schwarzer Locken eingebettet war, ein unwiderstehliches Verlangen herauszulesen.

Und nachdem der Großvater die Koffer auf die Erde gestellt hatte, nahm er sie auf seine Arme und fühlte ihre lebendige Wärme an seinem Körper.

Und wenn ihre salzigen Haare und ihre Wange, die weicher und glatter war als Samt, seinen Mund streiften, fuhr er zusammen, wie bei einer Liebesberührung.

Die Frau hatte inzwischen die beiden Koffer genommen und machte sich auf den Weg, indem sie sie hin und herschwenkte wie zwei Beutel, so groß und gutgebaut war sie: eine jugendliche Juno mit einem Kranze gelber Flechten.

Der Schulmeister ging hinterher, mit seiner neuen Last.

»Also du heißt Ola ... Ola ...«

Der süße Name schmolz in seinem Munde wie eine Honigfrucht.

Ola wehrte leicht ab, aber sie ließ sich gern tragen, ohne ihre unbeständigen Augen, die aus Sonne und Schatten zusammengesetzt waren, von ihm abzuwenden. Sie betrachtete mit studierenden Blicken sein Gesicht, das so nahe und doch so unbekannt war, die schwarzen Punkte auf der Nase, die schwarzen und weißen Haare, die so dicht zusammenstanden wie Tag und Nacht. Sie drang sogar in seinen Mund ein, wo sie das Geheimnis der goldenen Zähne, die sich ganz hinten versteckten wie die Ringe Mamas in der Schublade, zu enträtseln versuchte. Aber sie schwieg, und auf seine vielen Fragen antwortete sie schließlich ausweichend:

»Papa bringt mir heute ein Gewehr.«

»Ein Gewehr? Gewehre sind doch nur für Knaben. Weißt du aber, was ich dir mitgebracht habe? Eine schöne Puppe.«

»Puppen habe ich«, sagte sie, indem sie diese Mitteilung gleichgültig aufnahm. Dann zeigte sie mit ihrem Fingerchen auf seine Kravattennadel, die sie schon vorher eingehend studiert hatte, und ihre Augen strahlten vor Verlangen.

»Papa hat auch eine, mit einer Rosaperle. Aber er will sie mir nicht geben.«

»Das heißt also, daß du die da haben möchtest. Gut, und was bekomme ich dafür?«

Ola senkte ihr Köpfchen, dann hob sie es ganz langsam und küßte ihn auf die Wange.

»O, du Spitzbübin du, du verstehst dich schon darauf. Ja, du sollst die Nadel haben, aber erst wenn wir zu Hause sind.«

Und sie schmiegte sich, ganz rot vor Freude, dicht an seine Brust. Und sie wurden sofort Freunde.

Als sie an die Stelle kamen, wo die Allee eine Biegung machte, und wo jetzt ein weniger guter Feldweg mit tiefen Wagenspuren begann, gab die Frau dem Schulmeister den Rat, das Kind abzusetzen.

»Ola, herunter, Großvater ist müde.«

»Ich bin auch müde«, antwortete sie mit wirklich müder Stimme. Und sie hörte nicht auf, mit der kleinen Perle der Nadel zu spielen. Das war es, was sie bedrückte.

»Noch ein bißchen«, sagte der Großvater, indem er sie enger an sich preßte, als ob er fürchtete, sie zu verlieren, und es so einrichtete, daß das lästige stramme Mädchen vorausging.

»Wer ist das?« fragte er, als sie außer Hörweite war. »Ist das eure Magd?«

»Das ist Ornella«, sagte Ola.

»Ornella, das ist ein schöner Name. Wohnt sie bei euch?«

»Ja, bei uns. Sie ist eine Verwandte meines ersten Papas, der tot ist, und macht alles im Hause.«

»Ich verstehe. Sie ist eine arme Verwandte.«

Dann sprachen sie von wichtigeren Dingen. Über dem Buschwerk zur Rechten des Weges, zwischen den düsteren Tamarisken, erschien das lebendige Blau des Meeres. Da wendete Ola ihre entzückten Augen nach dieser Seite.

»Wer hat das ganze Wasser gemacht?« fragte sie leise unter dem Eindruck des großen Geheimnisses.

»Ah, wir werden Zeit genug haben, diese Frage zu beantworten«, rief er mit lauter Stimme. Und plötzlich sah er, wie die Leere seiner untätigen Tage sich wieder füllte, wie der Horizont des Meeres.

