Die Frau im Pelzmantel - Martha Grimes - E-Book

Die Frau im Pelzmantel E-Book

Martha Grimes

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Beschreibung

Inspektor Jury wird in einem Londoner Doppeldeckerbus auf eine ungewöhnlich attraktive blonde Frau aufmerksam, die wenige Reihen vor ihm Platz nimmt. Mit ihrem eleganten Pelzmantel ist sie eine auffällige Erscheinung, und Jury folgt ihr spontan bis zum Eingangstor des dunklen Fulham Parks, verliert dort jedoch ihre Spur. Am nächsten Tag wird die Leiche einer schönen Frau im Pelzmantel entdeckt – aus nächster Nähe erschossen. Jury identifiziert sie zunächst als die schöne Unbekannte, doch dann beschleichen ihn Zweifel ...

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Martha Grimes

Die Frau im Pelzmantel

Roman

Buch

Inspektor Jury wird in einem Londoner Doppeldeckerbus auf eine ungewöhnlich attraktive blonde Frau aufmerksam, die wenige Reihen vor ihm Platz nimmt. Gekleidet in einen eleganten Pelzmantel und umgeben von einem Hauch Parfüm, ist sie eine auffällige Erscheinung, und Jury genießt ungestört ihren Anblick. Mit gewecktem Interesse folgt Jury der Frau bis zum Eingangstor des dunklen Fulham Parks, verliert dort jedoch ihre Spur. Am nächsten Tag wird die Leiche einer schönen Frau im Pelzmantel entdeckt – aus nächster Nähe erschossen. Jury identifiziert sie zunächst als die schöne Unbekannte, doch dann beschleichen ihn Zweifel. Als Jury die vermeintlich Tote wenig später wieder trifft, ist die Verwirrung komplett. Die Frau bestreitet entschieden, an dem fraglichen Abend im Fulham Park gewesen zu sein – doch wer ist dann die Frau im Bus gewesen, und was hat es mit ihrer mysteriösen Doppelgängerin auf sich? Der Zobelmantel der Ermordeten liefert einen ersten Anhaltspunkt, und die Spur führt zu der angesehenen Galeristenfamilie Fabricant. Zeit für Jurys Freund Melrose Plant, den feinsinnigen Kunstkenner, in die Ermittlungen einzugreifen. Bald zeigt sich, daß die beiden Freunde mit einem der schwierigsten Kriminalfälle ihres Lebens zu tun haben. Denn die Spuren des Verbrechens führen bis nach Russland …

Autorin

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »The Stargazey« bei Henry Holt, New York

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Taschenbuchausgabe Oktober 2001 Copyright © der Originalausgabe 1998 by Martha Grimes By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 551 Fifth Avenue, Suite 1613 New York, NY 10176-0187 USA Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur Umschlagfoto: FinePic®, München

Für Travis und Kent und Roanoke –

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightWidmungPROLOGKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48

Far in the pillared dark Thrush music went – Almost like a call to come in To the dark and lament.

But no, I was out for stars: I would not come in. I meant not even if asked,

1

LondonNovember

Samstagabend. Kein Abend, den man allein und mit Busfahren verbringen sollte. Früher, als Schüler, wäre ein Samstagabend, an dem er nicht mit einem Mädchen oder wenigstens zu wilden Späßen aufgelegten Klassenkameraden verabredet gewesen wäre, wäre ein allein verbrachter Samstagabend ein Grund gewesen, sich zu schämen. Wer wollte an einem Samstagabend schon beim Alleinsein ertappt werden … Warum machst du dir eigentlich etwas vor, Jury? So war das Leben doch nicht, so nicht.

Wegen einiger Besorgungen in South Kensington war er mit der Untergrundbahn von Islington bis South Ken gefahren und direkt vor der Station in einen Bus Richtung Fulham Road gestiegen. Er war schon lange nicht mehr in dieser Gegend von London gewesen, obwohl er hier einen Teil seiner Kindheit verbracht hatte, jenen Teil, der die Bezeichnung »Kindheit« verdiente. Er war auch schon lange nicht mehr mit dem Bus gefahren. Nachdem der Schaffner ihn mit einem dieser leicht mißtrauischen Blicke gemustert hatte, zu denen Schaffner abgerichtet werden, nahm Jury die Stufen zum Oberdeck etwas rasanter, als selbst für die flinke Jugend ratsam gewesen wäre, und davon war er ja nun weit entfernt. Die einzigen Fahrgäste außer ihm waren ein Junge und ein Mädchen, die die Hände nicht voneinander lassen konnten, eine alte Dame, die mit dem Kinn auf der Brust dasaß und schlief, und ein dunkelhaariger Mann im Smoking. Komisch, daß der mit dem Bus fuhr. Jury überlegte, wo die Party wohl stattfand. Er war fast froh über sein streng reglementiertes Leben – keine eleganten Soupers, keine Champagnerpicknicks in Ascot. Nein, für ihn gab es nur die Arbeit, sein Zuhause und seine Stammkneipe.

Die Fulham Road wurde auf beiden Seiten von kleinen Geschäften gesäumt, teuren kleinen Läden wie Smallbone, dem protzigen Küchenausstatter. Wer, fragte sich Jury, besaß eigentlich eine Smallbone-Küche? Er hatte jedenfalls noch keine bei anderen Leuten gesehen. Muffige, verstaubte kleine Elektroläden, ein Oddbins-Supermarkt, dann die obligatorische Espressobar, offensichtlich als Ersatz für die ehemaligen Cafés. Traurige Geschichte. Gemüsehändler mit hohen Preisen, Kleidergeschäfte mit hohen Schaufenstern, die bis auf ein oder zwei seltsam schräggestellte, kopflose Schaufensterpuppen in pilzbraunen, lockerfallenden Kleidern leer waren. Ein paar elegante kleine Antiquitätengeschäfte, deren Fassaden wie auf römische Münzen geprägt aussahen.

Jury hatte sich eigentlich in die erste Reihe setzen wollen, wo man durch das breite Fenster einen ungehinderten Ausblick auf die Straße hatte und sich vorkam, als würde man darüberschweben. Doch waren diese Sitze schon von ein paar Halbwüchsigen mit kurzrasierten Haaren und gnädigerweise leiser gestelltem Ghettoblaster in Beschlag genommen worden. Also hatte er sich in sicherem Abstand weiter nach hinten gesetzt.

Er hatte die nächtliche Straße schon immer gemocht. Als er noch Uniform trug, hatte er sich immer für den Spätdienst einteilen lassen. Er war gern an den abgesperrten Läden vorbeigegangen und hatte in schwach erleuchtete Durchgänge gespäht. Vielleicht konnte man sich in der Nacht einfach gut verstecken – irgendwo in einem Durchgang, in einer Türnische.

Seit einigen Jahren trug sich Jury nun schon mit dem Gedanken, aus London wegzugehen oder sich auf irgendeine Dienststelle auf dem Land versetzen zu lassen, etwa nach Exeter. Macalvie würde ihn sicher mit Handkuß nehmen. Oder in die verschneiten Moore von Nord-Yorkshire hinauf. Oder nach Stratford-upon-Avon. Für Sam Lasko wäre es das Höchste. Jury arbeitete ja jetzt schon recht oft an Laskos Fällen mit. Beim Gedanken an Stratford überlegte er, wo Jenny Kennington wohl steckte. Sie war schon vor Monaten weggegangen, gleich nach ihrem Prozeß. Er konnte immer noch nicht begreifen, was zwischen ihm und Jenny schiefgegangen war, warum sie sich gegenseitig nicht mehr recht vertrauten. Er war sich einmal so sicher gewesen, daß sie zusammenbleiben würden. Nicht zum ersten Mal sinnierte er über seine Probleme mit Frauen nach. Nun ja, einen Todesfall konnte man wohl kaum als »Problem« bezeichnen. Jane Holdsworth … Helen Minton … Molly Singer … Nell Healey. Wenigstens Nells Rettung hätte ihm gelingen müssen … Rettung. Ein seltsamer Gedanke in dem Zusammenhang. Nicht bloß seltsam, auch arrogant. Hatte Jenny ihn nicht einen Mann genannt, der »Frauen aus brennenden Gebäuden ziehen« will?

