Die Frau an der Bushaltestelle - Peter Schneider - E-Book

Die Frau an der Bushaltestelle E-Book

Peter Schneider

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Beschreibung

Eine aufwühlende Ménage-à-trois und die politische Radikalisierung einer Generation Peter Schneiders neuer Roman ist die Geschichte einer dramatischen Dreiecksbeziehung im Spannungsfeld von politischen Erweckungen und Verirrungen, Liebe und Verrat, Idealismus und Libertinage. Ein mitreißendes Buch über deutsche und persönliche Schuld. Darüber, wer wir damals waren – wohin wir wollten und wo wir nie ankamen. »Die Frau an der Bushaltestelle« erzählt von zwei Liebenden, die nicht miteinander leben, aber auch nicht voneinander lassen können. Die Geschichte kompliziert sich dadurch, dass sie von einem engen Freund des Liebespaares erzählt wird, der sich von Anfang an selbst in Isabel, »die schönste Frau der Stadt«, verliebt hat. Bei seiner Recherche über die lang zurückliegenden Begebenheiten stößt er auf eine Art Liebesverrat seines Freundes an Isabel, der ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. So entfaltet sich in der Mitte der Sechzigerjahre eine Odyssee aus Liebe, Freundschaft, Eifersucht und politischer Unruhe. Mit Besonnenheit blickt Schneider auf diese frühen Jahre zurück, in denen jeder Liebesschmerz der größte, jede Glückserfahrung endgültig und jeder Verrat der unverzeihlichste war. Was er vorfindet, ist eine Zeit, die geprägt ist von den ungeheuerlichsten Verbrechen der Menschheit und drei Repräsentanten einer Generation, die nach Abgrenzung, Rebellion, aber vor allem nach Liebe und Zugehörigkeit sucht.

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Peter Schneider

Die Frau an der Bushaltestelle

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Peter Schneider

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Peter Schneider

Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Lenz« (1973), »Der Mauerspringer« (1982), »Rebellion und Wahn« 2008), »Die Lieben meiner Mutter« (2013) und »Club der Unentwegten« (2017). Zuletzt erschien sein Roman »Vivaldi und seine Töchter« (2019). Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton, Harvard und an der Georgetown University in Washington D.C.

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Über dieses Buch

Peter Schneider verlegt seinen neuen Roman in die Mitte der sechziger Jahre – in die Jahre unmittelbar vor der Revolte in Berlin. Für Isabel und ihre beiden Freunde Nick und Sebastian ist es die Zeit in ihrem Leben, in der alles Wichtige zum ersten Mal passiert.

Schneider nähert sich den Protagonisten seiner Geschichte ohne Hast - mit Sympathie, aber auch erbarmungslos. So gelingt es ihm, die Konflikte jenes Teils seiner Alterskohorte zu zeichnen, die vor den ungeheuren, von der Generation ihrer Eltern begangenen Verbrechen nicht die Augen verschließen konnte, aber mit dem Projekt, sich als Retter der Welt, gar als neue Menschen zu präsentieren, völlig überfordert war.

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Impressum

Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln

© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: buxdesign|Ruth Botzenhardt

Covermotiv: © DEEPOL by plainpicture/Susanne Walstrom

 

ISBN978-3-462-31226-3

 

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

ZWISCHENSTÜCK

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

1

Kürzlich blätterte ich ein altes Adressbuch durch, weil ich nach dem Nachnamen eines Mannes suchte, der einmal mein bester Freund gewesen war. Ich wollte Nick auf dem Postweg eine Notiz aus dem Jahre 1965 schicken – wahrscheinlich war es der Anfang eines Briefes, den ich nie abgesandt hatte. Ich erinnerte mich sogar an Nicks damalige Adresse, sah das Wilmersdorfer Mietshaus vor mir, in dessen Hinterhaus er damals gewohnt hatte. Sein Familienname jedoch wollte mir partout nicht einfallen.

Bei meinen Begegnungen mit Altersgenossen habe ich keine Geduld mit Leuten, die ein Gespräch ruinieren, weil sie endlos nach dem Namen einer Person suchen, von der sie gerade sprechen. Dann rate ich ihnen, weiterzureden und mit der Namenssuche aufzuhören; es lohne sich nicht, sie fortzusetzen; meist handele es sich um den Namen irgendeines Moderators oder Artikelschreibers, den sich niemand merken müsse. Im Fall Nick wog der Ausfall meines Gedächtnisses schwerer. Schließlich ging es nicht nur um meinen damals besten Freund, sondern auch um einen intimen Feind – um meinen Gegenspieler um die Gunst von Isabel. In unseren Augen war sie das interessanteste weibliche Geschöpf, das sich Mitte der Sechzigerjahre in Berlin herumtrieb.

Aber warum wollte mir Nicks Nachname nicht einfallen? Immerhin kam mir nach langem Suchen ein Grund für dieses rätselhafte Versagen meines Gedächtnisses in den Sinn. Ich war Teil einer Bewegung gewesen, deren Mitglieder in kurzer Zeit mit Hunderten, ja Tausenden von mehr oder minder Gleichaltrigen und Gleichgesinnten in Berührung gekommen waren, die sie nur beim Vornamen kannten.

