Die Formel - Dan Wells - E-Book

Die Formel E-Book

Dan Wells

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Beschreibung

Als der Wissenschaftler Lyle Fontanelle im Auftrag der Kosmetikfirma NewYew die neue Hautcreme ReBirth entwickelt, ahnt er nicht, was für eine Katastrophe er damit auslöst. Erst als Testpersonen merkwürdige Symptome aufweisen, erkennt er, dass etwas gehörig schiefgelaufen ist: Denn statt Hautzellen nachhaltig zu regenerieren, überschreibt ReBirth die DNA der Nutzer – und macht sie zu Klonen anderer Personen. Geblendet von Gier, bringt NewYew das Produkt dennoch auf den Markt und kann die verheerenden weltweiten Konsequenzen nicht mehr aufhalten. Denn jeder will ReBirth für seine Zwecke nutzen. Nicht zuletzt könnte die Creme als gefährliche Waffe missbraucht werden ...

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski

ISBN 978-3-492-99078-3© Dan Wells 2018Titel der amerikanischen Originalausgabe:»Extreme Makeover«, Tor Books, New York 2016Published by arrangement with Fearful Symmetry LLC© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: Guter Punkt, MünchenCovermotiv: Sarah Borchart, Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von ThinkstockDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Vorwort

Erster Teil: NewYew

Kapitel 1: Donnerstag, 22. März

(267 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 2: Montag, 26. März

(263 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 3: Montag, 26. März

(263 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 4: Montag, 2. April

(256 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 5: Mittwoch, 5. April

(254 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 6: Montag, 16. April

(242 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 7: Donnerstag, 26. April

(232 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 8: Freitag, 27. April

(231 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 9: Freitag, 27. April

(231 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 10: Dienstag, 1. Mai

(227 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 11: Dienstag, 1. Mai

(227 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 12: Mittwoch, 2. Mai

(226 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 13: Mittwoch, 2. Mai

(226 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 14: Donnerstag, 3. Mai

(225 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 15: Donnerstag, 7. Mai

(221 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 16: Dienstag, 8. Mai

(220 Tage bis zum Weltuntergang)

Zweiter Teil: Makeover

Kapitel 17

Kapitel 18: Montag, 11. Juni

(186 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 19: Samstag, 16. Juni

(181 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 20: Sonntag, 17. Juni

(180 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 21: Montag, 18. Juni

(179 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 22: Montag, 18. Juni

(179 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 23: Samstag, 30. Juni

(167 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 24: Montag, 2. Juli

(165 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 25: Montag, 2. Juli

(165 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 26: Dienstag, 3. Juli

(164 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 27: Dienstag, 3. Juli

(164 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 28: Dienstag, 3. Juli

(164 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 29: Dienstag, 3. Juli

(164 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 30: Dienstag, 3. Juli

(164 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 31: Mittwoch, 4. Juli

(163 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 32: Mittwoch, 11. Juli

(156 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 33: Donnerstag, 12. Juli

(155 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 34: Donnerstag, 12. Juli

(155 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 35: Donnerstag, 12. Juli

(155 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 36: Freitag, 13. Juli

(154 Tage bis zum Weltuntergang)

Dritter Teil: Der Mann auf der Straße

Kapitel 37: Freitag, 17. August

(119 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 38: Mittwoch, 22. August

(114 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 39: Samstag, 25. August

(111 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 40: Donnerstag, 6. September

(99 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 41: Freitag, 14. September

(91 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 42: Samstag, 15. September

(90 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 43: Sonntag, 16. September

(89 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 44: Mittwoch, 26. September

(79 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 45: Freitag, 28. September

(77 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 46: Mittwoch, 3. Oktober

(72 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 47: Sonntag, 14. Oktober

(61 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 48: Mittwoch, 31. Oktober

(44 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 49: Donnerstag, 1. November

(43 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 50: Freitag, 23. November

(21 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 51: Montag, 26. November

(18 Tage bis zum Weltuntergang)

Vierter Teil: Wiedergeburt

Kapitel 52: Dienstag, 27. November

(17 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 53: Dienstag, 27. November

(17 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 49: Freitag, 30. November

(14 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 55: Montag, 3. Dezember

(11 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 56: Mittwoch, 5. Dezember

(9 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 57: Montag, 10. Dezember

(4 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 58: Montag, 10. Dezember

(4 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 59: Dienstag, 11. Dezember

(3 Tage bis zum Weltuntergang)

Kapitel 60: Donnerstag, 13. Dezember

(1 Tag bis zum Weltuntergang)

Kapitel 61: Donnerstag, 13. Dezember

(1 Tag bis zum Ende der Welt)

Kapitel 62: Donnerstag, 13. Dezember

(1 Tag bis zum Weltuntergang)

Kapitel 63: Freitag, 14. Dezember

(Das Ende der Welt)

Kapitel 64

(10 Tage nach dem Erwachen des Volks)

Danksagung

Dieses Buch widme ich Dan Wells, dem Schauspieler, Dan Wells, dem Rennfahrer, Dan Wells, dem Poolbillardspieler und Dan Wells, dem Australischen Footballspieler. Manchmal versucht man, jemand anders zu finden, und findet doch immer wieder nur sich selbst.

Vorwort

Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte man in verdorbenem Fleisch ein extrem wirkungsvolles bakterielles Nervengift, das man Botulinumtoxin nannte, was man mit Würstchengift übersetzen könnte. Die Giftaufnahme verursacht einen Zustand, den man als Botulismus bezeichnet. Das Gift zerstört die Fähigkeit des Nervensystems, mit den Muskeln – Herz und Atemmuskulatur eingeschlossen – zu kommunizieren, bis sie völlig unbeweglich werden. Neunzig Nanogramm können einen neunzig Kilogramm schweren Erwachsenen binnen weniger Minuten töten. Es ist das gefährlichste den Menschen bekannte Gift. 2014 ließen sich fast fünf Millionen schönheitsbewusster Kunden dieses Gift freiwillig ins Gesicht spritzen.

Den Menschen missfällt ihr Aussehen. In den USA möchten mehr als zwei Drittel der Frauen abnehmen. Mehr als die Hälfte der weiblichen amerikanischen Jugendlichen leidet an eindeutig diagnostizierten Essstörungen. Die ersten Symptome treten bereits im Kindergarten auf. Jährlich werden weltweit Umsätze von mehr als 426 Milliarden Dollar mit Schönheitsprodukten und kosmetischer Chirurgie erzielt, und die Zuwachsrate liegt bei fast einhundert Prozent pro Jahr. Männer lassen sich an manchen Körperstellen Haare implantieren, an anderen mit dem Laser entfernen. Frauen lassen sich die Brüste vergrößern oder verkleinern, Fett wird aus dem Bauch abgesaugt, Kollagen wird in Lippen und Augenlider gespritzt, Falten werden maskiert, aufgefüllt, gestrafft und mit Giftstoffen behandelt.

In dieser Kultur, in der wir alles sein können, was wir wollen, scheint eines gewiss:

Niemand möchte der sein, der er ist.

Erster Teil

NewYew

Kapitel 1

Donnerstag, 22. März

9:01 Uhr

Hauptsitz von NewYew, Manhattan

267 Tage bis zum Weltuntergang

»Die Eibe ist ein majestätischer Baum«, verkündete Carl Montgomery. Das Sprechen strengte ihn an, er hielt inne und nahm einen gedehnten, tiefen Atemzug aus dem Sauerstofftank. »Yggdrasil war eine Eibe«, fuhr er fort. »Der Weltenbaum, der alles stützt.«

Sie hatten sich in einem luxuriösen Konferenzsaal versammelt: Carl, der CEO von NewYew Inc., und alle leitenden Mitarbeiter. Lyle Fontanelle, der Chefwissenschaftler, staunte immer wieder über die protzige Ausstattung dieses Gebäudeflügels. Die Büros waren in der Anfangszeit der Firma gebaut und eingerichtet worden. Damals blühten die Geschäfte, und die Bestellungen rissen nicht ab. »Die Leute bringen sich fast um, damit sie uns ihr Geld geben dürfen«, hatte Carl damals immer gesagt. Genau genommen traf das sogar zu, denn das einzige Produkt der Firma war Paclitaxel gewesen, ein Mittel für die Chemotherapie, und die Kunden waren ausschließlich Krebspatienten gewesen. Das galt für die Zeit, bevor Lyle eingestellt worden war. Carl hatte ihm oft erklärt, das Geheimnis des Erfolgs liege in der Fähigkeit, Krebs zu behandeln, ohne ihn zu heilen. »Verkauf ein Heilmittel, und du zerstörst dir selbst den Markt. Verkauf ein Mittel zur Behandlung, und du hast einen Kunden auf Lebenszeit.« Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Leben der Patienten tatsächlich von seinem Mittel abhing, konnte Carls Philosophie nur bemerkenswert zutreffend genannt werden.

Lyle sagte sich, dass er damals sicher nicht für NewYew gearbeitet hätte. Nicht einmal die Aussicht auf sagenhaften Reichtum hätte ihn zum Verrat seiner Prinzipien verleiten können. Schließlich war er kein Söldner, sondern Wissenschaftler.

Als die Forschung um 1990 eine Methode zur Synthetisierung von Paclitaxel fand und das Mittel nicht mehr mühsam aus der Pazifischen Eibe gewinnen musste, riss die Glückssträhne der Firma ab. Ein einfacher, für jeden Konkurrenten nachvollziehbarer Produktionsprozess hatte zur Folge, dass nun auch viele andere Unternehmen das Mittel herstellen konnten. Aufgrund einer Vielzahl von Produzenten stieg die Verfügbarkeit, und die Preise sanken. Guter Zugang und niedrige Preise bedeuteten, dass immer mehr Patienten die Substanz nutzen konnten. Die Patienten waren glücklich, die Ärzte waren glücklich, und sogar die Umweltschützer freuten sich, weil die Pazifische Eibe nicht mehr gefährdet war.