»Du, gehst du schon in die Schule?«

»Ich, nein ... ich bin noch klein.«

»Gut, du wirst bei mir in die Schule gehen. Wir werden am Strand herumgehen und ich werde dir erzählen, wer dieses ganze Wasser gemacht hat.«

Aber sie hatte keine Sympathie mehr für die Schule, sie entdeckte, daß es auf dem Strande Muscheln gab. Es ist sicher viel besser, Muscheln zu sammeln als in die Schule zu gehen. Auch die Blümchen hatte sie Lust zu pflücken, und als sie eine ganze Reihe von ihnen in dem Grase des Weges zitternd sah, bat sie den Großvater, sie herunterzulassen. Zuerst aber wollte sie ihm etwas ins Ohr sagen, indem sie mit dem Finger die Nadel berührte.

»Du darfst es niemandem sagen, daß du sie mir gibst.«

Er hatte noch nie ein entzückenderes Geheimnis gehört; der Hauch dieses duftenden Mundes weitete seine Ohren wie ein frisches Bad.

Wie viel Geheimnisse sollten diesem nachfolgen?

Ein zweites folgte tatsächlich sofort hinterher, als er, um den Wert seines Geschenks besonders hervorzuheben, versichert hatte, daß die Nadel aus Gold war.

Ola warf einen kurzen Blick auf das Mädchen, rümpfte boshaft die Nase, und seine Behauptung verspottend und anzweifelnd, sagte sie ihm leise ins Ohr:

»Aus Gold? Aus demselben Gold, wenn ich Aa mache?«

Die beiden, nunmehr Genossen und Kameraden, bogen sich vor Lachen über dieses unanständige Wort.

Und er fühlte, wie mit diesem Lachen alle Jahre, die auf seine Kindheit gefolgt waren, in Nichts zerflossen, und jetzt, wo er wieder an dem Punkt angelangt war, von dem das tierische Glück des Menschen, das einzig wahre Glück, seinen Ausgang nimmt, lächelten ihm die Wiesen und der Strand, die Wege zwischen den Tamarisken und alle Winkel der glücklichen Landschaft ebenso zu, wie dem Kinde, das endlich den Gefährten gefunden hat, an dem es seine Freude hat.

Ornella hielt vor einem Eisengitter, das lebhaft rot bemalt war, stellte die Koffer auf die Erde und öffnete.

Der Schulmeister und Ola kamen plaudernd langsam nach; sie mit der Nase in der Luft, er mit gesenktem Kopf, um sie besser zu hören. Sie sahen nichts um sich her, so daß er, als er den Kopf hob, ein wenig verträumt das Mädchen und das Gitter erblickte, das zu glühen schien. Und im Gegensatz zu diesem feurigen Rot und dem Goldrot des Häuschens, das im Hintergrunde der Allee sichtbar wurde, schien der Garten, den sie jetzt betraten, auf dem ausgetrockneten Bett eines Flusses gepflanzt zu sein. Das Erdreich war weiß und sandig. Die Bäume waren bleich und silbergrau und hatten gewissermaßen einen Abglanz vom Wasser.

Auf diesem lichten Hintergrunde wetteiferte das Violett der Schwertlilien mit dem Rot der Rosen erbittert um die Vorherrschaft.

Zwei große Terrassen, die von kleinen Säulen getragen wurden, ragten an der Stirnseite des Hauses vor, und gerade unter derjenigen des ersten Stockes war ein kleiner, von Kletterrosen dicht eingehüllter Säulengang, der die kleine Eingangstür barg. Alles war nett und sauber, und der Schulmeister empfand ein Gefühl der Genugtuung bei dem Gedanken, daß diese ganze Herrlichkeit seiner Schwiegertochter gehörte, also auch seinem Sohne; aber er betrachtete die Fenster, die angesichts der Herrlichkeit des Meeres geschlossen waren, mit dem Gefühl, daß das Innere des Hauses dunkel und ungewöhnlich sein müsse.

In der Tat ging Ornella nicht auf den Säulengang zu, sondern bog seitlich ab und stieß auf der Rückseite des Hauses eine kleine Tür auf, in deren Höhlung eine Küche sichtbar wurde. Ein dichter Laubengang von Feigenbäumen und Weinstöcken, der sich auf die Mauer des Hauses stützte, verdunkelte das ganze Erdgeschoß. Dunkel herrschte in der Küche, wo die Magd, ohne sich viel zu entschuldigen, den Gast eintreten ließ. Dunkel in dem anstoßenden Zimmer, und es war für ihn eine weitere Enttäuschung, als ihm in dem Häuschen, das von außen wie eine schöne, geschminkte und lächelnde, aber herzlose Frau aussah, ein so kühler und demütigender Empfang bereitet wurde.