Am Ende tröstete ich mich mit dem Satz eines amerikanischen Biogenetikers: Schauen Sie sich das Adressbuch eines beliebigen New Yorkers der Mittelklasse an. Es verzeichnet höchstens sechzig bis siebzig Namen, die ihm wichtig sind – was in etwa der Mitgliederzahl der äffischen Urhorde entspricht. Natürlich stehen in Ihrem Adressbuch ein paar Hundert weitere Namen. Aber diejenigen, die in Ihrem Leben eine Rolle gespielt haben oder spielen, mit denen Sie ein Gesicht, eine Geschichte, ein Gefühl verbinden, machen nicht mehr als die erwähnten sechzig bis siebzig aus.

Sechzig bis siebzig Namen, die einem wichtig sind – diese Zahl schien mir eher hochgegriffen. Tatsächlich waren in meinem Adressbuch etwa zweihundert Namen verzeichnet. Aber höchstens dreißig von ihnen lösten eine halbwegs deutliche Erinnerung aus – an eine gemeinsam erlebte Geschichte, an ein Gesicht.

Beim Hin-und-her-Blättern stieß ich dann unversehens auf den Namen, den ich mit der Hand eines frisch Verliebten in mein Adressbuch eingetragen hatte: Isabel Borsay. Da stand auch ihre Telefonnummer. Aber Isabel konnte niemandem mehr antworten. Dennoch riefen der Name und die alte Nummer eine Art Schwindel in meinem Kopf hervor – einen Wirbel aus Anziehung und Ablehnung, Sehnsucht und Zorn, Neugier und Scham. Die Geschichte zwischen Isabel, Nick und mir erschien mir in diesem Augenblick so fremd, als würde jemand, den ich nicht kannte, mir davon erzählen. Und doch hatte Isabel die stärksten Gefühle in mir ausgelöst, deren ich damals fähig war.

Mir ist klar, dass dieser Superlativ einer fragwürdigen Grammatik folgt. Auf das eigene Gedächtnis sollte sich niemand, der bei Verstand ist, verlassen. Vor allem nicht dann, wenn es um Liebe geht. Es sind ja nicht die geglückten Liebesgeschichten, die erfüllten Träume, die eingelösten Hoffnungen, die die tiefste Spur im Gedächtnis hinterlassen. Wer von der größten Liebe seines Lebens spricht, meint damit eine, die neben den euphorischen Augenblicken auch das größte Unglück und die schlimmsten Verletzungen hervorgebracht hat. Das Gedächtnis der Gefühle gehorcht einer darwinistischen Logik: Es hält die schiere Wucht einer Liebeserfahrung fest, es privilegiert das Übermaß des Glücks und der Verzweiflung. Für das mittlere, das halbwegs gelingende und vielleicht dauerhafte Glück bringt es kaum Interesse auf.

Am Ende bin ich doch noch auf Nicks Familiennamen gestoßen – in meiner Bibliothek. Ich fand einen schmalen Gedichtband mit dem Titel Anrufungen – Autor Nicolas Nürnberger. Das Kürzel Nick habe er sich erfunden, erklärte er mir einmal, weil ihn das »aufdringlich Christliche« an seinem Vornamen störte.

Die Notiz stammte vom November 1965 und klang dramatisch. »Merkst du nicht, was für ein Glückspilz du bist? Dass du in diesem Augenblick die Macht hast, Isabel an dich zu binden? Wenn du diesen Augenblick verpasst, dann befürchte ich das Schlimmste – für Isabel und für dich!«

Ich konnte mir das Pathos dieser Notiz nicht erklären. Auf welches Ereignis bezog sie sich? Und worauf gründete sich meine selbstlose Warnung, in der meine eigenen Hoffnungen gar nicht mehr vorkamen?

Durch einen Suchdienst im Internet fand ich eine Adresse von Nick Nürnberger heraus. Ich schickte ihm meine Notiz von damals mit einem kurzen Begleitbrief, in dem ich ihn um eine Erklärung bat und den Wunsch äußerte, ihn zu sehen. Ich erhielt keine Antwort. Vielleicht stimmte die Adresse nicht, vielleicht hatte Nick keine Lust, mir zu antworten. Aber nun, da ich meine Frage an ihn einmal abgeschickt hatte, gewann sie unversehens an Dringlichkeit. Nicht nur mir, sondern auch Isabel, fand ich, war Nick eine Erklärung schuldig – auch wenn sie diese Erklärung nicht mehr lesen konnte. Und je länger seine Antwort ausblieb, desto mehr gewann ihr Fehlen an Gewicht.

Denn da war noch etwas mit Nick. Obwohl wir einander die intimsten Erfahrungen anvertraut hatten, war ich immer wieder auf einen dunklen Bereich von Nick gestoßen, an den ich nicht herankam. Nach vielen Fragen und einigen Provokationen fand ich heraus, dass dieser Bezirk auch Nick selber verschlossen blieb. Und ich spürte, dass in dieser unzugänglichen Zone alles Mögliche passieren konnte – vielleicht auch Unverzeihliches.

Die Suche nach Nicks Nachnamen, das Warten auf seine Antwort, vor allem aber die Erinnerung an Isabel hatten so viele längst abgelegte Gefühle wieder aufgewühlt, dass ich beschloss, mir die Antwort auf die Fragen, die ich Nick stellen wollte, selbst zu geben. Und was ich von der schönen und schrecklichen Geschichte von Isabel, Nick und mir nicht selbst erlebt habe, das habe ich erfunden.

2

Wie konnte es überhaupt passieren, dass Nick, der außer verträumten Augen und himmelhohen Ambitionen nichts vorzuweisen hatte, die von vielen umschwärmte Isabel überzeugte, sich auf ihn einzulassen? Wie konnte er es wagen, sich dieser Frau zu nähern – mit nichts in den Händen als der Gewissheit, dass sie fürei-nander bestimmt waren?

