Die Frau auf der Treppe - Bernhard Schlink - E-Book + Hörbuch

Die Frau auf der Treppe E-Book

Bernhard Schlink

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Beschreibung

Das berühmte Bild einer Frau, lange verschollen, taucht plötzlich wieder auf. Überraschend für die Kunstwelt, aber auch für die drei Männer, die diese Frau einst liebten – und sich von ihr betrogen fühlen. In einer Bucht an der australischen Küste kommt es zu einem Wiedersehen: Die Männer wollen wiederhaben, was ihnen vermeintlich zusteht. Nur einer ergreift die Chance, der Frau neu zu begegnen, auch wenn ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt.

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Seitenzahl: 244

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Bernhard Schlink

Die Frauauf der Treppe

Roman

Die Erstausgabe erschien 2014 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Gemälde von Francis Picabia,

›Les Pins, Effet de Soleil, St.Tropez‹,

1909 (Ausschnitt)

Copyright © 2016, ProLitteris, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24333 8 (3. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60439 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] ERSTER TEIL

1

Vielleicht sehen Sie das Bild eines Tages. Lange verschwunden, plötzlich aufgetaucht – alle Museen werden es zeigen wollen. Karl Schwind ist derzeit nun einmal der berühmteste und teuerste Maler weltweit. Als sein siebzigster Geburtstag war, begegnete er mir in allen Blättern und auf allen Kanälen. Allerdings musste ich lange hinschauen, bis ich im alten Mann den jungen wiedererkannte.

Das Bild erkannte ich sofort wieder. Ich betrat den letzten Hof der Art Gallery, und da hing es und berührte mich wie damals, als ich den Salon des Hauses Gundlach betrat und das Bild zum ersten Mal sah.

Eine Frau kommt eine Treppe herab. Der rechte Fuß tritt auf die untere Stufe, der linke berührt noch die obere, setzt aber schon zum nächsten Schritt an. Die Frau ist nackt, ihr Körper blass, Schamhaar und Haupthaar sind blond, das Haupthaar glänzt im Schein eines Lichts. Nackt, blass, blond – vor einem graugrünen Hintergrund verschwommener Treppenstufen und -wände kommt die Frau dem Betrachter mit schwebender Leichtigkeit entgegen. Zugleich hat sie mit ihren langen Beinen, runden, vollen Hüften und festen Brüsten sinnliche Gewichtigkeit.

Ich ging langsam auf das Bild zu. Ich war verlegen, auch [6] das wie damals. Damals war ich verlegen, weil mir die Frau, die mir am Tag davor in meinem Büro in Jeans, Top und Jacke gegenübergesessen hatte, im Bild nackt gegenübertrat. Jetzt war ich verlegen, weil mich das Bild an das erinnerte, was damals geschehen war, worauf ich mich damals eingelassen und was ich alsbald aus meinem Gedächtnis verbannt hatte.

»Frau auf einer Treppe« stand auf dem Schild neben dem Bild und dass es sich um eine Leihgabe handele. Ich fand den Kurator und fragte ihn, wer das Bild der Art Gallery geliehen habe. Er sagte, er dürfe den Namen nicht nennen. Ich sagte, ich kennte die Frau auf dem Bild und den Eigentümer des Bilds und könnte ihm voraussagen, dass es Streit um das Eigentum am Bild geben werde. Er runzelte die Stirn, blieb aber dabei, er dürfe den Namen nicht nennen.

[7] 2

Mein Rückflug nach Frankfurt war für Donnerstagnachmittag gebucht. Nachdem die Verhandlungen in Sydney am Mittwochvormittag abgeschlossen waren, hätte ich auf Mittwochnachmittag umbuchen können. Aber ich wollte den Rest des Tags im Botanischen Garten verbringen.

Ich wollte dort zu Mittag essen, im Gras liegen und am Abend im Opernhaus Carmen hören. Ich mag den Botanischen Garten, an den im Norden eine Kathedrale und im Süden das Opernhaus grenzen, in dem die Art Gallery und das Konservatorium stehen und von dessen Hügeln der Blick auf die Bucht geht. Der Garten hat einen Palmen-, einen Rosen- und einen Kräutergarten, Teiche, Lauben, Statuen und viel Rasen mit alten Bäumen, Großeltern mit Enkelkindern, einsamen Frauen und Männern mit ihren Hunden, Gruppen beim Picknick, Liebespaaren, Lesenden, Schlafenden. Auf der Loggia des Restaurants in der Mitte des Gartens ist die Zeit stehengeblieben: alte eiserne Säulen, ein altes eisernes Geländer und ein Blick in Bäume mit Flughunden und auf einen Brunnen mit Vögeln mit buntem Gefieder und langen krummen Schnäbeln.