Aber die Kleine tröstete ihn sofort, indem sie mit dem Finger an den blauen Kochtopf klopfte, der auf dem von Dampf feuchten Herd kochte und einen herrlichen Duft ausströmte.

»Da ist ein Huhn drin, willst du sehen?«

»Jetzt hast du genug Dummheiten gemacht«, sagte das Mädchen, indem sie sie mit dem Knie stieß und zwischen den beiden Koffern brutal nach vorwärts drängte.

Das erregte das Mißfallen des Schulmeisters. Auch der Halbschatten des Speisezimmers, das sie passieren mußten, um in das gleichfalls kleine und trübselig aussehende Nebenzimmer zu gelangen, behagte ihm nicht. Dieses Zimmer wurde fast ganz von einem Holzbett ausgefüllt, dessen grüne Decke die Blässe der darin liegenden Frau noch stärker hervortreten ließ. Sie hob den Kopf, der von einer Flut schwarzer krauser Haare umrahmt war, und betrachtete mit leuchtenden und erschreckten Augen den Mann, der sich zu ihr niederbeugte, um sie zu begrüßen. Sie schien sich gar nicht zu erinnern, daß er ankommen sollte, oder schien zu glauben, daß sie es wäre, die von weit her kam zu Leuten, die sie nicht kannte. Die Kleine, deren Gesicht ernst geworden war, schrie, indem sie sich auf den Bettrand warf:

»Mama, das ist der Großvater. Großvater ist gekommen.«

»Ja, ich weiß,« sagte die gequälte Frau, und schloß und öffnete die Augen, als ob sie ihren verstörten Blick sammeln und durch einen bewußteren ersetzen wollte. Aber es ging ihr wie einem Menschen, der einen tiefen Schlaf hat und dem es nicht gelingt, wach zu werden.

Sie schloß die Augen wieder, zog unter dem Bettlaken ihre nackten, weißen, blutleeren Arme hervor und streckte sie dem Schullehrer entgegen.

Er ergriff ihre Hände, die merkwürdig groß und dunkel waren im Vergleich zu diesen schmächtigen Armen, und fühlte sie heftig pochen. Aber die eine Hand, die geschlossen war und irgend etwas umfaßt hielt, ließ er sofort los. Der Arm fiel zurück und in der sich etwas öffnenden Hand konnte man die Kugeln eines kleinen Rosenkranzes aus Perlmutter sehen.

Das gefiel ihm.

»Wie geht es?« fragte er leise, in plötzlich vertraulichem Tone. »Sollte es nicht möglich sein, daß man dieses Fiebers Herr wird?«

»Ich habe es seit zehn Jahren. Es ist Malaria, dagegen gibt es kein Mittel. Adelmo hat alles getan, um mich gesund zu machen. Sogar aus Indien hat er ein Pulver kommen lassen. Und zu einer Wahrsagerin ist er auch gegangen, Adelmo.«

Adelmo war ihr erster Mann, und der Schulmeister stellte fest, daß ihre Stimme einen träumerischen Ausdruck bekam, wenn sie diesen Namen deutlich aussprach, so wie Kinder es mit neuen Worten tun, die ihnen gefallen, weil für sie die ganze Welt voll von geheimnisvollen Sensationen ist. Er begriff, daß sie während ihres Fiebers in der Vergangenheit lebte, und er scheute sich, sich in jene Vertraulichkeit einzudrängen, die ihr allein gehörte.

Aber auch sie erriet seine Gedanken aus der Art, wie er ihre Hand aufs Bettlaken zurücklegte, und versuchte sich besser aufzurichten. Jetzt gelang es ihr, die Augen zu öffnen, fast mißtrauisch, und die Stimme wurde klar.

»Sie werden mich entschuldigen, wenn ich nicht zur Bahn gekommen bin. Morgen werden Sie sehen, daß ich eine ganz andere Frau bin. Auch Antonio bittet um Entschuldigung. Es ist ein sehr braver Mensch. Aber jetzt gehen Sie sich waschen und essen. Bitte.«

Er gehorchte. Als sie in dem kleinen Speisezimmer waren, wo Ornella die Koffer hingestellt hatte, öffnete die Kleine die Schublade in der Kredenz, um ein Tischtuch herauszunehmen. Sie wollte den Tisch decken, für ihren Großvater, aber auch diesmal bekam sie von dem Mädchen einen Stoß mit dem Knie.