Er fuhr mit seinem alten VW-Cabrio an einer Bushaltestelle vorbei, sah eine Frau mit einem schön geschwungenen Mund, der irgendein Rätsel, einen Schmerz zu verbergen schien, mit einem offenen hellen Popeline-Mantel an dieser Haltestelle stehen, als es ihn wie ein Befehl – seine Worte! – durchfuhr: »Sofort anhalten, sonst verpasst du dein Leben!«

Er folgte dem Befehl, lenkte das Cabrio auf das Trottoir und sah im Rückspiegel den Doppeldeckerbus zur Haltestelle einbiegen. Er ließ das Auto auf dem Trottoir stehen und rannte zur Haltestelle zurück. Er wusste nicht, was er der Unbekannten, die den »Befehl« in seinem Kopf ausgelöst hatte, eigentlich sagen wollte. Als er vor dem Bus anlangte, sah er nur noch, wie sie ihren Fuß – war es überhaupt ihr Fuß? – in die offene Bustür setzte und sich die Eingangstür hinter ihr schloss. Was jetzt? Mit der Faust an die Tür schlagen, sich vor der Frontscheibe aufstellen und den Fahrer mit wild fuchtelnden Armen zum Halten zwingen? Plötzlich fehlte ihm der Mut, genauer gesagt eine Ausführungsbestimmung zu dem empfangenen ›Befehl‹. Und Berliner Busfahrer hielten damals nie an, wenn ein verspäteter Fahrgast etwa darum bettelte, doch noch mitgenommen zu werden. Der Bus scherte aus der Haltestelle aus, beschleunigte seine Fahrt und ließ Nick mit dem Blick auf ein paar Rücken hinter der trüben Heckscheibe zurück.

Wie kommt eine derartige Gewissheit zustande, die sich auf nichts als einen sekundenlangen Blick berufen kann? Auf einen Blick, der nicht einmal erwidert wurde? Zumal Nick ja nur einen Umriss von dieser Frau gesehen hatte. Als ich später nach weiteren Merkmalen fragte, konnte er nur von einer über das Gesicht herabfallenden Haarsträhne berichten, die im Moment des Einsteigens aufgeleuchtet hatte. Wie kann eine sekundenlange Begegnung derart heftige Gefühle auslösen? Und dies bei einem jungen Mann, der – wie wir alle – darin geübt war, zuallererst die körperlichen Eigenarten einer Frau einzuschätzen, bevor er sie für begehrenswert hielt?

Wir waren bis zum Wahnsinn darauf trainiert, aus winzigen Hinweisen in der Kleidung einer vorbeigehenden Frau die uns interessierenden Merkmale ihres Körpers zu erschließen. Eine Bluse, ein Pullover mochte noch so weit ausfallen; in der Bewegung beim Gehen offenbarten uns diese Kleidungsstücke eben doch die Form des Busens, den sie verbargen. Sahen wir diese Frau von hinten, konnten wir aus dem Wechselspiel der Hosenfalten beim Gehen die genaue Gestalt ihres Pos erschließen. Und selbst ein hochgeschlossenes Kleid – die Zeit der Miniröcke war noch nicht gekommen – zeigte uns an der Art, wie es sich an den Körper schmiegte, was sich darunter verbarg. Einige hatten sogar verrückt genaue Vorstellungen davon, wie die Fußgelenke einer Frau auszusehen hatten. Hielten sie dem Anspruch auf Schönheit nicht stand, konnte dies alle vorher erstellten günstigen Bescheide außer Kraft setzen. Gut, nein schlecht: Dies waren nun einmal die Lesekünste einer Generation von jungen Männern, die ohne Pornofilme groß geworden war und von einer »Me-too-Bewegung« nichts wusste.

Ich glaube nicht, dass Nick, der Männergesellschaften hasste, völlig frei von den beschriebenen Lesekünsten war. Sicher ist, dass sie bei seiner ersten Begegnung mit Isabel keine Rolle spielten. Das Einzige, was er von Isabel sah, waren ein unvergessliches Gesicht und dieser Mantel. Erinnerte ihn der Mantel an eine jener Frauen und Mütter, die in den Fünfzigerjahren vor den Heimkehrer-Zügen aus Russland an den Gleisen standen und hofften, der tot geglaubte Ehemann und Vater ihrer Kinder werde aus einem der Waggons steigen? Was immer Nicks Erschütterung auslöste, sie lässt sich nicht als pure Einbildung abtun. Die Religionen, die Mythen, die Literatur der Menschheit liefern unzählige Geschichten, die von der Macht des ersten Blickes erzählen. Diese Macht mag sich dann als eine Illusion erweisen, gar als Fantasie eines Delirierenden, der sein Bedürfnis nach Intimität auf die nächstbeste Frau projiziert. Es mag sich herausstellen, dass solche Einbildungen einem bestimmten Reizschema im Gehirn des Heimgesuchten folgen, zu dem uns die Psychoanalytiker und die Gehirnforscher umstrittene Erklärungen liefern. Sicher ist nur, dass unzählige Zeugen von solchen Blitzschlägen der Liebe berichtet haben und berichten, für die es in vielen Sprachen Fachwörter gibt – außer im Deutschen. Und offenbar gehört es zu den Merkmalen eines solchen Ereignisses, dass es einem Menschen nur einmal in seinem Leben widerfährt.