Er sah aus dem Fenster auf eine kleine Menschenansammlung vor einem Geschäft, das Pelze verkaufte. Die Demonstranten blockierten die Tür. Was wollten sie eigentlich abends hier, der Laden hatte doch geschlossen? Sie trugen Pappschilder mit schrecklichen Bildern von Tieren, die in Laborkäfigen eingesperrt oder in Fußangelfallen eingeklemmt waren. (Waren solche Fallen denn inzwischen nicht gesetzlich verboten?) Die Passanten mußten um die Gruppe herumlaufen und dabei zwangsläufig auf die Schilder sehen.

Der Bus fuhr an den Tierschützern vorbei.

Sein Leben ähnelte dieser Busfahrt, dachte er und verwarf den ebenso rührseligen wie gefühlsduseligen Gedanken gleich wieder. Die Ziellosigkeit dieser Fahrt war daran schuld; er wußte nicht einmal, wohin er fuhr. Wahrscheinlich nach Putney, denn es war ein 14er, der an der nächsten Haltestelle an einen anderen 14er heranfuhr, vor dem noch ein Bus stand. Die Nummer konnte er aber nicht sehen. Es gab eine ziemlich lange Schlange, offensichtlich hatten die Leute schon lange gewartet. Er stellte Betrachtungen über die Gesetzmäßigkeit von Busfahrplänen an, dergemäß sich drei identische Busse hintereinander an einer Haltestelle drängten. Wieso gab es so was? Erst wartete man eine verdammte Ewigkeit, und dann kamen gleich drei an. Sergeant Wiggins hätte bestimmt eine Antwort parat. Hatte er meistens, wenngleich selten eine überzeugende. Jury mußte lächeln.

Fahrgäste kamen die Treppe hochgepoltert. Zwei davon verstauten raschelnd ihre Päckchen auf dem Sitz hinter ihm. Eine der beiden Frauen war offenbar Amerikanerin, denn sie erzählte ihrer britischen Freundin lang und breit von Thanksgiving, dem amerikanischen Erntedankfest. Ob sie wohl rechtzeitig nach Hause kam, um sämtliche Vorbereitungen zu treffen? Sie erzählte von ihrer weit verstreuten Verwandtschaft, die immer aus anderen Bundesstaaten angereist kam, um den engsten Familienkreis zu besuchen, der sich mit Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Kindern und Babys an sich schon riesig anhörte. Letztes Jahr an Thanksgiving (erzählte sie ihrer Freundin, die zur Unterhaltung lediglich ab und zu ein »Aha«, »So so« oder »Was du nicht sagst!« beisteuerte) waren sie bei Tisch dreiundzwanzig Leute gewesen. Sie beschrieb das Essen – den Truthahn, das Gemüse, die verschiedenen Brotsorten, Kuchen und Torten … Für Jury hörte es sich an wie das reinste mittelalterliche Festgelage.

Die Frau war völlig enthusiastisch, was diesen Feiertag anging. Warum bloß? Wie konnte jemand Lust darauf haben, ein derart gigantisches Essen für so einen Haufen Leute zuzubereiten? An einem Feiertag wollte er nichts tun außer schlafen, lesen und sich im Angel ein Extrabierchen genehmigen. Oder mehrere. Ihre Stimme hob und senkte sich inmitten des übrigen Stimmengewirrs, der halblaut geführten Unterhaltungen und gedämpften Geräusche, die von der Fulham Road hereindrangen. Wenn sie doch bloß den Mund halten würde. Er hatte die Nase voll von ihr. Ihre Freundin ebenfalls, konnte er sich denken.

Jury schloß die Augen und stemmte das Kinn in die Hand. Endlich standen die beiden Frauen auf, wobei die Amerikanerin beim Zusammenklauben von Päckchen und Regenschirm einen Riesenwirbel veranstaltete. Ohne ihren Redefluß zu unterbrechen, ging sie hinter ihrer Freundin die Treppe hinunter zum unteren Deck.

Da er auf der linken Seite saß, konnte er die Fahrgäste aussteigen sehen. Hier an der Haltestelle Chelsea und Westminster Hospital war er einen kurzen Augenblick verwirrt und überlegte, ob es das Krankenhaus war, in dem er geboren worden war. Etwa ein halbes Dutzend Leute stieg aus, in der Mehrzahl Frauen, so daß er nur raten konnte, welche davon die Amerikanerin war. Die Große, entschied er, die mit den meisten Päckchen, umweht von einem Flair von Haute Couture – gutgeschnittener Mantel, modische Schuhe mit klobigen Absätzen. Ja, das mußte sie sein. Sie wandte sich einer kleinen, unscheinbar gekleideten Frau zu und redete beim Weitergehen auf sie ein.

Nachdem er die Amerikanerin abgehakt hatte, sah Jury auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein paar Leute aus einem Pub namens The Stargazey kommen. Der Name – Sternguckerchen – gefiel ihm. Er glaubte, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, und überlegte, ob es wohl mehr als ein Stargazey gab. Während der Bus noch an der Haltestelle stehenblieb – wohl weil er eine Minute zu früh dran war –, beobachtete Jury eine Blondine im luxuriösen, eleganten dunklen Pelzmantel, die gerade die Straße überquerte. Nachdem er sie kurz aus den Augen verloren hatte, sah er sie gleich darauf vorn um den Bus herumgehen und einsteigen. In den paar flüchtigen Sekunden hatte er sich einen Eindruck von ihr verschafft: sehr blond und attraktiv. Wie attraktiv, hatte er nicht feststellen können, dazu hatte er ihr Gesicht nicht lange genug gesehen. Der Bus fuhr ruckend vom Randstein und rollte die Fulham Road hinunter.

Ein Hauch von Parfum zog an ihm vorüber. Er hob den Blick und sah, daß sich die Blonde ein paar Reihen vor ihm hinsetzte. Er genoß es, dasitzen und sie anstarren zu können, wenn auch nur von hinten. In den folgenden acht bis zehn Minuten drehte sie gelegentlich ihren Kopf, um aus dem Fenster auf die Straße zu sehen, so daß er einen Blick auf ihr Profil erhaschen konnte. Ihr schulterlanges, straff zurückgekämmtes Haar war so hell, daß man den Mond durchscheinen sah, das Profil von einer Zerbrechlichkeit, wie es offenbar nur sehr hellhäutigen Menschen vergönnt war. So fuhren sie etwa zehn Minuten, wobei er jedesmal, wenn sie sich dem Fenster zuwandte, ihren Rücken, ihr Haar, ihr Profil studieren konnte.

Kurz bevor der Bus gegenüber der U-Bahn-Station Fulham Broadway anhielt, stand sie auf und ging unsicher schwankend den Gang hinunter. Er wollte ihr direkt ins Gesicht sehen, aber aus Angst, dabei ertappt zu werden, wagte er nicht einmal einen flüchtigen Blick. Sie ging an ihm vorüber.

Entgegen seiner Vermutung, sie würde in den Bahnhof gehen, setzte sie ihren Weg in Fahrtrichtung des Busses fort. In potentieller Fahrtrichtung, hätte an dieser Stelle nicht ein Chaos aus Autos und Bussen geherrscht. Hier flossen zwei Hauptverkehrsadern zusammen, von denen keine breit genug war, den Verkehr aufzunehmen. Der Bus kam einfach nicht weiter. Es war einer dieser unvermeidlichen Verkehrsstaus, bei denen ein Gewirr von Autos, Lastwagen und Bussen sich mit den Straßenbauarbeiten darum streitet, wer das größere Durcheinander anrichtet. Zu Fuß kam man schneller voran, wahrscheinlich war die Frau im Pelzmantel auch deshalb ausgestiegen.