Da sagte er ein bißchen scharf:

»Lassen Sie sie. Das muß sie auch einmal lernen.«

Das Mädchen antwortete nicht; sie musterte ihn nur von oben bis unten mit ihren sanften, grünlich schillernden Augen. Und der Blick, obzwar ruhig, belehrte ihn, daß sie die Herrin in diesem Hause war. »Wollen Sie bitte in Ihr Zimmer gehen«, sagte sie darauf, indem sie die Koffer brachte. Und er sah, daß das ihm zugewiesene Zimmer das trübsinnigste von allen war. Feuchte Flecken verunstalteten mit seltsamen gelben Zeichnungen die Wände, und in dem grünlichen Halbdunkel glaubte er auf dem zerschlagenen Fußboden einen Käfer herumlaufen zu sehen. Aber an der Tür stand Ola und schaute, eingeschüchtert und neugierig zu, und ihr rotes Kleidchen beleuchtete wie ein winterliches Feuer das Zimmer.

»Treten Sie nur ein, Fräulein«, sagte er, indem er sich verbeugte. Und mit der einen Hand reichte er ihr eine Schachtel und in der anderen hielt er zwischen Zeigefinger und Daumen die Nadel mit Blümchen aus Gold, die er aus der Krawatte herausgezogen hatte.

Ola kam langsam und vorsichtig näher, nahm schweigend und gleichgültig die Geschenke entgegen, aber das Chaos der offenen Koffer, das ihr eine ganz neue, bisher unbekannte Welt erschloß, schien sie ungleich mehr zu interessieren. Und damit ihr nicht verboten würde, dieses Chaos zu besichtigen, versprach sie dem Großvater, in einer Ideenassoziation, leise:

»Ich werde dir die Hühner und das kleine Pferdchen zeigen.«

Er hätte es vorgezogen, zuerst das Häuschen zu sehen. Als sie gegessen hatten und Ornella sich anschickte, die Wäsche in dem Brunnen nebenan zu waschen, fragte er, ob die Schlüssel, die neben der Tür des Speisezimmers hingen, zu den oberen Stockwerken gehörten.

»Ja, aber Papa will nicht, daß man hinaufgeht«, sagte sie beleidigt, als sie sah, daß er die Schlüssel herunternahm. Für einen Augenblick ließ sie der Eigentumsinstinkt feindlich, geradezu böse aufblicken; dann aber lenkte sie von selbst ein: »Du kannst Papa befehlen, nicht wahr? Er ist doch dein Sohn und er darf dich nicht ausschelten.«

Sie legte den Zeigefinger auf den Mund und dann gingen sie. Sie ging auf den Zehenspitzen, die Puppe mit den ziegelroten Wollhaaren, die er ihr mitgebracht hatte, trug sie auf dem Arm und führte ihn herum und zeigte ihm, welches die Schlüssel zum Haustor und zu den Zimmern waren.

Und mit einem Male befanden sie sich wie in einem verzauberten Hause. Der Fußboden war hell, die Treppe aus Marmor, die Wände mit Stuck verziert und mit Blumen- und Obstgewinden geschmückt. Alles war geschmacklos, aber in den Augen Olas und vielleicht auch des Großvaters war es wunderbar. Sie betrachtete die Sachen, dann ihn, und als sie aus dem Nicken seines Kopfes seine Zustimmung las, biß sie die Zähne zusammen, um nicht vor Freude loszulachen.

»Mach doch Licht«, sagte sie leise, und er machte Licht. Das elektrische Licht ließ die Gegenstände noch viel strahlender erscheinen. Und sie rieb sich an den Wänden wie ein Kätzchen, während die Vogelaugen der Puppe gleichfalls verstohlen und verwundert zwischen den Troddeln des barbarischen Kopfputzes hervorlugten.

»Zu uns kommt jedes Jahr ein Graf«, sagte Ola vor der frisch gestrichenen Tür zum ersten Stock. Und sie schmiegte sich hilfesuchend ein wenig an den Großvater an, als ob der noble Mieter drinnen wäre. Auch in den Zimmern machten sie Licht, und die Fußböden, die Vergoldungen, die gemalten Frauenköpfe auf der Kopfseite der Betten belebten sich und bekamen Farbe, um aber nach dem Verlöschen des Lichts wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, als ob sie sich versteckten.