3

Da die Frau an der Bushaltestelle unaufhaltbar davongefahren war, musste Nick den Gedanken zulassen, dass er sie in einer Millionenstadt wie Berlin nicht wiedersehen werde. Die Haltestelle lag vor einer neu errichteten Großanlage namens Amerika-Gedenkbibliothek, in der täglich ein paar Hundert meist junge Menschen ein und aus gingen. Einmal angenommen, dass die Frau kurz zuvor die Bibliothek aufgesucht hatte, um ein bestelltes Buch abzuholen, lag die Wahrscheinlichkeit, sie an einem der nächsten Tage an derselben Stelle wiederzusehen, bei null. Schließlich müsste sie ein ausgeliehenes Buch erst einmal lesen und hätte vier Wochen Zeit, es zurückzugeben. Seine Aussichten stiegen, wenn er sich am Ende der Ausleihe-Frist in der Nähe der Bibliothek herumtrieb. Falls sie jedoch am Tag ihrer ›Begegnung‹ ein Buch zurückgegeben hatte, reduzierten sich seine Chancen, sie wiederzusehen, auf null. Zwar glaubte Nick durchaus an glückliche Zufälle, aber nicht daran, dass sie sich wiederholten.

Nick arbeitete seit einem halben Jahr an einem Theaterstück, für das er keinen Schluss fand. Sein Mentor, ein Professor für Theaterwissenschaft, sprach anerkennend von einem »Ideenstück«, aber bemängelte die Figurenzeichnung. Dieses Stück sei es noch nicht, sagte er, aber ganz sicher das nächste. Nick blickte den Professor zweifelnd an, denn er hatte ihm von seinem neuen Projekt noch gar nichts erzählt.

Mir hatte er einmal gesagt, dass er bis zum Alter von fünfundzwanzig entweder seine erste Premiere feiern oder den Erdteil wechseln müsse. Immerhin lachte er mit, als ich ihn darauf hinwies, dass das von ihm gesetzte Datum in einem halben Jahr ablaufen würde. Oft habe ich mich über seine Marotte lustig gemacht, bei jeder Neuerscheinung zuerst auf die Innenseite des Einbands zu schauen und nach der Altersangabe über den Autor zu suchen. War der Autor Anfang dreißig, legte er das Buch zur Seite. War er fünfundzwanzig oder jünger, begann er zu lesen und suchte nach einer schwachen Stelle im Text. War er von den Fähigkeiten des Junggenies beeindruckt – und das kam vor –, erlitt er einen Schock. Dann benahm er sich, als wäre ein Auto in ihn hineingefahren, und hatte Mühe, sich von dem Unfall zu erholen.

Er dachte oft an die Frau an der Bushaltestelle, aber er redete nicht mehr von ihr. Er hatte ein Gedicht mit dem Titel »Anrufungen« angefangen, das ihm selber kitschig vorkam und in der dicken Mappe seiner unvollendeten Texte verschwand.

Trotzdem fuhr er noch einmal zur Bushaltestelle an der Amerika-Gedenkbibliothek. Es konnte nicht schaden, wenn er einen Bibliotheksausweis beantragte. Er ging in die Eingangshalle, nahm mit einem Auge die politischen Embleme und Botschaften an den Wänden wahr, darunter die Botschaft des amerikanischen Gründervaters Thomas Jefferson: »Nichts ist so wichtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.«

Er blieb eine Weile vor diesem Spruch stehen. Ja, er hatte mehrere starke Ideen – darunter die Idee, die Frau an der Bushaltestelle wiederzusehen –, wusste jedoch nicht, ob die Zeit dafür gekommen war. Nach einer Weile irritierte ihn das Gefühl, dass er auffiel, weil er sich als Einziger so lange in der Eingangshalle herumdrückte. Dabei war er nicht einmal sicher, ob er die eine unter den ein und aus gehenden Frauen wiedererkennen würde, falls sie etwa die Haare hochgesteckt hatte und eine dunkle Jacke statt eines hellen Mantels trug. Er nahm den Weg in die Bibliothek und füllte das Antragsformular für den Ausweis aus.

Einer Berliner Bezirkszeitung, die pro Artikel 60 DM zahlte, schlug er vor, eine Rezension über den amerikanischen Revolutionär Malcolm X zu schreiben. In einer linken Broschüre hatte er in deutscher Übersetzung ein paar Reden des schwarzen Predigers gelesen, die die militante Jugend in den USA begeisterten. Was Nick an Malcolm X faszinierte, war nicht nur dessen Biografie – Malcolm X rebellischer Vater war angeblich von amerikanischen Rechtsextremisten umgebracht worden, sein Sohn als Halbwaise und jugendlicher Bandenchef aufgewachsen. Es war der Rhythmus von Malcolm X Reden, die ihre Kraft aus der kirchlichen Liturgie bezogen und mit einem Refrain immer wieder zum Thema des Redners zurückkehrten: »It’s the ballot or the bullet« – es ist der Stimmzettel oder die Kugel.

Nick fand heraus, dass die englischsprachige Ausgabe in der Amerika-Gedenkbibliothek zu bekommen war. Also fuhr er dorthin und holte seinen Bibliotheksausweis ab. Von einer freundlichen Angestellten ließ er sich erklären, wie man sich im Verzeichnis der Bibliothek zurechtfand, fand das Kennzeichen für das Buch von Malcolm X, füllte den Bestellzettel aus und warf ihn in den Kasten.