Der Bus bog erneut ab, diesmal auf eine wenig befahrene Strecke, und fuhr zügig zwei Straßen weiter, während sie etwas zurückfiel. Jury reckte suchend den Hals, doch ein Sainsbury-Laster nahm ihm die Sicht. Dann kam sie wieder ins Blickfeld, nachdem sie, als der Bus an einer roten Ampel, einem Zebrastreifen und einem weiteren Verkehrsstau hatte warten müssen, Zeit aufgeholt hatte. Ihr schulterlanges, üppiges Haar wurde im Nacken von einer Silberspange gehalten, die über dem dunklen Fell ihres Mantels glitzerte. Wohin um alles in der Welt lief so eine Frau in so einem Mantel wohl? Sie hätte unten in einem Jaguar oder BMW vorbeifahren sollen, womöglich in Gesellschaft des Mannes im Smoking. Dann raste der Bus wieder knapp fünfzig Meter weiter, vorbei an einem Pub namens The Sporting Rat und ein paar Cafés, die sogar jetzt im November im Bemühen um ein wenig Pariser Rive-Gauche-Flair ihre Kaffeehausstühle und -tische auf dem Bürgersteig draußen aufgestellt hatten. Die Blonde holte den Bus wieder ein, als er an einem Zebrastreifen warten mußte, bis ein uraltes Pärchen die Straße überquert hatte: sie mit Gehhilfe, er sie nach Kräften unterstützend, obwohl er aussah, als könnte er selbst eine Krücke gebrauchen. Wahrscheinlich waren sie miteinander verheiratet, und das schon seit hundert Jahren. Jury sinnierte – es mußte sich wie eine zweite Haut anfühlen, so eine Bindung, die schon immer existiert hatte.

Jury sah die Frau im Pelzmantel weitergehen und hatte plötzlich ein ganz verklärtes Bild vor Augen: Er malte sich aus, der Bus sei ein Boot, das einer Langstreckenschwimmerin mit etwas Abstand folgt, jederzeit bereit, ihr zu Hilfe zu kommen.

An der nächsten Haltestelle stand das turtelnde Pärchen drüben auf der anderen Gangseite auf und lief mit lauten Schritten die Treppe hinunter, gefolgt von dem Mann im Smoking. Hier fand also die Party statt. Jury sah sie abspringen, noch bevor der Bus ganz zum Stehen gekommen war, sah auch den Schaffner, der sich an der Haltestange festhielt und den Blick schweifen ließ. Überrascht bemerkte er, daß die blonde Frau an der Haltestelle gegenüber einem Pub namens The Rat and Parrot wieder einstieg – Fulham hatte es anscheinend mit Ratten. Vor ihr gingen eine Mutter und ein etwas verdrießlich dreinblickendes Kind. Als der Junge sich von der Hand der Mutter losreißen wollte, packte sie ihn am Arm und schüttelte ihn, als wollte sie Knitterfalten aus einem Kleidungsstück herauskriegen. Der Junge brüllte los. Der Bus fädelte sich wieder in den schwächer gewordenen Verkehr ein.

Sie kam nicht nach oben.

An den nächsten beiden Haltestellen stiegen wieder Leute aus. Dann, an der dritten – Fulham Palace Road – sah er sie erneut aussteigen.

Jury stand rasch auf und manövrierte sich, von der Busfahrt wie benommen, die halbkreisförmige Treppe hinunter. Er wunderte sich, daß bei dem ruckartigen Halten und Anfahren nicht mehr Leute stürzten. Dann sprang er auf die gleiche Art ab, die bei den anderen sein Mißfallen erregt hatte.

Im Nu erreichte er die Straße, in die sie eingebogen war: Bishop’s Avenue. Überrascht stellte er fest, daß es der Weg in Richtung Fulham Palace war. Es war neun Uhr vorbei und bereits seit einigen Stunden dunkel. Überraschender fand er allerdings die Tatsache, daß er ihr folgte. Er hielt sich ein gutes Stück hinter ihr und kam an ein paar Tennisplätzen und einem Teilstück des Parkgeländes vorbei.

Vor dem hohen Eisentor, das den Eingang zur Anlage bildete, blieb sie stehen. Das durchscheinende Licht einer nahen Laterne verlieh dem dunklen Pelz einen silbernen Glanz.

In einiger Entfernung blieb er ebenfalls stehen. Was um alles in der Welt hatte sie hier zu suchen? (Was um alles in der Welt hatte er hier zu suchen?) Er hatte eigentlich angenommen, die Parkanlage sei zu dieser Uhrzeit bereits geschlossen, doch dann sah er sie durch das immer noch offenstehende Tor hineingehen. Als er die etwa fünfundzwanzig Meter bis zum Eingang zurückgelegt hatte, war sie verschwunden. Außer der trüben Finsternis im Hintergrund war nichts zu sehen. Die Laterne warf einen schwachen Lichtfleck auf den Boden. Jury stand da und überlegte eine Weile, warum er nicht einfach hineinging. Doch er tat es nicht. Er stand nur da. Wie ein Riesentrottel. Er war sich darüber im klaren, daß es immer viel einfacher war, sich über sich selbst zu ärgern, als sein eigenes Handeln zu verstehen. Jedenfalls stand er nun unter der Laterne und ärgerte sich.

Daß die Frau, und was immer sie vorhatte, ihn absolut gar nichts anging, war es nicht, was ihn davon abhielt, den Park zu betreten, dessen war er sich sicher. Es hatte ihn schließlich auch nicht davon abgehalten, sie bis hierher zu verfolgen. Was war es dann? Er ging vor dem schwarzen Eingang zur Parkanlage auf und ab.

Jury gelüstete nach einer Zigarette, obwohl er seit fast einem Jahr nicht mehr geraucht hatte (na ja, seit zehn Monaten). Heutzutage mußten Raucher sich bei jedem Wind und Wetter in den Eingängen von Bürogebäuden herumdrücken und verstohlen hektisch an ihren Zigaretten ziehen – wie Außenseiter, Ausgestoßene. Ihre Kollegen weigerten sich schlicht, das Büro mit ihnen zu teilen. Jury brauchte keine Kollegenschar, die Druck auf ihn ausübte; ihm reichte Sergeant Wiggins.

Plötzlich wußte er, wie er sich fühlte: ausgestoßen. Aber wovon und von wem?

2

Der nächste Tag war ein Sonntag, und Jury beschloß, sich ein wenig Muße zu gönnen. Er machte die Post auf, die Rechnungen warf er nach einem kurzen Blick in die Schreibtischschublade. Ein persönlicher Brief von Melrose Plant war auch dabei. Er legte ihn beiseite, um ihn später zu lesen. Dann schlug er die Sonntagszeitung auf, die er oben vor Stan Keelers Wohnungstür stiebitzt hatte. Stan war wie so oft gar nicht da. Stans Hund Stone wurde von Carole-anne und Mrs. Wassermann gefüttert und von Jury oder Carole-anne Gassi geführt. Gelegentlich gingen sie auch gemeinsam mit Stone spazieren.

Bei einer Tasse Tee und etwas Toast las er die Zeitung zu Ende. Dann beschloß er auszugehen. Er wollte ins Museum, vielleicht in die Tate. Sonntags »ging man« doch ins Museum, jedenfalls bevor die Pubs aufmachten. Er zögerte. Bezüglich der Tate stritten sich zwei Seelen in seiner Brust. Also vielleicht doch lieber in ein anderes Museum – ins Victoria and Albert vielleicht oder zum Trafalgar Square und in die Nationalgalerie. Schließlich fuhr er doch mit dem Bus am Embankment entlang, stieg an der Tate aus und sagte sich die ganze Zeit, während er die breiten weißen Stufen hochtrabte, es sei vielleicht doch keine gute Idee.

Eine Stippvisite in der Tate Gallery hatte in jüngster Vergangenheit einige recht dramatische Folgen gehabt, die ihn Anfang des Jahres, im Januar, in die Staaten geführt hatten, nach Baltimore. Kurze Zeit, also ein paar Wochen später, war er dann in Santa Fe, New Mexico, gelandet. Die Tate war ein gefährlicher Ort, besonders die Abteilung mit den Präraffaeliten.

Und genau dorthin zog es ihn natürlich, vor den Chatterton. Dort fand er sich jedesmal ein (und stellte sich die unerhebliche Frage, ob das Bild nun kitschig war oder nicht), um in Erinnerungen zu schwelgen. Vielleicht gelang ihm dadurch eine Art Teufelsaustreibung. Vielleicht, wer konnte das wissen.