Nur Carl Montgomery war überhaupt nicht glücklich.

Nach dem Verlust des lukrativen Monopols erlitt NewYew erhebliche finanzielle Einbußen und war gezwungen, sich neu auszurichten. Da man die nötige Ausrüstung und die Infrastruktur besaß, um Chemikalien für Menschen herzustellen, verlegte man sich von der Chemotherapie auf die Kosmetik. Die Firma warb Lyle, einen erfolgreichen Chemiker, von Avon ab und machte sich an die Arbeit. Soweit es Carl betraf, bestand der einzige spürbare Unterschied darin, dass in den Firmenräumen nun die Fotos von Supermodels statt von kahlköpfigen kleinen Kindern hingen. Wenn überhaupt, dann wirkten die Büroräume tatsächlich attraktiver als früher.

Wie bei den meisten Evolutionen schleppte das Unternehmen auch in diesem Fall einige Wurmfortsätze aus der Vergangenheit mit sich herum – Überbleibsel der alten Inkarnation, die keinen Sinn mehr hatten, wie etwa der Name der Firma und der Slogan Die Heilkraft der Eibe™. Carl ging sogar so weit, darauf zu bestehen, die Pazifische Eibe müsse auch in die Kosmetikprodukte Eingang finden. Die Manager sprachen sich allerdings stets dagegen aus. Am Morgen des 22. März verdrehte Lyle Fontanelle nicht zum ersten Mal die Augen und bereitete sich innerlich darauf vor, abermals die alten Argumente vorbringen zu müssen.

»Yggdrasil war eine Esche«, wandte er ein. »Ich habe es nachgeschlagen.«

»Und bei einer Handcreme können wir Eibe nicht gebrauchen«, ergänzte der Firmenanwalt Sunny Frye. In Wirklichkeit hieß er Sun-He und kam aus Korea. Lyle arbeitete schon so lange mit Make-up, dass er mit geradezu unheimlicher Treffsicherheit sagen konnte, woher jemand kam. »Die Eibe hat absolut nicht die Fähigkeit, die Haut zu befeuchten oder Alterungsprozessen entgegenzuwirken«, fuhr Sunny geduldig fort. »Das sind wir doch schon einmal durchgegangen. Der Baum trägt nichts zu dem Produkt bei.«

»Dann benutzen Sie eben nicht viel davon«, verlangte Carl, der völlig reglos auf dem Stuhl saß. Es war ein wuchtiger Chefsessel aus weichem schwarzem Leder, der vorzüglich zum warmen Mahagoniton des Konferenztischs passte. Carl verließ den bequemen Sessel nur höchst selten. Mit seinen neunundsiebzig Jahren hatte er die Altersgrenze weit überschritten und sollte nach Lyles Ansicht eigentlich nicht länger mit der Firmenleitung betraut sein. Andererseits musste Lyle zugeben, dass die Alternative wahrscheinlich noch schlimmer war. Der Nachfolger für die Position des CEO war der Präsident Jeffrey Montgomery. Er war Carls Sohn und ebenso verschroben wie unnütz.

»Wir müssen nicht viel Eibe einsetzen«, sagte Carl ohne sichtbare äußere Bewegung. »Nur gerade so viel, dass man es aufs Etikett schreiben kann.«

Die anwesenden Manager seufzten so leise und so höflich wie möglich. Es waren vier (Jeffrey zählte nicht, er saß in der Ecke und spielte auf dem Handy): die Vizepräsidentin für Finanzen, der Vizepräsident für Marketing, der Syndikus und natürlich der Chefwissenschaftler. Lyle träumte schon lange davon, seine Visitenkarten zu ändern und sich als Wissenschaftsoffizier zu bezeichnen, schreckte aber seit mehr als zehn Jahren vor der tatsächlichen Umsetzung zurück. Er war sich selbst nicht sicher, was er beängstigender fand – dass man ihn wegen der Anspielung auf Star Trek auslachen könnte oder dass es niemanden ernsthaft interessierte, was auf seinen Visitenkarten stand.

Carl sprach weiter und wedelte schwach mit einer runzeligen Hand, um seine Worte zu unterstreichen. »Die Eibe ist ein wundervoller Baum, den unsere Kunden mit Gesundheit in Verbindung bringen. Wir haben fünfunddreißig Jahre lang mit der Eibe Krebs bekämpft. Lässt sich das nicht irgendwie zu unserem Vorteil einsetzen?«

»In der Tat wäre das eine brillante Marketingstrategie.« Eifrig beugte sich Kerry White vor. Er war erst vor wenigen Monaten als Vizepräsident für Marketing eingestellt worden, und deshalb war ihm dieser Streit noch relativ neu. »Man stelle sich nur die Werbung vor: Die Firma, die Ihnen dasLeben gerettet hat, rettet Ihnen jetzt die Haut.«

»Diese Kampagne haben wir schon vor vier Jahren gefahren«, wehrte die Vizepräsidentin für Finanzen ab. Sie war eine klapperdürre Frau namens Cynthia Mummer. »Es hat nicht funktioniert.«

»Es hat nicht funktioniert, weil wir keine Eibe in den Produkten hatten«, beharrte Carl.

»Nun gut«, schaltete sich Lyle ein. »Könnten wir …« Er wollte seine neueste Idee vorstellen, wusste aber nicht so recht, wie er anknüpfen sollte. »Können wir ein Wortspiel daraus machen?«

»Ein Wortspiel?«, fragte Kerry. »Ist das Ihr Beitrag?«

»Der ganze Firmenname ist bereits ein Wortspiel«, warf Cynthia ein.

»Ich meinte ein Wortspiel vor dem Hintergrund dessen, was Carl gerade gesagt hat«, fuhr Lyle fort. »Wir reichern die Produkte mit Eibe an. Das Wort yew spricht man genauso aus wie you und …«

»Wir wissen, was ein Wortspiel ist«, erwiderte Cynthia. »Lassen Sie es ihn doch erklären!«, verlangte Sunny. Lyle war zugleich dankbar und empört. Er brauchte bei jeder dieser Sitzungen Sunnys Unterstützung, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Warum konnte er nicht für sich selbst sprechen?

»Ich habe verschiedene biomimetische Technologien untersucht«, erklärte Lyle. »Es gibt da etwas, das ich …«

»Was ist Biomimetik?«, fragte Kerry.

»Eine Methode, die biologische Vorgänge nachahmen kann«, erläuterte Lyle. »Ein intelligentes Produkt, das sich dem Körper anpasst.«

Cynthia nickte. »In der Hautpflegelinie für Jugendliche haben wir biomimetische Lipide. Diese Produkte zählen zu den bestverkäuflichen.«

»Richtig«, bestätigte Kerry. »Meine Frau liebt diese Lotion.«

»Benutzt Ihre Frau tatsächlich Pflegeprodukte für Jugendliche?«, fragte Cynthia.

»Was ist herausgekommen, als Sie biomimetische Stoffe erforscht haben?«, grollte Carl. »Wir bezahlen Sie nicht dafür, dass Sie den ganzen Tag untätig auf dem Hintern sitzen. Dazu haben wir schon Jeffrey. Sie werden hier für Forschung und Entwicklung bezahlt. Also – haben Sie irgendetwas entwickelt?«

»Ja, ich habe tatsächlich etwas, und das würde ich Ihnen gern zeigen«, antwortete Lyle. Er legte die Aktentasche auf den Tisch. »Es ist die Creme gegen Verbrennungen, über die wir schon gesprochen haben. Die Lotion erweist sich … äh … als recht vielversprechend im Bereich des Anti-Aging. Marktreif ist sie zwar noch nicht, aber die ersten Resultate sind ermutigend. Für die weitere Erforschung möchte ich mehr Mittel zur Verfügung stellen.«

»Wozu brauchen wir eine Creme gegen Verbrennungen?«, fragte Cynthia mit eisiger Stimme. Als CFO hatte ihre Einschätzung im Hinblick auf die Mittelvergabe das größte Gewicht. Lyle schluckte nervös und öffnete die Aktentasche.

»Eigentlich ist es gar keine Verbrennungscreme.« Er zog eine Mappe und einen Stapel Hochglanzfotos heraus. »Die Technologie stammt von einer Verbrennungscreme und beruht auf medizinischen Forschungen, die vor einigen Jahren veröffentlicht wurden. Wie ich schon sagte, bieten sich uns hier einige recht erfreuliche Möglichkeiten für die Verwendung in der Kosmetik und besonders im Bereich des Anti-Aging. Die Schlüsselkomponenten sind Plasmide.«

»Oh!«, rief Jeffrey. »Genau wie in dem Spiel!«

»Nein«, antwortete Lyle. »Plasmide kommen in Bakterien vor.«

»Wollen Sie Bakterien in eine Handcreme stecken?«, fragte Kerry. »Ich weiß, dass es so etwas wie schlechte Publicity eigentlich nicht gibt, aber das geht doch wohl zu weit.«

»Es sind gar keine Bakterien«, widersprach Lyle, während er im Ordner blätterte. »Die Plasmide stammen aus Bakterien, aber sie werden entnommen und gewissermaßen getrennt verkauft.« Er fand ein fotokopiertes Blatt im Ordner und hielt es hoch. Zwei körnige Schwarz-Weiß-Bilder zeigten eine Struktur, die möglicherweise Haut sein sollte. »Das stammt aus einem Test der Universität Boston. Mithilfe der Plasmide hat man dort verbrannte Haut neu aufgebaut. Die Plasmide dringen in die Zellen ein und beschleunigen die Kollagenproduktion. Dadurch heilt die Haut besser und sauberer ab.«

»Warten Sie mal!«, rief Kerry aufgeregt. »Ist das so ähnlich wie ein Kollagenzusatz in einer Hautcreme? Das könnten wir sehr gut vermarkten.«

»Warum arbeiten Sie dann an einer Lotion statt an einem Lippenstift?«, fragte Carl. »Kann man das auch mit einem Lippenstift machen?«

»Die meisten Lippenstifte erwecken nur den Eindruck von volleren Lippen«, erklärte Kerry. »Mit dieser Methode würden die Lippen tatsächlich aufgefüllt. Ich stelle mir jetzt schon vor, wie man …«

»Moment!«, unterbrach Lyle. »Das ist nicht … So funktioniert es nicht. Ich meine, die Rede ist hier nicht von magischer plastischer Lippenchirurgie oder etwas Ähnlichem.«

»Worüber reden wir dann?«, fragte Sunny.