Als er das Buch zwei Tage später abholen wollte, passierte etwas, das er später – in Anspielung auf eine biblische Prophezeiung – ›the second coming‹ nannte. In einer der Angestellten, die die bestellten Bücher aus den Regalen holten und sie am Tresen aushändigten, erkannte er die Frau von der Bushaltestelle wieder. Zunächst sah er sie im Halbprofil, als sie gerade zwischen zwei langen Regalreihen verschwand. Natürlich hatte sie jetzt keinen hellen Mantel an – aber an ihrer sehr aufrechten Haltung und an der Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fiel, glaubte er sie zu erkennen. Als sie mit einem Stapel Büchern auf den Armen zurückkehrte, bemerkte er, dass sie einen dunklen Rippen-Pullover trug und einen kurzen, nicht sehr engen Rock.

Wie ihre Aufmerksamkeit erregen, sie zu einem Treffen überreden?

Warten, bis sie Dienstschluss hat, und sie ansprechen, ihr etwas von seinen Gefühlen sagen? Auf keinen Fall. Denn er fühlte sich an diesem Tag – genauer seit dem letzten Treffen mit seinem Mentor – als ein Verlierer, als der Nick, der längst den Erdteil hätte wechseln müssen. Frauen, hatte ihm ein Freund gesagt, registrieren sofort, wenn ein Mann seiner selbst nicht sicher ist. Ein solcher Mann hat keine Ausstrahlung, keinen Charme, all seine sonst bewährten Anfangssätze und Sprüche fallen ihm nicht ein.

Am Freitagnachmittag dieser Woche hatten sich besonders viele Abholer vor dem Tresen angestellt. Und da drei Frauen Dienst hatten, war es kaum möglich zu berechnen, ob er auf die richtige treffen würde, wenn er mit seinem Abholschein an der Reihe war. Außerdem brauchten die Damen unterschiedlich lang, um die Aufträge zu erledigen. Zweimal ließ er einen hinter ihm stehenden Abholer vor, um auf die Angestellte seiner Wahl zu stoßen. Er stand am Tresen, als sie sich ihm zuwandte. Sie nahm seinen Abholschein entgegen, ohne ihm einen Blick zu schenken, und ging damit zu den Regalen. In seinem Kopf ratterten mehrere Eröffnungen durcheinander: Ihr sagen, dass sie die schönste Frau sei, die er je gesehen hatte. (Das hatte sie schon tausendmal gehört!) Sie in ein Gespräch über Malcolm X verwickeln (natürlich kannte sie diesen Namen nicht!). Ihr gestehen, dass er sie vor einem halben Jahr an der Bushaltestelle gesehen hatte und sich fast damit abgefunden hatte, sie nie mehr wiederzusehen. (Viel zu lang! Ein Autor muss den Inhalt eines Drehbuchs mit zehn Wörtern beschreiben können, sonst taugt es nichts!)

Sie kam mit einem dünnen Band zurück, prüfte Nicks Ausweis und drückte ihm beides, Buch und Ausweis, in die Hand.

Da er nicht gleich zugriff, fiel sein Ausweis auf den Boden. Als sie sich danach bückte und wiederaufrichtete, erriet er unter ihrem Pullover ihren hoch ansetzenden Busen.

»Ich möchte Sie etwas fragen!«, hörte er sich sagen. Zum ersten Mal blickte sie ihn aus verhangenen Augen, deren Blau durch schwarz nachgezogene Augenränder hervorgehoben wurde, direkt an.

»Ja?«, sagte sie.

Es klang weder freundlich noch abweisend.

»Ich bin Schriftsteller«, sagte er, »und habe vor Kurzem diesen Artikel veröffentlicht.«

Er zog ein Zeitungsblatt aus einer Berliner Regionalzeitung aus seiner Jacke, das auf die Größe einer Spielkarte zusammengekniffen war, entfaltete es umständlich und legte es auf den Tresen.

»Ja und?«, fragte sie.

»Ich möchte, dass Sie den Artikel lesen.«

»Und warum?«

»Weil ich mit Ihnen darüber sprechen möchte. Meine Telefonnummer steht hier unten.«

Sie lächelte ihn nicht an, griff aber nach dem Artikel, legte ihn weg und nahm die nächste Bestellung entgegen.

Sie rief nicht an.

Ein paar Tage später kehrte Nick in die Bibliothek zurück, begrüßte sie auf eine Art, als würden sie sich kennen, und sprach sie auf seinen Artikel an. Zu seiner Überraschung hatte sie ihn gelesen und willigte ein, einen Kaffee mit ihm zu trinken.

4

Später wunderte er sich, wie verhalten, geradezu unwirklich sein erstes Treffen mit Isabel verlaufen war. Als er mir davon erzählte, konnte er sich nur mit Mühe erinnern, worüber sie gesprochen hatten.

Ja, sie hatten sich über seinen Artikel ausgetauscht. Sie hatte angedeutet, dass ihr seine direkte und freche Art des Schreibens gefalle; vom Thema des Artikels verstehe sie jedoch rein gar nichts. Er konnte nicht recht unterscheiden, ob sie sich für seinen Artikel oder für Malcolm X nicht interessierte. Deswegen hatte er sie auch gleich von dem Thema abgelenkt. Das Artikelschreiben sei nur ein Broterwerb für ihn; eigentlich verfasse er Theaterstücke, die sie hoffentlich bald an den Bühnen Berlins, ja der Republik würde sehen können.