Abgesehen von der Bitte um ein Pint hier und da sprach er den ganzen Tag mit keiner Menschenseele. Jury ging selten auf Kneipentour und beschränkte sich gewöhnlich auf den Angel in Islington oder auf eins der Lokale in St. James in der Nähe von New Scotland Yard.

Eher zufällig landete er per Bus und U-Bahn in der Fulham Road, die parallel zur King’s Road verlief. Falls er in diesem Bus (einem 14er in Richtung Putney Bridge) sitzen blieb, kam er wieder zum Fulham Palace. Nein, befahl er sich und stieg am Chelsea and Westminster Hospital kurzentschlossen aus, um ins Pub an der Ecke zu gehen. Ein Kompromiß, wie er fand. Er hatte der Versuchung widerstanden, zum Fulham Palace zu fahren.

Unter dem schwarz-goldenen Schild wirkte das Stargazey eigentlich recht einladend und überhaupt nicht schmuddelig. Bevor er auf ein Pint hineinging, kaufte er an einem Kiosk eine neue Sonntagszeitung für Stan, falls der – wie so oft – plötzlich wider Erwarten doch nach Hause kommen sollte. Das Pub war recht ansehnlich und hübsch eingerichtet. Unschlüssig, ob es in Chelsea oder schon in Fulham war, kam er zu dem Schluß, daß es direkt auf der Grenze liegen mußte. Fulham hatte sich im Verlauf der letzten dreißig Jahre zu einem ziemlich feinen Viertel gemausert. Es war überhaupt nicht mehr das »faulige Fulham« (wie einer seiner Freunde bei der Polizei es getauft hatte). Es hatte fast etwas Blumiges, Aufblühendes an sich. Jedenfalls besaß es sämtliche Wesensmerkmale einer Gegend, in der die Yuppiegesellschaft gedeihen würde: rasant in die Höhe schnellende Immobilienpreise, Cappuccinobars, teure Boutiquen und Antiquitätenläden, schicke Gemüsehändler, die mit kunstvollen Früchtearrangements und Gänseleberpastete in ihren Schaufenstern aufwarteten.

Islington hatte den gleichen Weg eingeschlagen, nur schon früher. Das mehrstöckige Reihenhaus, in dem Jury eine Wohnung hatte, brächte heutzutage wahrscheinlich mindestens eine Viertelmillion Pfund ein. Immobilienpreise gehörten offenbar zu den Hauptthemen im Angel, und die Leute mit den Mobiltelefonen waren wahrscheinlich Häusermakler. Vor dem Pub draußen gingen sie auf und ab, das Mobiltelefon ans Ohr gepreßt. Er nannte sie »Trottoir-Tänzer«.

Gleichzeitig waren manche Gegenden in einem anhaltenden Abwärtstrend aber noch weiter abgerutscht. Der Stoff, aus dem das Leben gewebt ist, war für viele immer noch zerschlissen. Die Kluft zwischen Reich und Arm machte sich zusehends bemerkbar. Aus einer ausgefransten Stelle am Saum war ein Riß geworden, und Tony Blair würde einen Teufel tun, ihn auszubessern. Mit einem Seufzen schlug Jury Stans druckfrische Zeitung auf, um die Teile zu lesen, die er zu Hause überschlagen hatte.

Im Pub war es rappelvoll und verraucht, und in der Luft lag der vertraute Geruch sonntäglicher Hoffnungslosigkeit. Sonntage waren irgendwie konturlos. Zeitungslektüre, Pub – das war so ziemlich alles. Jury schob sein Glas über den Tresen und machte dem Barkeeper ein Zeichen, ihm nachzuschenken. Dann schlitzte er das Kuvert mit Melrose Plants Brief auf. Zwei Seiten in Plants eleganter Handschrift auf festem, cremefarbenem Papier, das die Tinte so gut aufnahm, daß es aussah wie eingraviert. Das alte Briefpapier trug immer noch sein Wappen und die abgelegten Titel. Das Wappen galt noch, doch die Titel waren durchgestrichen. Beim Lesen mußte Jury ununterbrochen lachen. In Northants war mal wieder wie üblich »gar nichts los«, doch wenn es überhaupt einen Menschen gab, der wie Mutter Natur ein Vakuum füllen konnte, dann Melrose Plant. Dieser Mensch war imstande, das berühmte Schwarze Loch zu füllen und das große Nichts zu leeren. Jury lachte noch einmal und steckte den Brief wieder in die Hosentasche. Er würde ihn später zu Hause beantworten.

Als er den Blick hob, bemerkte er, wie die Frau, die hinter dem Tresen arbeitete, eine Whiskyflasche vom Regal nahm, sie abwischte und wieder hinstellte. Mit der nächsten Flasche verfuhr sie genauso, wischte sie sorgfältig ab und stellte sie zurück an ihren Platz. Offenbar hatte sie vor, sämtliche Regale so durchzuarbeiten, bis jemand einen Drink verlangte oder das Telefon klingelte oder sonst etwas ihre Zuwendung erforderte. Jury sah ein Weilchen zu, wie behutsam sie mit den Flaschen umging, besonders mit dem Cognac, einem Rémy Martin. Sie lächelte bei der Arbeit, und Jury mußte beim Zusehen ebenfalls lächeln. So liebevoll wischte sie die Flaschen ab, so stolz schien sie auf ihr Werk zu sein. Sie wirkte sanftmütig, eine Frau, nach der sich die Männer zwar nicht umdrehen würden, die aber auf ihre unaufdringliche Art hübsch war.

Er saß am unteren Ende des Tresens neben einem Holzpfosten, an den einige Postkarten geheftet waren, von denen er sich eine nun etwas genauer ansah. Die Hälfte der Vorderseite nahm die Abbildung eines Pubs namens The Stargazey ein. Es war allerdings nicht dieses Lokal. Er las den kleingedruckten Text. Das Pub lag in einem von diesen am Steilhang gelegenen Dörfchen in Cornwall, von denen man quasi ins Meer rutscht, die aber höllisch schwer zu erklimmen sind. Vielleicht war er tatsächlich einmal dort gewesen und hatte den Namen gesehen. Die andere Hälfte der Karte zeigte eine merkwürdig aussehende Fischpastete, vielleicht die Spezialität des Hauses.

»Darf ich Sie mal was fragen, meine Liebe?« wandte sich Jury an die Frau, die die Flaschen abstaubte.

Sie drehte sich mit einem fragenden Lächeln um.

»Verkaufen Sie diese Postkarten? Ich hätte gern eine von denen da.« Er deutete auf die Karte, die er gerade eingehend studiert hatte.

Sie sah mit angestrengt zusammengekniffenen Augen hin und sagte: »Ja, die haben wir mal verkauft. Moment, ich schau mal nach …« Sie zog mehrere Schubladen unter dem Tresen auf und hielt schließlich triumphierend die Karte hoch. »Na, haben Sie aber ein Glück! Es ist die letzte!«

Es war das erste echte Lächeln, das Jury an dem Tag erntete. Ihr Entzücken über den bescheidenen Schatz war ungewöhnlich. Es bedurfte nicht viel, um diese Frau zu erfreuen, dachte Jury. Hatte das nicht der Herzog von Ferrara über seine vom Unglück verfolgte Gemahlin gesagt?

»Hier.« Sie schob sie ihm über die Theke. »Nehmen Sie sie einfach mit.«

»Danke, aber ich bezahle gern den –«

»Nein. Ich kann mich nicht erinnern, daß mal jemand eine haben wollte. Die meisten Leute bemerken so kleine Dinge gar nicht. Man verpaßt viel im Leben, wenn man dafür kein Auge hat.« Sie nahm ihre Tätigkeit wieder auf (irgendwie schien dahinter echte Hingabe zu sein), holte eine Flasche Sapphire-Gin vom Regal und fuhr mit dem Tuch darüber.

