Die Frau der Stunde - Heike Specht - E-Book

Die Frau der Stunde E-Book

Heike Specht

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Beschreibung

Es sind die 70er und Catharina denkt gar nicht daran, sich zu fügen  Mit ihrer eingeschworenen Frauen-Clique, einigen Gin Tonics und noch mehr Zigaretten manövriert sich die Politikerin Catharina Cornelius im Bonn der späten 70er hinreissend klug durch den Sumpf der Altherren-Elite. Als die Liberale aber völlig überraschend zur Außenministerin und Vizekanzlerin wird, reiben sich überrumpelte Kollegen in höchsten Regierungskreisen fassungslos die Augen. Die konservative Opposition überschlägt sich mit hämischen Kommentaren. Die Herren Journalisten lächeln süffisant und spitzen die Feder. Frauen und Männer im ganzen Land blicken erstaunt auf die zierliche Frau mit den extravaganten Halstüchern, die langen Haare stets zu einem eleganten Chignon zusammengesteckt. Schon bald fordern dramatische Umwälzungen neue Antworten. Von Bonn bis Teheran steht die Außenministerin im Sturm von Ereignissen, die so viel größer sind als sie selbst und sie muss erkennen, dass es immer einen Preis hat, sich die Freiheit zu nehmen. Ein Muss für Fans starker Frauenfiguren. »Heike Specht ist Deutschlands lässigste Historikerin.« Micky Beisenherz »Fundiert, unterhaltsam, mitreißend – absolute Leseempfehlung!"« Miriam Hollstein/Stern

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Heike Specht

Die Frau der Stunde

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Mit ihrer eingeschworenen Frauen-Clique, einigen Gin Tonics und noch mehr Zigaretten manövriert sich die Politikerin Catharina Cornelius im Bonn der späten 70er hinreißend klug durch den Sumpf der Altherrenelite. Als die Liberale aber völlig überraschend zur Außenministerin und Vizekanzlerin wird, reiben sich überrumpelte Kollegen in höchsten Regierungskreisen fassungslos die Augen. Die konservative Opposition überschlägt sich mit hämischen Kommentaren. Die Herren Journalisten lächeln süffisant und spitzen die Feder. Frauen und Männer im ganzen Land blicken erstaunt auf die zierliche Frau mit den extravaganten Halstüchern, die langen Haare stets zu einem eleganten Chignon zusammengesteckt. Schon bald fordern dramatische Umwälzungen neue Antworten. Von Bonn bis Teheran steht die Außenministerin im Sturm von Ereignissen, die so viel größer sind als sie selbst, und sie muss erkennen, dass es immer einen Preis hat, sich die Freiheit zu nehmen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Teil I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Teil II

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Teil III

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Teil I

Herbst 1978

»Stayin’ Alive«

 

 

 

 

 

 

 

 

1

Im Nachhinein würde Catharina Cornelius an diese Nacht als die letzte Nacht ihres Lebens zurückdenken. Die letzte Nacht, in der es möglich war, auf einem öffentlichen Platz stehen zu bleiben und minutenlang den sternenklaren Himmel zu betrachten. Die letzte Nacht, in der sie mit Suzanne und Azadeh bei heruntergekurbelten Fenstern in Suzannes silbergrauem Mercedes durch die Straßen kreuzen konnte, während aus dem Autoradio Dalidas Femme est la nuit erklang. Die letzte Nacht, in der sie den einen Gin Tonic zu viel trinken und sich anschließend bei ihren Freundinnen unterhakend lachend auf den Heimweg machen konnte.

Selbst wenn man es weniger dramatisch betrachten wollte, konnte man nicht leugnen, dass Catharinas Leben, wie sie es kannte und liebte, in dieser milden Oktobernacht eine Wendung nahm, die alles veränderte. Den Moment würde sie jedenfalls nie vergessen. Sie saß in einer dieser schummrigen Brüsseler Bars, in denen sich die einsamen Herzen und großen Egos aus ganz Europa tummelten: Politiker, Bürokraten, Geschäftsleute. Eigentlich war es längst Zeit aufzubrechen, aber Catharina wusste immer noch nicht so recht, wohin.

Sie blickte zu Azadeh und schmunzelte. Die Freundin machte große Augen und stützte ihr Kinn in die Hand, ihr Paillettentop glitzerte beflissen, die langen schwarzen Haare fielen ihr lässig über die Schultern, während der Londoner Finanzhai neben ihr weitschweifig von eben abgeschlossenen Verhandlungen mit einer Brüsseler Firma berichtete, der er einen unfassbaren Knebelvertrag untergejubelt hatte. Nichts konnte Azadeh weniger interessieren. Der Mann aber war offensichtlich sehr zufrieden mit sich, und sie bestärkte ihn in dem Gefühl, unbesiegbar zu sein, wobei sie Suzanne und Catharina immer wieder vielsagende Blicke zuwarf. Azadeh amüsierte sich prächtig, das war nicht zu übersehen. Und es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis sie den armen Mann mit einer lässig hingeworfenen Bemerkung über die Verderbtheit der globalisierten Wirtschaft oder das Unheil des Patriarchats auflaufen lassen würde. Die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen blitzte längst angriffslustig, während sie den Kopf noch lachend in den Nacken warf.

Catharina wandte sich ab, sie wollte nicht dabei zusehen, wie der Engländer ins Messer rannte. Sie hatte zu oft beobachten müssen, wie die Freundin einem Mann bei lebendigem Leib das Herz herausriss oder ihn vor aller Augen entmannte. Catharina sah sich um. Die Bar hatte sich bereits geleert. Es ging auf halb eins zu. »Alors?«, fragte Suzanne neben ihr, erntete aber lediglich ein Schulterzucken. Gregors Nachricht war eindeutig gewesen: »The Hotel Brussels, 1738. Croissants, si tu veux«. Dass er es wagte, überhaupt eine Nachricht für sie bei Suzanne in der Redaktion zu hinterlassen und dann noch eine derart entlarvende. Es kümmerte ihn wenig, dass er Suzanne in eine unmögliche Situation brachte, von Catharina ganz zu schweigen.

Gregors Kühnheit verschlug ihr den Atem, seine Unverschämtheit machte sie rasend. Doch am Ende würde sie ein Taxi nehmen und zu ihm fahren. Sie wusste es, Suzanne wusste es, Azadeh wusste es. Dem Gesichtsausdruck des Engländers nach zu urteilen, wusste er dagegen gar nichts mehr, die Freundin hatte ihm gerade offenbar den alles entscheidenden Schlag versetzt. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, aber Azadeh drehte ihm ungerührt den Rücken zu und wandte sich an Suzanne und Catharina. »Trinken wir noch einen?«, gurrte sie und legte Suzanne den linken Arm um die Schulter, während sie sich mit der rechten Hand eine Zigarette aus dem Päckchen angelte. Den Engländer, der immer noch sprachlos auf seinem Barhocker saß und jeden Lebenswillen verloren zu haben schien, hatte sie längst vergessen. Catharina gab ihr Feuer, fing den gleichmütigen Blick des Barkeepers auf, hob die Hand und deutete lächelnd auf ihre Gläser.

»Du fährst zu Gregor?« Suzannes Worte waren Frage und Feststellung zugleich. Catharina zuckte erneut die Schultern. »Also, ich wollte noch kurz mit dir …«, setzte Suzanne an. Doch in diesem Moment beugte sich Azadeh mit einer ausladenden Geste zum Barkeeper, tuschelte etwas, woraufhin dieser die Musik lauter drehte. Ein Satz, und schon saß die Freundin auf der Theke, zog den verdutzten Barkeeper am Kragen seines schwarzen Hemdes zu sich und fuhr ihm durchs kurz geschnittene Haar. Einen Moment sah es so aus, als würde sie den Mann küssen, doch dann hob sie abrupt die Arme, klatschte mit im Takt, als Carly Simon auf Vinyl zum Sound ihrer entschlossenen Gitarrengriffe lautstark mit sämtlichen eitlen Fatzkes abrechnete, die ihr das Leben schwer machten.

»Bevor du gehst, muss ich dir noch etwas sagen«, wiederholte Suzanne und war plötzlich ganz dicht neben Catharina, die belustigt der Freundin zusah, während Carly Simon schmetterte: »You’re so vain. I bet you think this song is about you.«

»Ja?«, erwiderte Catharina zerstreut und rührte mit dem Strohhalm in ihrem Drink.

»Es geht um Helmut Busch.«

»Um Helmut? Was ist mit ihm?« Catharina sah die Freundin fragend an.

»Wie es aussieht, steckt er in Riesenschwierigkeiten. Er ist wohl nicht mehr zu retten.« Suzanne machte ein ernstes Gesicht, aber Catharina verstand noch immer nicht, worauf sie hinauswollte.