Dieses Spiel gefiel ihr und sie bat den Großvater, Licht zu machen und wieder auszulöschen. Obzwar sie nur sehr selten in das Zimmer gekommen war, kannte sie haargenau alle Gegenstände und erklärte sie ihm leise. Aber sie nahm nichts in die Hand und bemühte sich, die Möbel nicht einmal mit ihrem Kleidchen zu streifen.

Das Zimmer war das ganze Jahr an einen Grafen vermietet, der mit seiner Familie zur Badesaison kam, manchmal auch schon im Frühjahr. Im zweiten Stock, der bescheidener, einfacher, aber neu eingerichtet war, waren die Matratzen, die nach Naphthalin stanken, noch umgedreht, denn er wurde nur im Sommer vermietet.

Trotzdem fühlte sich Ola hier viel wohler, denn in den kinderreichen Familien, die gewöhnlich hier wohnten, war sie immer gern gesehen und gut gelitten.

»Jetzt muß ich dir noch etwas zeigen!« sagte sie zum Großvater, indem sie ihn gegen die Tür des Eßzimmers drängte.

Ausgerechnet in dem Zimmer brannte das Licht nicht. Trotzdem trat sie ein, im Scheine des Korridorlichts, und ging, sich an dem Großvater festklammernd, bis zur Ecke neben dem Fensterladen auf der Terrasse.

»Sieh her, aber nicht anrühren«, sagte sie immer leise.

Er bückte sich, um besser zu sehen. Auf einem Kissen saß eine Stoffpuppe in blauem Kleide. Die Augen, die blonden Haare, die Nase und der Mund waren auf Leinwand gemalt, trotzdem machte es den Eindruck, als ob sie lebendig wäre. Sogar Großvater hatte das Gefühl, daß die ein wenig heruntergezogenen Lippen sich auf der einen Seite ironisch verzogen und die ganze Puppe irgend etwas Lebendiges und Spöttisches an sich habe.

»Hast du Angst?« fragte Ola, sich über ihn lustig machend. Aber dann beruhigte sie ihn: »Das ist eine Puppe wie diese da.«

Sie neigte ihre Puppe mit mütterlicher Sorgfalt, näherte sie der anderen und zwang die beiden geheimnisvollen Wesen, sich zu küssen. Und hierüber empfand sie solche Freude, daß ihr Lachen, das seit langem in ihrem Mündchen eingesperrt war, aus ihren engen Zähnchen heraussprudelte wie eine Quelle, die selbst den Felsen durchbricht. Da fühlte der Großvater, daß jener Spuk, der sie trieb, wie Diebe in dem Hause herumzuirren, das doch schließlich Olas war, sich auflöste und die Kleine und die beiden Puppen sich über ihn lustig machten.

»Dieses Haus gehört dir«, sagte er mit aufbegehrender Stimme. »Hoffen wir, daß du daran Freude hast, wenn du einmal groß bist.«

Dann stieß er den Fensterladen auf der Terrasse auf, und das Meer erfüllte das Zimmer mit seiner ganzen Bläue und den Feuern der roten Segel am Horizont.

Gegen Abend fühlte sich die malariakranke Frau fieberfrei. Sie fühlte sich erleichtert, wie in Sommernächten, wenn die Luft sich abkühlt, und den Schweiß, der die verbrannte Haut anfeuchtete, empfand sie wie eine Erfrischung. Auch die Haare, die während des Fiebers schwarz und brennend auf ihr lasteten, ertrug sie leichter; sie schienen zu verdampfen wie eine Wolke, die der Wind vor sich hertreibt und zerstreut.

Mit dem Gefühl für die Wirklichkeit kehrte auch die Freude am Leben zurück. Die beiden Tage, die sie von dem neuen Anfall trennten, erschienen ihr wie zwei Jahre. Und sie nahm sich vor, sie zu genießen wie der Rekonvaleszent, der einer neuen Gesundheit entgegensieht. Alles war neu und leicht. Auch ihr Kind, das instinktmäßig diese Glücksmomente erriet und diese Gelegenheit benutzte, um im Zimmer herumzutollen, erschien ihr schöner, lebhafter.

Sie freute sich auch darüber, daß der Schwiegervater gekommen war, um bei ihnen zu wohnen, denn schließlich hatte sie einen Menschen, dem sie ihr Herz ausschütten konnte.