Jury erwiderte: »Ich kann mich aber auch an kein Pub erinnern, das so gepflegt ist.«

Sie errötete. »Ach, finden Sie? Bißchen dumm, ich weiß – und ihm paßt es gar nicht.« An dieser Stelle warf sie einen kurzen Blick auf den Barkeeper, Geschäftsführer oder Besitzer. »Ist aber doch recht hübsch, wie die Flaschen da vor dem Spiegel stehen, nicht? Sehen Sie mal diese hier.« Sie hielt die Ginflasche hoch, damit Jury sie eingehend betrachten konnte. »Haben Sie schon mal so ein Blau gesehen? So was Hübsches –«

»Kitty, komm mal her«, rief der Barkeeper.

Kitty wurde rot, stellte den Sapphire-Gin wieder an seinen Platz und hauchte Jury einen Abschiedsgruß zu.

Er trank sein Pint vollends aus, zog einen Stift aus der Brusttasche und schrieb auf die Rückseite der Karte: Ich wette zehn Pfund, daß Sie das Rezept nicht finden. Das tiefe Geräusch in seiner Kehle interpretierte er als kichernden Gluckser.

Dann legte er das Geld für sein letztes Pint auf die Theke und ging. Draußen vor dem Pub hielt er nach einem Briefkasten Ausschau, konnte aber keinen finden und wollte gerade die Straße überqueren, als der 14er Bus Richtung South Ken Station nicht weit von ihm auf der Pub-Seite der Straße heranfuhr. Rasch reihte er sich in die kurze Warteschlange ein. Der Bus hielt an, er stieg ein; nachdem er sich gesetzt hatte, warf er noch einmal einen Blick auf die Karte und mußte wieder lachen. Das war das zweite Mal an dem Tag.

Aus dem Fenster bot sich der gleiche Anblick wie auf der Hinfahrt zum Pub. Eigentlich hatte er ja in entgegengesetzter Richtung zum Fulham Palace fahren wollen. Es war beinahe ein Bedürfnis, ein Drang, dessen Ursprung er nicht genau ergründen konnte. Er fühlte sich in der Zugkraft der Gezeiten gefangen, in der Anziehungskraft des Mondes (keins von beiden, besann er sich, konnte gegenwärtig einen Einfluß auf ihn haben). Trotzdem beschlich ihn ein gewisses Gefühl von schicksalshafter Unausweichlichkeit.

Eigentlich widerstrebte ihm der Gedanke, da er an keinerlei Vorbestimmung im Leben eines Menschen glaubte. Trotzdem blätterte er spaßeshalber so lange in Stans Zeitung herum, bis er die Seite mit den Horoskopen gefunden hatte. Sein Horoskop forderte ihn auf: »Lassen Sie sich bloß nicht in etwas hineinziehen, selbst wenn die Aussicht noch so verlockend ist.«

Zum Teufel. Schon gut, er hatte sich ja nicht hineinziehen lassen, oder? Er war nicht noch einmal hingefahren. Sie ging ihn nichts an.

Das war am Sonntag.

3

Sergeant Alfred Wiggins redete (näselte) daher, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, der sich eine Erkältung eingefangen hatte. Seine Kommentare waren rein erkältungsspezifisch: »Auf mich haben sie es abgesehen, mehr als auf andere Leute. Sehen Sie sich doch an … Sie schütteln sie einfach ab und gehen weiter Ihrem Tagwerk nach, Ihnen können sie nichts anhaben« – als ob Erkältungen es auf Jury nicht auch abgesehen hätten. »Nur mich trifft es. Wie diese hier« – Wiggins fuhr sich zum Nachdruck mit einem Taschentuch unter der Nase hin und her – »die ist eine wahre Heimsuchung. Jetzt haben wir November, und Sie kennen ja den Spruch: ›Erkältung im November zieht sich hin bis Ende Dezember.‹ Die kriegt man nur schwer wieder los.«

Bestimmt hatte er das mit Dezember gerade erfunden, dachte Jury, weigerte sich jedoch, sich auf Wiggins’ Verseschmiederei einzulassen, die weit schlimmer war als Wiggins’ Prosa. Im Laufe der an Erkältungen und Grippeanfällen reich gesegneten Jahre war ihm Wiggins’ Geleier allerdings ein beinahe beruhigender Singsang geworden, ein Holzblasinstrument als Kontrapunkt zu Chief Superintendent Racers blecherner Trompeterei und seinen griesgrämigen Lageberichten. Über einem davon brütete Jury nun gerade, die Arme verschränkt und in seinem Bürodrehstuhl zurückgelehnt. Ohne den Blick von seinem Bericht zu heben, erkundigte er sich gähnend: »Schon beim Arzt gewesen, Wiggins?«

Der setzte eine fast beleidigte Miene auf. »Ich gehöre doch nicht zu denen, die wegen jedem Wehwehchen zum Doktor rennen. Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten.«

Der Gesichtsausdruck des Sergeant schien andeuten zu wollen, daß Jury ein himmelschreiender Hypochonder war, der sich ständig in Arztpraxen und Notaufnahmestationen herumtrieb. Dabei konnte sich Jury schon gar nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt in einer gewesen war. Er überhörte daher die Bemerkung und konzentrierte sich auf die Fläschchen, die Wiggins vor sich auf dem Schreibtisch aufgereiht hatte und deren Deckelchen er gerade aufschraubte. Der Sergeant zog einen Tropfenzähler aus einer klaren Flüssigkeit, lehnte sich zurück und hielt ihn sich an die Augen.

»Daneben.«

Wiggins klimperte ein paarmal mit den Lidern auf und ab, um das Zeug zu verteilen, und schaute ihn finster an. »Was heißt daneben?«

»Sie haben es in die Augen gekriegt statt in die Nase.«

»Ha, ha, sehr witzig. Es sind natürlich Augentropfen.«

Wiggins glaubte, ihm mit seinen Hahas immer kräftig eins auszuwischen. Um es ihm heimzuzahlen, erkundigte sich Jury: »Sagen Sie, wie geht es eigentlich Schwester – äh – Miss Lillywhite?« Den Vornamen von Wiggins’ Damenbekanntschaft hatte er vergessen. Was ihn auf die Idee gebracht hatte, Lillywhites Liebe hätte Wiggins kurieren können, wußte er auch nicht, da keine irdische Macht dies zuwege brächte.

»Gut, sehr gut. Ist nach Portugal zu ihrer Freundschaft gefahren.«

Da Wiggins offensichtlich nicht im geringsten darüber verschnupft war, nahm Jury an, daß es sich bei der Freundschaft um eine weibliche Person handelte. Den Bericht beiseite schiebend, wandte er sich wieder der Lektüre der Morgenzeitung zu, die er sich von Stan Keelers Türschwelle geholt hatte, nachdem er drinnen Stone gefüttert hatte, den Mrs. Wassermann seines Wissens später in ihre Kellerwohnung mitnehmen würde.

Plötzlich kippte er seinen Stuhl lautstark nach vorne und saß stocksteif da. Eine Meldung auf einer der mittleren Zeitungsseiten war ihm unvermittelt ins Auge gesprungen: Die Distriktpolizei von Hammersmith und Fulham bat alle Personen, die sich am Samstag abend zwischen sechs Uhr und Mitternacht in der Nähe von Fulham Palace aufgehalten hatten, um sachdienliche Hinweise bezüglich einer in Fulham Palace erschossen aufgefundenen Frau.

»Was ist los, Sir? Sie sehen ja aus, als sei Ihnen gerade ein Gespenst begegnet.«

»Kann gut sein.« Jury hätte nie damit gerechnet, einmal einer solchen Bitte nachkommen zu müssen. Schon wählte er die angegebene Nummer der Polizei in Fulham.

Bestimmt suchte die Polizei jemanden, der das Opfer identifizieren konnte. Was schwierig war, da in der Zeitung weder ein Foto abgebildet war noch irgendwelche besonders hervorstechenden Merkmale erwähnt wurden. Bis auf den Pelzmantel. Den Mantel und den Fundort: Fulham Palace.

Als sich ein Polizist meldete, nannte er den Grund seines Anrufs und bat, den zuständigen Ermittlungsbeamten zu sprechen. Der Wachtmeister meinte, er wolle sich zuerst die Einzelheiten notieren. Jury teilte ihm – nicht ohne gewisse Verlegenheit – mit, welche Rolle er selbst bei der Sache gespielt hatte, und schloß mit dem Zusatz: »Ich bin aber nicht hineingegangen.«

»Sie sind ihr den ganzen Weg hinterhergelaufen und haben dann aufgegeben.« Es klang nicht wie eine Frage, sondern eher wie eine Verurteilung.