»Seine Frau verlässt ihn«, fuhr Suzanne fort. »Du weißt, was das bedeutet.«

»Don’t you? Don’t you?«, kam Carly Simons Echo, und in Catharinas Kopf begann sich alles zu drehen: Ja, was um Himmels willen bedeutete das? Sie brauchte frische Luft, einen starken Kaffee, jemanden, der für fünf Minuten die Welt anhielt. Nur fünf Minuten, damit sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. »Du weißt, was das bedeutet?«, wiederholte Suzanne sanft. Und Carly legte nach: »Don’t you? Don’t you?«

Azadeh hatte sich inzwischen einen jungen Mann mit abgewetzter Lederjacke und dunkler Cordhose geschnappt und tanzte eng umschlungen mit ihm. Der Engländer war verschwunden. Seltsam, dachte Catharina, ich habe gar nicht bemerkt, dass er weggegangen ist.

»Catharina!« Suzanne legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Das wird eine Riesengeschichte. Das kann er nicht mehr aussitzen.« Catharina wollte es nicht hören. Ratlos schaute sie der Freundin ins Gesicht. Die Zeit schien spurlos an Suzanne vorbeizugehen. Lediglich um die Augen zeigten sich ein paar Lachfältchen, und durch ihren dunkelblonden Pagenkopf zogen sich wie silberne Fäden ein paar einzelne graue Haare. Bei dem Schummerlicht war beides freilich kaum auszumachen. Ich hätte auch Journalistin werden sollen, Politik macht alt, dachte Catharina und nestelte am quietschgelben Seidenschal um ihren Hals, das Körperteil, das ihrer Meinung nach am unverblümtesten verriet, dass sie keine dreißig mehr war. Sie hatte schlagartig das Gefühl, erschöpft zu sein, ausgelaugt, verbraucht.

Sie leerte ihr Glas in einem Zug und stellte es ein bisschen zu heftig auf den Tresen. Suzannes Worte hallten in ihrem Kopf nach: »Du weißt, was das bedeutet.« Wirklich wissen konnte das natürlich niemand. In der Politik entwickelten sich die Dinge oft auf unberechenbare Weise. Große Bomben, Skandale, die das Zeug hatten, Staatskrisen auszulösen, versandeten auf unerklärliche Weise, während Petitessen sich aufplustern konnten zu monströsen Headlines in blutroten Lettern, die am Ende Köpfe rollen ließen.

Ich muss hier raus, dachte Catharina. Sie ließ sich etwas ungelenk von ihrem hohen Barhocker gleiten, landete wackelig auf ihren High Heels, zog den Rock gerade und ging Richtung Ausgang. Mit ganzer Kraft warf sie sich gegen die schwere Tür, die nur widerwillig den Weg nach draußen freigab. Sie atmete tief durch. Auf dem Trottoir waren noch überraschend viele Leute unterwegs. Eine Stadt voller Nachtvögel, dachte Catharina, kein Wunder, bei so vielen Frauen und Männern, die hier in der europäischen Hauptstadt fernab von ihren Familien Dienst taten. Plötzlich ödete sie das alles an. Die Bigotterie, die Heuchelei. Im Grunde so schlimm wie Bonn, nur kosmopolitischer. Château Lafite statt Riesling, Moules frites statt Rouladen.

Die Nacht war ungewöhnlich warm für Anfang Oktober. Am liebsten hätte sich Catharina einfach ein Taxi herbeigewunken und wäre vor der ganzen schonungslosen Wahrheit geflohen. Einfach weg. Aber das konnte sie nicht bringen. Und es war ohnehin zu spät, denn in diesem Moment öffnete sich die schwere Tür, und Suzanne trat ebenfalls hinaus auf die Straße. »Ich habe noch schnell bezahlt.« Ihre Schritte waren beeindruckend zügig und geradlinig, sie packte das Portemonnaie in ihre große Lederhandtasche, kramte ein Päckchen Zigaretten hervor, zündete eine an und reichte sie Catharina.

»Eigentlich will ich aufhören«, murmelte Catharina schwach, nahm die Zigarette aber bereitwillig und zog an ihr, als würde ihr Leben davon abhängen. »Es wissen doch ohnehin schon alle über Helmuts ständige Eskapaden Bescheid«, sagte sie dann trotzig wie ein Kind, das noch ein paar Minuten länger am tröstlichen Glauben ans Christkind festhalten wollte.

»Catharina!«, erwiderte Suzanne nüchterner, als es angesichts der konsumierten Drinks möglich schien. »Du bist lange genug in Bonn, um zu wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen einer Affäre und einer Scheidung wegen Untreue.«

»Ich weiß, ich weiß«, gab Catharina kleinlaut zu und stieß blauen Dunst in den klaren Nachthimmel.

»Wenn ihr die Koalition retten wollt, musst du ihn konfrontieren. Oder willst du mit ihm untergehen?« Suzanne ließ sich nicht ablenken.

»I had some dreams, they were clouds in my coffee.« Die Tür zur Bar öffnete sich erneut, und Azadeh stolperte heraus, Carlys Song auf den Lippen.

»Was macht ihr denn für Gesichter? Habt ihr ein Gespenst gesehen? Den toten Papst? Den Ayatollah? Den Schah?« Sie sah sich verschwörerisch um. »Oder den deutschen Oppositionsführer? Der soll ja ebenfalls in der Stadt sein. Streckt seine Fühler nach Brüssel aus. Dieser plumpe Mann will Kanzler werden? Please!« Sie machte eine dramatische Geste. Als Suzanne und Catharina weiter schwiegen, verflog schlagartig auch Azadehs Rausch. Diese Frau konnte feiern, als gäbe es kein Morgen, war aber in der Lage, in Sekundenschnelle den Ernst der Lage zu erfassen und den Schalter umzulegen. Es war nicht das erste Mal, dass Catharina diese bewundernswerte Eigenschaft ihrer Freundin wahrnahm. Wahrscheinlich konnte man dort, wo sie herkam, nur überleben, wenn sich einem im richtigen Augenblick die Nackenhaare aufstellten, wenn man die Gefahr witterte, bevor das Ungeheuer leibhaftig vor einem stand. Bei einigen ihrer älteren Bonner Kolleginnen hatte Catharina diese Kombination auch schon beobachtet. Ein Überbleibsel aus düsteren Zeiten. Unbändige Lebenslust und tiefer Ernst, rauschhaftes Loslassen und grimmige Entschlossenheit.

»Okay – was ist los?« Azadeh trat näher. Der Kajalstift, der ihre kastanienbraunen Augen schwarz umrahmte, war ein wenig verlaufen, ihre Wangen waren vom Tanzen gerötet.

»Es geht um Helmut Busch«, sagte Suzanne knapp, während Catharina nervös um sich blickte.

»Was ist mit ihm?«, fragte Azadeh und entspannte sich etwas. Was war der deutsche Außenminister schon im Vergleich zu einem toten Papst beziehungsweise einem quicklebendigen Schah?

»Seine Frau wird sich von ihm trennen«, klärte Catharina auf, während sie die Zigarette wegschnippte und ihre Arme vor der Brust verschränkte.

»Die Koalition läuft Gefahr, auseinanderzufliegen, und Catharina ist mittendrin.« Suzanne schlüpfte in ihren Blazer. Plötzlich fröstelte sie.

»Ach du Scheiße. Komm her, Baby.« Azadeh zog Catharina an sich, legte ihr schützend den Arm um die Schultern. Catharina gab sofort jeden Widerstand auf, schloss die Augen, vergrub das Gesicht in Azadehs Haar und war augenblicklich umgeben von einer Mischung aus Bergamotte, Iris, Zigaretten und Schweiß. So duftete Trost. Seit Azadehs Eltern ihrer Tochter zum sechzehnten Geburtstag aus Teheran den ersten Flakon Shalimar geschickt hatten, dieses luxuriöse Fläschchen, das aussah wie aus Tausendundeiner Nacht, gehörte dieser Duft zu Azadeh wie ihre ungezähmte Mähne und ihre rebellische Zahnlücke.

Wie viele Male in ihrem Leben sie wohl schon so von der Freundin in die Arme genommen worden war? Bilder schossen durch Catharinas Kopf. Verweinte Gesichter, gebrochene Herzen, zerplatzte Träume. »Die unzertrennlichen Gämsen«, so hatten ihre Lehrerinnen und Lehrer im Schweizer Internat die zielstrebige Deutsche, die stets solidarische Belgierin und die furchtlose Iranerin genannt, weil sie nur im Trio auftauchten und jede freie Minute in den Bergen verbrachten. Wenn eine von ihnen in eine Felsspalte stürzte, von einer Lawine überrollt wurde oder in ein Unwetter geriet, eilten die anderen beiden zur Rettung. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Die große, starke Suzanne entwickelte schon als Teenager einen derart ausgeprägten Beschützerinstinkt, dass Azadeh und Catharina sogar über sie witzelten, sie ihren Bernhardiner nannten und ihr liebevoll den Kopf tätschelten.

Catharina löste sich aus Azadehs Umarmung und blickte sich nach einem Taxi um.

»Bist du sicher, dass es klug ist, jetzt zu Gregor zu fahren?«, fragte Suzanne nervös.

»Vielleicht kann ich rausfinden, was er weiß?«, erwiderte Catharina halbherzig.

»Auf keinen Fall, Catharina!« Suzannes Stimme nahm eine ungewohnte Schärfe an. Gar nicht mehr Bernhardiner, eher schon Dobermann. Catharina sah die Freundin jetzt unverwandt an und erkannte, dass Suzanne sich wirklich Sorgen machte.

