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Was, wenn du in deine Biografie zurückreisen kannst? Was, wenn du dein Leben ganz neu betrachten kannst, von Anfang an? Was, wenn du all deine Fehler korrigieren kannst? Und was, wenn du genau das nicht darfst? Lillian setzt sich über das Verbot hinweg. Um ihre Familie vor einer Katastrophe zu bewahren, greift sie mithilfe der Time-Peace Corporation in ihr eigenes Leben ein. Und als dies nicht den gewünschten Effekt hat, versucht sie es wieder und wieder und wieder. Der Wunsch, den perfekten Ablauf zu erreichen, wird für sie zur Sucht. Am Ende geht es ihr nur noch darum, die Situation durchzustehen, ohne in Verzweiflung zu versinken. Eine letzte Manipulation soll ihr die Hoffnung zurückbringen. Ob es ihr gelingt? Die Zeit wird es zeigen.
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Außer der Reihe 100
Gabriele Behrend
DIE FRAU MIT DEN ROTEN SCHUHEN
Eine fantastische Geschichte
Außer der Reihe 100
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juni 2025
p.machinery Michael Haitel
Die Urheberrechtsinhaber behalten sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.
Titelbild: Gabriele Behrend
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 460 1
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 688 9
Als es uns gut ging, wussten wir es nicht zu schätzen. Wir bemerkten es nicht, nahmen an, dass es so sein sollte, dass es ein natürlicher Zustand war. Wir machten uns keine Gedanken deswegen.
Als wir trauerten, schien uns die Welt gänzlich verwehrt. Wir durchmaßen die Dunkelheit, verharrten in ihrer Mitte, in der Stille und Einsamkeit. Anstatt dass uns die Trauer einte, zerriss sie noch die letzten Bande, die sich zwischen uns hindurchschlängelten und ach so verletzlich waren. Es brauchte nicht viel. Hier ein Vorwurf, dort ein bitteres Schweigen, so ging das verloren, dass uns einte.
Als wir glücklich waren und alles eitel Sonnenschein, da hielten wir uns in den Armen, herzten einander und küssten uns, oft und federleicht, wie Schmetterlinge, die mit ihrem Flügelschlag über unsere Haut strichen. Wir waren mitten in der Welt und doch ganz allein in ihr, denn wir hatten uns und das war genug für uns beide. Wir brauchten niemanden und wir wollten niemanden und auf einmal war da doch noch ein Wesen mehr, das unser Glück noch vollständiger machte, als wir es hätten uns denken können, in den Tagen vor seiner Ankunft.
Aber dann war es da, das neue Leben, ein kleiner Babyboy, mit hellblauen Schühchen und einer roten Tolle über einem stupsnasigen Gesicht mit dunkelblauen Augen. Wir nannten ihn Henry. Und als er heranwuchs und mit dem Sprechen begann, da nannte er uns Mom und Dad. Und wir, das waren Lill und Tom.
Und dann kam der Moment, aus dem Mom und Dad Lillian und Thomas wurden. Keine Spitznamen mehr, das Leben war nicht mehr leicht. Das Leben war nicht mehr, nicht mehr am richtigen Platz, nicht mehr in der richtigen Zeit oder der richtigen Ordnung.
Ich bin Lillian und das ist meine Geschichte.
Geboren wurde ich als Lillian Jean Fowler, Tochter von Norma Basset und George Fowler, irgendwann vor vierzig Jahren. Die Zeiten rauschen so schnell am menschlichen Geist vorbei, dieser Tage, dass die Ankerpunkte abhandenkommen. Deswegen ist heuer die erinnerte Zeitspanne der eigenen Existenz wichtiger als der Jahrestag des Materialisierens in der Gegenwart, von Altmodischen auch als Geburt benannt. Nun gut, als ich noch klein war, ein bezauberndes Ding mit zu Zöpfen gebundenen Löckchen in einem undefinierten Graubraun, mit einem breiten Lächeln und einer Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen, da fand man mich den ganzen Tag auf dem Bürgersteig mit dem Springseil in der Hand. Ich sprang so vor mich hin, mit den geringelten Kniestrümpfen und dem gelbkarierten Hängerchen mit den Rüschenträgern auf den nackten Schultern. Meine Schuhe waren rot, so rot, dass ich auf jeder gelben Ziegelsteinstraße den Weg gefunden hätte, vom Anfang der Geschichte, bis zu ihrem Ende. Aber es gab keinen Zinnmann und die Lande von Oz waren dem einsamen Wanderer schon lange verschlossen. Also sprang ich weiter auf dem zernarbten Zement des Bürgersteiges mit seinen Schrunden und Spalten, Rissen und krautigen Pflanzen, die mehr Leichen, denn Überlebende waren.