Ich bestellte das Essen und rief meinen Kollegen an. Er hatte den Unternehmenszusammenschluss auf australischer [8] Seite vorbereitet, ich auf deutscher. Wir waren, wie das bei Unternehmenszusammenschlüssen ist, sowohl Partner als auch Gegner. Aber wir waren im gleichen Alter, beide Senior einer der letzten großen Kanzleien, die noch nicht von Amerikanern oder Engländern übernommen sind, beide Witwer und mochten uns. Ich fragte ihn nach der Detektei, deren sich seine Kanzlei bediente, und er nannte sie mir.

»Gibt es ein Problem, bei dem wir helfen können?«

»Nein, nur eine alte Neugier, die ich befriedigen möchte.«

Ich rief die Detektei an. Wem das Bild von Karl Schwind in der Art Gallery of New South Wales gehöre, ob einer Irene Gundlach oder einer Irene ehemals Gundlach und ob eine Frau dieses Namens in Australien lebe. Der Chef der Detektei hoffte, es mir in ein paar Tagen sagen zu können. Ich bot eine Prämie, wenn er es mir am nächsten Morgen sagen würde. Er lachte. Entweder er komme bei der Art Gallery heute an die Informationen oder es dauere ein paar Tage, Prämie hin, Prämie her. Er werde sich melden.

Dann kam das Essen, und zum Essen bestellte ich eine Flasche Wein, die ich nicht austrinken wollte und doch austrank. Manchmal wachten die Flughunde auf, alle zugleich, flogen rauschend aus den Ästen und um die Bäume, hängten sich wieder in die Äste und hüllten sich wieder in ihre Flügel. Manchmal stieß einer der bunten Vögel am Brunnen einen Schrei aus. Manchmal schrie auch ein Kind oder bellte ein Hund oder klang das Reden einer Gruppe von Japanern wie das Zwitschern eines Vogelschwarms zu mir herüber. Manchmal hörte ich nur das Zirpen der Zikaden.

Am Hang unterhalb des Konservatoriums legte ich mich ins Gras. In meinem Anzug – die Vorstellung, später in [9] einem knittrigen, vielleicht fleckigen Anzug herumzulaufen, die mich sonst geschreckt hätte, schreckte mich nicht. Dann wurde mir auch gleichgültig, was mich in Deutschland erwartete. Es gab nichts, auf das ich nicht verzichten konnte, nichts, bei dem man nicht auf mich verzichten konnte. Bei allem, was vor mir lag, war ich ersetzbar. Nicht ersetzbar war ich nur bei dem, was hinter mir lag.

[10] 3

Eigentlich hatte ich nicht Rechtsanwalt werden wollen, sondern Richter. Ich hatte die entsprechende Examensnote, wusste, dass Richter gesucht wurden, war bereit, dahin zu ziehen, wo man mich brauchte, und hielt das Einstellungsgespräch im Justizministerium für eine Formalie. Es war an einem Nachmittag.

Der Personalreferent war ein alter Herr mit gütigen Augen. »Sie haben mit siebzehn Abitur gemacht, mit einundzwanzig das erste und mit dreiundzwanzig das zweite Examen – ich hatte noch nie einen so jungen und selten einen so guten Bewerber.«

Ich war stolz auf meine guten Noten und meine jungen Jahre. Aber ich wollte einen bescheidenen Eindruck machen. »Ich wurde vorzeitig eingeschult, und die Umstellungen beim Schulbeginn, einmal von Frühjahr auf Herbst und dann noch mal von Herbst auf Frühjahr, haben zwei halbe Jahre gebracht.«

Er nickte. »Zwei geschenkte halbe Jahre. Ein weiteres geschenktes halbes Jahr, weil Sie nach dem ersten Examen nicht warten mussten, sondern sofort Referendar wurden. Sie haben eine Menge Zeit gut.«

»Ich verstehe nicht…«

[11] »Nein?« Er sah mich milde an. »Wenn Sie nächsten Monat anfangen, werden Sie zweiundvierzig Jahre lang über andere richten. Sie werden oben sitzen und die anderen unten, Sie werden ihnen zuhören, mit ihnen sprechen, ihnen auch einmal zulächeln, aber am Ende von oben herab entscheiden, wer im Recht ist und wer im Unrecht und wer seine Freiheit verliert und wer sie behält. Wollen Sie das – zweiundvierzig Jahre lang oben sitzen, zweiundvierzig Jahre lang recht haben? Meinen Sie, das tut Ihnen gut?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ja, mir hatte die Vorstellung gefallen, als Richter oben zu sitzen und gerecht mit den anderen zu verhandeln und gerecht über sie zu entscheiden. Warum nicht zweiundvierzig Jahre lang?

