Die Frau, die endlich erkannt werden wollte - David Erlay - E-Book

Die Frau, die endlich erkannt werden wollte E-Book

David Erlay

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Beschreibung

Wenn dieses Buch sich dem Leser als Novelle vorstellt, so wird dieser Anspruch in nahezu absoluter Weise erfüllt. Novelle da schimmert mehr durch als bei einer Erzählung, ist doch in ihr von einer unerhörten Begebenheit die Rede, von einem Geschehen außerhalb der Norm. Nicht wenige Menschen sehnen sich nach Außergewöhnlichem, ja nach Absolutem. Doch wem ist eine solche Grenzüberschreitung schon vergönnt? Bloß ein kecker Sprung ins Wasser reicht nicht. Eine Existenz im Bereich der Sterne, sie muss vorgezeichnet sein. Bei Alexander, der zentralen Gestalt diese Novelle, ist das der Fall. Er schlägt die geistliche Laufbahn ein, wird Priester. Bleibt dann aber nicht auf unteren Stufen stehen, sondern steigt in der Hierarchie immer höher hinauf, und das im Zeitraffer, wird auf diese Weise der jüngste lebende Kardinal. Ein geradezu rasender kirchlicher Karriereverlauf. Doch die Endstation ist immer noch nicht erreicht. Kaum zum Kardinal ernannt, muss Alexander in Rom an neuer Stelle sein Zelt aufschlagen jetzt an der höchsten. Mit seiner Wahl beginnt für die Kirche eine umstürzlerische Epoche, er reißt Überliefertes ein, errichtet Pfeiler, die der jahrtausendealten Institution und ihren Gliedern Halt in der modernen Welt verleihen. Ihm stets zur Seite seine Schwester Julia. Doch selbst ihr enthüllt er nicht, was ihn im Innersten umtreibt. Und daher weiß niemand, wer da in Wahrheit den Gläubigen in aller Welt vorsteht.

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David Erlay

DIE FRAU, DIE ENDLICH ERKANNT WERDEN WOLLTE

Vatikan-Novelle

Copyright © Cartagena Verlag GmbH 2021

Umschlaggestaltung: Mark Bold

Lektorat: Mark Bold

Printed in Germany

ISBN 978-3-948892-06-7

https://www.cartagena-verlag.de

Dieses E-Book ist auch als Buch unter der ISBN 978-3-948892-05-0 erschienen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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KONKLAVEFIEBER

„Inhaliert habe ich es ja immer noch nicht“, seufzte Julia.

„Geht mir genauso.“

„Mein Bruder, der Kardinal. Ein so junger hat noch nie am Konklave teilgenommen, in der jüngeren Geschichte nicht.“

„Sicher?“

„Verlasse mich auf Google.“

„Bloß ein weltlich Ding, so eine Suchmaschine“, lächelte er. “Bin es aber wohl, der Benjamin unter den vielen angerosteten Eminenzen. War es früher schon.“

„Früher – wie sich das anhört.“

„Wie hört es sich denn an?“

„Als spräche da ein Uralter. Dabei bist du doch das Gegenteil.“

„Bin so manches.“

„Wie, tatsächlich zwischen uns noch Geheimnisse?“

„Eigentlich nicht.“

„Dachte immer, wir erzählten uns alles.“

„Bitte, wir sind hier, um uns zu verabschieden.“

„Gott sei Dank nicht für immer.“

Dabei war ihnen genau danach zumute. Als wäre ihre Trennung eine ewige.

„Wer weiß, was in deiner Laufbahn noch bevorsteht.“

Viel blieb da ja nicht mehr übrig.

„Bloß nicht“, sagte er.

„Aber ist es nicht merkwürdig, dass deine Erhebung noch so kurz vor seinem Ableben geschah, in buchstäblich letzter Minute?“

Es stimmte: Clemens war umgefallen – und aus und vorbei. Sofort nachdem der Akt vollzogen war – der Akt, ihn, Alexander, betreffend.

„Die Tinte war noch nicht trocken“, sagte Julia fröhlich. „Und nun bist du sogar im Adelsstand. Ist doch so, oder?“

„Ich glaube, ja.“

„Heuchler, du weißt es.“ Herrje, war sie glücklich. „Du solltest einfach noch Kardinal werden“, sagte sie. „Damit du am Konklave teilnehmen kannst, damit man dich dort …“

„Hüte deine Zunge“, sagte er. Immerhin, theoretisch war es möglich.

Aber eben nur theoretisch.

Trotzdem zog sich irgendwas in ihm zusammen.