»Es gibt noch etwas, was du wissen solltest.«

»Oh Gott! Was denn?« Catharina knöpfte ihre Jacke zu und wollte nur weg.

»Ihr müsst mir versprechen, dass kein Wort davon an die Öffentlichkeit gelangt, ich habe Stein und Bein geschworen …«, fuhr Suzanne fort.

»Geschworen? Vor Gott und allen Heiligen?«, witzelte Azadeh.

»Nein, im Schönheitssalon.« Catharina und Azadeh starrten Suzanne einen Moment lang verständnislos an.

»Oh, dort, wo sie dir diese neue Frisur verpasst haben? Na, ich weiß nicht, ob du ihnen dafür Dankbarkeit und ewiges Schweigen schuldest …« Azadeh hatte sich schnell wieder gefangen.

»Also, rück schon raus mit der Sprache, Suzanne«, fiel Catharina der Freundin ins Wort. Langsam wurde sie ungeduldig.

»Busch hatte seine Affäre monatelang als angebliche Hilfskraft in seinem Abgeordnetenbüro auf der Gehaltsliste«, erklärte Suzanne knapp, während sie sich mit der Hand unsicher durchs frisch geschnittene, kinnlange Haar fuhr.

»Ja, ist der komplett deppert?!«, entfuhr es Catharina. Und wie immer, wenn heftige Gefühle sie umtrieben, fiel sie zurück ins Münchnerisch ihrer Kindheit. Suzanne atmete erleichtert auf, endlich schien die Freundin zu verstehen, was auf dem Spiel stand.

»Woher hast du das?«, bohrte Catharina nach. »Und hör auf, an deinen Haaren rumzufingern. Du siehst toll aus.« Sie warf Azadeh einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Letzte Woche war ich bei Eva Gensmeier im Salon.« Suzanne wandte sich an Azadeh. »Und ja, sie hat mich zu dem Haarschnitt überredet, das ist die Frisur des Herbstes.« Catharina stemmte die Hände in die Hüften, und Suzanne kam wieder auf den Punkt. »Jedenfalls saß neben mir unter der Trockenhaube Alexa Fromm aus der People-Redaktion von Cosima. Sie haben die Story exklusiv.« Suzanne sah Catharina an. »Von Helen Busch persönlich.«

Catharina hatte das Gefühl, zu fallen. Aber die Freundin war noch nicht am Ende.

»Sie wird keinesfalls die tapfer lächelnde Betrogene spielen«, sagte Suzanne leise. »Sie geht zurück nach New York, aber vorher, so hat sie Alexa erklärt, bringt sie ihren Mann zu Fall.«

2

Zu dumm, dass sie nicht hinunter ins Café gehen konnte, um einen Happen zu frühstücken. Über ihrem rechten Auge spürte sie die untrüglichen Vorboten heranziehender Kopfschmerzen. Die Vorhänge waren nur notdürftig zugezogen, der Brüsseler Morgen zeigte sich wolkenverhangen. Catharina rieb sich die Schläfe. Selbst schuld, schalt sie sich. Aber diese Drinks waren zu verführerisch gewesen. Apfel Martini – wie der Barkeeper gekonnt, und ohne abzusetzen, die knallgrüne Schale des Granny Smith zu einer lustigen Girlande geformt hatte, allein das war es wert gewesen, noch einen zweiten und dritten zu bestellen. Jetzt bezahlte sie dafür. Zu gern hätte sie eine Schmerztablette genommen, und in den Untiefen ihrer Handtasche hatte sie sogar ein Päckchen Ibuprofen gefunden, aber auf nüchternen Magen war das nicht ratsam. Und wer weiß, vielleicht würde sich das Pochen in der Augenhöhle von allein verziehen, wenn sie erst mal eine schöne Tasse Milchkaffee und ein Croissant zu sich genommen hätte.

Aber das musste wohl noch einen Moment warten, denn bei ihrem Glück würde sie in der Lobby oder im Frühstücksraum direkt in Eberhard Willig und seine Mannen hineinlaufen. Wahrscheinlich saß der Oppositionsführer und Möchtegernkanzler schon bei seinem zweiten Teller Aufschnitt und gönnte sich im Anschluss noch das eine oder andere Pain au chocolat. Der Mann hatte einen beeindruckenden Appetit, beim Essen und in der Politik. Bei beidem sah er nicht gerade elegant aus, aber effizient war er, das musste Catharina zugeben. So oder so konnte sie keinesfalls riskieren, ihm hier im Hotel zu begegnen.

Gregor zählte zum Journalistentrupp, der Willig dieser Tage mit Bleistift im Anschlag auf Schritt und Tritt begleitete, um jedes Fettnäpfchen, das der Konservative hier in Brüssel mitnahm, begierig zu notieren und am folgenden Morgen frisch gedruckt den Leserinnen und Lesern zum Frühstück zu servieren. Die meisten konnten sich Willig noch nicht recht an der Spitze vorstellen, aber Kanzler Westphal saß momentan alles andere als fest im Sattel, und Willig wirkte zwar zuweilen etwas behäbig, aber Catharina wusste von mehr als einer konservativen Kollegin, dass er, hatte er sich einmal ein Ziel gesetzt, wie ein Tanker auf hoher See, kaum mehr abzubringen war von seinem Kurs. »Fallt bloß nicht auf seinen Dackelblick rein«, hatte ihr erst neulich eine Abgeordnetenkollegin, die patente Rheinländerin Helga Meisner, zugeraunt, die von Willig aus einem wichtigen Ausschuss gedrängt worden war, damit er seinen eigenen Kandidaten platzieren konnte. Meisner hatte Willigs Vorgehen von Anfang an durchschaut – er scharte auf äußerst verbindliche Art Leute um sich, die ihm etwas schuldeten, die sich etwas von ihm erwarteten, denen er etwas versprach. Leider wurde nur ein bestimmter Typus Mann von Willig für seinen Hofstaat gecastet, sodass die erfahrene Gesundheitspolitikerin aus dem Ausschuss geflogen ist und nun als Hinterbänklerin ihr Dasein fristete.

Mit einem energischen Ruck drehte sich Gregor um, zog die dünne Decke enger um sich, schien aber noch immer tief zu schlafen. Catharina fühlte seinen Atem auf ihrer Haut, betrachtete sein kantiges Gesicht, den bläulichen Schatten auf den Wangen, wo die Bartstoppeln durchbrachen, die starke Nase, die vollen Lippen. All das führte zu nichts und musste es auch nicht, dachte sie. So unberechenbar und stürmisch das zwischen ihr und Gregor war – es bildete doch eine wohltuende Konstante, die sie gewissenhaft unter Verschluss hielt. Als Frau musste man höllisch aufpassen, allzu schnell hatte man sich einen zweifelhaften Ruf eingefangen. Ernsthaft unterbrochen worden aber war Catharinas und Gregors Dauerflirt, Liebelei, Affäre – wie immer man es nennen wollte – nur durch Gregors kurze, aber glücklose Ehe mit einem schwedischen Mannequin. Inzwischen war er längst geschieden und Jette Ericson ein Thema, das man besser weiträumig umschiffte, was gar nicht so leicht war, weil die hochgewachsene Blondine seither beachtlich Karriere gemacht hatte und aus den Hochglanzzeitschriften nicht mehr wegzudenken war. Catharina fuhr Gregor sanft durch das dichte lockige Haar. Dieser manchmal so unwirsche und einsilbige Bauernbursch übte eine Anziehungskraft auf sie aus, der sie sich nicht entziehen wollte.

Seit sie vor einigen Jahren im Büro ihrer Parteikollegin und Mentorin Hilde von Rochow einen ersten Blick auf Gregor riskiert hatte, hatte sie ihn nie mehr aus den Augen verloren, auch nicht, als er von Hildes Abgeordnetenbüro zum Nachrichtenmagazin Der Wächter nach Hamburg wechselte. Nie würde Catharina Hildes zufriedene Miene vergessen, als sie verstand, was da lief zwischen ihrem Schützling und ihrem Pressereferenten. Hilde war es gewesen, die der jüngeren Kollegin den unbezahlbaren Rat gegeben hatte, dass eine Frau eine Affäre brauche, weil das Leben sonst »eine endlose Ödnis« sei. Das spießige Gattinnenleben könne man getrost den Ehefrauen der konservativen Kollegen überlassen. »Obwohl ich bezweifle, dass die so bieder sind, wie sie tun«, hatte Hilde mit einem diabolischen Lächeln hinzugefügt. »Jedenfalls hoffe ich das.«

Als das Land 1945 in Trümmern lag, bastelte sich Hilde einen ganz eigenen Wertekanon zusammen, an den sie sich seither strikt hielt, und manchmal, wenn Catharina viel Glück hatte, ließ Hilde sie an ihren Erkenntnissen teilhaben. An einem milden Abend im Mai – Catharina hatte erst seit ein paar Wochen als Abgeordnete im Bundestag gesessen und in Bonn gerade mal gewusst, wo sich ihr Büro und die Parlamentskantine befanden – traf sie sich mit Hilde auf ein Glas Weißwein bei Babette. Der Ausbruch des Frühlings war intensiv zu spüren. Die singenden Amseln, der Fliederduft und der Wein ließen die sonst so kontrollierte Grande Dame der Partei mitteilsam werden. Plötzlich kam das Gespräch auf Pommern. Als junge Frau, so berichtete Hilde, habe sie sich in den letzten Kriegsmonaten vom Gut ihrer Familie ganz alleine nach Berlin durchgeschlagen. Sie erzählte von Soldaten, abgerissenen Männern mit leeren Blicken und gierigen Händen, von Toten am Wegesrand, von aufgeknüpften Deserteuren in den Bäumen, die gerade begannen, grüne Blätter zu treiben, von Frauen, die ihre voll beladenen Kinderwagen schoben, ein, zwei Kleinkinder im Schlepptau, die Mühe hatten, dem schnellen Schritt der Mutter zu folgen.