Er schloss die Akte, die vor ihm lag. »Natürlich nehmen wir Sie, wenn Sie wirklich wollen. Aber ich nehme Sie heute nicht. Kommen Sie nächste Woche wieder, mein Nachfolger soll Sie einstellen. Oder kommen Sie in eineinhalb Jahren wieder, wenn Sie Ihr Guthaben genutzt haben. Oder in fünf Jahren, wenn Sie sich die Welt des Rechts als Rechtsanwalt oder Justitiar oder Kriminalkommissar von unten angeschaut haben.«

Er stand auf, und ich stand auch auf, verwirrt und sprachlos, sah ihm zu, wie er den Mantel aus dem Schrank holte und über den Arm legte, ging mit ihm aus dem Zimmer, den Gang entlang, die Treppe hinab und stand schließlich mit ihm vor dem Ministerium.

»Spüren Sie den Sommer in der Luft? Nicht mehr lange, und wir haben heiße Tage und laue Abende und warme Gewitter.« Er lächelte. »Seien Sie Gott befohlen.«

Ich war gekränkt. Die wollten mich nicht? Dann wollte [12] ich sie auch nicht. Ich wurde Rechtsanwalt nicht wegen des Rats des alten Herrn, sondern gegen ihn. Ich zog nach Frankfurt, trat bei Karchinger und Kunze ein, einer fünfköpfigen Kanzlei, schrieb neben der Arbeit als Rechtsanwalt eine Doktorarbeit und wurde nach drei Jahren Partner. Ich war der jüngste Partner in einer Frankfurter Kanzlei und war stolz darauf. Karchinger und Kunze waren Schul- und Studienfreunde, Kunze ohne Frau und Kinder, Karchinger mit einer rheinisch fröhlichen Frau und einem Sohn in meinem Alter, der eines Tages einen Platz in der Kanzlei finden sollte, sich durchs Studium kämpfte und von mir aufs Examen vorbereitet wurde. Wir kamen und kommen zum Glück gut miteinander aus. Heute ist er Senior, wie ich, und hat, was ihm an juristischer Kompetenz fehlt, durch soziales Geschick wettgemacht. Er hat wichtige Mandate beschafft. Dass wir heute siebzehn junge Partner und achtunddreißig angestellte Mitarbeiter haben, ist auch sein Verdienst.

[13] 4

In den ersten Jahren bekam ich die Fälle, an denen Karchinger und Kunze kein Interesse hatten. Ein Maler, der einen Auftrag erledigt hatte, dafür bezahlt worden war und jetzt mit dem Auftraggeber im Streit lag – das gab der erfahrene Büroleiter an mich, ohne Karchinger oder Kunze auch nur zu fragen.

Karl Schwind kam nicht allein. Mit ihm, Anfang dreißig, kam eine Frau, Anfang zwanzig, und während er mit strubbeligem Haar und Latzhose in den Sommer 1968 passte, wirkte sie in ihrer Makellosigkeit an seiner Seite wie ein Fremdling. Sie bewegte sich gelassen, musterte mich kühl, und wenn der Maler sich ereiferte, legte sie ihm die Hand auf den Arm.

»Er will mich keine Aufnahmen machen lassen.«

»Sie…«

»Mein Portfolio ist zerstört, und von manchen Bildern muss ich neue Aufnahmen machen. Ich weiß, wer sie gekauft hat, rufe die Käufer an, und sie lassen mich vorbeikommen und die Bilder aufnehmen. Sie freuen sich über meinen Besuch. Er lehnt ab.«

»Warum?«

»Er sagt nicht, warum. Ich habe ihn angerufen, er hat [14] aufgelegt, und als ich ihm geschrieben habe, hat er nicht geantwortet.« Er hob und senkte, spreizte und ballte die Hände. Er hatte große Hände, wie alles an ihm groß war, Gestalt, Gesicht, Augen, Nase, Mund. »Ich hänge an meinen Bildern. Ich kann kaum ertragen, dass ich sie verkaufen muss.«

Ich erklärte ihm, dass das Gesetz dem Maler, der Vervielfältigungen herstellen will, ein Recht auf Zugang zu seinem Bild gibt. »Wenn er ein berechtigtes Interesse daran hat und keine berechtigten Interessen des Eigentümers entgegenstehen. Gibt es etwas, das der Eigentümer Ihnen entgegenhalten könnte?«

Der Maler schob das Kinn vor, presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Ich sah die Frau fragend an, und sie zuckte lächelnd die Schultern. Er gab mir den Namen des Eigentümers des Bilds, Peter Gundlach, und die Adresse in bester Lage am Hang des Taunus.