Jedenfalls versuchte er mit aller Kraft, sich aus der Hektik der Vorphase herauszuhalten. Jedes Konklave war ein Thriller. Schon jetzt glühten alle nur möglichen Drähte. Namen flatterten bereits wie Vögel am Himmel. Welchem würde am Ende der allerhöchste Glanz verliehen werden? Clemens hatte sich, für die meisten nicht nachvollziehbar, nach Art des einsamen Wolfs zunehmend in abgelegene Zonen vorgewagt. Theologisch zuletzt unten durch. Manchen aus seinem Rudel zerbiss er auch. Insofern große Erleichterung, dass er plötzlich wie ein verschlungener Fisch verschwunden war und der See wieder glatt – für den Augenblick. Gelobt sei Jesus Christus. Die Floskeln sprudelten dennoch. Nicht dass es Clemens an Mut und Vision gefehlt habe, doch sein Boot: brüchiges Material. Untätig sei er zwar nicht geblieben, weiß Gott nicht, doch seinem durchaus beachtlichen Atem habe das feste Land gefehlt, bloß Wellen, kein Ufer. Goldene Zeiten also für Nachruf-Schleimer. Tatsache war, die Kirche kroch im ersten Gang. Da saßen in der Kurie durchaus fähige und vor allem kluge Leute, denen klar war, was die Stunde geschlagen hatte. Aber die Fanfare, die Clemens ertönen ließ, brachte seine stur auf Elite bedachte Truppe nicht zum wirksamen Trab, drang auch nicht durch zur eingenebelten kirchlichen Öffentlichkeit. Ein Kommentator nicht unzutreffend: Das Zeug quasi zum Zimmermann, zum rechten Anpacken, es habe ihm einfach gefehlt (mit Hinweis sogar auf Josef von Nazaret, dem Ernährer von Jesus, welcher, wie bekannt, in besagtem Handwerk zuhause). Mithin lediglich ein Lüftchen, kein schöpferischer Sturm. Der päpstliche Vorstoß, er hatte nicht zur Folge, dass die geknickten Bäume sich aufrichteten, neue Zweige und Stämme sich bildeten. Alexander wusste schon, weshalb Julia seine neue Position in Erregung versetzte. Er, so hoffte sie, könnte den kommenden „Chef“ bewegen, das lähmende Knirschen zu beenden, das Heft in die Hand zu nehmen und das irdische Haus Gottes neu zu decken.

Seine Schwester Julia. Aber sie hatte ja recht. Sie war nach Rom mitgekommen, der Kampf konnte beginnen, und sie würde ihm beistehen.

Und erst recht stünde sie an seiner Seite, sollte er selbst …

Alexander wusste, was alles manchmal im Hirn seiner Schwester spukte, doch keine Sekunde erwog er die Möglichkeit, dass es, Neuling, der er im Kardinalsgremium war, bei der Wahl zum Papst auf ihn zulaufen könnte. Was sich bei einem späteren Konklave ergeben mochte ...? Worauf es diesmal für ihn ankam: dass er mit seiner Stimme dem Richtigen – wer mochte es sein? – Geleitschutz nach oben gab. Im Grunde freilich besaß das Ganze für ihn noch eher den Charakter eines Schauspiels, in dem er mehr Zuschauer als Mitwirkender war.

Redete er sich ein. Das Vertrackte nur: Irgendwie war er doch mittendrin. Plötzlich konnte es die natürlichste Sache sein, gewählt zu werden, bei gleichzeitiger Gewissheit, dass dies nie und nimmer der Fall sein würde. Dabei hatte das Konklave noch gar nicht begonnen. Das Merkwürdigste: Er nahm teil, obwohl er bereits jetzt nicht sein durfte, was er war. Es gab Zeiten, da vergaß er, wie es um ihn stand, aber dann schoss es wie eine Stichflamme in ihm hoch, und seine Situation war ihm wieder bewusst. Seine Lage, sie war durch und durch verfahren, himmelschreiend, und doch hielt er aus, blieb in der Arena, ein Schicksal, ebenso gewollt wie verrucht, mutterseelenallein schlug er sich damit herum, nicht mal Julia war eingeweiht, obwohl ihn das in die fast größte Unruhe versetzte. Er fand, sie müsste es wissen, und doch hatte er sein Coming-out immer wieder hinausgeschoben. Wenngleich er schon oft gedacht hatte: Warum merkt sie nichts, gerade sie müsste es doch merken. Oder wartete sie nur darauf, dass er das Wort ergriff? Aber unmöglich könnte sie stillhalten, wenn da tatsächlich eine Ahnung, ein Verdacht hoffentlich nicht, in ihr wucherte. Dafür war ihr Verhältnis einfach zu – ja, zu intim. Immer hatten sie einander alles gesagt. Doch eben nur so gut wie alles, was ihn betraf. Leider. Darum musste es jetzt endlich geschehen, gerade jetzt. Aber was hieß „musste“, wenn jede Sekunde verstrich. Es war ein Abgrund.