Wovon seine Stücke handelten, fragte sie. Das könne er ihr leider nicht sagen, erwiderte er. Er habe seine besten Stücke dadurch ruiniert, dass er sie erzählt habe, bevor er auch nur mit dem ersten Akt fertig war. Nach dem Erzählen – und dem Beifall – habe er das Stück dann nicht mehr weiterschreiben können, die Luft sei raus gewesen. »Von allen Stückeschreibern«, sagte er, »deren Stücke nie jemand je gesehen hat, bin ich der bekannteste.«

Dieses verdrehte Selbstlob schien ihr zu gefallen; trotzdem gelang es ihm nicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Ja, sie hatten einen Spaziergang in der Parkanlage hinter der Amerika-Gedenkbibliothek gemacht. Sie hatte angedeutet, dass sie mit dem Bus gern zur Gemäldegalerie am Kulturforum fuhr. Manchmal vertiefe sie sich so lange in ein Bild, sagte sie, dass sie die Zeit vergesse.

Was das für Bilder seien, wollte Nick wissen.

Eines der Gemälde, von dessen Anblick sie sich nicht habe lösen können, zeige zwei Frauen im Gespräch – eine strahlende, sehr sichtbare und eine andere, die im Dunkeln saß und nur von der Seite zu sehen war. Sie versetze sich immer in die Frau im Dunkeln und überlege, was für Vorwürfe die strahlende ihr mache. »Caravaggio?«, rief Nick.

Isabel verstand ihn nicht und sagte, er dürfe sie nie nach Namen oder Titeln fragen. Das Gleiche passiere ihr auch mit Büchern, die sie verschlungen und geliebt hatte. Sie könne ganze Absätze daraus auswendig zitieren, den Konflikt und die Handlung mit allen Abschweifungen nacherzählen. Aber sie vergesse regelmäßig die Namen der Autoren oder verwechsle sie. Ob das schlimm sei?

Er sei Schriftsteller, so etwas dürfe sie ihn nicht fragen, sagte Nick mit gespielter Entrüstung. Er sah ein kurzes Lächeln auf Isabels Gesicht, war sich aber nicht sicher, ob sie seine Antwort als Scherz verstanden hatte.

Bibliothekarin sei gar nicht ihr Beruf, sagte sie. Nur dank eines amerikanischen Bekannten sei sie zeitweise als Aushilfe in der Gedenkbibliothek angestellt. Sie entwerfe Klamotten für junge Leute.

Am Tempelhofer Ufer blieb sie plötzlich hinter ihm zurück. Als er sich umdrehte, sah er, dass sie dem Weg eines winzigen Käfers folgte, der von einem Baum auf ihre Hand gefallen war. Sie sah dem Käfer zu, wie er sich auf ihrem Handrücken bis zum Ende ihres kleinen Fingers vorarbeitete, dann umkehrte und auf ihrem Zeigefinger zurückkrabbelte, bis er seine Wanderung auf der Innenseite ihrer Hand fortsetzte.

Woher der Käfer wisse, wann der Weg für ihn zu Ende sei und er kehrtmachen müsse, fragte sie. Ob er überhaupt etwas sehe?

»Sicher sieht er nicht dasselbe wie Sie und ich«, sagte Nick und folgte mit den Augen der Linie ihres nackten Arms bis zur Achsel. Er sah die feinen Härchen auf ihrem Arm in der Sonne glitzern und suchte nach einem Anlass, ihn zu berühren; er fand keinen. Er erzählte ihr von dem Frosch, der inmitten von toten Insekten verhungerte, weil er mit seinen Augen nur Insekten erkennen konnte, die sich bewegten.

»Der arme Frosch!«, sagte Isabel. »Woher wissen wir eigentlich, dass die Welt so ist, wie wir sie sehen?«

»Niemand, kein Wesen, ob Frosch oder Mensch, kann die Welt so sehen, wie sie ist«, sagte Nick.

Auf einer kleinen Brücke, die über ein Rinnsal führte, blieb sie stehen. Sie stützte sich auf das schmiedeeiserne Geländer und schaute lange auf das grüne Wasser. Ihre bloßen Arme in dem ärmellosen Leinenkleid brachten Nick um den Verstand.

Ob er nicht auch das Gefühl habe, fragte sie, dass die kleinen Entchen bei diesen Temperaturen frieren würden?

Was war los mit dieser Frau, überlegte Nick. War sie ein Naturkind, eine Esoterikerin, eine Animistin, die es in eine Bibliothek verschlagen hatte? Was zog ihn trotzdem so mächtig an?

Nick beschloss, das Gespräch endlich auf das Thema zu lenken, das ihn schon im Café beschäftigt hatte. Er gestand, dass er Isabel schon vor ihrer Begegnung in der Bibliothek zum ersten Mal gesehen hatte – an der Bushaltestelle vor der Amerika-Gedenkbibliothek. Und dass ihr Anblick ihn überwältigt habe, nein, erschüttert, Erschütterung sei das richtige Wort. Was er damals mit seinem Cabrio alles angestellt hatte, um sie anzusprechen, bevor sie in den Bus einstieg. Dass sie ihm seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen sei.

Seine Erzählung schien sie nicht weiter zu beeindrucken.

»Ach so«, sagte sie, »und warum haben Sie das erst jetzt erzählt?«

»Weil ich mich nicht getraut habe!«

Mit einem bedauernden Kopfschütteln erklärte sie ihm, dass sie ihn überhaupt nicht bemerkt hatte – nicht an der Haltestelle und auch nicht später in der Bibliothek.

»Was hätten Sie mir denn gesagt, wenn Sie mich vor dem Einsteigen noch erwischt hätten?«

»Dass Sie die Frau meines Lebens sind.«

»Und woher wussten Sie das?«

»Ich wusste es einfach! Ich weiß es immer noch!«

Ihr kurz aufstrahlendes Lächeln täuschte ihn nicht da-rüber hinweg, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte.