»Wie ist Ihr Portfolio zerstört worden? Nicht dass es darauf ankäme, aber wenn ich erklären kann, warum…«

Wieder unterbrach er mich, und ich nahm es mir übel, wie ich mir damals immer übelnahm, wenn ich mich nicht so durchsetzte, wie ich es von mir erwartete. »Ich hatte einen Unfall, und das Portfolio ist mit dem Auto verbrannt.«

»Ich hoffe…«

»Mir ist nichts passiert. Aber Irene war eingeklemmt und hat sich«, er legte seine Hand auf ihr Bein, »Verbrennungen geholt.«

»Das tut…«

Er winkte ab. »Nichts Ernstes und lange verheilt.«

[15] 5

Ich schrieb an Gundlach, der sofort antwortete. Er sei missverstanden worden. Natürlich könne der Maler vorbeikommen und das Bild aufnehmen. Ich gab die Antwort an Schwind weiter und hielt die Sache für erledigt.

Aber eine Woche später war Schwind wieder da. Er war außer sich.

»Hat er Ihnen den Zugang verweigert?«

»Das Bild ist beschädigt. Am rechten Bein – es sieht aus, als wäre er mit dem Feuerzeug drübergegangen.«

»Er?«

»Ja, Gundlach. Es sei einfach passiert, sagt er. Aber es ist nicht einfach passiert, sondern mit Absicht. Ich sehe so was.«

»Was wollen Sie jetzt?«

»Was ich jetzt will?« Die Frau war wieder dabei und legte ihm wieder die Hand auf den Arm. Aber er wurde trotzdem laut. »Was ich jetzt will? Es ist mein Bild. Ich habe es verkaufen müssen, und es hängt bei ihm, aber es ist mein Bild. Ich will es wieder richten.«

»Haben Sie ihm angeboten, das Bild zu reparieren?«

»Er lässt mich nicht. Er habe kein Problem mit dem kleinen Schaden, er wolle mich nicht im Haus haben, und aus dem Haus komme ihm das Bild nicht.«

[16] Ich fand die Geschichte ein bisschen grotesk, aber die beiden sahen mich ernsthaft an, und so erklärte ich ihnen ernsthaft, dass die Lage rechtlich nicht einfach sei. Dass eine Entstellung vorliegen müsse, dass die Entstellung die Interessen des Urhebers gefährden müsse, dass die Interessen des Urhebers nur schutzwürdig seien, wenn ein größerer Personenkreis das entstellte Werk zu sehen bekomme, und dass der Eigentümer mit dem Werk, wenn es nur in seinem Privatbereich zu sehen sei, machen könne, was er wolle. »Ich kann Gundlach wieder schreiben und das eine und andere rechtliche Argument bringen. Aber wenn wir vor Gericht gehen müssen, sieht’s nicht gut aus. Was zeigt das Bild eigentlich?«

»Eine Frau, die eine Treppe herabkommt.« Er sah sich in meinem Büro um. »Es ist ein großes Bild. Sie sehen die Tür? Das Bild ist ein bisschen größer.«

»Eine bestimmte Frau?«

»Sie ist…«, sein Ton wurde trotzig, »sie war Gundlachs Frau.«

[17] 6

Wieder antwortete Gundlach sofort. Er bedauere das erneute Missverständnis. Natürlich sei er mit der Restaurierung durch den Maler einverstanden. Was könne ihm Besseres passieren, als dass der Künstler selbst das beschädigte Kunstwerk restauriere. Außer Hause dürfe er das Bild nicht geben, er würde sonst den Schutz der Versicherung verlieren. Der Maler könne in sein Haus kommen, wann immer er wolle. Ich gab die Antwort wieder weiter.