»Schau nicht so betroffen«, sagte Hilde und schenkte Catharina nach. »Hab’s ja überlebt. Cheers!«

»Zum Wohl!«, erwiderte Catharina und nahm einen großen Schluck.

»Wenn man sich mit Mitte zwanzig durch Dantes Inferno gekämpft hat, ist der Rest des Lebens eine Art Bonus«, erklärte Hilde gut gelaunt und fügte hinzu: »Nimm dir, was du brauchst, Catharina. Wenn du das von mir lernst, weißt du alles, was du wissen musst.« Daraufhin winkte sie die Kellnerin heran und bestellte eine Flasche Söhnlein Brillant, die Babette persönlich an den Tisch brachte, nicht ohne zu flöten: »So jung kommen wir nicht mehr zusammen.«

Regelmäßig ließen Catharina und Hilde die Arbeitswoche seither bei Babette ausklingen. Im gemütlichen Gasthaus »Rebe« wurde seit den frühen Tagen der Republik das gute und schlechte Wetter gemacht. Babette legte sich parteipolitisch nie öffentlich fest, die Wirtin gewährte ihre Gastfreundschaft den Herren und wenigen Damen aller Parteien, außer dem »braunen Gesocks«, wie sie die Repräsentanten der äußersten Rechten nannte. Einmal hatten ein paar rechtsnationale Abgeordnete den Versuch unternommen, am Abend einer Sitzungswoche auf ein Herrengedeck in der »Rebe« einzukehren. Es war ihnen nicht gut bekommen. »Nazis müssen draußen bleiben«, hatte die resolute Babette durch den Gastraum gerufen. Mit roten Visagen unter dem akkurat getrimmten Bürstenschnitt hatten die Männer das Lokal fluchtartig verlassen.

Catharina kam gern zu Babette. Sie liebte das Knistern in der Luft, die Aura der Macht und der Mächtigen. Wenn man es geschickt anstellte, konnte man hier Themen platzieren, Namen fallen lassen, Zeichen setzen. Ein-, zweimal war ihr das schon geglückt. Die Abende mit Hilde gehörten zu den Highlights ihres Bonner Lebens. Sie sprachen über Politik, über die Welt und sich selbst darin, aber niemals mehr seit diesem lauen Abend im Mai hatte Hilde über ihre Erlebnisse im Frühjahr 1945 gesprochen. Musste sie auch nicht, denn, wie gesagt, Catharina wusste alles, was sie wissen musste.

 

Was würde Hilde jetzt tun, dachte Catharina und sah sich im Zimmer nach ihren Kleidungsstücken um, die sie in der letzten Nacht achtlos auf den Boden hatte fallen lassen. Lautlos glitt sie aus dem Bett, Gregor rührte sich nicht. Sie schlich auf Zehenspitzen ins Badezimmer und schloss die Tür. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenstarrte, trug sichtbar die Spuren des vorangegangenen Abends. Catharina putzte sich die Zähne, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, vor allem auf ihre müden Augen. Leise öffnete sie erneut die Tür, warf einen Blick auf den schlafenden Gregor und schnappte sich ihre Tasche. Zum Glück war sie gestern Abend geistesgegenwärtig genug gewesen, ihr Necessaire einzupacken. Sie angelte ihre Creme heraus und entfernte erst mal akribisch die Wimperntusche, die um die Augen verlaufen war. Sie stieg in die Dusche und ließ kaltes Wasser über ihren Körper rinnen. Sie hätte Lust gehabt, voll aufzudrehen, aber sie wollte auf keinen Fall zu viel Lärm machen. Es war erst halb acht, und sie wusste aus leidvoller Erfahrung, dass ein müder Gregor ein grätiger Gregor war. Sie aber brauchte ihn nachher frisch und gut gelaunt.

Nachdem sie sich mit dem flauschigen weißen Frotteetuch abgetrocknet hatte, massierte sie Gesicht und Hals und trank ein großes Glas Leitungswasser. Das Verlangen nach einem Kaffee war überwältigend. Sie überlegte kurz, ob sie den Zimmerservice anrufen und darum bitten sollte, Kaffee und Croissants vor die Tür zu stellen. War das zu riskant? Sie schlüpfte in Bluse und Rock vom Vorabend und verzog kurz das Gesicht, denn beides verströmte unverkennbar den Duft einer durchzechten Nacht. Aber sie hatte keine Wahl, konnte schon froh sein, dass sie an frische Unterwäsche gedacht hatte.

Dann bürstete sie ihr schulterlanges honigbraunes Haar, band es zu einem strengen Pferdeschwanz und legte ein leichtes Tages-Make-up auf. Mehr und mehr wurde sie die Frau, die sie kannte, in deren Haut sie sich wohlfühlte und die, das war zumindest die Hoffnung, trotz der Verfahrenheit der Situation dem ganzen Schlamassel gewachsen sein würde. Das Pochen hinter ihrem rechten Auge war noch da, aber zu ihrer Erleichterung stellte sie beim Blick in den Spiegel fest, dass sie sich langsam trotzdem in der Lage sah, Gregor bei Tageslicht gegenüberzutreten. Letzte Nacht war nicht viel geredet worden, die vertraute Choreografie hatte ihnen beiden Sicherheit gegeben. Für einen kurzen Moment hatten sie sich der Illusion hingeben können, allein auf der Welt zu sein. Sogar Eberhard Willig, der nur ein paar Stockwerke entfernt den Schlaf des Gerechten schlief, hatte Catharina ausblenden können. Unwillkürlich musste sie schmunzeln, ein wenig Farbe kehrte auf ihre Wangen zurück.

Sie sah erneut auf ihre kleine Armbanduhr, Viertel vor acht. Sie sollte eigentlich längst Suzanne angerufen haben. Aus dem Zimmer hörte sie einen dumpfen Schlag und ein tiefes Brummen, das nur von Gregor stammen konnte. Die Sektflasche musste vom Nachttischchen auf den plüschigen Teppichboden geplumpst sein. Wer, um Himmels willen, stattete Hotelzimmer mit Flokatis aus? Man musste keine übertriebene Angst vor Hausstaub, Milben und Wanzen haben, um sich zu gruseln bei dem Gedanken, welch Parallelwelt in dem üppigen orangeroten Hotelzimmerteppich hauste.

»Kruzifünferl!«, fluchte Gregor.

Catharina öffnete die Badezimmertür.

»Zum Glück haben wir die gestern noch geleert.« Sie deutete auf die Sektflasche und lächelte Gregor an, der bäuchlings im Bett lag und seinen langen muskulösen Arm nach der Flasche ausstreckte, die Richtung Fenster gerollt war.

»Du bist aber bereits unangenehm munter«, murmelte er und wandte sich ihr zu, stützte seinen Kopf in die Hand und zog das Laken zurecht, sodass zumindest sein Unterleib bedeckt war. »Warum bist du denn schon angezogen?«, fragte er entgeistert und streckte seine Hand nach ihr aus. Catharina ergriff sie, ließ sich von ihm ins Bett ziehen, löste sich aber rasch wieder aus seiner Umarmung. Die Wärme des Bettes und die Nähe seines Körpers waren verführerisch. Wie gern hätte sie diesen Tag, der vor ihr lag wie ein hinterhältiger Hindernisparcours, hier zugebracht. Nur Gregor und sie – und das Bett.

»Du kennst mich, ich brauche einen Kaffee. Außerdem muss ich zurück zu Suzanne.« Catharina stand auf und strich sich den Rock glatt.

»Okay, okay, ich spring schnell in die Dusche.« Gregor war mit einem Satz aus dem Bett. »Dann schleichen wir uns im Abstand von fünfzehn Minuten aus dem Hotelzimmer und treffen uns in unserem Café in Ixelles.« Er grinste breit. »Wir sind wie Geheimagenten, Spatzl.«

»Ich breche schon mal auf«, erwiderte Catharina und warf ihm einen konspirativen Blick zu. »Hoffentlich schaffe ich es durch die Lobby, ohne über Willig zu stolpern.« Die Aussicht, in wenigen Minuten in einem sicheren Taxi zu sitzen und sich bald einen Lait Russe und ein schönes Frühstück zu genehmigen in dem kleinen unscheinbaren Café, das Gregor und sie vor Jahren entdeckt hatten, flößte ihr schlagartig gute Laune ein. Sie gab Gregor einen Kuss und setzte ihre Sonnenbrille auf.