Sie sei erst durch seinen Artikel auf ihn aufmerksam geworden, sagte sie, blieb plötzlich stehen und sah ihm prüfend ins Gesicht.

»Legen Sie sich etwa in die Sonne?«

»Nein, warum?«

»Weil Sie so braun sind im Gesicht – wie ein Bauarbeiter!«

»Ich bin viel mit dem Fahrrad unterwegs.«

»Ich dachte, Sie fahren Cabrio!?«

Sie schien seine Verunsicherung zu genießen und blickte ihm herausfordernd in die Augen.

»Einstweilen genügt es«, sagte Nick entschieden, »wenn einer von uns beiden weiß, was für ein Glücksfall unsere Begegnung ist.«

5

Wie war es nach diesem ernüchternden Beginn dazu gekommen, dass sie ein paar Tage später miteinander schliefen? Dem Ereignis war kein Herz- und Sinnen-öffnendes Gespräch in einer der angesagten Berliner Kneipen vorausgegangen, kein enger Tanz im Riverboat oder in der überfüllten Bar von Rolf Eden, kein erster Kuss unter einem vom Dunst aufgeblähten türkischen Mond am Berliner Nachthimmel. Er hatte Isabel von der Bibliothek abgeholt. Sie war ohne Zögern und weitere Nachfragen seiner Einladung gefolgt, ihn auf ein Glas Wein in seine Wohnung zu begleiten. Als sie dort angelangt waren – in einer dunklen Wohnung in einem Wilmersdorfer Hinterhaus –, lief sie, ohne einen Kommentar abzugeben, durch die beiden Zimmer, warf ihre Jacke und ihre Handtasche auf sein Bett. Sie folgte nicht seiner Aufforderung, sich an den gedeckten kleinen Tisch im Zimmer nebenan zu setzen, den er für ein Abendessen vorbereitet hatte. Sie blieb neben dem Bett stehen, blickte sich noch einmal um und sah ihn an. Er war sich nicht sicher, wie er Isabels Stehenbleiben und ihren Blick deuten sollte. Fühlte sie sich unwohl, wollte sie gleich wieder gehen? Versuchte sie, mit seiner Wohnung in einen Dialog zu treten, mit der Gitarre in der Ecke, mit der Schreibtischplatte, die auf zwei Stützen stand, mit den politischen Plakaten an den Wänden? Hatte er sich in Isabels Augen durch das selbst gezimmerte Bett, die trostlosen Tapeten, den verstaubten Ballonschirm an der Deckenlampe bereits disqualifiziert?

Er begriff, dass dies nicht der Augenblick für Erklärungen oder Entschuldigungen war; er zog Isabel an sich. Da sie ihn nicht abwehrte, suchte er ihren Mund. Als sie ihren Kopf zur Seite wandte, bedeckte er ihren Hals mit Küssen, entblößte das unter den Haaren verdeckte Ohr, fand schließlich ihre Lippen, die sie nicht öffnete. Isabel ließ seine Annäherungen fast regungslos über sich ergehen, als warte sie auf ein Zeichen aus dem Inneren ihres Körpers, dass dieser Anfang ihr gefiele. Erst als er den leichten Druck ihrer Hand zwischen seinen Schulterblättern fühlte, drückte er sie an sich und versuchte, ihren Körper an den Stellen, an denen sich zwei Liebende im Stehen berühren können, mit seinem Körper bekannt zu machen. Aber plötzlich war es, als sei ihr diese Prozedur zu umständlich. Sie knöpfte ihr Kleid auf und bot ihre Brüste, deren Pracht er bisher nur hatte erraten können, seinen Liebkosungen dar. Er ertrank in dem Bild, das sie ihm bot, und Isabel gönnte ihm diesen Anblick. Sie streifte Kleid und Slipper ab und löste ihren Busen aus dem Halter. Wusste sie, dass sie die begehrenswerteste Frau war, die er, die irgendein Mann auf dieser Erde so gesehen hatte? Natürlich wusste sie es, und einen Augenblick lang störte ihn der Gedanke, dass er nicht der erste Liebhaber war, dem sie sich so gezeigt hatte. Aber auch wenn er der zehnte oder zwanzigste gewesen wäre, er ergab sich seiner Lust und der Erwartung eines Erlebnisses, das sein Leben verändern würde.

Während er sich an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen machte, packte Isabel ihn an den Schultern und ließ sich auf das Bett fallen. Isabel, die bisher so verhaltene Isabel, hatte die Initiative übernommen, und Nick verstand, dass er in ein Territorium gelangt war, in dem er wenig oder nichts zu sagen hatte.

Er spürte, dass er nichts falsch machte, wenn er sich von seinem Begehren leiten ließ. Mit Isabel war es anders als mit jeder anderen Frau, mit der er geschlafen hatte. Es gab einen kurzen stürmischen Anfang, aber dieser Anfang schien keinem Ende zuzustreben. Es war, als würde sein Körper neue Sinnesorgane hervorbringen – an jeder Stelle, an der Isabel ihn berührte, schien ein neues Sensorium zu entstehen, das ihm berauschende Gerüche, Empfindungen und Geräusche mitteilte. Wörter wie ›laut‹ oder ›leise‹, ›zart‹ oder ›wild‹ trafen nicht länger zu. Aber es gab gar keinen Grund, nach besseren Adverbien zu suchen, weil ja auch alle anderen Wörter nicht mehr stimmten. Sie lagen nicht mehr auf Nicks Bett, sie spürten es ab und zu unter sich; sie erkundeten nicht ihre Körper, sie verloren sich ineinander; sie waren zwar in Nicks Zimmer, aber das Zimmer hatte keine Wände. Vielleicht, dieses Verb hätte es noch am ehesten getroffen, flogen sie, aber da war kein Wind, auch kein Ort und keine Landschaft, die Nick unter sich erkannte. Kein Zweifel, sie befanden sich in einem Rausch, aber dieser Rausch ähnelte keinem der Delirien, die Nick kannte.