Ich war neugierig geworden, ging in eine Buchhandlung und fragte nach Literatur über Karl Schwind. Der Frankfurter Kunstverein hatte vor einigen Jahren eine Ausstellung veranstaltet und einen kleinen Katalog veröffentlicht – das war alles. Ich verstehe nichts von Kunst und konnte nicht beurteilen, ob die Bilder gut oder schlecht waren. Es waren Bilder mit Wellen, mit Himmel und Wolken, mit Bäumen; die Farben waren schön, und alles war in derselben Unschärfe gemalt, mit der ich die Welt sehe, wenn ich die Brille nicht trage. Vertraut und doch entrückt. Der Katalog erwähnte die Galerien, in denen Schwind ausgestellt, und die Preise, die er gewonnen hatte. Er schien kein gescheiterter Künstler zu sein, auch kein etablierter, vielleicht ein kommender. Von der Rückseite des Katalogs schaute er mich [18] an, zu groß für den Anzug, den er trug, zu groß für den Stuhl, auf dem er saß, zu groß für die Rückseite.

Es dauerte keine Woche, bis er wieder bei mir war, wieder mit der Frau. Er war wirklich groß, größer, als ich bei seinem ersten Besuch registriert hatte. Ich bin eins neunzig, schlank und war damals wie heute gut in Form, und er war nicht größer als ich, aber so kräftig und knochig, dass ich mich neben ihm beinahe klein fühlte.

»Er hat es wieder gemacht.«

Ich ahnte, was geschehen war, aber ich greife meinen Mandanten nicht vor. »Was hat er gemacht?«

»Gundlach hat das Bild wieder beschädigt. Ich habe zwei Tage am Bein gearbeitet, und als ich es am dritten fertigmachen wollte, war ein Säurefleck auf der linken Brust. Die Farbe ist verlaufen, aufgequollen, hat Blasen geworfen – ich muss abtragen, neu grundieren und neu malen.«

»Was hat er gesagt?«

»Ich müsse es gewesen sein. Er habe in meinen Sachen ein Fläschchen gefunden, und die Flüssigkeit stinke, wie der Fleck stinke. Er besteht darauf, dass das Bild restauriert wird, auf meine Kosten, aber nicht von mir. In mich habe er kein Vertrauen mehr.« Er sah mich verstört an. »Was soll ich machen? Ich lasse keinen anderen an mein Bild.«

»Sind Sie bereit, auch die neue Stelle auszubessern?« Ich wusste immer weniger, was ich von der Geschichte halten sollte.

»Stelle? Es ist nicht eine Stelle. Es ist die linke Brust!« Er griff der Frau, die neben ihm saß, an die linke Brust.

Ich war irritiert, aber sie lachte, nicht verschämt, nicht verlegen, sondern fröhlich, der Mund ein bisschen schief und [19] ein Grübchen in der Wange. Sie war blond, und ich hätte ein helles Lachen erwartet. Aber ihr Lachen war dunkel und rauchig, und so war auch ihre Stimme. Sie sagte »Karl«, und sie sagte es liebevoll, wie zu einem übereifrigen, ungeschickten Kind.

»Ich habe ihm angeboten, das Bild wieder zu richten. Ich habe ihm sogar angeboten, es zurückzukaufen, wenn es sein muss, für den doppelten Preis. Aber er will nicht. Er will mich nicht mehr sehen, hat er gesagt.«

[20] 7

Diesmal rief ich Gundlach an. Er sprach freundlich, bedauernd. »Ich weiß nicht, wie ihm das Missgeschick passiert ist. Aber dass er darunter leidet und das Bild wieder in seiner ursprünglichen Schönheit sehen will, steht außer Frage. Das will auch ich, und kein anderer kann es besser restaurieren als er. Ich habe ihm auch weder Vorwürfe gemacht noch das Vertrauen entzogen. Er ist besonders sensibel.« Er lachte. »Jedenfalls für Menschen wie Sie und mich. Für einen Künstler ist er vielleicht normal.«

Schwind war zugleich erleichtert und bedrückt. »Hoffentlich geht alles gut.«

Drei Wochen hörte ich nichts von ihm. Drei Wochen malte er eine neue linke Brust. Als er für die letzten Arbeiten kam, war das Bild in der Nacht umgestürzt, auf den kleinen eisernen Tisch aufgeschlagen, auf dem er Pinsel und Farben abgelegt hatte, und hatte einen Riss abbekommen.