»Die Plasmide können nichts vergrößern«, erläuterte Lyle. »Sie haben aber das Potenzial für eine recht erstaunliche Antifaltencreme.«

»Anti-Aging ist ein Riesengeschäft«, bestätigte Cynthia. »Die geburtenstarken Jahrgänge sind inzwischen so betagt, dass allmählich schon deren Kinder alt werden. Ein Antifaltenmittel verspricht gute Umsätze.«

»Es ist ein sehr kluges Verfahren«, fuhr Lyle fort. Er war dankbar, dass ihm alle endlich die volle Aufmerksamkeit schenkten. »Die Haut besteht in erster Linie aus Kollagen und anderen Proteinen, und wenn man älter wird, fährt der Körper die Produktion zurück. Dadurch wird die Haut schlaff und bekommt Runzeln. Die Plasmide helfen bei der Heilung von Verbrennungen, indem sie mehr Kollagen produzieren. Genauer gesagt verleiten sie die Zellen zur Überproduktion. Wenn man die Lotion auf gesunde Haut aufträgt, entsteht dort zusätzliches Kollagen, das Falten und Runzeln auffüllt. Augenblick! Ich glaube, ich habe ein paar Fotos von Testläufen …« Er blätterte in seinem Ordner. »Alle anderen Anti-Aging-Produkte auf dem Markt – Botox und wirklich alles andere – überdecken nur das Problem, verlagern oder verbergen es. Aber eine Lotion, die unmittelbar die Hautzellen stimuliert, damit sie mehr Kollagen produzieren, löst das Problem an der Wurzel. Die Falten werden nicht versteckt, sondern tatsächlich beseitigt.«

»Rejuvagen!«, rief Kerry. »Das erste Hautpflegeprodukt, das den Alterungsprozess tatsächlich umkehrt. Exklusiv von NewYew.«

»Nicht übel.« Mit zitterndem Finger deutete Carl auf Kerry.

»Danke«, murmelte Lyle unsicher. Er fand das Foto, das er gesucht hatte, und legte es auf den Tisch. »Dies ist eine unserer ersten Testpersonen. Wir haben die Heilfähigkeit bei einer kleinen Abschürfung auf der Wange überprüft. Aber das ganze Gesicht ist gut zu erkennen.«

»Warten Sie mal!«, bremste Sunny. »Sie sagten, es dringt in die Zellen ein. Was genau meinen Sie damit?«

»Nun ja, es ist ein Plasmid«, erklärte Lyle. »Also …«

Carl fiel ihm ins Wort. »Es ist mir egal, wie es funktioniert. Mir ist wichtig, wie es sich ökonomisch und juristisch schützen lässt. Sie sagen, es beruht auf einer Universitätsstudie. Sind die Forschungen gemeinfrei?«

»Die Untersuchung an der Universität war eine Machbarkeitsstudie«, antwortete Lyle. »Die Technologie ist öffentlich bekannt, und die Plasmide sind leicht erhältlich. Diese hier habe ich von einem Laborausstatter direkt ab Lager bestellt.«

»Wie invasiv ist das denn?«, wollte Sunny wissen. »Wenn es direkt auf die Zellen Einfluss nimmt, brauchen wir wahrscheinlich eine Genehmigung der FDA, und das kann Jahre dauern. Wenn wir es Ihrer Überzeugung nach wirklich nutzen können, muss ein Teil des Budgets dafür aufgewendet werden.«

»Die Gesundheitsbehörde wird es niemals genehmigen«, warf Cynthia mit ernster Miene ein. Sie nahm die fotokopierte Seite und deutete auf den verschwommenen Text. »Was Lyle zu erwähnen vergaß – hier handelt es sich um eine Gentherapie.«

»Gentherapie?«, echote Carl.

Sunny lachte. »Die FDA hat noch nie frei verkäufliche Produkte genehmigt, die auf Gentherapie beruhen. Warum haben Sie nicht gleich gesagt, dass es hier um Gentherapie geht?«

»Ich sagte, es seien Plasmide«, antwortete Lyle und sah sich um. »Worüber haben wir denn sonst geredet?«

»In diesem Raum weiß niemand, was Plasmide sind«, erwiderte Kerry.

»Ich habe es doch gleich gesagt«, erklärte Jeffrey. »Sie kommen auch in dem Spiel vor.«

Lyle überhörte den Einwurf. »Ein Plasmid ist ein DNA-Ring. Plasmide sind ein sehr kleines und sehr effizientes Werkzeug, um genetische Informationen zu übertragen. Die Sorte, die ich benutze, bindet sich an die DNA und löst die Erzeugung von HSP47 aus, einem Protein, das …«

»Das ist Gentechnik.« Sunny schüttelte den Kopf. »Unvorstellbar, dass die FDA so etwas genehmigt.«

»Aber es ist wirklich keine sonderlich ausgefallene Technologie«, wehrte sich Lyle. »Wie gesagt, ich habe die Plasmide als Laborbedarf einfach eingekauft. Man bekommt sie überall.«

»Überall im Labor«, widersprach Sunny. »Aber nicht in Konsumgütern. Das ist ein großer Unterschied.«

»Zeigen Sie mir Ihre Testergebnisse!«, verlangte Cynthia, während sie die Fotos betrachtete. Lyle schob den Ordner über den Tisch zu ihr hinüber. Sunny schüttelte jedoch den Kopf.

»Die Tests spielen keine Rolle«, erklärte er. »Es könnte das wirkungsvollste Anti-Aging-Produkt auf der Welt sein, und wir dürften es trotzdem nicht verkaufen.«

»Aber das ist es ja tatsächlich.« Cynthia hatte die Akte studiert und lächelte. Nach Lyles Ansicht sah es allerdings aus wie das Grinsen eines Raubtiers. »Das wirkungsvollste Anti-Aging-Produkt der Welt. Sehen Sie sich die Randnotizen an! Reduktion der tiefen Falten um sechsundsiebzig Prozent, völlige Entfernung kleinerer Falten. Das endgültige Ergebnis nach zwei Wochen, sichtbare Resultate nach wenigen Tagen.« Sie wandte sich an Carl. »Eine Goldmine!«

»Eine Goldmine, die wir nicht anrühren dürfen«, beharrte Sunny. »Oder frühestens, nachdem die FDA das Mittel zehn Jahre lang getestet hat. Ehrlich, Lyle, nicht einmal wir hätten es ohne gute juristische Absicherung testen dürfen.«

»Die Testpersonen haben alle die Freistellungserklärung unterschrieben, und ich habe die Dokumente an Sie weitergeleitet«, widersprach Lyle.

»Sie haben aber nicht erwähnt, dass es sich dabei um Gentechnik handelt«, wandte Sunny ein. »Wenn da nun etwas schiefgeht?«

»Immer mit der Ruhe!« Carl beugte sich vor. Die anderen hielten sofort inne und sahen ihn an. Wenn Carl sich vorbeugte, hatte er etwas Wichtiges zu sagen. »Wenn diese Lotion so gut ist, wie Cynthia behauptet, welche Möglichkeiten haben wir dann?«

»Mit einer Gentherapie?«, antwortete Sunny. »Überhaupt keine. Zehn Jahre auf die Genehmigung der FDA warten oder das Rezept einstampfen und noch mal von vorn anfangen.«

»Wie genau haben Sie sich das Bild angesehen?« Cynthia schob das Foto mitten auf den Tisch. Die anderen beugten sich vor und betrachteten es.

»Hübsch«, meinte Kerry. »Ist das ein Produkt für Jugendliche?«

»Das ist eine dreiundvierzigjährige Frau nach nur drei Wochen Behandlung«, erklärte Cynthia. »Sie hat ein Gesicht, auf das jeder Pädophile abfährt.«

Es wurde still. Carl starrte auf das Foto. »Lyle«, fragte er schließlich langsam, »sind diese Resultate typisch?«

Lyle konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Die Frau auf dem Foto hatte schon vorher ein recht jugendliches Gesicht. Was wir sehen, liegt nicht allein an unserer Hautcreme. Aber ja, im Allgemeinen ist die Reduktion von Falten in diesem Ausmaß typisch für die Testpersonen. Einige haben anschließend noch einmal angerufen und gefragt, ob sie noch mehr bekommen könnten. Das Produkt hat das Potenzial, ein Verkaufsschlager zu werden, wie wir ihn seit … nun ja, seit Paclitaxel nicht mehr erlebt haben. Garantiert jeder wird es haben wollen.«

Carl legte die Stirn in tiefe Falten, starrte auf die Tischplatte und dachte nach. Ohne den Kopf zu heben, sprach er schließlich weiter. »Sunny, Sie müssen eine Möglichkeit finden, das Zeug zu verkaufen.«

»Aber …«

»Wenn es Ihnen gelingt, schenke ich Ihnen persönlich eine Karibikinsel«, fuhr Carl fort. »Die bezahle ich mit dem Kleingeld, das mir dieses Produkt unters Sofakissen spült.«

Sunny dachte nach. »Das könnte eine große Sache werden … aber es klappt nur, wenn wir legal vorgehen.«

»Finden Sie eine Möglichkeit!« Carl wandte sich an Kerry. »Ich will einen Namen, ich will Werbespots und Entwürfe für die Flaschen. Das volle Programm.«

»Unbedingt«, stimmte Kerry zu.