»Findest du das nicht ein bisschen auffällig?«, rief Gregor ihr hinterher, aber da fiel schon die Tür ins Schloss. Sie eilte zum Treppenhaus und ging die sieben Stockwerke zu Fuß hinab. Den unsportlichen Willig würde sie hier sicher nicht treffen und hoffentlich auch keinen von Gregors Kollegen. Ohne um sich zu blicken, durchquerte sie die Lobby und sprang in das nächstbeste Taxi. »Chez Margo, Ixelles«, hauchte sie außer Atem, und der Fahrer gab Gas. Das hat wirklich was von James Bond, dachte Catharina und war dankbar, dass sie es ohne unangenehme Zwischenfälle aus dem Hotel geschafft hatte. Sie lehnte sich zurück in das weiche Polster und schloss die Augen. Suzanne hatte ihr gestern Abend eingebläut, Gregor bloß nicht ins Vertrauen zu ziehen. Ja, er war seit Jahren ein treuer Geliebter, aber er war und blieb Reporter.

»Für eine gute Geschichte würde der seine Großmutter verkaufen«, hatte Suzanne gewarnt.

»Seine Großmutter vielleicht schon«, hatte Catharina entgegnet. »Hast du mal Fotos von ihr gesehen? Die hatte Haare auf den Zähnen und hat den Bauernhof geführt wie ein römischer Großgrundbesitzer seine Latifundien.«

»Kein Wort zu ihm bezüglich Busch. Versprich es mir!« Suzanne war gar nicht auf ihr Geplänkel eingegangen. Es war ihr wirklich ernst gewesen. Aber Catharina wollte dennoch vorsichtig vorfühlen, ob Gregor mehr wusste. Sie würde nachher zumindest ein, zwei Stichworte platzieren und sehen, wie er reagierte.

 

Die Fahrt dauerte länger als üblich, der Morgenverkehr war dicht. Aber die Sonne hatte sich inzwischen durchgesetzt und die letzten Wolken vertrieben. Catharina nahm es als gutes Zeichen. Der Taxifahrer dagegen war unzufrieden und investierte mehr Energie ins Hupen als ins Fahren. Nebenbei zündete er sich eine Zigarette an, kramte dann im Handschuhfach und fischte eine neue Kassette heraus. Schon bald ertönte scheppernd Johnny Hallydays Stimme aus den Lautsprechern.

»Er ist halber Belgier, wussten Sie das?« Der Taxifahrer drehte sich zu ihr um, stieß eine große blaue Rauchwolke aus und sah sie fragend an. Die breiten Koteletten und sein Schnurrbart waren fuchsrot, sein spärlich werdendes Haupthaar dagegen hatte die Farbe eines sommerlichen Weizenfeldes. Catharina wusste nicht, auf was der Mann hinauswollte. Noch immer hatte er seinen Blick auf sie gerichtet, wobei er den Wagen gleichzeitig in Schrittgeschwindigkeit rollen ließ. Catharina fürchtete, dass er im nächsten Moment auf das vorausfahrende Auto auffahren würde.

»Hallyday heißt eigentlich Smet«, sagte er triumphierend, als sie weiterhin schwieg, und erging sich im nächsten Moment in einer Schimpftirade gegen den Kollegen im Taxi neben sich, der versuchte, auf seine Spur zu wechseln.

»Wusste ich nicht«, murmelte Catharina und ergänzte still: Und ist mir auch egal. Johnny Hallydays Musik war nicht ihr Geschmack, ob er nun Franzose oder Belgier war.

Endlich kam das Café in Sicht, und Catharina ließ den Mann stoppen. Die letzten paar Meter würde sie zu Fuß zurücklegen. Das ging ohnehin schneller. Als sie an einem Schaufenster vorbeikam, blieb sie rasch stehen, betrachtete sich in der Spiegelung, band das gelbe Seidentuch um ihren schmalen Hals und legte Lippenstift auf. Dann kaufte sie an einem Kiosk die Frankfurter Nachrichten und die neueste Ausgabe der Wochenzeitung Die Woche. Als Catharina das Lokal betrat, war der erste morgendliche Ansturm schon abgeebbt. Sie sah sich um. Es gab mehrere freie Plätze, in der Ecke am Fenster fand sie einen Tisch, ein bisschen abseits vom Trubel der Theke. Allein der Duft des frisch gemahlenen Kaffees weckte ihre Lebensgeister. Sie schlüpfte aus ihrem Blazer, setzte sich und überflog die Karte, obwohl sie längst wusste, was sie bestellen würde. Seit sie am Morgen aufgewacht war, hatte sie sich diesen Moment ausgemalt.

Eine sehr junge Kellnerin, das weißblonde Haar zu einem imposanten Dutt gesteckt und mit Unmengen Haarspray fixiert, kam und nahm ihre Bestellung auf. Im Gang zu den Toiletten hing ein öffentlicher Telefonapparat, das wusste Catharina von ihrem letzten Besuch. Ob sie jetzt rasch Suzanne anrufen sollte? Gregor kam sicher erst in zwanzig Minuten, er war Langduscher, und die Autos auf dem Boulevard bewegten sich außerdem noch immer im Schneckentempo. Catharina musste an ihren fuchsroten Taxifahrer denken und hoffte, dass er nun einen Fahrgast beförderte, der mehr übrighatte für Johnny Hallyday und seine nationale Zugehörigkeit. Sie kramte in ihrem Portemonnaie nach belgischen Francs zum Telefonieren, als die Kellnerin schon eine heiße Schale Lait Russe vor sie stellte und lächelnd verkündete, dass das Käseomelette gleich käme. Catharina legte die Münzen zur Seite, nahm erst mal einen großen Schluck Kaffee und schlug die Frankfurter Nachrichten auf. »Kanzler beim großen Bruder«, kommentierte die Zeitung Westphals Washington-Reise. Catharina überflog die Zeilen. Sie wusste nur zu gut, dass es auch in ihrer Partei einflussreiche Leute gab, die gegen den Bundeskanzler stichelten.

Die Kellnerin kam mit einem großen Teller, und Catharina war fest entschlossen, den unangenehmen Gedanken an ihren Parteikollegen Heinrich Osthoff umgehend aus ihrem Kopf zu verbannen und dem Käseomelette die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm gebührte. Doch der alte Haudegen war nicht leicht zu vertreiben. Osthoff hatte beste Kontakte zur Redaktion der Frankfurter Nachrichten, schließlich saßen einige seiner alten Kumpanen dort fest im Sattel. Den Zweiten Weltkrieg hatten sie verloren, aber den Kampf um die Deutungshoheit der Gegenwart wollten sie nicht aufgeben. Dass die Frankfurter Nachrichten Westphal in Amerika als devoten Zwerg porträtierten, war keine Überraschung.

Catharina schob sich eine Gabel Omelette in den Mund. Der seidig geschmolzene Käse schmeckte himmlisch. Sie schlug Die Woche auf. Die Reportage über die Kanzlerreise war hier ausgewogener, ja, fast wohlwollend. Immerhin. Catharina nahm einen weiteren Bissen. Sie sollte jetzt wirklich Suzanne anrufen, bevor Gregor eintraf. Aber sie konnte sich nicht losreißen von der Zeitungslektüre. Die Konjunktur schwächelte, die IG Metall rief zu Streiks auf, die Ökos nervten mit Weltuntergangsstimmung. Schon wieder ein Interview mit Hanna Kleemann, einer prominenten Aktivistin. Erst kürzlich war Catharina ihr bei einem Symposium über die bundesdeutsche Fernostpolitik über den Weg gelaufen. Vollkommen weltfremde Forderungen hatte Kleemann da aufgestellt. Aber natürlich hatte sie die volle Aufmerksamkeit der Presse gehabt mit ihrer emotionalen Tour. Helmut Busch war der Meinung, dass diese merkwürdige Truppe von Ökos und Träumern, an deren Spitze Hanna Kleemann stand, bald von alleine wieder verwinden würde, aber Catharina war sich inzwischen nicht mehr so sicher.

Gut gelaunt erkundigte sich die Kellnerin, ob sie noch etwas bestellen wolle. Nachdem Catharina einen zweiten Kaffee geordert hatte, erhob sie sich, nahm die Münzen und ging zum Telefonapparat. Doch dort stand schon seit ein paar Minuten eine ältere Dame und telefonierte lautstark mit einer Freundin, die offenbar wie sie selbst etwas schwerhörig war und der sie verzweifelt den Weg zu einer Ausstellung im Musées royaux des Beaux-Arts zu erklären versuchte. Catharina setzte sich wieder an ihren Platz, doch so recht konnte sie sich nicht mehr auf ihre Lektüre konzentrieren. Die Frau ihrerseits machte keinerlei Anstalten, das Gespräch zu beenden. Mit den Händen gestikulierend versuchte Catharina, ihr Zeichen zu geben, deutete auf ihre Uhr und hob fragend die Augenbrauen, aber die alte Dame lächelte ihr nur liebenswürdig zu. Die Minuten verstrichen, und Catharinas Ungeduld wuchs. Sie war kurz davor, der Frau anzubieten, ein Taxi zu der begriffsstutzigen Freundin zu schicken, das sie direkt zur Ausstellung brachte. Stattdessen winkte sie die Kellnerin heran und erkundigte sich, ob es noch ein zweites Telefon gab.