Eines Tages erhielt ich wundersamen Besuch. Eine Frau näherte sich mir, hielt inne, beugte sich zu mir herunter und berührte staunend meine Zöpfe, meine Schulter und strich mir leicht über die Wange. Dann richtete sie sich wieder auf, drehte sich auf ihren Ballerinas herum, die ebenso rot waren wie meine Schnallenschuhe, und ging den Bürgersteig hinunter. Fort von mir, die ich zurückblieb, mit einer Frage auf den Lippen, die zu groß war, als dass ich kleines Mädchen sie formulieren konnte. Also zuckte ich mit den Achseln, nahm mein Springseil auf und sprang die Auffahrt zu dem kleinen, windschiefen Haus in der Melrose Avenue, Hausnummer 46, hinauf. Mom wartete bestimmt schon mit dem Mittagessen auf mich und sie mochte es nicht, wenn ich mich verspätete.
Als ich die Highschool besuchte, war Thomas King zwei Klassen über mir im Footballteam. Er war der Quarterback, allerdings nur die Zweitbesetzung. Dass er um mich warb, war dennoch großartig. Außerdem fand ich ihn angenehmer als die Erstbesetzung, er hatte es nicht so nötig, einen auf dicke Hose zu machen. Das erwartete man nicht von ihm und so konnten wir uns über viele Dinge unterhalten, die Chad Baker so ganz und gar abgingen. Zum Beispiel über das Schultheater. Ich hatte gerade angefangen, für die Truppe zu arbeiten. Meine Freundin und ich malten die Kulissen an und waren auch sonst für Kostüm und Requisite verantwortlich. Tom war sich nicht zu schade, beim Sägen und Nageln mit zu helfen. Er war es auch, der mich dazu anspornte, mich im nächsten Jahr auf eine der Rollen zu bewerben. Er hörte meinen Text ab, probte mit mir, ermunterte mich und balgte mit mir, wenn ich einen Fehler mehr als drei Mal wiederholte. Es war eine schöne Zeit, wir wuchsen enger und enger zusammen, sodass ich nur mit einem leisen Bedauern bemerkte, wie sich meine Freundin von mir entfernte. Letztlich war es egal, es war alles egal, solange nur Tom an meiner Seite war.
Im dritten Jahr unserer Liebe bestritt Tom sein Abschlussjahr und ich ergatterte meine erste Hauptrolle. Während er lernte und ich lernte und wir beide weniger Zeit füreinander hatten, wuchs die Angst in mir, was aus uns werden sollte, wenn er erst einmal auf ein College wechselte, wahrscheinlich weit weg von Brunswick, Maine. Toms Vater, Simon King, war plastischer Chirurg, der Chefarzt einer Privatklinik in der Stadt und verständlicherweise war es ihm gelegen, dass sein Sohn in seine Fußstapfen trat. Doch Tom hatte schon früh genug deutlich gemacht, dass er kein Blut sehen konnte und es demnach nicht angeraten sei, dass man ihn Leute aufschneiden ließ. Dies würde nicht zu dem gewünschten Erfolg beitragen. Auch auf den durchaus berechtigten Einwand, dass es genügend Fachbereiche jenseits der blutigen Chirurgie gab, die man erlernen könnte, hatte Tom die jeweils passende Erwiderung parat. Schließlich, nachdem Tom den Antrag auf die Zulassung zur Yale vernichtend um die Ohren geschlagen bekam, einigte sich die Familie King darauf, ihn nach Bangor auf die private Beale University zu schicken. Dort sollte er Wirtschaft und Gesundheitswesen studieren, sodass er, wenn auch nicht den Beruf des Vaters, zumindest die Leitung seiner Klinik übernehmen konnte.