Dabei: Wie schön, wie strahlend hatte es angefangen. Zum Beispiel die Messdiener-Zeit. Natürlich er wieder der Jüngste, der Kleinste auch. Ein Winzling am Altar. Da hatten sie beide geglüht vor Stolz, er und Julia. Aber er hatte sie neben sich haben wollen, als Messdienerin. Nur: Der damalige Pfarrer war ein konservativer Knochen gewesen. Mädchen mit dem Weihrauchfass? „Aber es sind doch so etwas wie Engel“, hatte er einmal dagegengehalten, musste da keineswegs tapfer sein. Immer wieder war das priesterliche Arschloch (dieses Prädikat verlieh er ihm damals freilich nicht) von ihm bekniet worden, doch mehr als knurrende Anerkennung kam nicht dabei heraus: „Ist ja schön, wie du dich für deine Schwester einsetzt.“

Ein Glück beinahe, dass er selbst zugelassen worden war, bei seinem Alter, seiner Statur. Der Pfarrer blieb ein Sturkopf, auch wenn in anderen Gemeinden Mädchen längst willkommen waren. Der Himmel hatte indes ein Einsehen und ließ den sogenannten Geistlichen Rat krank und amtsunfähig werden. Für den Nachfolger war es dann gar kein Problem: Sakristei und Altar wurden nun auch von Mädchen in Beschlag genommen. Oft versahen Alexander und Julia gemeinsam den Dienst, ja nicht nur eine ernste, sondern durchaus auch unterhaltsame Angelegenheit.

Auch sonst: Sie waren wie eine einzige Linde. Dass Julia ein Mädchen, er ein Junge, sie empfanden es nicht als Unterschied. Ein beinah paradiesischer Zustand. Da wuchs in der Tat zusammen, was zusammengehörte, wobei Alexander immer das Gefühl hatte, dass er es war, der sich hinüber begab, sich an- und sich einschmiegte. Motto: Wie die Schwester, so der Bruder. Symbiose. Von den Eltern wurde nicht gegengesteuert, sie waren auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Was allerdings nicht hieß, dass der Mutter die vertrauliche Gemeinsamkeit bei ihren Kindern verborgen blieb. Das zeigte sich sogar bei und an der Gartenhecke. Da immer wieder überwuchert von Heckenrosen, ließ sie sie von Zeit zu Zeit lichten, sodass man durch sie hindurchblicken konnte. „Verstecken hinter Hecken kommt bei mir nicht in Frage“, war einer ihrer Sprüche, und sie nahm in Kauf, dass auch ihr Mann sich jedes Mal ärgerte, wenn das „Rosen-Fest“ – so sagte er wirklich – ein weiteres Mal aufgrund ihrer Pflegewut gestört wurde. Mit dem Ausdruck „Rosen-Fest“ konnte seine Frau sich ohnehin nicht abfinden: „Dieses gewöhnliche Zeugs? Sie duften ja nicht einmal richtig, deine Heckenrosen.“ Für Alexander und Julia bildete die Hecke mit ihren Rosen das Reich der Märchen, ihrer selbst erfundenen Märchen, die sie sich in einer Art Höhle erzählten. Manchmal kam die Mutter vorbei, lugte in das Nest, minutenlang mitunter, sodass den Kindern nicht gerade angst und bange wurde, doch es fröstelte sie, ließ sie noch enger zusammenrücken. Kopfschüttelnd entfernte sich die Mutter schließlich, immerhin, sie hatte sie nach nichts ausgefragt, doch sie waren froh, als die Schritte sich entfernten. So ähnlich hätte sich auch eine Schlange zurückziehen können. Gefahr vorbei, herrlich. Gewisse Parallelen gab’s zu den Aufenthalten im Zimmer von Julia, entdeckungssüchtige Aufenthalte, denen die Mutter aber ihren Lauf ließ: So war es halt, in diesen krausen Jahren. Wurde ihr auch von beiden hoch angerechnet. Mit ihrem Mann dafür im Dauergespräch, wobei die Probleme meist berufliche Dinge betrafen, seine. Dramatische waren es nicht, denn ihr Vater saß an einem Schreibtisch der Stadtverwaltung, kümmerte sich hauptsächlich um die Wasser- und Stromversorgung, soweit sie das mitbekamen. Für sie ganz Vater, weil Beschützer. Ihm hätten sie etwas sagen, gestehen können, ohne es erklären zu müssen. „Turm“ nannten sie ihn oft. Dauernd gaben sie Menschen und Dingen ihre eigenen Namen und Bezeichnungen. Dass der Vater die Heckenrosen mochte wie sie selbst, verlieh ihm für sie noch einen besonderen Wert. Seinen Ausdruck „Rosen-Fest“ übernahmen sie, fanden ihn irgendwann aber nicht mehr passend, nicht für den heimischen Garten. Das wahre Fest, sie erlebten es nämlich ein paar Häuser weiter, wo der Garten fast ein Park war. Eine Frau hatte sie nach dort eingeladen, eine Nachbarin. Schützenfest war, von den Eltern freilich bis auf die unumgängliche Fahne negiert. Julia und Alexander standen jedoch draußen unter dem Torbogen, auch er war notgedrungen geschmückt, und sahen sich den schmetternden Zug der vorbeimarschierenden Schützen an. Julia hatte sich zwei Heckenrosen ins Haar gesteckt, besagte Nachbarin sprach sie darauf an, fügte hinzu, nun mit Blick ebenfalls zu Alexander: Rosen wüchsen bei ihr auch, richtige, und wenn sie wollten, könnten sie kommen und sie sich ansehen. Was sie taten. Zum Ärger allerdings der Mutter, der ihr wie immer nur anzumerken war, ihn sich erklären konnten die Geschwister erst später.