Gundlach rief mich an und war außer sich. »Zuerst die Säure, jetzt das – er mag ein großer Künstler sein, aber er ist entsetzlich nachlässig. Ich kann ihn nicht zwingen, das Bild noch mal zu restaurieren. Aber ich habe einigen Einfluss und werde dafür sorgen, dass er keinen Auftrag kriegt, bis er das Bild restauriert hat.«

[21] Der Drohung hätte es nicht bedurft. Schwind, der am selben Tag in die Kanzlei kam, war bereit, das Bild zu richten, auch wenn es ihn wieder Wochen kosten würde. Aber er war verzweifelt. »Was, wenn er es danach wieder macht?«

»Sie meinen…«

»Oh, ich weiß, dass er es war. Denken Sie, ein Maler kann ein Bild nicht so an die Wand lehnen, dass es stehen bleibt? Nein, er hat es umgeworfen, und den Riss hat er mit dem Messer gemacht. Die Kanten des Tischs sind zu stumpf, sie können keinen so scharfen Riss ins Bild machen.« Er lachte bitter. »Wissen Sie, wo der Riss ist? Hier.« Diesmal fuhr er mit der Hand nicht der Frau, die ihn wieder begleitete, sondern sich selbst über Bauch und Scham.

»Warum sollte er das tun?«

»Aus Hass. Er hasst das Bild, das seine Frau zeigt, er hasst seine Frau, die ihn verlassen hat, und er hasst mich.«

»Warum sollte er Sie…«

»Er hasst dich, weil ich ihn für dich verlassen habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Er hasst nicht das Bild. Es ist ihm völlig gleichgültig. Er will dich treffen, und er trifft dich, wenn er das Bild beschädigt.«

»Statt es mit mir auszutragen, zerstört er das Bild? Was für ein Mann ist das?« Vor lauter Empörung über Gundlach, lauter Verachtung für ihn stand er auf. Dann setzte er sich wieder und ließ die Schultern hängen.

Ich versuchte, mir einen Reim auf das zu machen, was ich gerade gehört hatte. Sie hatte dem Maler Modell gestanden und war mit ihm durchgebrannt? Hatte den alten Mann gegen den jungen getauscht? Hatte bei der Scheidung aus dem alten rausgepresst, was sich rauspressen ließ?

[22] Aber sie war nicht meine Aufgabe, er war es. »Lassen Sie ihn und das Bild. Rechtlich hat er nichts gegen Sie in der Hand, und die Drohung mit seinem Einfluss würde ich nicht ernst nehmen. Schreiben Sie das Bild ab, auch wenn es Sie schmerzt. Oder malen Sie es noch mal – ich hoffe, das ist für einen Maler kein kränkender Vorschlag.«

»Es ist kein kränkender Vorschlag. Aber ich kann das Bild nicht abschreiben. Und vielleicht…« Er saß still da, und der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich, verlor alles Verzweifelte, Empörte und Verächtliche, wurde kindlich, und der große Mann mit dem großen Gesicht und den großen Händen sah uns zuversichtlich an. »Wisst ihr, vielleicht war der Schaden am Bein wirklich ein Zufall. Als Gundlach den Schaden sah, hat er das beschädigte Bild zuerst nicht mehr gemocht. Dann hat er gedacht, dass der Schaden ihm die Erinnerung vom Leib hält und dass er ohne die Erinnerung leichter lebt. Deshalb hat er das Bild die nächsten Male selbst beschädigt. Aber wenn er es wieder in seiner ursprünglichen Schönheit sieht, liebt er es wieder.«

»Mir macht Gundlach nicht den Eindruck, als lasse er sich von Kunst verführen.« Ich sah fragend zu ihr, aber sie sagte nichts, nickte nicht, schüttelte nicht den Kopf, sondern sah ihn verwundert und verliebt an, als sehe sie beglückt in sein kindliches Gemüt. Ich versuchte es noch mal. »Sie geben sich in seine Hand. Er kann das Bild wieder und wieder beschädigen. Sie kommen gar nicht mehr zu Ihren eigenen Sachen.«

Er sah mich traurig an. »Ich habe im letzten halben Jahr kein einziges Bild gemalt.«

[23] 8

Ein bis zwei Monate hatte er für die Restaurierung des Bildes veranschlagt, und ich war sicher, dass ich ihn danach wieder in meinem Büro sehen würde. Aber der Sommer ging vorbei, und er kam nicht. Im Oktober hatte ich einen großen Fall und dachte nicht mehr an ihn.

Bis mir der Büroleiter eines Morgens Irene Gundlach meldete. Sie kam in Jacke, Top und Jeans, und zuerst dachte ich, sie sei für den Herbsttag zu leicht angezogen, aber dann sah ich aus dem Fenster, und der Morgennebel war verdampft, der Himmel war blau, und die Blätter der Kastanie leuchteten golden in der Sonne.