»Und Sie«, sagte Carl und wies auf Lyle. »Sie beginnen nächste Woche mit der Produktion.«

»Unmöglich!«

»Nicht in vollem Umfang«, schränkte Carl ein. »Wir haben ja noch nicht mal einen Vorschlag für die Flasche. Aber ich will Probeläufe und Stabilitätstests sehen. Rufen Sie Jerry in der Fabrik an und bereiten Sie alles vor!«

Lyle schnitt eine Grimasse. »In der nächsten Woche ist noch ein Test geplant, aber … ja, wahrscheinlich schaffe ich’s. Zwei Wochen wären allerdings besser.«

Cynthia hob die Brauen. »Sie haben von Lackmus über Ratten bis zu menschlicher Haut alles Mögliche getestet. Was brauchen Sie denn noch?«

»Ich bin noch dabei, die Formel zu verfeinern«, entgegnete Lyle. »Die Frau auf dem Foto wurde mit Reihe 14E behandelt, die neueste ist 14G. Die Anpassungen waren allerdings geringfügig, und es könnte sein, dass ein einziger weiterer Test ausreicht. Den Termin haben wir bereits angesetzt. Die Probanden sind erwachsene Männer zwischen achtzehn und fünfundvierzig.«

»Hautpflege für Männer ist die zweitgrößte Sache«, stimmte Kerry zu.

»Nicht so groß wie das hier«, widersprach Carl. »Lyle, führen Sie die Tests durch! Das Produkt muss für jedes Geschlecht, jedes Alter, jede Hautfarbe, kurzum für alles einsatzfähig sein. Wenn Sie eine Haut haben, sind Sie unser Kunde.« Er faltete die runzeligen Hände und bedachte die Manager mit strengem Blick. »Eine Lotion, die buchstäblich die Haut verjüngt … und dann auch noch so wirkungsvoll. Das wird der gewaltigste Durchbruch in der Kosmetik seit Erfindung der Brustimplantate, gewinnt aber einen größeren Kundenkreis. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind im Land sollen eine Flasche mit dieser Lotion in Händen halten. Die Frauen sollen darin baden, und die Schulmädchen sollen sich alt fühlen, wenn sie es nicht benutzen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

Die Manager nickten.

»Gut«, schloss Carl. »Dann fangen wir an und verändern die Welt.«

Kapitel 2

Montag, 26. März

14:04 Uhr

Hauptsitz von NewYew, Manhattan

263 Tage bis zum Weltuntergang

»Das ist lächerlich«, sagte Susan.

Sie finanzierte sich das Studium an der Universität von New York, indem sie für Lyle als Forschungsassistentin arbeitete. Sie war eine ausgezeichnete Chemikerin, belastbar und mindestens ein Jahrzehnt zu jung für Lyle, der sich die größte Mühe gab, sie möglichst selten anzusehen, wenig mit ihr zu reden und ihre Nähe zu meiden. Die Gedanken an sie beanspruchten hingegen einen erheblichen Teil seiner geistigen Energie.

Lyle wandte den Blick nicht vom Computer ab. »Hm?«

»Ein Erdbeben in Mombasa.« Susan wies mit dem Finger auf ihren Bildschirm. »Vor zehn Stunden. Die Stadt wurde stark beschädigt. Die Menschen haben keine Häuser, kein Essen, gar nichts.«

»Schrecklich«, murmelte Lyle, der nicht richtig zugehört hatte. Susan setzte sich leidenschaftlich gegen alle erdenklichen Missstände ein, ihm aber fehlte die Energie, bei alledem mitzuhalten. Seine Finger klackerten auf der Tastatur, während er die letzten Details des neuesten Berichts bearbeitete. Sunny versuchte immer noch, ein Schlupfloch zu finden, damit sie die Anti-Aging-Lotion produzieren konnten, und dazu brauchte er alles, was Lyle ihm liefern konnte.

»Das liegt daran, dass wir Rassisten sind«, meinte Susan.

»Nein, warten Sie mal!«, rief Lyle und drehte sich ganz zu ihr um. Sie hatte langes blondes Haar mit natürlichen hellen Strähnen. Lyle hatte lange genug mit Haartönungen gearbeitet, um eine natürliche Strähne zu erkennen. Er schob den Gedanken an Susan als Model auf einer Schachtel Haartönung beiseite. »Das Erdbeben ist passiert, weil wir Rassisten sind?«

»Amerika hat ihnen nicht geholfen, weil wir Rassisten sind.«

»Es ist doch erst zehn Stunden her.«

»Wir könnten in zehn Stunden dort sein.«

»Vielleicht sind wir langsam, aber das macht uns noch nicht zu Rassisten«, widersprach Lyle.

»Wir sind schnell, wenn wir schnell sein wollen«, erklärte Susan. »Aber Kenia ist kein wichtiger Handelspartner, zum Teufel mit denen. Wir werfen ein paar Freiwillige und Wasserflaschen von einem Frachtflugzeug ab und heben die guten Sachen auf, falls es in Japan mal wieder einen Tsunami gibt. Wir helfen nur, wenn es uns nutzt und wir gut dastehen.« Sie starrte Lyle an und hob einen Finger, um ihren Standpunkt zu unterstreichen. »Aber der äußere Anschein bedeutet überhaupt nichts.«

»Ihnen ist doch klar, dass Sie für eine Kosmetikfirma arbeiten.«

»Sie können das Aussehen eines Menschen verändern, das Innere aber nicht«, erläuterte Susan.

»Ich …« Lyle sah sie an und identifizierte fast automatisch die Farbe des Lippenstifts – pflaumenrosa. Ihm fiel nichts mehr ein, also blickte er auf die Uhr. »Acht Minuten nach zwei«, sagte er rasch. »Wir müssen den Test vorbereiten.«

»14G?«, fragte Susan. Sie hatte ihre Tirade fast so schnell wieder vergessen, wie sie damit begonnen hatte, und rollte mit dem Stuhl zu Lyles Schreibtisch hinüber, um einen Blick auf dessen Computer zu werfen. »Gibt es in dieser Reihe etwas Neues?«

Lyle spürte nur zu deutlich, wie nahe sich ihre Knie gekommen waren. »Es gibt einige höchst interessante Details.« Er hob den Kopf und schenkte ihr ein hoffentlich strahlendes Lächeln. Allerdings war er sich ziemlich sicher, dass es nicht funktionierte, und stellte die Bemühungen sofort wieder ein. »Ich habe ein Retrovirus eingeführt, um den Prozess zu steuern.«

»Wirklich?« Susan beugte sich weiter vor und betrachtete den Bildschirm. Lyle schürzte die Lippen und dachte an flache Gegenstände – Wände, Schränke, Tische. Er schluckte und rückte mit dem Stuhl ein wenig ab. »Ich dachte, die Formel beruht auf Bakterien.«

»Plasmide kommen aus Bakterien«, bestätigte Lyle. »Dort befindet sich die DNA. Das Retrovirus gibt uns die Möglichkeit, die DNA aus dem Plasmid zu holen und in die Wirtszelle zu bringen.« Er brannte darauf, Susan zu beeindrucken, und wollte noch mehr sagen, doch von diesem Fachgebiet verstand er nicht viel, denn er war Chemiker und kein Genetiker. Er dachte kurz nach und wiederholte, was er in der Werbebroschüre des Lieferanten gelesen hatte. »Wir setzen hier eine RNA-Transkriptase ein, um die Wirts-DNA zu spalten, dann führen wir das im Plasmid gespeicherte DNA-Fragment ein, und dann machen wir den Reißverschluss wieder zu. Beides kommt von ein und demselben Lieferanten, und die Produkte sind darauf abgestimmt, nahtlos ineinander … äh …« Er vermied es, sie anzusehen. »Sie passen gut zusammen.« Er wollte eine Geste machen, wurde rot und verstummte.

»Klasse.« Susan betrachtete den Bildschirm genauer. Für Chemie interessierte sie sich fast so sehr wie für soziale Gerechtigkeit, war darin aber erheblich besser. »Das ist … wirklich bahnbrechend.«

Lyle lief rot an und tat so, als müsse er dringend etwas in den Papieren nachsehen. »Ja, das ist auf jeden Fall interessant, und wir setzen große Hoffnungen darauf. Ich meine … Carl sagt, es wird die Welt verändern. Aber was weiß der schon?« Er platzte fast vor Stolz. Vermutlich kam er wieder auf das Titelbild von Scientific American, und wenn Susan ihn für brillant hielt, war das die Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Er blickte auf die Uhr und sprang mit einem erschrockenen Ruf auf. »Es ist schon Viertel nach zwei! Ich komme zu spät!«

»Brauchen Sie Hilfe?«

Lyle runzelte die Stirn, öffnete den Mund und sprach nicht aus, was ihn bewegte. Natürlich wollte er, dass sie mitkam. Er wollte, dass sie ihm überallhin folgte, aber so etwas durfte er nicht wollen. »Ich …« Wieder fehlten ihm die Worte.

Susan deutete auf den eigenen Computer. »Die Farbanpassung der Lippenstifte, um die Sie mich gebeten haben, habe ich erledigt.«

Einen Augenblick lang starrte Lyle ins Leere und versuchte, nicht an Susans Lippen zu denken. Schließlich drehte er sich um und sammelte die Proben ein. »Ja, Sie können die Fotos machen.«

Susan nahm die Schälchen und Spatel und wanderte fröhlich auf den Flur hinaus. Lyle folgte ihr mit einigen Schritten Abstand. Kerry sieht jeden Tag schöne Frauen, dachte er. Bei den Fototerminen und Aufnahmen für die Werbespots, bei allen möglichen anderen Veranstaltungen ist er immer dabei. Er wird sogar dafür bezahlt, sich schöne Frauen anzusehen. Ist es wirklich so schlimm, dass ich mir diese Frau ansehe? Mann, sie trägt sogar einen Laborkittel! Es ist doch nicht so, als liefe sie den ganzen Tag im Badeanzug herum.