»Wo ist der Großvater?« fragte sie die Kleine.

»Er raucht seine Pfeife.«

»Er auch?« klagte sie, denn sie wußte aus Erfahrung, daß bei alt und jung die Pfeife ein großer Rivale der Frauen ist.

»Aber er streut die Asche nicht auf allen Tellern herum wie Papa. Er tut sie in eine Düte und sagt, daß sie gut ist, um die Ameisen zu vertreiben.«

»Sag ihm, er soll herkommen, wenn er Lust hat. Und du geh in die Küche und gib acht, daß niemand hineinkommt, bevor Ornella zurück ist.«

Die Kleine wünschte sich nichts Besseres; denn wenn sie allein in der Küche war, machte sie sich irgendeinen kleinen Kuchen oder sie legte eine Kartoffel in die heiße Asche.

Noch ganz nach dem starken Tabak stinkend, betrat der Großvater allein die Kammer der Frau, und auf ihre Frage, ob ihm die Kleine lästig gewesen sei und ihn gestört habe, antwortete er überschwänglich:

»Dies ist einer der schönsten Tage meines Lebens!«

»Wenn der erste Tag schön gewesen ist, so werden die anderen noch schöner sein«, sagte sie herzlich. »Setzen Sie sich doch ein bißchen, wenn es Sie nicht langweilt. Jetzt geht es mir gut. Morgen ist alles vorüber und dann werde ich für alles sorgen. Ornella ist brav und aufmerksam, aber es ist doch nicht so wie bei der Hausfrau.«

Der Schulmeister setzte sich neben das große Bett, dessen grüne Decke in dem Licht, das durch die vom Blattwerk des Gartens völlig verdeckten Fenster nur ganz dürftig hereinbrach, den Eindruck einer Wiese im Dämmerlicht machte.

Er hatte eine Menge Fragen auf dem Herzen, die er an die Schwiegertochter richten wollte, und war nun froh, daß sie ihm aus freien Stücken entgegenkam. Aber ihre tiefe, eindringliche und überaus wohllautende Stimme erregte in ihm sofort ein geheimnisvolles Gefühl.

Auch ihre Gestalt, die sich unter der Decke, in die sie bis zum Kinn hinauf eingewickelt war, kaum abhob, erschien ihm seltsam, sowie der schöne schwarz und weiße Kopf, der tief in den Kissen vergraben lag und wie ein Gemälde wirkte.

»Ich freue mich, daß Sie sich hier wohl fühlen«, begann sie wieder, ohne ihn anzusehen. »Wir haben uns schon so lange nach Ihnen gesehnt. Es vergeht kein Tag, an dem Ihr Sohn nicht von Ihnen mit Liebe und Ergebenheit spricht. Und immerwährend beklagt er den Kummer, den er Ihnen bereitet hat.«

»Ach was, Verdruß!«

»Ja, Ihnen scheint es wenig zu machen, daß er nicht studiert und nicht wenigstens ein Diplom bekommen hat, wie es Ihr Wunsch war. Er hat sich lieber in allen möglichen Berufen versucht, wo er doch mit seiner Intelligenz wer weiß was hätte erreichen können. Allerdings hätten wir uns dann wahrscheinlich gar nicht kennen gelernt,« bemerkte sie mit noch tieferer Stimme, »und unsere Kleine würde nicht auf der Welt sein. Ich kann mir die Welt ohne unsere schöne Kleine überhaupt gar nicht mehr vorstellen. Und wenn er heult und weint, weil er die väterlichen Ratschläge nicht befolgt hat, so brauche ich ihm nur dieses zu sagen. Dann sieht er das Kind an und spricht kein Wort. Aber seine Augen werden dann plötzlich hell, als ob er weinen wollte.«