Als sie zur Ruhe kamen und er Isabel ins Gesicht blickte, glaubte er zu bemerken, dass ihr linkes Auge schielte. Schau bitte woandershin, flüsterte sie und drehte das Gesicht zur Seite. Dieses Schielen würde nur alle Schaltjahre und in ganz bestimmten Situationen auftreten, sie könne nichts dagegen machen.

Sie schob ihren Kopf auf die Kuhle unter seinem Schlüsselbein, und er lag neben ihr mit dem beseligenden Gefühl, dass er mit seinem Körper, den er bisher immer als zu knochig und als ungelenk empfunden hatte, von diesem anderen, vollkommenen Körper angenommen worden war. Minuten oder Stunden lagen sie so nebeneinander – beide waren sie angekommen in der anderen Zeit, die kein Vorher und kein Nachher kennt. Sie bewegten sich erst, als Isabel den Kopf hob und unvermittelt in Gelächter ausbrach. Als er ihrem Blick folgte, wurde er gewahr, dass er mit Schuhen im Bett lag und das Gewurstel von Hose und Unterhose immer noch in den Knien hatte.

Als er am späten Vormittag aufwachte, fand er Isabel nicht mehr neben sich. Aber den Geruch, der ihm aus ihrer behaarten Achsel entgegengeströmt war, hatte er immer noch in der Nase. Als er sich daran erinnerte, sah er die Stelle ihres Körpers vor sich, an der die Spitze ihrer Achsel in die erhabene Linie ihrer Brust überging.

6

Es war nicht viel, was Isabel und Nick in den nächsten Tagen und Wochen über ihre früheren Leben erfuhren. Was sie unbedingt und sofort über den anderen wissen wollten, fanden sie durch Blicke, Berührungen und Umarmungen heraus. Dabei ging es um die Wiederherstellung jener sprachlosen Nähe, die sie in der ersten Nacht erlebt hatten – auch um die Angst, diese Nähe vielleicht nie wieder finden zu können. Mitteilungen über die Zeit vor der Entdeckung des neuen Kontinents ihrer Liebe schienen überflüssig.

Dennoch gab Isabel im Bett oder im Café Havanna, in dem sie sich in den ersten Wochen trafen, die eine oder andere Szene aus dieser Vorzeit preis. Es waren unzusammenhängende, aber bildstarke Szenen – Bruchstücke von romantischen Begegnungen, unglaublichen Zufällen, extremen Ereignissen. Isabels Erzählweise trug viel zu Nicks Verwirrung bei. Sie benutzte die Namen von Personen und Orten, die in ihren Geschichten vorkamen, als müsse sie Nick nichts weiter dazu erklären, als hätten Nick und Isabel einander schon damals gekannt.

Einmal hatte sie sich mit Jutta aus dem Jugendkader des Sportklubs einen Spaß ausgedacht. Die beiden Mädchen wollten die Beobachtungsgabe der Jungen testen, die ihnen jeden Samstagnachmittag auf der Strandmeile nachliefen. Sie hatten sich dazu verabredet, in engen Röcken ohne Unterwäsche einen gemeinsamen Spaziergang zu machen. Der Junge, der als erster den Mut hätte, sie anzusprechen, würde einen Punkt erhalten. Wenn er gut aussah, noch einen Punkt – dann durfte er sie zu einer Vita-Cola einladen. Wenn er auf die Frage, ob ihm etwas Bestimmtes an den beiden Freundinnen aufgefallen sei, die richtige Antwort gab, bekam er den dritten Punkt. Der dritte Punkt bedeutete »eine Chance«. Aber es stellte sich heraus, dass keiner der Jungs, die sie ansprachen, seine Chance erkannt hatte.

Jugendkader? Vita-Cola? Trotz dieser für jeden DDR-Bürger eindeutigen Hinweise schien Nick nicht zu begreifen, dass sich die beschriebene Szene nicht an der Strandmeile eines bayrischen Sees abgespielt hatte, sondern im anderen Deutschland. Denn ein Getränk namens ›Vita Cola‹ wurde nur in der DDR serviert, die Bezeichnung ›Jugendkader‹ war nur dort gebräuchlich.

Nick hörte diese Ausdrücke und verstand sie nicht, aber er fragte auch nicht nach. Der einzige Punkt, der ihn zu beschäftigen schien, war die Frage, ob Isabel sich denn im Ernstfall mit einem x-beliebigen Sportkameraden eingelassen hätte, der den Test bestanden hätte.

»Ob wir mit ihm geschlafen hätten? Wo denkst du hin! Jutta und ich waren fünfzehn und wollten nur etwas ausprobieren.«

Isabel wunderte sich, dass Nick sie so häufig missverstand oder sich auf Unwichtiges konzentrierte. Hörte er nicht richtig zu? Offenbar war er höchst wählerisch darin, wem er seine Aufmerksamkeit schenkte und wann.