Hm, Susan den ganzen Tag im Badeanzug …

»Doktor Fontanelle!« Lyle riss sich aus dem Tagtraum und erkannte, dass er an der Tür vorbeigelaufen war. Er lächelte nervös und fragte sich, ob Susan seine Gedanken erahnte. Sie war so fröhlich wie immer. Er kehrte um und lächelte die sechs Männer an, die an der Längsseite des schmalen Tischs saßen. Die Personalabteilung hatte eine akzeptable Mischung an Freiwilligen mit unterschiedlichen Hauttypen rekrutiert – einen Asiaten, einen Latino und vier Weiße, von denen einer rotes Haar und unglaublich helle Haut hatte. Ein anderer war korpulent und hatte fettige Haut. Der Test ließ sich gut an.

»Entschuldigung«, sagte Lyle. »Ich war ein wenig zerstreut. Haben Sie alle den Vertrag gelesen und die Freistellungserklärung unterschrieben?«

»Wir werden dafür bezahlt, oder?«, wollte eine Testperson wissen, ein großer schlanker Mann mit glänzendem schwarzem Haar.

»Natürlich«, bestätigte Lyle. Er sammelte die Dokumente ein und vergewisserte sich, dass alle Formulare vollständig ausgefüllt und unterschrieben waren. Susan folgte ihm und stellte vor jeder Testperson einen kleinen Styroporbecher mit einem winzigen Plastikspatel ab.

»Gut«, sagte der große Mann. Lyle entnahm dem Dokument, dass er Ronald hieß. »Genau deshalb bin ich hier. Um etwas zu verdienen.« Er wirkte nervös. Lyle lächelte in sich hinein. Die Testpersonen waren manchmal ein bisschen zappelig.

»Also gut.« Er wandte sich an die Teilnehmer. »Ich versichere Ihnen, dass dies ein langfristig angelegter Test ist. Das Produkt, das Sie testen sollen, könnte im Grunde schon in die Produktion gehen. Ihre Haut ist jedenfalls in guten Händen, und wir glauben sogar, dass Sie angenehm überrascht sein werden. Jeder von Ihnen hat ein Schälchen und einen Spatel bekommen. Als Nächstes geben wir Ihnen … Susan?«

Susan hielt sich am Ende der Reihe auf und rieb einer Testperson die Lotion auf den Handrücken. Einer sehr gut aussehenden Testperson, wie Lyle leicht gereizt bemerkte. Der Mann warf Lyle einen kurzen Blick zu, strahlte Susan an und schenkte ihr genau das lässige Lächeln, an dem Lyle sich kurz zuvor versucht hatte. Lyles Eindruck, in dieser Hinsicht kläglich versagt zu haben, verstärkte sich noch. Der Mann hatte bessere Zähne als manche der Models, die sie in der Werbung für Zahnaufheller eingesetzt hatten.

»Sie geben uns Susan?« Der Mann grinste diabolisch, und Susan lächelte. »Hätte ich das gewusst, dann wäre ich schon vor Wochen auf Sie zugekommen.«

»Susan«, flüsterte Lyle, während er sich ihr näherte. »Wir dürfen die Testpersonen nicht berühren. Dafür sind die Spatel da.«

»Das macht ihm nichts aus.« Sie strahlte den Mann an.

Lyle verdrehte die Augen. Sie flirtet mit ihm.

»Es macht mir absolut nichts aus.« Der Mann erwiderte ihr Lächeln.

Mit Mühe unterdrückte Lyle gerade noch ein Stöhnen. »Nein«, sagte er. »Damit meine ich, dass es illegal ist. Wenn Sie keine zugelassene Kosmetikerin sind, dürfen Sie das Gesicht eines anderen Menschen nicht berühren. Und bei Händen läuft es … eigentlich auf das Gleiche hinaus.« Er zog Susan sanft von dem Teilnehmer weg. »Wir sollten auf Nummer sicher gehen und niemanden berühren.«

Susan zog die Augenbrauen hoch und starrte ihn an.

»Geben Sie ihnen die Lotion!« Lyle wies auf die anderen Männer. »Nur einen kleinen Spritzer aus der Flasche direkt in die Schale.« Susan salutierte, und Lyle runzelte die Stirn. »Meine Herren, benutzen Sie jetzt bitte die Spatel oder die Finger! Das eigene Gesicht dürfen Sie natürlich ohne Zulassung als Kosmetiker berühren. Und dann verteilen Sie die Lotion auf den Armen, im Gesicht oder an anderen Stellen, wo Sie kleine Falten oder Runzeln haben …« Er beobachtete die sechs Männer, die in der Hautcreme herumstocherten, daran schnüffelten und sie schließlich sorgfältig auf der Haut verteilten. »Vorsicht mit den Augen!«, warnte Lyle. »Die Substanz ist ungefährlich, aber sie könnte in den Augen brennen.«

»Wir wollen das Mittel über einen gewissen Zeitraum testen«, ergänzte Susan. »Deshalb kommen Sie bitte in drei Wochen noch einmal. Dann stellen wir fest, ob es Fortschritte gab.« Sie hatte die Männer mit der Lotion versorgt und nahm die Kamera. »Ich mache einige Fotos vom jetzigen Zustand, damit wir beim nächsten Test einen Vergleich haben.«

Der nervöse Mann hob den Kopf. »Werden wir gleich bezahlt oder erst nach Ablauf der drei Wochen?«

»Beides, Ronald«, antwortete Lyle. »Keine Sorge, Sie bekommen das Geld! Aber vorher habe ich noch einige Fragen.« Lyle betrachtete den Papierstapel und stellte fest, dass der gut aussehende Mann Jon Ford hieß. »Mister Ford, beginnen wir mit Ihnen. Hatten Sie jemals …« Er hielt inne, als ihm bewusst wurde, worauf die Frage abzielte. Dabei verspürte er ein gerütteltes Maß an Schadenfreude. »Haben Sie schon einmal an Juckreiz gelitten? An einem ansteckenden Hautausschlag oder an Hautpilz?«

»Muss ich darauf antworten?« Ford blickte ausgesprochen finster drein.

Lyle verkniff sich ein Lächeln. »Ja, leider. Es dient der wissenschaftlichen Forschung. Könnten Sie uns jetzt bitte die genaue Natur des Problems schildern?«

Kapitel 3

Montag, 26. März

15:31 Uhr

Midtown Manhattan

263 Tage bis zum Weltuntergang

Im schmutzigen Hauswirtschaftsraum eines Bürogebäudes, nur wenige Blocks von NewYew entfernt, wartete Ronald Lynch auf den Personalaufzug. Er arbeitete schon seit mehreren Jahren in diesem Gebäude, war aber noch nie durch die Vordertür hereingekommen. Wirtschaftsspionage war doch eine recht umständliche Angelegenheit.

Der Aufzug gab ein Ping von sich, und die Tür glitt auf. Im Innern lehnte ein vierschrötiger Mann in einem schlecht sitzenden Anzug gelassen am hinteren Handlauf. Er rührte sich nicht, sondern krümmte nur einen Finger, um Ronald zu sich zu winken. Ronald folgte der Aufforderung. Der Mann nickte.

»Siebzehntes«, sagte der Mann. Ronald drückte auf den Kopf, die Tür schloss sich. »Ich bin Abraham Decker.« Der Mann bot ihm eine fleischige Hand. »Chefwissenschaftler. Wir sind uns noch nie begegnet, aber ich habe die Berichte gelesen. Sie leisten gute Arbeit.«

»Ich komme direkt vom Produkttest«, erklärte Ronald. »Leider ist es mir nicht gelungen, eine Probe mitzunehmen, aber ich …«

»Direkt?«, fragte Decker.

»Nun ja … auf Umwegen«, schränkte Ronald ein. »Das versteht sich von selbst. Mir ist niemand gefolgt.«

»Die begreifen immer noch nicht, was sie da haben«, meinte Decker. »Daher müssen wir bei dieser Sache besonders vorsichtig sein.«

Ronald runzelte die Stirn. »Mir kam es vor wie ein recht alltäglicher Test.«

»Es ist eine völlig neue Technologie«, widersprach Decker. »So fortschrittlich, dass wir für den Umgang damit neue Gesetze brauchen.«

»Für einen Faltenentferner?«

»Für die Gentechnik«, erwiderte Decker.

Schockiert hob Ronald die Hand und fragte sich, womit er gerade in Berührung gekommen war. Bevor er weitere Fragen stellen konnte, gab der Aufzug einen Signalton von sich, und die Tür glitt auf. Decker stieß sich vom Handlauf ab und schritt in den Flur hinaus, Ronald folgte ihm. Nachdem sie einige Male abgebogen waren, betraten sie ein geräumiges Eckbüro. Es war größer als Ronalds Wohnung und möbliert wie ein Herrenhaus. Mehr als alles andere jagte diese Einrichtung Ronald Angst ein. Es machte ihm nichts aus, über Produkttests zu berichten. Konkurrierende Firmen spionierten sich immer gegenseitig aus, und wenn schon jemand dafür bezahlt werden sollte, warum nicht er? Er genoss sogar die Aufregung, hatte bisher aber immer mit Mittelsmännern zu tun gehabt – mit Wegwerfhandys und neutralen Umschlägen voller Geld. Dieses Büro hob den Verrat auf eine völlig neue Ebene. Dies war eine Örtlichkeit, wo mit hohem Einsatz gespielt wurde. Hier arbeiteten ehrgeizige, stolze und rücksichtslose Menschen. Anscheinend bekam er es diesmal mit dem CEO zu tun.