Jury kniff die Augen zu, als störte ihn plötzlich das helle Licht. »Hören Sie mal, Ihre Bemerkungen können Sie sich sparen, wenn Sie an einer Zusammenarbeit interessiert sind.«

Der Wachtmeister war ein fixer Bursche. »Sicher werden Sie verstehen, daß wir alles überprüfen müssen –«

Jury schnitt ihm das Wort ab. »Wie ist Ihr Name?«

»Chance.«

Jury griff höchst ungern zu diesen Mitteln. Er schaltete um: »Wer führt in dem Fall die Ermittlungen?«

»Inspektor Ronald Chilten.«

»Gut, stellen Sie mich zu ihm durch.« Chilten. Der Name kam ihm bekannt vor. Nach mehrmaligem Knacken wurde Jury gebeten, am Apparat zu bleiben. Die Hand über der Sprechmuschel fragte er Wiggins: »Erinnern Sie sich an einen Chilten bei Hammersmith und Fulham? Haben wir mit dem schon mal zusammengearbeitet?«

Wiggins unterbrach das Herumrühren in seinem Hexenkesselchen gerade so lange, wie der Griff nach seinem Rolodex dauerte. »Fulham, Fulham. Hier haben wir es. Chilten, Ron. Das war dieser scheußliche Fall mit der Hausangestellten da draußen in der North Road.«

»Alle Hausangestellten sind scheußlich. Jetzt fällt es mir auch wieder ein. Pfiffiges Bürschchen.«

»›Pfiffiger, als ihm guttut‹, sagten Sie damals, glaube ich. ›Läßt einen gern in der Luft hängen‹, haben Sie auch gesagt.«

Daß Chilten einen tatsächlich gerne »in der Luft hängen ließ«, war Jury nicht entfallen. Er wandte sich wieder dem Hörer zu und vernahm eine Stimme, die ein gewisses Maß an Autorität besaß und zu einem gewissen Inspektor Chilten gehörte. »Ich habe da einige –« Erst in dem Moment fiel Jury ein, wie absurd seine Angaben klingen würden. Zu spät. »Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an den Fall erinnern, den wir gemeinsam –«

»Klar erinnere ich mich.«

»Es geht um die Sache in Fulham Palace.« Jury machte eine Pause. Chilten wartete ab, ohne ihm zu Hilfe zu kommen. »Haben Sie sie schon identifiziert?«

Chilten ließ Jury auf die Antwort warten, womit dieser aber gerechnet hatte. »Nein. Keine Handtasche, keine besonderen Kennzeichen – nicht gerade viel für eine Zeitungsmeldung – außer ein paar Aufnahmen aus der Leichenhalle. Die kommen vielleicht rein, wenn ich nichts Besseres auftreiben kann.«

»Sie wurde erschossen – hat man die Waffe gefunden?«

»Nein.«

»Aus welcher Entfernung?«

»Zwei Meter etwa, jedenfalls unter vier. Aus nächster Nähe, nach den Rückständen an der Einschußstelle zu schließen.«

»Sie tippen, daß die Tat zwischen sechs Uhr abends und Mitternacht begangen wurde?«

Erneutes Schweigen. Chilten hatte die Angewohnheit, die direkte Antwort zurückzuhalten oder aber eine mysteriöse Bemerkung zu machen, die einen zwang, nochmals nachzufragen. »Wir hoffen, den Zeitraum noch weiter eingrenzen zu können, wenn die Pathologin fertig ist.«

»Da kann ich Ihnen gleich weiterhelfen. Es war nach neun, nicht nach sechs. Ich habe sie vor dem Eingang zum Park gesehen.« Jury glaubte zu hören, wie mit einem dumpfen, lauten Geräusch etwas umfiel oder auf den Boden krachte. Zur Abwechslung hatte er Chilten diesmal überrascht.

»Gesehen? Dann kennen Sie diese Frau also?«

»Nein. Ich habe nur gesehen, wie sie die Fulham Road hinunterging.«

»Erzählen Sie.«

Jury tat es. Von dem Moment an, als sie ihm auffiel, als sie vor dem Chelsea and Westminster Hospital in den Bus stieg, bis zu der Stelle, als er ihr die Bishop’s Avenue hinunter bis ans Tor folgte.

»Wenn Sie sie beschattet haben, warum sind Sie dann dort stehengeblieben? Warum sind Sie nicht hineingegangen?«

Jury seufzte. Diese unvermeidliche Frage hatte er schon erwartet. »Ich habe sie nicht ›beschattet‹. Und ich habe keine Ahnung, warum ich nicht hineingegangen bin.«

Es entstand eine längere Pause. Chilten war sehr geschickt im Verteilen von Pausen. Jury hätte ihm am liebsten eine reingehauen.

Nach einer Weile meinte Chilten: »Was hatten Sie in einem 14er Bus zu suchen?«

Verärgert darüber, daß nun anscheinend sein eigenes Alibi unter die Lupe genommen werden sollte, versetzte Jury: »Das tut hier nichts zur Sache. Ich meine, es ist nicht relevant.« Beim Gedanken daran, wie oft er einen Tatverdächtigen diesen Satz bei einer Vernehmung hatte sagen hören, seufzte er.

Chilten schien mit Jurys Antwort nicht zufrieden zu sein. Dann sagte er: »Reden wir denn überhaupt von derselben Frau?« Chilten kaute beim Sprechen; das Geräusch kannte Jury. Er hatte oft genug zugehört, wie Sergeant Wiggins sich am anderen Ende der Leitung mit schwarzen Keksen verarztet hatte. Als könne er Gedanken lesen, sagte Chilten: »Hab’ heute noch nicht gefrühstückt, da hab’ ich mir ein paar gefüllte Doughnuts besorgt. Also, wie können Sie sie beschreiben?«

»Hellblond, etwa einssiebzig, einsfünfundsiebzig groß, würde ich mal schätzen. Sehr attraktiv, leicht geschminkt, wenn überhaupt. Und dann der Mantel. Lang, dunkler Pelz – vermutlich Nerz.«

»Zobel. Na gut, wahrscheinlich ist es dieselbe. Was war eigentlich mit dem Verkehr los, wenn Sie sie die ganze Zeit bis zur Fulham Palace Road im Auge behalten konnten? Das ist doch ein strammer Spaziergang.«

»Wie gesagt, sie ist wieder eingestiegen und ein Stück gefahren.«

Chilten kaute eine Weile. »Äußerst seltsames Gebaren.«

Jury war sich nicht sicher, ob er ihn meinte oder die Frau. Wahrscheinlich beide. Er gönnte Chilten einen Augenblick, um diese Angaben zusammen mit seinem Doughnut zu verdauen. Er machte sich Hoffnungen auf eine Einladung; aber nachdem er in dieser Hinsicht auf Chiltens Schweigen stieß, lud er sich kurzerhand selbst ein. »Also, ich will Ihnen ja nicht ins Handwerk pfuschen, aber ich würde wirklich gern mal die Mise-en-Scène in Augenschein nehmen.«

»Menschenskind, was soll denn das wieder heißen?«

Jury errötete und war froh, daß Chilten ihn nicht sehen konnte. Aus irgendeinem Grund hatte er gezögert, »Mordschauplatz« zu sagen, und statt dessen den etwas ausgefallenen Ausdruck benutzt. Es klang tatsächlich recht affektiert. »Vielleicht kann ich ja helfen; ich meine, ich könnte vielleicht etwas beisteuern. Oder auch nicht.« Jury zuckte die Achseln, als wäre Chilten im Raum und könnte sehen, wie er die Angelegenheit lässig abtat.