Sie gab mir die Hand und setzte sich. »Ich komme in Karls Auftrag. Er würde Ihnen gerne selbst danken. Aber er ist in einer Phase, in der er sich von nichts ablenken lassen will. Gundlach war in den letzten Monaten in den USA, hat nicht gestört, und Karl hat nicht nur mein Bild restauriert, sondern auch ein neues angefangen.« Sie lachte. »Sie würden ihn nicht wiedererkennen. Nachdem die Last meines Bilds von ihm gefallen ist, ist er ein neuer Mensch.«

»Das freut mich.«

Sie stand nicht auf, sondern schlug die Beine übereinander. »Schicken Sie die Rechnung bitte mir. Karl hat kein [24] Geld, er müsste sie mir ohnehin geben.« Sie sah die Frage in meinem Gesicht, noch ehe ich sie gedacht hatte. »Es ist nicht Gundlachs Geld. Es ist mein eigenes.« Sie lächelte. »Wie mag unsere Geschichte auf Sie wirken? Reicher alter Mann lässt seine junge Frau von einem jungen Maler malen, und die beiden verlieben sich und brennen durch. Ein Klischee, nicht wahr?« Sie lächelte weiter. »Wir lieben die Klischees, weil sie stimmen. Obwohl… Ist Gundlach schon ein alter Mann? Ist Karl noch ein junger Maler?« Sie lachte, und wieder wunderte ich mich über das dunkle Lachen der Frau mit dem blonden Haar und der blassen Haut und dem hellen Blick. Sie kniff beim Lachen die Augen zusammen. »Manchmal frage ich mich, ob ich noch eine junge Frau bin.«

Ich lachte mit. »Was sonst?«

Sie wurde ernst. »Zum Jungsein gehört das Gefühl, alles könne wieder gut werden, alles, was schiefgelaufen ist, was wir versäumt, was wir verbrochen haben. Wenn wir das Gefühl nicht mehr haben, wenn Ereignisse und Erfahrungen unwiederbringlich werden, sind wir alt. Ich habe das Gefühl nicht mehr.«

»Dann war ich nie jung. Meine Mutter starb, als ich vier war – wie sollte das wieder gut werden? Meine Großmutter hat die Mutter nicht wiedergebracht.«

Sie sah mich mit ihrem hellen Blick direkt an. »Sie haben noch nie geliebt, nicht wahr? Vielleicht müssen Sie älter werden, um jung zu werden. Um in einer Frau alles zu finden, alles wiederzufinden: die Mutter, die Sie verloren haben, die Schwester, die Sie vermisst haben, die Tochter, von der Sie träumen.« Sie lächelte. »Das alles sind wir, wenn wir richtig geliebt werden.« Sie stand auf. »Sehen wir uns [25] wieder? Ich hoffe es nicht – verstehen Sie mich nicht falsch, bitte nicht. Wenn wir uns wiedersehen, ist alles aus den Fugen. Denken Sie auch manchmal, dass Gott uns unser Glück neidet und es daher zerstören muss?«

[26] 9

Ich wollte, was sie sagte, als Geschwätz und sie als Schwätzerin abtun. Ob Gundlachs Geld oder ihres – sie schien genug davon zu haben und nichts verdienen, nichts arbeiten zu müssen. Ein Nichtsnutz. Aber sie ließ sich nicht abtun. Sie saß in meinem Kopf – mit übereinandergeschlagenen Beinen, engen Jeans und engem Top, hellem Blick und dunklem Lachen, gelassen, herausfordernd, verwirrend. Ich war schon verwirrt, während wir uns gegenübersaßen. Ich war es vollends, als ich am nächsten Tag in Gundlachs Haus kam und das Bild sah.

Nein, dachte ich, als Gundlach mir entgegenkam und mich begrüßte, das ist kein alter Mann. Er mochte vierzig sein, war schlank, hatte volles schwarzes Haar und graue Schläfen, bewegte sich energisch und redete energisch. »Ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Ihr Mandant und ich tun uns schwer miteinander, und ich bin sicher, wir beide tun uns leichter.«

Von mir aus wäre ich nicht zu Gundlach in den Taunus gefahren. Ich hätte darauf bestanden, dass er, der etwas von mir wollte, zu mir käme. Aber Gundlach hatte beim Büroleiter angerufen, und der Büroleiter hatte meinen Besuch zugesagt. »Gundlach einen Besuch abschlagen? Sie müssen [27] noch viel lernen.« Er erzählte mir von Gundlachs Unternehmen, Vermögen und Einfluss. Also fuhr ich hin, wurde vom Butler empfangen, musste im Foyer warten und rang mit meinem Stolz.