Ronald dämmerte, dass die ganze Sache viel größer war als vermutet.

»Setzen Sie sich!« Decker ließ sich an der Wand auf ein Sofa fallen und winkte Ronald, sich zu ihm zu gesellen. Gleich darauf kam ein weiterer Mann herein – groß und ernst, begleitet von zwei dunkel gekleideten Schlägertypen, deren Fähigkeiten nach Ronalds Einschätzung nicht das Geringste mit Kosmetik zu tun hatten. Sie bauten sich vor Ronald auf und musterten ihn eine Weile.

»Ira«, sagte Decker, »das ist Ronald, einer unserer Informanten beim Produkttest.« Ronald erhob sich zum Händeschütteln, doch der muskulöse Vollstrecker auf der rechten Seite drückte ihn wieder nach unten. Ronald schluckte schwer und versuchte zu lächeln.

»Wie geht es Ihnen, Sir?«

»Willkommen bei Ibis Cosmetics!«, begrüßte ihn der große Mann. »Ich bin Ira Brady, der CEO. Sind Sie unser Mann bei NewYew?«

»Ja, Sir«, antwortete Ronald. »Wenigstens heute, Sir. Dort wird gerade eine neue Handcreme mit einer Art Anti-Aging-Zusatz …«

»Ich weiß, was sie dort gerade testen«, fiel ihm Ira ins Wort. »Dagegen fehlen uns Informationen über die innere Struktur des Gebäudes. Sie hielten sich in einer Abteilung von NewYew auf, die noch niemand von uns gesehen hat.« Während er sprach, schritt er auf und ab und gestikulierte mit beiden Händen. »In welchem Stockwerk waren Sie? Durch wie viele Türen mussten Sie gehen, um in den Testraum zu gelangen? Wie oft sind Sie in welche Richtungen abgebogen? Und das vielleicht Wichtigste …« Er wandte sich wieder an Ronald. »Haben Sie irgendwelche Laboratorien gesehen? Und könnten Sie uns genau erklären, wie die liegen?«

»Sie wollen die Hautcreme stehlen«, stellte Ronald fest.

»Natürlich nicht«, widersprach Ira. »Das ist ungesetzlich. Aber eine Technologie wie diese wird irgendwann sowieso gestohlen. Aufgrund von Umständen, die sich gänzlich meiner Kontrolle entziehen, wird sie uns früher oder später in die Hände fallen. Also beschreiben Sie uns bitte das Gebäude!«

Kapitel 4

Montag, 2. April

8:15 Uhr

Hauptsitz von NewYew, Manhattan

256 Tage bis zum Weltuntergang

»Ein Kräuterzusatz«, sagte Sunny grinsend. Er warf einen Tennisball schräg auf den Boden und fing ihn auf, als er von der Wand zurückprallte. »In einen Kräuterzusatz können wir hineinstecken, was wir wollen. Das durfte der FDA fiepsegal sein.«

»Piepegal«, korrigierte Lyle. »Ein solches Wort gibt es nicht. Es dürfte ihnen piepegal sein.« Sunny war einer der wenigen Mitarbeiter von NewYew, die Lyle als Freunde betrachtete, auch wenn sie im Grunde nur beruflich miteinander zu tun hatten. Wenn er genauer darüber nachdachte, hatte Lyle eigentlich mit niemandem viel zu tun.

»Fiepsegal, piepegal, die entscheidende Aussage lautet, dass es ihnen egal ist.« Sunny warf den Ball und fing ihn wieder auf. »Hören Sie, die FDA überwacht die Medikamente und Wirkstoffe und was wir sonst noch verkaufen wollen. Sie achtet darauf, dass die Produkte ungefährlich sind, richtig? Wenn wir etwas Neues erfinden, testen sie jahrelang, bis sie sicher sind, dass das Mittel nichts bewirkt, was es nicht bewirken darf. Aber! Kräuterzusätze sind etwas völlig anderes. Die FDA verfügt über eine Liste zugelassener natürlicher Zusätze, die bereits überprüft wurden. Solange man sich daran hält, kann überhaupt nichts passieren. Die Behörde weiß, dass die Zutaten nichts Falsches bewirken, weil sie der Definition nach überhaupt nichts bewirken. Es sind nur gemahlene Blumen und solches Zeug. Die Genehmigungsfrist für Kräuterzusätze beträgt null Tage, weil sich die Behörde überhaupt nicht mehr die Mühe macht, in dieser Hinsicht irgendetwas zu überprüfen. Wenn wir das richtige Etikett draufpappen, müssen wir das Mittel nicht einmal zur Genehmigung einreichen.«

»Da ist aber mehr drin als gemahlene Blumen«, wandte Lyle ein.

»Unbedingt.« Sunny warf wieder den Tennisball. »Aber solange das niemand weiß, können wir tun und lassen, was wir wollen.«

Lyle wollte den Ball auffangen, als er zu Sunny zurücksprang, traf ihn jedoch im falschen Winkel und schleuderte ihn zur Seite. Er schluckte und kam sich dumm vor. Sunny lachte nur und hob den Ball auf. »Passen Sie auf!«, sagte Sunny. »Wir bezeichnen Ihre neue Lotion als Kräuterprodukt, vertreiben sie und vermarkten sie als wundervolle Antifaltencreme, aber wir sagen kein Wort über den inneren Aufbau und die Funktionsweise. Offiziell verraten wir nicht, was sie bewirkt und wie sie es bewirkt.«

»Aber …« Lyle schnitt eine Grimasse. Der Gedanke, für die Entwicklung keinerlei Anerkennung zu finden, schmerzte ihn. »Ich arbeite seit einem Jahr daran. Seit mehr als einem Jahr, wenn ich die frühen Forschungen miteinbeziehe. Dies ist eine wirklich bahnbrechende Innovation, die sich auf die gesamte Gesundheits- und Kosmetikbranche auswirken wird.« Lyle schwieg einen Moment lang und bemühte sich, den nächsten Gedanken für sich zu behalten. Dann sprach er ihn trotzdem aus. »Dafür wäre ich auf das Titelblatt von Scientific American gekommen.«

»Machen Sie sich deshalb Sorgen?« Sunny schüttelte den Kopf und wedelte beschwichtigend mit den Händen. »Dafür können wir immer noch sorgen. Wir müssen nur eine Weile warten. Nehmen Sie die Formel und verändern Sie sie ein wenig, falls sich jemand die Sache genauer ansieht, und reichen Sie sie bei der FDA zur Genehmigung ein. Es dauert ein paar Jahre, aber wenn die Sache so ungefährlich ist, wie Sie versichern, dann werden sie sie irgendwann durchwinken, und wir können die neue Technologie offiziell einsetzen. NewYew bleibt an vorderster Front der kosmetischen Innovation, Sie bekommen die ersehnten Nerdlobgesänge, und inzwischen verdienen wir mit ein und demselben Produkt unter einem anderen Etikett tonnenweise Geld.«

Lyle schüttelte den Kopf. »Das klingt erstaunlich unehrlich.«

»Sie sind bewundernswert.«

»Es geht mir nicht nur um die moralischen Fragen«, erklärte Lyle, obwohl ihn die Amoralität tatsächlich im tiefsten Innern schmerzte. Sunny war ein Hai, das war ihm klar, aber diese Sache kam ihm über die Maßen bösartig vor. Trotzdem, im Lauf der Jahre hatte Lyle gelernt, dass es selten nützlich war, an die Moralität der Manager zu appellieren. Er musste sie an einer anderen Stelle treffen. Also versuchte er es mit einer neuen Strategie. »Denken Sie mal an das Marketing! Sie sagen, wir werden mit einem Produkt, das wir nicht sinnvoll bewerben dürfen, tonnenweise Geld verdienen. Es heißt doch eigentlich: Dieses Produkt istumwerfend, aber den Grund dafür dürfen wir Ihnen nicht verraten. Wahrscheinlich ist es aber auch kein guter Werbespruch, wenn wir sagen: Es ist eben so, und dasmüssen Sie uns einfach glauben.«

Sunny zuckte mit den Achseln. »Mundpropaganda.«

»Mundpropaganda«, schnaubte Lyle.

»Genau«, bekräftigte Sunny. »Mundpropaganda. Wir werden natürlich nicht untätig herumsitzen und hoffen, dass die richtigen Münder die richtigen Sätze sagen. Wir manipulieren die Mundpropaganda. Wir erschaffen sie sogar.« Wieder warf er den Ball, verfehlte ihn diesmal jedoch. Er rollte unter den Schreibtisch. Mit einem lässigen Winken tat er es ab und wandte sich wieder an Lyle. »Carl wollte eine Lösung, und hier ist sie – eine sekundäre Marketingkampagne. Die Firma verliert kein Wort über Plasmide, Kollagen oder Gentherapie. Ich weiß, das verzögert Ihren großen Auftritt im Scientific American, aber haben Sie Geduld. Wir sagen kein Wort, lassen aber bei wissenschaftlichen Twitterern und einigen unabhängigen Bloggern die richtigen Informationen durchsickern. Diese Leute sorgen schon für den nötigen Wirbel und reden über die revolutionäre neue Wissenschaft hinter dem Produkt. Irgendein Teufelskerl versucht es mit Reengineering und schreibt einen großen Artikel über die einzigartige Kombination von biologischen Wirkstoffen, blabla, Plasmiden, blabla, und natürlicher Biomimetik. Unsere primäre Marketingstrategie bleibt blütenweiß, während die sekundäre Kampagne die guten Argumente durch reine Mundpropaganda unters Volk bringt. Und das auf eine Weise, die absolut nichts mit NewYew zu tun hat.«

Lyle runzelte die Stirn. »Also ist der wissenschaftliche Durchbruch, an dem ich ein Jahr gearbeitet habe, nur ein Zufall, weil die falschen Zutaten kombiniert wurden. Statt eines Genies bin ich ein Trottel.«