»An der Theke haben wir einen Apparat. Der ist eigentlich für Geschäftliches, aber wenn Sie es kurz machen …« Die junge Frau zuckte mit den Schultern und schob sich einen Streifen Wrigley’s Spearmint in den Mund.

»Merci,Sie sind ein Schatz!«, erwiderte Catharina. »Es wird nicht lange dauern. Ich versprech’s.«

Sie folgte der Kellnerin zur Theke und spähte aus dem Fenster. Kein Gregor in Sicht. Die junge Frau reichte ihr den Apparat, und Catharina wählte Suzannes Nummer.

»Oui, allô?«, vernahm sie die Stimme der Freundin.

»Ich bin’s. Ich kann nicht lange sprechen«, sagte Catharina.

»Catharina? Du musst lauter reden. Ich verstehe dich kaum. Wo steckst du denn?«

»›Chez Margo‹«, sagte Catharina lauter, als ihr lieb war.

»Sei spätestens um zwei hier, ja? Ich muss dann zurück nach Bonn. Und du doch auch.« Suzanne machte eine kurze Pause.

»Alles klar.« Catharina wollte das Gespräch so schnell wie möglich beenden.

»Ist Gregor jetzt bei dir?« Suzanne ließ sich nicht abwimmeln, ihre Stimme klang, als wäre sie weit weg.

»Nein, aber er müsste demnächst hier auftauchen.« Catharina warf erneut einen Blick aus dem Fenster und bemühte sich demonstrativ um Gelassenheit.

»Helmut Busch hat hier für dich angerufen.«

»Was?« Catharina hatte das Gefühl, jemand hätte ihr einen Schlag in die Magengrube verpasst. Sie ließ sich auf den Barhocker sinken. »Wieso das denn?« Das muntere Treiben um sie herum schien nicht mehr zu existieren.

»Keine Ahnung. Aber du sollst ihn anrufen, sobald du eine ruhige Minute hast. Es klang dringend …« Suzannes letzte Worte gingen im Lärm der Kaffeemühle unter, die die Kellnerin eben anwarf, und Catharina wurde sich ihrer Umgebung schlagartig wieder bewusst.

»Wie bitte? Was hast du gesagt?«, rief Catharina und drehte sich Richtung Theke, um der jungen Frau zu signalisieren, doch kurz die Maschine abzuschalten. Sie klemmte den Hörer zwischen Wange und Schulter und wedelte wild mit den Armen, erntete aber nur einen fragenden Blick. »Ich habe dich nicht verstanden. Hat Helen etwa schon die Katze aus dem Sack gelassen?«, entfuhr es Catharina genau in dem Moment, als die Maschine verstummte. Jetzt waren wieder nur die Jazzmusik und das Gemurmel der anderen Gäste zu vernehmen. Einige sahen sie verwundert an.

»Hast du mich vermisst?«, hörte Catharina in diesem Augenblick eine tiefe Männerstimme hinter sich und spürte eine warme Hand um ihre Taille. Suzannes Worte am anderen Ende der Leitung waren nur noch ein unverständliches Gemurmel.

»Hier ist es zu laut, Suzanne. Ich bin gegen zwei bei dir.« Mit einer energischen Bewegung legte sie den Hörer auf die Gabel, reichte der Kellnerin den Apparat und atmete tief durch, sie musste ein paar Sekunden Zeit gewinnen, bevor sie Gregor in die Augen schauen konnte. Die ältere Dame hatte inzwischen ihr Gespräch beendet und packte umständlich ihr Portemonnaie in die große Handtasche mit Leopardenfellmuster. Ob ihre Freundin es wohl jemals zu dem Kunstmuseum schaffen würde, fragte sich Catharina unwillkürlich. Viel brennender aber beschäftigte sie die Frage, was Gregor von ihrem Gespräch mit Suzanne mitbekommen hatte.

3

Seit sie denken konnte, stand Catharina mit Sonntagen auf Kriegsfuß. Langeweile gepaart mit dem intensiven Gefühl, dass sie noch nicht bereit war für eine neue Woche mit all ihren Zumutungen. Als Catharina ein kleines Mädchen war, hatte sie nie verstanden, warum an diesem siebten Tag so völlig andere Regeln galten als sonst. Während sie die ganze Woche hindurch mit den Nachbarskindern durch die Hinterhöfe zog, hieß es am Sonntag plötzlich: »Der Rudi kann nicht runterkommen, wir trinken jetzt alle zusammen Kaffee.« Rudi, in dunkler Hose und feinen Lederschuhen, spähte verkniffen um die Ecke ins Treppenhaus, während seine Mutter Catharina einen empörten Blick zuwarf und die Tür ins Schloss fallen ließ. Da stand sie dann, allein in dem nach Bohnerwachs riechenden Treppenhaus. Totale Stille um sie herum. Kein Kinderlachen, keine Ermahnungen von Müttern oder Kindermädchen, nicht mal Hundegebell. Auch Catharinas Spielkameradin aus dem Souterrain, die kleine Anna, jüngste Tochter des Hausmeister-Ehepaars, fiel sonntags aus. Erst musste sie mit ihrem Vater und ihren vier Geschwistern in den Gottesdienst gehen – nur die Mutter blieb zu Hause, hatte die Messe bereits am Vorabend besucht, schließlich musste um zwölf ein Schweinebraten mit Knödeln und Kraut auf dem Tisch stehen – und am Nachmittag fein herausgeputzt durch den Englischen Garten spazieren. Einzig Catharinas Freundin Gabriele blieb ihr als Gesellschaft. Aber die war fast zwei Jahre jünger und spielte am liebsten mit ihrer umfangreichen Puppensammlung, für die sich Catharina nicht erwärmen konnte. Außerdem war Gabriele dauernd auf Diät, wurde von ihrer Mutter, der an sich gutmütigen Justizratsgattin, immer sehr kurzgehalten. »Gell, du gibst der Gabi keine Süßigkeiten«, flüsterte sie Catharina regelmäßig zu. »Mädchen wie du brauchen sich keine Sorgen zu machen, aber die Gabi …« Dann nickte sie vermeintlich unauffällig in Richtung ihrer Tochter, die in der Tat für ihr Alter recht kräftig war. »Nein, nein, Frau Steinhauser, ist doch klar«, erwiderte Catharina dann verlegen und schaute, dass sie sich schnell an ihr vorbei ins Kinderzimmer verdrückte. Mit dem Ausbruch des Krieges änderte sich dann sowieso alles. Die gewohnte Ordnung geriet völlig durcheinander, die reich gedeckte Sonntagstafel, an deren Kopfende der Patriarch thronte, gehörte der Vergangenheit an. Der Patriarch war nun im Felde und mit ihm bald sämtliche Söhne, Brüder, Vettern und Freunde.

Auch als erwachsene Frau konnte Catharina dem Sonntag wenig abgewinnen. Ja, ja, Ruhetag – schon klar. Die Wahrheit jedoch war, dass es für sie im Grunde keinen Ruhetag gab. Aber all die helfenden Hände, die ihr die Woche durch das Leben leichter machten und für einen reibungslosen Ablauf sorgten, fielen am Sonntag weitgehend weg. Bonn kam ihr am Wochenende manchmal vor wie ausgestorben. Viele Abgeordnete, Mitarbeiter und Journalisten verließen am Freitagnachmittag fluchtartig die Stadt. Das Schönste an Bonn sei der Bahnhof – wenn man wieder abfahre. Catharina wusste nicht, wie oft sie diesen Spruch schon bei Sekt und Häppchen gehört und höflich dazu gelächelt hatte. Für sie war Bonn inzwischen ihr Zuhause. Sie mochte den Rummel der überschaubaren Stadt, die schicken Karossen der Diplomaten, die von Bad Godesberg die Adenauerallee herunterbrausten, die Armee von Sekretärinnen, die allmorgendlich in die Parlamentarierbüros im Langen Eugen strömten, die hektischen Kamerateams der Fernsehsender, in ständiger Angst, etwas zu verpassen. Wenn Bonn allerdings am Freitagabend in den Wochenendmodus schaltete, erkannte Catharina die Stadt kaum wieder. Viele männliche Kollegen nutzten Samstag und Sonntag, um sich als sorgende Familienväter in Szene zu setzen, ließen sich ablichten mit Frau und Kindern auf der Terrasse des Reihenhäuschens, beim Wandern, beim Bötchenfahren. Catharinas Eltern hatten auf derlei Familientheater nie viel Wert gelegt. Ihr Vater hatte seine Tage – gleich ob Werktag oder Feiertag – in der Klinik zugebracht. Ein Chirurg lebte nun mal für seine Patienten, die Arbeit hatte immer Priorität. Catharinas Mutter hatte den Sonntag meist lesend auf der Chaiselongue verbracht und war froh gewesen, wenn Catharina mit Gabriele durchs Viertel stromerte oder was auch immer bei den Steinhausers anstellte.