Der Garten, der Beinah-Park der Nachbarin. Ihre Beete und die künstlich angelegten kleinen Terrassen, das wahre Rosen-Fest. Julia vor allem tauchte ein in diese betörende Welt, freudig beobachtet von der Besitzerin, die am Wohnzimmerfenster stand und jede Szene aufsaugte. Dieses Kind, wie verzaubert es war, wie es den Bruder an die Hand nahm, ihn sich hinunter beugen hieß. „Wer spricht von verdorbener Jugend“, fragte sie abends ihren Gatten, Direktor eines Textilbetriebs. Aha, Direktor, während der andere, der Vater von Julia und Alexander, zwar ebenfalls sich Hausherr nennen durfte, aber nur auf ein Stück Wiese – hauptsächlich für die Wäsche – verweisen konnte, vor allem jedoch sich beruflich und gesellschaftlich etliche Etagen tiefer vorfand, sodass, kurz gesagt, die Situation eine war, welche seine Frau und die Mutter der beiden Rosenverliebten nur grollend hinzunehmen vermochte, obwohl die Wasserversorgung doch auch ihr am Herzen lag, mehr beinah noch als dem Ernährer der Familie. Dies, wie gesagt, die Lage aus der Rückschau, da waren Julia und Alexander bereits erwachsen. Zur Kinderzeit wurde der Garten der Nachbarin schon bald ihr eigener: „Fühlt euch wie zuhause“, hatte die Frau gesagt, worauf Alexander allerdings erschrak: Die heimische, doch eher bescheidene Umgebung sollte auch hier gelten? Die Heckenrosen gleichgesetzt sein mit der Pracht hier? Da konnte Julia rasch aufklären. Später meinte sie, was sie beide so angezogen habe sei wohl das unbestimmte Gefühl eines Himmels auf Erden gewesen, eines irgendwie vorweggenommenen. Das hielt selbst er für übertrieben, für weit übertrieben. Zumindest was sie beide betraf. Doch Julia mochte es ja so empfinden. Noch später, da schon Bischof, schenkte er ihr sogar eine Rosenuhr, von Chanel. Julia konnte überhaupt gut erklären, in Worte fassen, etwas prägnant beschreiben.