»Übrigens sind wir so glücklich,« begann sie lauter, »vielleicht zu glücklich. Ich habe sogar Angst. Antonio ist gut, heiter und liebevoll. Er hat nur ein Laster: er raucht. Er raucht vom frühen Morgen an und überall muß man hinter ihm die Asche und die abgebrannten Streichhölzer wegräumen. Ach ja, eine gute Ehefrau hat viele Pflichten. Und dann muß ich um Nachsicht bitten wegen dieses Unglücks, denn einen Tag bin ich auf und drei Tage liege ich im Bett. Das habe ich mir zugezogen, weil ich es mit meinem ersten Mann zu gut gemeint habe. Sie wissen, daß er Kapitän der langen Fahrt und Barkenbesitzer war, mein armer Adelmo. Als wir verheiratet waren, wollte ich ihn überall hin begleiten, denn ich war toll vor Eifersucht. Ich begleitete ihn also bis nach Porto Corvo, dessen ganze Gegend von Malaria verseucht ist. Aber meine Eifersucht kannte keine Gefahren, außer jener, begründet zu sein. Adelmo sagte zu mir: &›Es ist ein Verbrechen, was du tust, und Gott wird dich strafen.‹ Und Gott hat mich gestraft. Und wenn ich Fieber habe, so sehe ich ihn noch lebendig vor mir und er sagt: &›Siehst du, wenn ich dich jetzt mit einer anderen Frau betrüge, so kannst du nicht hinter mir her sein.‹ Und ich leide sehr darunter, denn dann habe ich das Gefühl, daß er mich wirklich betrügt.«

»Ist er jung gestorben?« fragte der Schulmeister, der seinerseits für seinen Sohn auf diesen seltsamen Nebenbuhler ein wenig eifersüchtig war.

»Er war nicht sehr jung, aber er sah so aus. Doch sprechen wir nicht weiter darüber. Es liegt schon zu weit zurück«, murmelte sie, indem sie die Augen schloß, wie um die Vergangenheit nicht mehr zu sehen, oder vielmehr um ihre immer noch lebendige Liebe zu verbergen. »Ein paar Jahre blieb ich dann vom Fieber verschont, aber seit dem letzten Sommer quält es mich wieder. Ja, Ihr Sohn ist so gut zu mir und hat so viel Geduld mit mir und er besorgt alle möglichen Medikamente, um mich zu heilen, und außer seiner Pfeife hat er keine Laster. Er trinkt einen guten Tropfen Wein gern, aber wer tut das schließlich nicht?«

»Ich zum Beispiel trinke überhaupt nicht.«

Die Frau musterte ihn unter den gesenkten Lidern, boshaft und mitleidig.

»Ich kenne keinen Mann, der nicht Wein trinkt, und auch wenig Frauen. Wir hier arbeiten alle, wir haben weder Theater noch Zerstreuungen. Das Leben ist hart und das einzige Heilmittel ist ein guter Tropfen Wein.«

»Aber ihr habt doch hier euer gutes Auskommen.«

»Das schon, aber wir müssen uns auch schinden. Die Erde ist undankbar, das Meer tückisch. Die Bauern und die Fischer haben sich verabredet und das fetteste Stück für sich genommen. Der arme Adelmo kannte seine Leute gut, und darum gelang es ihm auch, sie zu beherrschen, vor allem diese Kanaille von einem Meer, wie er es nannte. Schon von Kindheit an war er bis nach Indien und Australien gereist und sagte, daß die Seehäfen den Milch- und Weinkannen glichen: sie ziehen das ganze verpestete Geschmeiß an. Antonio aber,« begann sie wieder nach einer kurzen Pause, die ihre Erinnerung an den Toten unwandelbar von der an den Lebenden trennte, als ob sich beim Losreißen von der Vergangenheit in ihrem Denken eine Lücke bildete, »Antonio ist viel zu freundlich geraten. Auch er ist in der Welt herumgefahren, aber er kennt die Menschen nicht. Er hat sich wie ein Junge herumgetrieben, der Geld in der Tasche hat und sich nur amüsiert. In der ersten Zeit nach unserer Hochzeit haben ihn alle betrogen, oder vielmehr uns, denn ich hatte auch wenig Erfahrung. Da haben wir Lehrgeld bezahlt. Er liebte die Zerstreuung, tanzte die ganze Nacht durch, und am Tage auch. Auf ihn bin ich nicht eifersüchtig, aber ich habe der Weiber wegen wirklich trübe Augenblicke durchgemacht.

Der Schulmeister lachte, leise, leise. Antonio hatte keine Fehler: Wein, Tabak und Liebe, das sind Dinge, denen sich ein Mann von Welt nicht entziehen kann.

»Dann, als er sah, daß alles schief ging, wurde er vernünftig. Ich muß allerdings sagen, daß er sich mir gegenüber, selbst in den trübsten Augenblicken, stets bescheiden und respektvoll benommen hat. Wenn ein Mann seine Irrtümer einbekennt und verspricht, nicht wieder in sie zu verfallen, was läßt sich da tun? Und ich würde sogar ein Auge schließen, wenn er sein Versprechen nicht hält, insbesondere wenn dies ein Mittel ist, um die menschlichen Schwächen vor irgend jemandem zu verbergen.