»Ich erinnere mich dunkel, daß wir beide vor ein paar Jahren mal aneinandergeraten sind, und zwar hatten Sie da auch einen von diesen Ich-will-Ihnen-nicht-ins-Handwerk-pfuschen-Anfällen.«

Jury stieß ein kurzes bellendes Gelächter aus. »Aneinandergeraten? Mit mir? Da verwechseln Sie mich sicher mit meinem Sergeant. Wiggins heißt er.« Jury sah zu Wiggins hinüber, der, als er seinen Namen hörte, seine Ablutionen unterbrach und herüberstarrte. Jury zuckte die Achseln in Wiggins’ Richtung, als ob er sagen wollte: Ist diesem dämlichen Hohlkopf denn noch zu helfen? »Also, was meinen Sie dazu, Roy?«

»Ronnie, nicht Roy.«

Jury lächelte. Es war Absicht gewesen. »Sorry.« Er wartete.

»Wenn Sie heute nachmittag nach Fulham kommen wollen, können Sie ja einen kurzen Blick auf Ihre Mise-en-Scène werfen. Wir treffen uns am Parktor.« Mit einer Prise Sarkasmus fügte er hinzu: »Wo das ist, wissen Sie ja wohl.«

»Im Kräutergarten. In der Zeitung steht, daß sie in einem Lavendelbeet gefunden wurde.« Jury runzelte die Stirn ob der Ironie der lieblichen Szenerie. Der Mise-en-Scène. Er lächelte.

»Na ja, dagegen hätte Linda Pink wohl einiges einzuwenden.«

Chilten spendete Auskünfte wie andere Menschen Blut – tropfenweise. Jury hielt die naheliegende Frage – Wer ist Linda Pink? – zurück und meinte nur gelassen: »Dann bis in einer Stunde, Roy, und vielen Dank.« Er legte auf und brummte: »Mit deiner Linda Pink kannst du mir gestohlen bleiben.«

Wiggins hob fragend die Augenbrauen. »Wer ist Linda Pink?«

»Das werden wir vielleicht nie erfahren.« Jury lehnte sich zurück und gestattete sich, wenn auch nur für ein paar Augenblicke, verdattert zu sein, sich in Traurigkeit zu hüllen. »Ich hätte doch hineingehen sollen.«

»Verzeihung, Sir? Wo hätten Sie hineingehen sollen?«

Jury blieb ihm die Antwort schuldig. Statt dessen stand er auf. »Kommen Sie, Wiggins. Marsch, marsch.«

Voll abgrundtiefen Widerwillens stand Wiggins ebenfalls auf, schluckte das eklige Zeug in seinem Glas hinunter und fragte: »Sind Sie sicher, Sir? Fürchten Sie nicht, ich könnte wieder mit jemandem aneinandergeraten?«

Entschlossen schlüpfte Jury in die Ärmel seines Trenchcoats. »Nie. Sie würden doch niemals den gleichen Fehler wiederholen.«

4

Mit Inspektor Ronald Chilten verhielt es sich folgendermaßen: Er umspann Rätselhaftes zu gern mit anderen Rätseln. War nichts Rätselhaftes zur Hand, so schuf Chilten eine Atmosphäre, ein Ambiente – sozusagen seine eigene kleine Mise-en-Scène –, mit denen er seine Mitmenschen dann in Spannung hielt. Ob es um drei in einen Auffahrunfall verwickelte Autos ging, um die Farbe eines am Tatort gefundenen Haarbandes oder um Anzahl und Art der Bücher, die ein Teenager bei sich hatte, der auf dem Nachhauseweg Opfer eines Raubüberfalls wurde, Chilten schaffte es immer wieder. Und wenn er einen schon unter Spannung halten konnte, wo es eigentlich gar keine richtige Spannung gab, dann schaffte er es weiß Gott mit einer in den Parkanlagen von Fulham Palace gefundenen Leiche. Jury war seit dem Anruf vor einer knappen Stunde zähneknirschend damit beschäftigt, seinen scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Geduld zu mobilisieren und sich dabei immer wieder in Erinnerung zu rufen, daß Chilten ja im Grunde ein ausgezeichneter Polizist war.

Daß ihr Zielort ein Kräutergarten war, hatte auf Sergeant Wiggins einen äußerst heilsamen Effekt. Es wirkte wie eine seiner Tinkturen, spülte diese ganze Geschichte mit dem »Aneinandergeraten« gleichsam hinweg und verwandelte ihn in einen angenehmen Gefährten.

Nun durchschritten die drei Beamten – Jury, Wiggins und Inspektor Chilten – die Parkanlagen von Fulham Palace. Sie kamen an einer Reihe von Steineichen und einer Silberlinde vorbei und passierten Zedern-, Kastanien-, Ahorn- und Walnußbäume und einen riesigen kalifornischen Redwood – für Jury eine vollkommen unbekannte Baumwelt. Chilten war derjenige, der sie darauf aufmerksam machte, zu Jurys großer Überraschung, der ihm keine gärtnerischen oder ästhetischen Neigungen zugetraut hätte. »Ist das nicht wunderschön?« sagte er, blieb stehen und hob den Blick zum regelmäßigen Astwerk einer Steineiche empor. »Ein Wunder, daß dieser Park nicht bekannter ist, wenn man bedenkt, was für große Gartenliebhaber wir Engländer sind. Auf diesen paar Morgen Land sind bestimmt mehr Baumarten vertreten als irgendwo sonst auf den Britischen Inseln.«

Beim Weitergehen warf Jury einen Blick zurück auf die strenge georgianische Fassade des Palace. Er erinnerte sich etwas undeutlich an eine Geschichte, die er als Junge gehört hatte: Früher hatten Bischöfe angeblich immer in »Palaces« gewohnt, so daß der Begriff lediglich eine beschönigende Umschreibung für »Haus« war. »Seit wann wird er nicht mehr als Residenz benutzt?«

»Von den Bischöfen? Seit den siebziger Jahren vielleicht.«

»Aber genutzt wird er doch noch.«

»Der Bezirk vermietet die Räumlichkeiten als Büros.«

»Sie meinen Fulham?«

»Hammersmith und Fulham, jawohl.« Inzwischen waren sie an eine Steinmauer gelangt, die äußere Begrenzung des Parks, vermutete Jury. Chilten sagte etwas zu einem der beiden uniformierten Kollegen, die offenbar zum Wachdienst eingesetzt waren, woraufhin beide nickten.

Mit einer knappen Kopfbewegung auf eine Einbuchtung in der Ziegelmauer deutend, sagte Wiggins: »Bienenbolle.«

Jury erwartete, daß der Sergeant seine Bemerkung vervollständigte, doch es kam nichts mehr. Wiggins und Chilten, dachte Jury, würden sich bestimmt prächtig verstehen.

Am beeindruckendsten war die unglaubliche Stille, die hier herrschte. London hätte sich um sie herum in Luft auflösen können – in den kleinen Kräutergarten, der innerhalb der Außenmauer vom übrigen Parkgebiet abgegrenzt war, drang kein Verkehrslärm, kein Schreien oder Rufen.

Beim Anblick der Ranken stellte sich Jury vor, wie die Glyzinien wie Schleier im Frühlingswind erbebten und sich an dem langen Zaun zur Linken entlangwellten. Rechts befand sich ein verfallenes Gewächshaus, eine Art Treibhaus für Weinreben, wie an den kräftigen Ranken zu erkennen war. Das Dach war mittlerweile eingebrochen. Ein Jammer, dachte Jury, daß so ein hübsches Fleckchen Erde von der Regierung nicht bezuschußt wurde, während man anderswo viel Geld verschwendete. Die alte Geschichte.

Im Zentrum des ummauerten Gartens lag ein großes, tropfenförmiges, in kleine Segmente unterteiltes Beet, in dem verschiedene mittlerweile verdorrte Kräuter wucherten. Es hatte die verschlungene, gewundene Gestalt eines typischen »knot garden« aus dem achtzehnten Jahrhundert und war mit Thymian, Rosmarin und Lavendel sowie einem Dutzend anderer Kräuter bepflanzt, die Jury nur anhand des Museumsplans auseinanderhalten konnte.

Bei dem Blick, mit dem Wiggins auf die braun verkrauteten, winterdürren Pflanzen hinuntersah, hätte man meinen können, er statte den Gräbern der Toten einen Besuch ab. Betrübt umkreiste er das mittlere Beet, das mit einem leuchtendgelben Band mit der Aufschrift POLIZEI – NICHT BETRETEN abgesperrt war, damit der Schauplatz des Mordes in möglichst unverfälschtem Zustand belassen wurde.