Seit Catharina geboren und Hitler Reichskanzler geworden war mit all den bekannten Folgen, befand sich Clementine Cornelius in einer Art Bummelstreik. Das neue Deutschland war nicht ihres. Jahre hatte sie damit zugebracht, diese Republik zu einem Ort zu machen, an dem Männer und Frauen gut leben konnten, und dann kam dieser kleine Österreicher mit seinem lächerlichen Schnauzbart und zertrümmerte all jene Fortschritte, um die sie und ihre Kolleginnen so hart gerungen hatten. Clementine Cornelius, geborene de Beauclair, war jahrelang die rechte Hand der liberalen Reichstagsabgeordneten Friederike Lorenz gewesen und hatte sich erst spät und nur zögerlich dazu durchringen können, den hartnäckig um sie werbenden Münchner Arzt Heribert Cornelius zu heiraten. Sie war Mitte dreißig, als Catharina zur Welt kam. Nachbarinnen hatten despektierlich die Augenbrauen gehoben. Konnte das gut gehen? Diese feine Frau aus Berlin mit den schicken Hüten, den knielangen Röcken und teuren Strümpfen war an sich schon ein Ärgernis im biederen Bogenhausen. Jetzt bekam sie auch noch ihr erstes Kind, zu einem Zeitpunkt, als andere Frauen nur daran dachten, endlich mit dem Windelnwaschen aufzuhören. Na ja, ihr Mann war immerhin Arzt. Aber unerhört blieb es eben doch.

In den ersten Wochen nach Catharinas Geburt, da saß dieser Österreicher, der, als er noch in München residierte, zu allem Überfluss beinahe ein Nachbar Heribert Cornelius’ am Prinzregentenplatz gewesen war, schon einige Monate in der Reichskanzlei, hatte Clementine regelmäßig mit ihrer ehemaligen Chefin telefoniert. Friederike Lorenz, genannt »Fritzi die Große«, weil sie im politischen Berlin die meisten ihrer männlichen Kollegen um einen halben Kopf überragte und vielen auch intellektuell haushoch überlegen war, hatte wie die meisten Abgeordneten der liberalen und sozialdemokratischen Parteien, von den Kommunistinnen und Kommunisten ganz zu schweigen, ihren Sitz im Reichstag verloren und mit ihm ihren Einfluss. Fritzi die Große verfiel in eine Depression, überlegte hin und her, ob sie bleiben oder gehen sollte. Clementine hätte sich diese Frage gern selbst gestellt, aber Heribert machte keinerlei Anstalten, auch nur in Erwägung zu ziehen, Deutschland zu verlassen. Seine Patienten brauchten ihn. Und überhaupt, dieser ganze Hitler-Spuk wäre ohnehin bald vorüber. Clementine fügte sich drein, aber sie erledigte ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter nur halbherzig. Alles war eine Zumutung für sie – die Nazis, das Land, das Hausfrauendasein. Heribert versuchte regelmäßig, seine elegante und kluge Frau mit kleinen Spritztouren aufzuheitern. Bevor Europa im Weltkrieg versank, waren Reisen nach Mailand, Venedig, Zürich und Genf keine Seltenheit für das Ehepaar Cornelius. Die kleine Catharina und das Kindermädchen blieben dann zurück in München. Aber auch diese Auszeiten, die der arme Heribert sich mit viel Mühe aus seinem viel beschäftigten Chirurgenalltag heraussezieren musste, konnten Clementine nicht versöhnlich stimmen.

Die Entscheidung für ein Leben als Ehefrau und Mutter in München und das Ende des freien Deutschlands fielen für sie ungünstig zusammen – diese Tatsache ließ sich auch nicht durch einen bezaubernden Abend in der Mailänder Scala oder ein verlängertes Wochenende im edlen Hotel »Danieli« in Venedig verschleiern. Clementines altes Leben ging unter im braunen Sumpf. Viele ihrer ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus Berlin verließen das Land, ein paar landeten in den Gefängnissen der neuen Machthaber, viele gingen in die innere Emigration.

Clementine flüchtete sich in die Literatur. Catharina hatte nur wenige Kindheitserinnerungen, in denen die Mutter ihren Kopf nicht in ein Buch steckte. Die schönsten Stunden waren jene, in denen Clementine ihre Tochter dabei mitnahm. Mit ihrer sanften, tiefen Stimme las sie Catharina aus mächtigen Wälzern von Charles Dickens oder Mark Twain vor, sie kuschelten sich zusammen in den großen Sessel im Wintergarten und ließen die hässliche Welt draußen. Am meisten liebte Catharina Else Urys Roman über das Nesthäkchen. Sie selbst hatte keine Geschwister und beneidete die kleine Annemarie glühend um ihre großen Brüder. Sie konnte nicht genug bekommen von den immer neuen Abenteuern des Mädchens. Die Liebe zu Büchern hatte Clementine ihrer Tochter weitergegeben und irgendwie wohl auch die Faszination für Politik. Clementine kommentierte die Ereignisse, die sich um sie herum entfalteten, selten, aber selbst der kleinen Catharina war klar, dass ihren Eltern, vor allem ihrer Mutter, alles zuwider war, was ein braunes Hemd beziehungsweise eine braune Gesinnung mit sich herumtrug. Dies ist nicht unser Deutschland – dieses Mantra musste gar nicht ausgesprochen werden, es wurde im Haushalt Cornelius ein- und ausgeatmet, es wurde gedacht, geträumt und gelebt.

 

Nur während Catharinas Jahren im Schweizer Internat waren die Sonntage unproblematisch gewesen. Dort wurde viel Sport getrieben, die Schülerinnen machten Wanderungen, gingen im Sommer schwimmen in einem der Seen, unternahmen im Winter Skitouren oder liefen im Dorf Schlittschuh. Catharina fühlte sich aufgehoben in dem kleinen Rudel von Mädchen, das sie dort aufnahm, war froh, der deutschen Nachkriegstristesse entflohen zu sein. Ihre Eltern wollten unter allen Umständen vermeiden, dass alte Nazis ihr nun in der Oberstufe die Welt erklärten, und hatten sie nicht lange überreden müssen. Von dem ersten Sonntag an, den sie ohne ihre Eltern fernab von München im Berner Oberland verbrachte, hatte sie weder Heimweh noch jene Sonntagsmelancholie geplagt, die sie von zu Hause kannte.

Nun aber, als Frau von Mitte vierzig, allein in ihrer Bonner Wohnung, versetzte der Sonntagnachmittag ihr wieder denselben Stich wie damals als Kind in München. Und an diesem Sonntag war es besonders schlimm. Seit sie aus Brüssel zurückgekehrt war, hatte sich der goldene Herbst aus dem Staub gemacht. Catharina blickte durchs Fenster. Hin und wieder fuhr ein Auto durch die regennasse Nebenstraße, in der sie seit Jahren wohnte. Eine Frau mit beigem Trenchcoat und gepunkteter Wetterhexe über der gelegten Dauerwelle führte ihren Foxterrier Gassi. Der Hund war genauso hüftsteif wie sein Frauchen. Catharina vernahm die vertrauten Geräusche aus ihrer Küche und drehte den Kopf. Der Kaffee war inzwischen durchgelaufen, die Maschine dampfte und röchelte. Catharina machte sich eine Notiz im Kopf, dass sie sich gelegentlich nach einer neuen umschauen musste. Sie ging in die Küche, schenkte sich eine Tasse ein – viel Milch, keinen Zucker – und brach sich ein Stück Vollmilch-Nuss-Schokolade ab, die sie aus Brüssel mitgebracht hatte.

Kurz vor drei. In einer guten halben Stunde musste sie los. Catharina ging ihr Telefongespräch von heute Morgen noch mal durch. Wenige Worte, kurz und knapp. Man müsse sich in einer wichtigen Angelegenheit treffen, hatte Helmut erklärt und sie gebeten, am Nachmittag bei ihm vorbeizuschauen. Zwei lange Tage nach jenem Abend mit Suzanne und Azadeh in Brüssel hatte Catharina in Schockstarre verharrt, aber als sie heute Morgen aufgewacht war, war ihr klar gewesen, dass sie es nicht länger aufschieben konnte. Von Gregor hatte sie nichts mehr gehört, seit sie sich am Freitagmorgen »Chez Margo« verabschiedet hatten. Zuvor hatten sie bei einem ausgedehnten Frühstück über Belangloses geredet, über die Hochzeit von Gregors jüngstem Bruder, der den elterlichen Hof übernommen und nach langem Suchen endlich eine Frau gefunden hatte, die bereit war, zu ihm und seinen dreißig Rindviechern in die niederbayerische Einöde zu ziehen. Kurz hatte Gregor auch ein bisschen über Eberhard Willigs Besuch bei der konservativen Fraktion im Europäischen Parlament gelästert.