»Es ist kein Zufall, sondern … ein positiver Nebeneffekt.« Sunny setzte sein allerschönstes beschwichtigendes Lächeln auf, und Lyle hatte das deutliche Gefühl, gönnerhaft abgewimmelt zu werden. »Wir behaupten, alles sei eine Wirkung dieser … dieser Blume, die wir in unserer Kräutermischung benutzen. Wie heißt sie noch gleich … die Sumpfblume. Sie steht auf der FDA-Liste der erlaubten Kräuterzutaten. Jeder benutzt sie.«

»Die Plasmide kommen nicht aus der Sumpfblume«, wandte Lyle ein. »Sie kommen von Rock Canyon Labs. Wir haben sogar eine offizielle Rechnung für den Einkauf.«

»Nein«, widersprach Sunny energisch. »Ich glaube, da irren Sie sich. Wir haben die Plasmide benutzt, um eine neue Gentherapie zu entwickeln, die Verbrennungsopfern helfen sollte. Sie ist noch in der Probephase, und wir werden sie zu gegebener Zeit der FDA zur Genehmigung vorlegen.«

»Aber …«

»Lyle.« Sunny sah ihn unverwandt an. »Eins will ich ganz deutlich sagen: Alles, was Sie öffentlich oder in E-Mails von sich geben, wird mit dieser Geschichte übereinstimmen. Es muss so sein.«

»Sie fordern mich zum Lügen auf.«

»Streng genommen haben Sie recht. Was unsere Firma betrifft, ist Ihre neue Hautcreme ein Kräutermittel, das keinerlei gentechnische Komponenten enthält.«

»Sunny«, sagte Kerry White, der gerade das Büro betrat. »Ich habe eine neue Flasche, die Sie sich ansehen sollten.« Er reichte Sunny ein Blatt Papier und lehnte sich an die Wand. »Hallo, Lyle!«

Lyle war froh, einen neuen Verbündeten im Krieg gegen Sunnys Plan gefunden zu haben, und deutete auf den Firmenanwalt. »Haben Sie das gehört?«

»Die sekundäre Marketingkampagne?«, fragte Kerry. »Ich finde sie brillant. He, was halten Sie von dem Namen Rebirth? Oder vielleicht auch ReBirth mit großem Binnen-B?«

»Warum mit einem großen B?«, fragte Lyle.

»Damit wir es als Markennamen eintragen lassen können.« Sunny war schon in das Blatt vertieft, das Kerry ihm gegeben hatte. »Das ist eine juristische Sache.«

»Vergessen Sie das große B!« Lyle schüttelte den Kopf. »Sie können diesem Marketingplan doch unmöglich zustimmen.«

»Ich habe den Marketingplan entwickelt«, widersprach Kerry. »Ich bin für das Marketing zuständig.«

»Aber es ist eine Lüge!«

»Jede Werbung ist eine Lüge. Die Frauen kaufen unser Make-up, weil sie aussehen wollen wie die Frauen in der Werbung. Dabei vergessen sie, dass diese Frauen perfekte Gene und ein halbes Dutzend Essstörungen haben. Obendrein bearbeiten wir die Bilder mit Photoshop. Die Leute sind Werbelügen gewohnt. Sie erwarten sie sogar. Das hier ist genau das Gleiche.«

»Es ist nicht das Gleiche«, beharrte Lyle. »Anzudeuten, dass die Kundin nach der Anwendung des Produkts aussieht wie ein Supermodel, ist eine Sache. Aber gezielt die Tatsache verschweigen, dass ein Produkt die DNA verändert, das ist … also, das ist ziemlich krass. Finden Sie nicht auch?«

»Aber das Zeug ist doch ungefährlich, oder?«

»Natürlich ist es ungefährlich, aber darum geht es doch gar nicht …«

»Dann machen Sie sich deshalb doch keinen Kopf!«

»Er ist nicht wegen der möglichen Gefahren besorgt«, warf Sunny ein. »Er ist sehr uneigennützig und macht sich Sorgen um die wissenschaftliche Anerkennung. Anscheinend gibt es wirklich Leute, die den Scientific American lesen.«

Lyle überhörte den Seitenhieb. »Ich mache mir vor allem Sorgen, wie man unsere Produktentwicklung vor einem Bundesgericht erklären könnte. Ich bin kein Anwalt, glaube aber, dass es eher als Geständnis denn als entlastende Erklärung bewertet wird, wenn wir sagen, wir hätten das Produkt absichtlich falsch bezeichnet, um mehr Geld zu verdienen.«

»Wir benennen es ja gar nicht falsch«, widersprach Kerry. »Wir sind nur vorsichtig.«

»Nennt man es heute so, wenn man lügt?«

Sunny wedelte mit dem Papier, das Kerry ihm gegeben hatte. »Hören Sie zu, Lyle! Genau darüber reden wir, und hier ist absolut nichts gelogen. ReBirth setzt eine biomimetischeKräuterformel ein, um die natürliche Kollagenproduktion desKörpers zuunterstützen, sodass Sie eine wundervolle Haut bekommen, die jünger aussieht und sich gesünder anfühlt. Verstehen Sie, wie das läuft? Da wird gar nichts Spezifisches behauptet. Es heißt nicht, dass die Haut jünger oder gesünder ist, sondern nur, dass sie jünger aussieht und sich gesünder anfühlt. Das ist nicht beweisbar, und deshalb ist es auch nicht widerlegbar. Und man kann die Behauptung leicht verteidigen.«

»Was ist mit dem Kollagen?«, fragte Lyle. »Sie sagten doch, das Mittel produziert Kollagen.«

Kerry schüttelte den Kopf und lächelte überlegen. »Nein, wir sagen, es unterstützt den Körper dabei, das Kollagen selbst herzustellen. Unterstützen ist das magische Marketingwort. Auch das Frühstück unterstützt den Körper dabei, Kollagen herzustellen. Persönlich und politisch unterstütze ich Ihre Fähigkeit, Kollagen herzustellen. Wenn wir streng bei der Definition bleiben, unterstützen sogar Brandwunden die Fähigkeit, Kollagen herzustellen, weil sie den Körper zwingen, sich selbst zu heilen.«

Sunny beugte sich vor und unterschrieb. »Diese Verpackung ist genehmigt, und jetzt recherchiere ich den Markenschutz für ReBirth. Auch wenn der Markenname frei ist, bekommen wir vermutlich nicht die URL dafür. Denken Sie sich also etwas aus, das wir für die Website benutzen können.«

»In Ordnung.« Kerry nahm das Dokument an sich und klopfte Lyle auf den Rücken. »Das ist wirklich ein großartiges Produkt, Lyle. Sie haben sich selbst übertroffen.« Damit ging er hinaus, und Sunny angelte unter dem Tisch nach dem Tennisball.

»Fahren Sie zur Fabrik?«, fragte Sunny.

Lyle nickte. »Ich habe gestern das Rezept und die Probenflasche hingeschickt. Der Testlauf wurde sicher schon vorbereitet, aber ich fahre selbst hin und mache aktenkundig, dass die Tests noch nicht abgeschlossen sind und dass wir es nicht als endgültige Formel betrachten können, solange die Folgeuntersuchungen für 14G noch nicht analysiert und abgesegnet sind.«

»Das Rad des Fortschritts dreht sich«, sagte Sunny. »Wir müssen uns beeilen, um Schritt zu halten.«

»Es wäre mir lieber, das Rad des Fortschritts würde noch ein paar Monate warten«, meinte Lyle.

»Das Rad des Fortschritts wird mit Geld geschmiert«, erklärte Sunny. »Bei diesem Projekt gibt es so viel Geld zu verdienen, dass das Rad so gut geschmiert ist wie noch nie. Es hat praktisch keine Reibung mehr.«

»Die Reibung ermöglicht die Kontrolle«, wandte Lyle ein. »Wir müssen es steuern können.«

»Keine Sorge!«, beruhigte ihn Sunny. »Wir haben zusammen mehr als hundert Produkte auf den Weg gebracht. Dieses Projekt ließe sich im Schlaf erledigen.« Er grinste und warf den Ball. »Was kann schon groß passieren?«

NewYew hatte viele Produktionsstätten, aber die wichtigste Anlage, die ein kleines Testlabor besaß und sich somit für Lyles Zwecke besonders gut eignete, lag im Staat New York. Lyle schaffte den Weg in knapp fünf Stunden.

»Jerry!« Er winkte, um den Vorarbeiter auf sich aufmerksam zu machen. »Jerry!«

Auf der anderen Seite der hellen weißen Fabrik hob ein Mann in einem weißen Plastikkittel den Kopf, lächelte und winkte zurück. Er nickte dem Mitarbeiter zu, der neben ihm stand, drückte ihm ein Klemmbrett in die Hand und trabte zu Lyle herüber.