Hinterfragen tat sie ebenfalls gern, es war fast schon eine Manie. Eine Antwort musste her, und wenn es eine offene war. „Du breitest aus wie ein Tischtuch“, kommentierte er gern. Als er die Mitra trug, sagte sie: „Der Mensch geht, der Bischof schreitet.“ Früh war für sie klar: Es wird in seinem Fall nicht bei der Funktion des Messdieners bleiben, er würde dereinst selbst den Wein trinken und das Brot beziehungsweise die Hostie brechen. Alexander nahm es ohne Erstaunen hin, obwohl er daran noch nie gedacht hatte, war aber unbewusst vielleicht froh über eine solche Zukunft: War er Priester, musste er sich von Julia nicht trennen, konnte sie bei ihm bleiben. Dass sie bei ihm leben, sich an einen anderen Mann nicht binden werde, setzte er wie selbstverständlich voraus, sie ja ebenfalls. Er und sie hätten es auch vorausgesetzt, wäre von einer priesterlichen Laufbahn gar nicht die Rede gewesen. Gut, zur Rosenzeit waren sie noch die Königskinder, die kein Wasser trennte, aber sie wurden schließlich erwachsen, oder? Ja, sie wurden erwachsen, ohne Folgen jedoch. Mochten sich die Umstände ändern: Ihr Verhältnis blieb das gleiche. Und es war, wie es war. Erörtert wurde die Lage sogar von Julia nicht, diese nicht.

Aber etwas änderte sich doch, unter Beibehaltung ihrer Symbiose. Alexander wurde zum Fremden im gemeinsamen Land. Er hätte das nicht sein müssen, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, wäre er der gewohnten Linie weiter gefolgt. Oder hatte er unbewusst Angst, ihre Insel würde auseinanderbrechen? Okay, wäre er nicht geweiht, wäre die Situation vielleicht eine andere. Dass er zudem nach oben gehievt wurde, verstärkte das Problem möglicherweise. Erst mal allerdings nur für ihn, nicht für ihr Verhältnis. Es konnte sie aus der Fassung bringen, sehr sogar, kaum aber das Band zwischen ihnen brüchig werden lassen. Entscheidend und verhängnisvoll war nur eines: sein Schweigen. War der Rest, der Rest ihres Lebens das: sein Schweigen? Das konnte, durfte nicht sein. Ausgeschlossen, dass, bliebe er stumm, ihre Insel die Seligkeit behielte. Was hieß: behielte, längst hatte er ja den Frevel begangen, ihr die Unschuld des ursprünglichen, paradiesischen Zustands genommen. Etwas wird nicht ungeschehen dadurch, dass ein Beteiligter unwissend ist. Der ihm nächste Mensch, der, welcher durch kein Wasser von ihm getrennt war, wusste von nichts. Das konnte sogar töten. Julia könnte so verletzt sein, dass allein dies ihre Gemeinsamkeit zerstören würde. Zerstören. Schon jetzt hatte er ihren kostbarsten Schatz, das uneingeschränkte Vertrauen, schändlich beschmutzt. Schweigen ist Gold? Wenn er nur an diesen einen Tag dachte.

Safrangelb der Weizen, ein Wind wie ein Lied, keramikblau der Himmel, einzelne Wolkenschiffe und eine Luft, als wäre sie gerade erst geschaffen. Wieder ein Fest – und jetzt das schönste. Und doch auch ähnlich dem der Rosen, irgendwie. Er über ihr, aber nach vorn hin, nicht das Übliche. Das heißt, beinahe nicht, denn als ihr Mund geöffnet und bereit war, sein sonst so lächerliches Anhängsel, welches seine Milch mit Freuden loswerden wollte, hörten sie sich – nach künstlichem Husten – „Kinder, Kinder“ genannt, stand der, der den Zuruf zu ihnen schickte, nur wenige Meter von ihnen, mitten im Feld, dem wogenden. Mann mit Strohhut, offenem Hemd, vor allem mit dem freundlichsten Gesicht. Er hätte es nicht zu sagen brauchen, doch er sagte es: „Jung war ich schließlich auch mal.“ Und weg war er im sonnenhaften Gewoge. „Jetzt können wir“, sagte Julia, ließ sich dabei zurück fallen auf die krümelige Erde, die sie schon vorher zum „schönsten Teppich“ gemacht hatte. Nun war es soweit, fast, denn er hatte sich einen Augenblick noch sammeln, die Staumauer endlich auflösen müssen. Aber dann vollzog sich‘s wie gewünscht, wie vorgestellt. „Auch eine erste Kommunion“, sagte Julia danach. Darauf musste man erst einmal kommen. Darüber, nach was es für sie eigentlich geschmeckt hatte, hatten sie nicht gesprochen an jenem Nachmittag, es war einfach kein Thema gewesen im Glück des Erlebten. Sie hatten nur dagelegen, dann gesessen, hinter ihnen die Halme wie ein lichtes Gitter, Julia dauernd mit ihren Haaren zugange, er sich immer wieder zu ihr und über sie beugend, Lippen zu Lippen, keine Worte fast, nur Blicke, Berührungen.