Willig sprach weder Französisch noch Englisch, was in Brüssel natürlich für pikierte Blicke sorgte. Gregor, der bayerische Bauernsohn, der nach Aufenthalten in Bonn, London und Ann Arbor inzwischen in einer schicken Wohnung mit Dachterrasse in Hamburg lebte, freute sich diebisch über den tapsigen Willig, der aus jeder Pore hessische Provinz verströmte. Kein Wort über Helmut Busch. Kein Wort über den Zustand der Koalition. Sollte Gregor Fetzen ihres Gesprächs mit Suzanne aufgeschnappt und sich etwas zusammengereimt haben, behielt er es für sich. Hätte sie weniger hämmernde Kopfschmerzen gehabt und hätten Suzannes Enthüllungen am Abend zuvor sie weniger kalt erwischt, wäre es Catharina sicher besser gelungen, ein Pokerface aufzusetzen.

»Geht’s dir gut, Catharina? Siehst geschafft aus«, hatte Gregor gesagt und ihr sanft mit dem Handrücken über die Wange gestrichen. Während Herren mit Silberschläfen noch attraktiver und mächtiger wirkten als junge Männer, wurden Frauen ab vierzig ja bekanntlich mit jedem Lebensjahr blasser und kraftloser, bis sie vollends unsichtbar wurden. Catharina brachten derlei Klischees regelmäßig in Rage, aber in diesem Moment war sie froh gewesen, dass Gregor sie als überarbeitete Frau mittleren Alters wahrnahm, deren Hormone aus dem Ruder liefen. Hauptsache, er witterte nichts von dem Skandal.

Apropos Skandal – was da auf Bonn zurollte, hatte in der Tat das Zeug, die Koalition ins Wanken zu bringen. Hegte Gregor auch nur den Hauch eines Verdachts, würde er die Spur aufnehmen, das war Catharina klar. Entweder hatte er das Telefonat als üblichen Beziehungsstress unter Freundinnen interpretiert und im allgemeinen Trubel des morgendlichen Cafés ohnehin kaum verstanden, was gesagt worden war. Oder aber – Catharina brach sich noch ein Stück Schokolade ab – er hat ein harmloses Gesicht aufgesetzt und zurück in der Hamburger Redaktion umgehend damit begonnen, tiefer zu graben.

Sie leerte die Tasse Kaffee, aß das letzte Stückchen Schokolade und stellte die Bärenmilchdose zurück in den Kühlschrank. Einen Moment lang starrte sie gedankenverloren auf die mit Prilblumen verzierte Kühlschranktür – die Tochter ihrer Putzhilfe hatte die Sticker vor Jahren hier hingeklebt, und Catharina hatte es nie übers Herz gebracht, sie wieder zu entfernen. Inzwischen ging das Mädchen in die Oberstufe, und die Prilblumen verblassten ebenso wie die Erinnerung an die lispelnde Kleine mit der Zahnlücke und dem zu kurz geschnittenen Pony.

Catharina wandte sich ab. Es brachte nichts, sich jetzt den Kopf zu zerbrechen. Erst musste sie das Gespräch mit Helmut hinter sich bringen. Er erwartete sie gegen vier in seiner Dienstvilla auf dem Venusberg. Beiläufig hatte Catharina sich heute Morgen erkundigt, ob Helen auch da sein werde. Nein, die Frau des Außenministers war auf Reisen, sie besuchte ihre Familie in New York. Clever, hatte Catharina gedacht, weit genug weg von der bundesdeutschen Klatschpresse, aber doch erreichbar, falls sie es für nötig befinden würde, die Situation zu kommentieren. Helen war eine kluge Frau, vielleicht ein bisschen zu klug für den guten Helmut, überlegte Catharina, während sie die Kaffeemaschine ausschaltete und ihre Tasse in die Spüle stellte.

Die gesamte Fahrt zurück nach Bonn hatte sie mit Suzanne beratschlagt, wie sie vorgehen sollte. Sie hatten Azadeh zum Bahnhof gebracht, die Freundin wurde auf dem Dokumentarfilmfestival in Amsterdam erwartet, wo sie ihr neuestes Werk erstaufführen würde. Einige Monate hatte Azadeh eine Gruppe weiblicher Kämpferinnen im Kurdengebiet begleitet. Die Geschichten, die sie von ihrem dortigen Aufenthalt erzählte, waren atemberaubend, und wenn es ihr gelungen war, diese Frauen in ihrem Film ebenso lebendig werden zu lassen, würde dieser Streifen ihr Durchbruch sein. Nicht im kommerziellen Kino, aber in der Szene, da war sich Catharina sicher.

Nachdem sie Azadeh also an der Gare du Nord rausgelassen hatten, hatte Suzanne Gas gegeben. Sie wollte zum Abendessen bei ihrer Familie in Bonn sein. Catharina dagegen hatte es nicht eilig. Sie war dankbar für die Zeit mit Suzanne und für deren klaren Blick. Während der silbergraue Mercedes Richtung Grenze sauste, rasten auch Catharinas Gedanken. Suzanne war sich sicher, dass Helmut Busch noch vor Ende der Woche zurücktreten musste. Aber was würde dann passieren? Das war die große Frage, auf die weder Suzanne noch Catharina eine Antwort fanden. Der Nationalliberale Heinrich Osthoff würde zweifellos parat stehen, um die Zügel in der Partei zu übernehmen und die von ihm wenig geliebte Koalition platzen zu lassen. Unklar war lediglich, ob es ihm gelingen würde, die Parteigranden auf seine Seite zu ziehen. Noch zwei Jahre zuvor, die Koalition hatte gerade ein großes Reformpaket verabschiedet, wäre er chancenlos gewesen. Aufbruchsstimmung und Optimismus – normalerweise nicht gerade Schlüsselqualifikationen der Deutschen – hatten ein paar Monate lang nicht nur die Menschen im Land, sondern selbst die Medien erfasst. Die Demoskopen hatten umwerfende Ergebnisse für die Koalition verzeichnet. Seit ein paar Monaten aber schien nichts mehr zu klappen. Kommunikationspannen, Gehakel zwischen Ministern, öffentliche Querschüsse gegen den Kanzler, eine verlorene Landtagswahl nach der nächsten. »When it rains, it pours«, hatte Helen mit einem Martini in der Hand nach dem Wahldebakel in Bremen im vergangenen August gesagt, und, wer weiß, vielleicht hatte sie da schon an die Lawine gedacht, die sie selbst alsbald loszutreten gedachte.

Catharina sah auf ihre Küchenuhr – Viertel nach drei. Sie überlegte, ob sie rasch ihren Freund Arno anrufen sollte. Sie hatte es Azadeh versprochen. Vielleicht ließ sich ja noch für den kommenden Monat ein Interview vereinbaren. Arno Ackermann führte im Dritten Programm jeden Donnerstag durch einen bunten Abend mit Musik und Talk. Seine Sendung Showtreppe kam spät, aber Arno hatte ein treues, stetig wachsendes Publikum und einen untrüglichen Riecher für Trends, Neuentdeckungen und Exotisches. Er kannte Azadeh schon flüchtig von dem einen oder anderen feuchtfröhlichen Abend im »Peach Club« in Köln sowie von sporadischen Absackern an der schummrigen Bar des Hotel »Savoy«. Catharina war sich sicher, dass diese beiden buntesten Paradiesvögel ihres Freundeskreises vor der Kamera prächtig harmonieren würden. Sie sah die Fernsehzuschauer daheim in Köln, Wuppertal und Bergisch Gladbach förmlich vor sich, wie sie bei Salzletten, Schnittchen und Bier einer dramatisch gestikulierenden Azadeh an den Lippen hingen und angesichts der sagenhaften Geschichten der mutigen Kurdinnen immer tiefer in ihren Couchgarnituren versanken. Arno war genau der Richtige, um Azadehs doch recht abseitiges Thema einem größeren Publikum schmackhaft zu machen.

Catharina fuhr sich durchs Haar und dachte nach. Die Chancen standen gar nicht schlecht, Arno zu Hause zu erreichen. Sein letzter Freund hatte sich vor einigen Wochen aus dem Staub gemacht, und Sonntagnachmittage waren Gift für gebrochene Herzen. Wahrscheinlich saß Arno in seinem schicken Penthouse im Belgischen Viertel in Köln und leckte seine Wunden. Aber wenn sie es genau bedachte, war jetzt nicht genug Zeit für ein Gespräch mit ihm. Haarklein würden sie nochmals all die Makel und Verfehlungen des Ex durchgehen müssen, bevor Catharina auch nur würde Luft holen können, um Arno auf Azadehs neuen Film anzusprechen. Catharina ging Richtung Bad, um Make-up aufzulegen und sich die Haare hochzustecken. Sie würde es heute Abend bei Arno versuchen.

 

Als Catharina kurz nach vier auf den Venusberg fuhr, hatte der Regen etwas nachgelassen. Sie war fast allein auf der Straße. Der Sonntag, dachte sie, hatte die Fähigkeit, die Menschen zu verschlucken. Sie parkte ihren metallicgrünen 3er BMW, stieg aus und schlug rasch den Kragen des Mantels hoch. Es lohnte sich nicht, den Schirm aufzuspannen, die paar Meter bis zur Villa der Buschs konnte sie auch so zurücklegen. Du bist nicht aus Zucker, Cathi