»Du sprichst wie eine Heilige«, rief der Schulmeister aus. »Und jetzt ...«

»Jetzt,« unterbrach sie ihn und bereute bereits, zu viel gesagt zu haben, »jetzt ist alles in Ordnung Antonio überwacht die Bauern und mit den Fischern kämpft er Mann gegen Mann. Gerade heute ist er nach Porto Corvo gegangen, denn er hat zufällig erfahren, daß die Leute von unseren Barken dort unten geschmuggelte Fische abliefern.

»Wieviel Barken habt ihr?«

»Vier, jetzt. Der arme Adelmo hatte es auf sechs gebracht. Der Ertrag ist gut, aber die Ausgaben und die Steuern sind groß. So kommen wir knapp aus. Der Wind des Meeres hat Zähne wie der Wolf.«

»Und ihr lebt hier«, sagte er, indem er sich in der kleinen und trüben Stube umsah. Aber die Frau schien nichtsdestoweniger nicht zu begreifen, daß man, wenigstens einen Teil des Jahres, in den schönen Zimmern des Häuschens leben konnte.

»Man wohnt hier sehr gut. Man braucht keine Treppen zu steigen. Bevor wir dieses Häuschen da aufbauten, wohnte ich mit Adelmo in einem kleinen Kämmerchen auf dem Lande.

»Trotzdem war man glücklicher.«

»O nein. Man war jung und auch widerstandsfähiger.«

»Aber du bist doch noch jung«, sagte der Schulmeister, indem er ihr reines Profil betrachtete, das gewissermaßen silberweiß aus dem dichten Gestrüpp der dunklen Haare hervortrat. Und sie lächelte, um seine Behauptung zu bekräftigen, wobei sie ihr vollkommenes Gebiß zeigte. Aber es war ein Lächeln mit einem bitteren Beigeschmack.

»Ich bin fünfzehn Jahre älter als Ihr Antonio ... Gerade deswegen ... bin ich nicht jünger als damals.«

Sie zog das Lächeln ein und verbarg die Zähne, wie man ein Schmuckstück einzieht und verbirgt, kaum daß man es gezeigt. Dann neigte sich der Schulmeister zu ihr nieder mit gefalteten Händen und sagte leise:

»Übrigens war die Kleine nicht da, damals.«

Und beide schwiegen, als ob sie beteten.

Der Geist der Kleinen schwebte im Zimmer umher und verbreitete ein Gefühl frommen Mysteriums in der Trostlosigkeit des Zimmers, wo die Dunkelheit die Gegenstände verschlang und das Fenster blind wurde.

Ein unerklärbarer Instinkt sagte dem Schulmeister, daß die Frau unter der Oberfläche ihres gewollten und auch geglaubten Glücks ein heimliches Leiden verbarg, das auch mit dem Nachlassen des Fiebers nicht aufhörte. Sie erriet diese seine Ahnung. Und beide hatten die Sehnsucht, sich anzuvertrauen, aber sie konnten es nicht.

Der Geist des Kindes wob um sie ein Netz, das leuchtender und zarter war als das Netz einer Spinne in einem Gebüsch, und führte sie zusammen, aber gleichzeitig hinderte er sie, auch nur ein einziges Wort zu sprechen, das sein Werk zerstören könnte. Seinetwegen mußte man schweigen, seinetwegen durfte die Atmosphäre nicht einmal von einem Hauch getrübt werden.

»Illusion, vielleicht«, dachte der Schulmeister. Aber er wußte, daß die Illusion das Blut des menschlichen Geistes ist.

Und als sich in sein und ihr Schweigen Angst zu mischen begann und die Worte versuchten, mit elementarer Gewalt aus dem Munde zu strömen, da brach die Kleine es selbst, indem sie draußen mit den Fingern gegen die Scheiben der Fenster klopfte. Ihr rotes Kleidchen leuchtete und verscheuchte das Grau der Dunkelheit, und ihr Lächeln erweckte die Kräfte zu neuem Leben.

Es war schon Nacht und der Herr des Hauses war nicht zurück. Der Großvater und Ola erwarteten ihn neben der Küchentür sitzend, indes Ornella, nachdem sie der Kranken das Essen gebracht hatte, auf dem Herde etwas briet.