Wiggins war in seinem Element, aber nicht, weil es sich um Polizeiarbeit, sondern um Herbalistik handelte. »Das da ist Mutterkraut.« Er deutete auf das vorderste Beetsegment. »Ich glaube, das habe ich außer auf dem Regal in meinem Reformhaus noch nirgends gesehen.«

Das Wrack der Titanic hätte keine größere Ehrfurcht hervorrufen können. Jury konsultierte den Plan. »Lavendel.« Er deutete mit dem Kinn auf die Stelle neben dem Mutterkraut. »Haben Sie sie hier gefunden?« Er beobachtete, wie Chilten stehenblieb und ein Päckchen Chiclets hervorholte.

Der Inspektor dehnte die Pause lange genug aus, um sich einen Kaugummi in den Mund zu stecken und ihn krachend zu zerbeißen, als sei sogar das Chiclet ein wesentlicher Bestandteil des allgemeinen Mysteriums. Schließlich nickte er. »Ganz recht. Mit dem Gesicht nach oben im Lavendel.« Er trat zurück an die Glyzinienranken. »Von hier aus vermutlich, der Flugbahn des Geschosses nach zu schließen.« Er trat wieder ans Lavendelbeet. »Sie wurde Samstag abend vor Mitternacht gefunden. Zu dem Zeitpunkt hat der Parkwächter sie entdeckt, sagt er. Aber Sie haben sie ja um neun oder halb zehn gesehen.«

Jury wartete ab. Nichts. »Wer hat sie gefunden? Der Parkwächter?«

Ein weiteres Stück Kaugummi fand den Weg in Chiltens Mund. »Hm, hm«, meinte er kauend. »Jedenfalls hat er beim Verhör angegeben, er habe sie etwa um Mitternacht gefunden.«

Wiggins half ihm auf die Sprünge. »Das hört sich an, als wollten Sie andeuten, der Parkwächter habe sie gar nicht gefunden?«

»Nun, ja und nein.« Mit einem Anflug von Lächeln kaute Chilten weiter.

Jury hätte die Wände hochgehen können.

»Ja und nein, Sir? Was soll das heißen?«

»Laut Parkwächter hat Linda Pink sie gefunden.«

Aha, dachte Jury. Jetzt kommen wir endlich auf diese Linda Pink zu sprechen. Er seufzte. »Hören Sie, Ron. Sie wissen genau, daß wir keine Ahnung haben, wer Linda Pink ist, also klären Sie uns doch bitte auf, ja?« Man mußte Chilten direkt auf etwas ansprechen. Das war der Preis, den man für seine Auskünfte zahlen mußte.

»Ach, habe ich Ihnen das nicht gesagt? Linda Pink wohnt drüben an der Bishop’s Park Road. Nach dem, was der Parkwächter sagt, verbringt sie quasi Tag und Nacht hier im Park. Miss Pink fand die Leiche, behauptet sie, etwa um halb acht, Viertel vor acht. Aber sie hat niemandem davon erzählt. Erst heute früh, als sie den Parkwächter im Portiershäuschen bei einer Tasse Tee antraf. Behauptete, sie habe in der Zeitung gelesen, daß man die Frau im Kräutergärtchen gefunden habe. Ich vermute mal, sie hat nur deshalb was verlauten lassen, weil sie einen Streit vom Zaun brechen wollte.« Ein rascher Blick in Jurys Richtung, dann verstummte Chilten und besah sich angelegentlich das Tatortband.

Jury wartete ab. Darin war er gut.

Wiggins aber platzte der Kragen. »Einen Streit vom Zaun brechen? Ich verstehe nicht ganz.«

»Linda Pink behauptet, sie habe sie in der Eberraute gefunden, nicht im Lavendel. Aber der Parkwächter ist sich sicher, daß es im Lavendel war.«

Jury runzelte verständnislos die Stirn. »Eberraute? Was –«

Wiggins kam ihm zu Hilfe. »Ein Heilkraut gegen Nervenleiden.«

»Ist doch egal, wogegen. Wo ist das?« Jury sah auf den Lavendel hinunter.

»Genau hier.« Chilten tippte mit seiner braunen Schuhspitze in eine wild verkrautete, dürre Pflanze, die kein bißchen anders aussah als die Pflanzen im Umkreis. »Das hier ist Eberraute.« Er zuckte die Schultern. »Schwer voneinander zu unterscheiden.«

»Dann«, sagte Jury, »ist es doch ganz einfach, nicht? Der Parkwächter kennt die Kräuterbeete auseinander, und Miss Pink irrt sich.«

»Ach ja?« Chilten zündete sich eine Zigarette an. Er hatte immer noch den Kaugummi im Mund. »Erzählen Sie das mal Miss Pink.«

»Was dagegen, wenn ich mich mit ihr unterhalte?«

»Mitnichten. Sie ist zehn.«

Verblüfft sah Jury den reumütig dreinblickenden Wiggins an. Als suche er nach einem Kraut, das für seine Gemütsstimmung herhalten könnte, sah er sich nach der Gartenraute um, dem Sinnbild der Reue. »Ron. Die Tote wurde von einem Kind entdeckt?«

»Hmmm, hmmm.« Sichtlich vergnügt ließ Chilten den Klang mitschwingen, während er einen dünnen Rauchstrahl ausblies und dabei Jurys Gesichtsausdruck beobachtete.

Diesmal scherte sich Jury keinen Deut darum, ob jemand anderes sich das Rauchen erlauben durfte und er nicht. Während Chilten vor sich hinpaffte, sagte Jury in gespielt süßlichem Ton: »Lassen Sie sich ruhig Zeit, Ron.«

»Ach, ich dachte, das hätte ich schon gesagt: Linda wohnt drüben an der Bishop’s Park Road« – er sah Wiggins Notizen machen, nannte ihm die Hausnummer und fuhr fort – »bei ihrer Tante. Vielmehr, Großtante. Das Haus gehört natürlich der Tante. Dresser heißt sie.« Er rückte noch einige weitere, sogar kostenlose Details heraus, dann deponierte Wiggins seinen Stift in seinem kleinen Notizbuch. »Der Pelzmantel auch. Das wird Sie vielleicht überraschen.«

Nach dem »überraschen« kam ein definitiver Schlußpunkt. Keine Pause, kein Husten, Niesen oder eine plötzliche Unterbrechung durch Chiltens Funkruf oder Mobiltelefon. »Was, verdammt noch mal?« Jury bemühte sich, das »verdammt« nicht allzu gereizt ertönen zu lassen.

Chilten hob erstaunt die Brauen. »Habe ich das nicht gesagt? Der Mantel gehörte Mona Dresser.«

Jury fiel die Kinnlade herunter. »Reden Sie jetzt von der Tante dieser Linda Pink?«

»Hmm, hmm.« Wieder wurde eine Zigarette aus der Packung geschüttelt. »Das ist eine lange Geschichte, Jury.«

Jury mahlte mit dem Kiefer und brachte ein gekünsteltes Lächeln zustande. »Lange Geschichten sind mein Metier, Ronnie.«

Wiggins schien zusehends verschnupft, dem Inspektor die Antworten aus der Nase ziehen zu müssen. »Nun geben Sie uns doch eine kurze Zusammenfassung, Mr. Chilten«, sagte er etwas spitz und zog erwartungsvoll sein Notizbüchlein hervor.

»Okay. Der Pelzmantel gehörte ursprünglich Ms. Dresser. Die vererbte ihn ihrer Stieftochter Olivia, die ihn später einem Geschäft in – wie heißt das noch gleich? – in Kommission gab. Wie er von dort auf den Leib der Toten gelangt ist, wissen die Götter.«

»Wir sind«, sagte Wiggins, nachdem Chilten anscheinend fertig war, »aber keine Götter. Meinen Sie, wir könnten uns die Leiche mal ansehen?«

»Na, dann los.« Ungehalten sah Chilten zwischen Jury und Wiggins hin und her, als hätten die beiden ihn mit diesem Zwischenstopp im Kräutergarten nur aufgehalten.