Auch dass Gundlach mich beim Arm nahm, verletzte meinen Stolz. Er führte mich in den Salon. Rechts eine Fensterfront mit Blick in die Ebene, links eine Bücherwand, vor mir auf weißer Wand das Bild. Ich blieb stehen, ich konnte nicht anders, und Gundlach ließ meinen Arm los. Sie haben noch nicht geliebt… wenn wir richtig geliebt werden… das Glück, das Gott uns neidet – alles, was sie am Tag davor gesagt hatte, versprach sie, indem sie nackt die Treppe herabkam.

»Ja«, sagte Gundlach, »ein schönes Bild. Aber es ist, als läge ein Fluch auf ihm. Bein, Brust, Scham, ein Schaden nach dem anderen.« Er schüttelte den Kopf. »Ist jetzt mit den Schäden Schluss? Ich bin mir nicht sicher. Sind Sie’s?«

»Ich…«

»Was, wenn mit den Schäden nicht Schluss ist? Soll Schwind wieder und wieder kommen? Ich möchte ihn nicht mehr im Haus haben, und er würde lieber neue Bilder malen als das alte restaurieren. Aber er muss, er kann nicht anders. Und ich muss ihn zum Restaurieren ins Haus lassen, weil das Recht es verlangt. So ist es doch?«

Er sah mich an, freundlich, spöttisch. Er hatte seine Anwälte und wusste, dass Schwinds rechtliche Position schwach war. Er wusste aber auch, dass ich so tun musste, als sei sie stark. Ich konnte meinen Mandanten nicht verraten. Ich konnte Gundlach nicht sagen, er spiele mit meinem Mandanten ein niederträchtiges Spiel. Ich nickte.

[28] »Schwind hätte das Bild gerne zurück. Er hat das Gefühl, solange das Bild bei mir ist, kommt es nicht zur Ruhe, es nicht und er auch nicht. Und meinen Sie nicht auch, dass alles einen Ort hat, an den es gehört? Wenn es nicht ist, wohin es gehört, kommt es nicht zur Ruhe. Bilder kommen nicht zur Ruhe, und Menschen kommen nicht zur Ruhe.«

»Wenn nicht nur meinem Mandanten an der Ruhe liegt, sondern auch Ihnen – er kauft das Bild gerne wieder zurück.«

»Das hat er mir auch gesagt. Aber damals ist mehr aus der Ruhe geraten als nur das Bild. Sehen Sie, wie sie die Treppe herabsteigt? Gesammelt, gelassen, ruhig? Als sie unten ankam, war es um ihre Ruhe geschehen. Weil sie da, wo sie ankam, nicht hingehört.«

»Ihre Frau macht mir nicht den Eindruck, als…«

»Unterbrechen Sie mich nicht!« Er brauchte einen Moment, sich von seiner Erregung über meine Dreistigkeit zu erholen. »Eindrücke täuschen. Macht nicht das Bild einen guten Eindruck, obwohl ein Fluch auf ihm liegt? Was zählt, ist nicht der Eindruck, den meine Frau macht, sondern dass sie ihre Ruhe verloren hat. Und dass sie sie wiederfindet.«

Ich wartete, ob er weiterreden würde. Aber er stand da und sah das Bild an. »Ich verstehe nicht, was…«

Er wandte sich mir zu. »Morgen kommt Schwind zu mir. Ich soll das restaurierte Bild gewissermaßen abnehmen. Wenn dem Bild bis morgen etwas geschieht, wenn Schwind dann zu Ihnen kommt, wenn er ohne meine Frau kommt, wenn er Sie bittet, ein ungewöhnliches Geschäft vorzubereiten – machen Sie’s. Auch wenn das Ungewöhnliche dazu neigt, uns zu verstören – manchmal ist es das Richtige. [29] Leben wir nicht in einer ungewöhnlichen Zeit? Und ein Geschäft ist manchmal ein wichtiges Geschäft, auch wenn es nicht eingeklagt und nicht vollstreckt werden kann.«

Ich verstand ihn nicht, mochte aber nicht noch mal sagen, dass ich ihn nicht verstand. Er sah es mir an, lachte, nahm wieder meinen Arm und führte mich zurück ins Foyer. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber Juristen sind oft ein bisschen gewöhnlich. Ich merke mir, wenn ich einen treffe, der sich ungewöhnlichen Herausforderungen stellt.«

[30] 10

Auf der Heimfahrt wusste ich, dass ich mich in Irene Gundlach verliebt hatte.