»Schön, dass Sie mal wieder da sind, Doktor!« Trotz der geringen Entfernung mussten sie schreien. »Ich habe mich schon gefragt, wann Sie kommen.«

Sie blieben an einem Wandregal stehen, aus dem Lyle einen weißen Overall mit durchsichtiger Plastikhaube nahm. »Wie weit sind Sie?«

»Die richtige Produktion hat natürlich noch nicht begonnen«, berichtete Jerry. »Bisher haben wir nur einige Proben. Wir haben das Material für einen größeren Testlauf bestellt, es wird jedoch erst in ein paar Wochen eintreffen.« Zusammen gingen sie weiter, und der Vorarbeiter führte Lyle durch die Fabrik. »Anscheinend haben Sie es damit sehr eilig«, meinte Jerry lächelnd. »Worum geht es denn?«

»Anti-Aging.« Lyle folgte ihm eine weiße Metalltreppe hinauf. »Haben Sie sich auch ganz genau an die Anweisungen gehalten?«

»Aber natürlich.«

»Und die Verhältnisse sind korrekt?«

»Vielleicht sollten Sie das noch etwas anpassen, aber wir haben Ihre erste Formel ganz exakt umgesetzt.«

Lyle runzelte die Stirn. »Was sollten wir denn anpassen?«

Sie blieben an einem sich drehenden Metallbottich mit weißem Kleister stehen. »Ich würde mehr Lezithin dazugeben«, schlug Jerry vor. »Die Konsistenz ist nicht so gut.«

Lyle spähte hinein. »Ist es das?«

»Ja.«

Lyle starrte in den Mischbehälter mit der Lotion. Ich sollte sofort alles beenden, dachte er. Das Produkt ist nicht marktreif, die Marketingkampagne ist unethisch, und die ganze Sache wird falsch angepackt. Er sah zu, wie die weiße Substanz im Bottich kreiste und wie sich das Licht in den hell schillernden Flecken spiegelte. Das sieht nicht richtig aus. Er zog den rechten Handschuh aus und tauchte die Finger hinein, um etwas Lotion aufzunehmen und zwischen Daumen und Zeigefinger zu verreiben.

»Eigentlich dürfen Sie das nicht mehr tun.« Jerry hob eine kleine Schöpfkelle mit langem Stiel. »Neue Vorschriften, damit die Proben rein bleiben. Sie wurden im letzten Monat eingeführt.«

»Das ist gut«, sagte Lyle. »Das ist gut. Ich sollte öfter hier herauskommen.« Er schloss die Augen und fühlte die Konsistenz. »Sie haben recht, das stimmt nicht.« Lyle spürte es ganz genau. Zu viel Reiskleieöl, nicht genug Lezithin. Das Produkt würde gut funktionieren, aber mit der falschen Konsistenz fühlte es sich schmierig an, und das schreckte die meisten Kunden ab. Die Konsistenz musste perfekt sein, sonst spielte die Funktion überhaupt keine Rolle mehr.

Jerry tauchte die Kelle vorsichtig in die Lotion und träufelte sich etwas davon auf die Hand. »Wir haben versucht, die richtige Viskosität zu erreichen, indem wir die Probe untergemischt haben, die Sie uns aus der Firma geschickt haben. Bei dieser Größenordnung müssen wir aber anders vorgehen.« Er untersuchte die Hautcreme und verrieb sie zwischen den Fingern. »Sehen Sie, was ich meine? Das Zeug ist zu ölig.«

Lyle nickte. Es war zu ölig, und er wusste genau, wie man das Problem lösen konnte. Er wischte sich die Hand ab. »Machen wir uns an die Arbeit!«

Kapitel 5

Mittwoch, 4. April

14:00 Uhr

Hauptsitz von NewYew, Manhattan

254 Tage bis zum Weltuntergang

Susan trug zur Arbeit einen Rock, der nur wenig kürzer war als der Laborkittel. Lyle folgte ihr und kämpfte mühsam gegen die Vorstellung an, der Rock sei völlig verschwunden. Er ging schneller, bis er mit ihr auf gleicher Höhe war.

»Ein kleiner Klecks für jeden Mann, der an dem Test teilnimmt.« Er zog eine Ampulle aus der Hemdtasche. Es war eine schlichte Plastikröhre, die mit der Produktprobe aus der Fabrik gefüllt war. Das Etikett war mit schwarzem Filzstift von Hand beschriftet: 14G. »Wir fragen sie nach ihren Einschätzungen, machen reichlich Fotos und überreichen ihnen das Geld, wenn sie gehen. Ganz einfach.«

Susan nickte. »Widerspricht es den Regeln, mit einem Geschäftspartner zu fraternisieren?«

Lyle blieb wie angewurzelt stehen. »Was?«

Susan blieb ebenfalls stehen und sah ihn an. »Ich meine, wenn ich zum Beispiel während der Arbeit einen Mann kennenlerne und mit ihm ausgehen will. Könnte ich dann Ärger bekommen?«

Macht sie mich jetzt an? Lyle lächelte. »Nein, ich glaube, das wäre überhaupt kein Problem.«

»Schön«, sagte Susan. »Ich möchte einen Testteilnehmer nach seiner Telefonnummer fragen. Er ist so süß, dass ich die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen kann.«

Lyle stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und ging dann langsam weiter. »Verstehe.« Er betrat den Testraum und blieb einen Augenblick lang schweigend stehen, bis er wieder sprechen konnte. »Willkommen bei der …« Er hielt inne.

Testperson eins war nicht da. Fünf Männer, ein leerer Stuhl. »Wo ist der sechste Mann abgeblieben?«

»Woher sollen wir das wissen?«, fragte der Dünne. Den Namen wusste Lyle nicht mehr genau. Ronald irgendetwas.

»Aber natürlich, ich …« Lyle wandte sich an Susan. »Wissen Sie, wo er steckt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das wüsste ich auch gern. Vielleicht auf der Toilette?«

Eine der anderen Testpersonen hob die Hand. »Er war nicht da, als wir aus der Lobby hierhergeführt wurden.«

Lyle runzelte die Stirn. Natürlich waren die Ergebnisse auch mit fünf Personen brauchbar. Es war schließlich nur eine kleine Überprüfung, um das Gewissen zu beruhigen. Allerdings war ihm gewöhnlich erheblich wohler zumute, wenn die Testpersonen nicht auf halber Strecke ausstiegen. Er bat Susan, den Ordner zu halten, und zog die Blätter mit den Personendaten heraus, die die Testpersonen beim letzten Mal ausgefüllt hatten.

»Geben Sie ihnen die Fragebogen, und dann beginnen wir.« Es kostete ihn viel Überwindung, scheinbar unbefangen zu sprechen. Susans beiläufige Ablehnung hatte ihn getroffen wie ein Faustschlag in die Magengrube. »Ich rufe ihn an, vielleicht können wir einen neuen Termin ansetzen.«

Eifrig legte Susan eine Hand auf die Formulare. »Oh, ich kann ihn gern anrufen, wenn Sie wollen.«

Sanft zog Lyle das Formular weg. »Keine Sorge, das mache ich schon.« Damit drehte er sich um, ging hinaus und blätterte die Papiere durch, während er durch den Flur lief. Jon Ford. Sogar der Name des Mannes war ansprechend. Lyle grollte in sich hinein, setzte sich im Labor an den Schreibtisch und wählte Fords Nummer.

»Hallo«, sagte jemand. »Hier bei Jon.« Es war eine männliche und irgendwie alberne Stimme.

»Sind Sie Jon?«

»Nein, Mann, hier ist Trav. Jon ist krank.«

Mist. »Wirklich?« Lyle schloss die Augen. Bitte, lass es nicht die Lotion sein! »Was ist denn los?«

»Eine Grippe oder so. Neulich hat er die ganze Nacht gekotzt und geschissen wie ein Wiesel. Sind Sie ein Kollege?«

Lyle seufzte erleichtert. Es ist nicht die Haut. Er dachte nach. Es kann ja nicht schaden, noch ein paar Fragen zu stellen. »Nein«, antwortete er. »Kein Kollege. Sagen Sie mal, Trav, wissen Sie, ob Jon auch irgendwelche … dermatologischen Symptome hat?«

»Mann, sind Sie der Doktor? Ich habe der Schwester doch schon gesagt, dass ich nicht weiß, welche Krankenversicherung er hat.«

»Ja«, antwortete Lyle rasch. »Ich bin ein Doktor, aber es geht nicht um die Versicherung. Ich muss nur wissen, ob er Probleme mit der Haut hatte – einen Ausschlag, eine Schwellung oder sonst eine Reaktion.«

»Nein, Mann, nichts in der Art. Nur Durchfall und so. Soll er irgendetwas einnehmen?«

»Wir melden uns wieder bei Ihnen«, sagte Lyle. »Vielen Dank für Ihre Geduld.« Er legte auf, ohne die Antwort abzuwarten.

Mit der Haut ist alles in Ordnung – also stehen wir gut da. Er öffnete die Akten über 14G und suchte die Aufzeichnungen der bisherigen Tests. Susan konnte den letzten Test allein durchführen, und Lyle hatte es nicht eilig, ihr wieder zu begegnen. Er konnte sich jetzt um den Papierkram kümmern und Susans Ergebnisse einfügen, sobald sie zurückkehrte.

Dreißig Minuten später war sie wieder da. »Ich habe den Test durchgeführt«, sagte sie und rieb sich die Hände. »Die Lotion ist wirklich Spitze – die Versuchspersonen haben sich sehr positiv geäußert. Wahrscheinlich könnten wir ein paar dieser Leute in einem Infomercial einsetzen, wenn wir vorher einen guten Stylisten beauftragen, der sie zurechtmacht. Haben Sie den Hottie angerufen?«

»Wen?«

»Testperson eins, den niedlichen Kerl, der nicht gekommen ist. Haben Sie ihn angerufen?«

»Er ist krank«, erklärte Lyle und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. »Er hat Grippe.«

»Bäh.« Susan überlegte kurz. »Kann ich seine Nummer haben?«

»Nein, Sie können seine Nummer nicht haben. Er ist eine Testperson.«

»Aber Sie sagten, das sei kein Problem.«

»Ich dachte nicht, dass Sie …« Er unterbrach sich.

»Ja?«

Er warf Susan einen kurzen Blick zu und wandte sich gleich wieder zum Bildschirm um. Susan riss den Mund auf.

»Oh, Sie dachten, ich meine …« Sie schlug sich die Hand vor den Mund und wich zurück. »Oh, du meine Güte, das tut mir aber leid! So meinte ich das doch gar nicht.«

»Ja, na ja …« Lyle betrachtete den Computer. »Ich glaube, wir sind hier fertig.«

»Das habe ich ganz bestimmt nicht so gemeint.«