Bangor war nicht so weit entfernt wie Yale, sodass ich mich nicht so sehr nach Meilen verzehren müsste, aber die Zeit, die Zeit, wie stritt ich mich in schlaflosen Nächten mit den Minuten und Stunden herum, den Tagen und Wochen und Monaten. Aber bevor diese Zeit der Prüfung eintrat, hieß es zunächst: Bühne frei. Vorhang auf.
Als ich auf den Brettern, die die Welt bedeuten sollten, stand, war mir klar, dass mein Platz nicht in der ersten Reihe war. Mir zog ein Schwindel durch den Kopf und die Worte fielen schwer. Ich flüsterte die ersten Zeilen, unsicher stotterte ich mich durch den Text, dem das Publikum atemlos folgte. Je länger ich spielte, je mehr meiner Mitschüler mit einfielen, desto sicherer wurde ich, desto lauter wurde meine Stimme, desto entschiedener wurde mein Spiel. Auch wenn ich mich noch immer für deplatziert hielt, brachte ich das zu Ende, was ich begonnen hatte. Denn eine Lillian Jean Fowler gab nicht so einfach auf. Niemals! Und als ich mich beim Schlussapplaus verneigte, ein-, zwei-, fünfmal, da sah ich sie wieder. Eine Frau, die ich als kleines Kind schon einmal gesehen hatte. Ich musste es nicht sehen, ich wusste einfach, dass sie rote Ballerinas trug. Als ich mich wieder erhob, wurde ich vom Bühnenlicht geblendet. Bei meinem Bad in der Menge hinterher, suchte ich den Platz auf, an dem sie gesessen hatte. Er war leer.
Es hatte viel Lob für meinen Auftritt gegeben. Man rühmte die Authentizität, die Zerbrechlichkeit, das Spröde und teilweise Unnahbare meiner Interpretation. Wenn sie doch nur geahnt hätten, was da wirklich in mir vorgegangen war! Aber die Lobeshymnen taten ihr Bestes. Ich blieb bei der Company, sprach für Nebenrollen vor und erfüllte diese mit Leben. Während Tom unermüdlich an der Beale lernte, paukte ich meine Texte und meine Schulfächer, schrieb E-Mails, telefonierte mit ihm und informierte mich über die Studienmöglichkeiten in Bangor. Unter anderem fiel mir die Penobscot Theater Company auf, für die ich ein erfolgreiches Vorsprechen ergatterte, das mir die Aufnahme bescherte. Kaum hatte ich die Abschlussfeier der Highschool absolviert, Arm in Arm mit Tom, der sich zu diesem besonderen Anlass von Bangor in seine Heimatstadt zurückbewegt hatte, packte ich auch schon meine Koffer und fuhr mit ihm wieder zurück, wo wir ein gemeinsames Appartement bezogen.
Unsere Zeit war wundervoll, es waren die frühsommerlichen Tage unseres gemeinsamen Lebens, wo uns der sanfte Wind voller Blütenduft um die Nase spielte, in denen die Luft von Sonnenstrahlen und Schmetterlingen erfüllt war. Heiterkeit führte die Feder, Verlangen, Lust und Verspieltheit ebneten die steinigen Straßen und im Ganzen konnten und wollten wir uns nicht von dem Kitsch einer jungen, erblühenden Liebe lösen. Wir lebten ihn, wir liebten ihn und lachten darüber. Die Zeit kannte kein Morgen, die Welt war begrenzt auf uns. Wenn wir uns nachts niederlegten, hielten wir uns umschlungen und schliefen im Takt des Herzschlages des anderen ein. Träumten uns durch die Nacht und liebten uns am Morgen, frisch erwacht, aber noch morgenmüde, sodass die Berührungen zart waren, liebevoll, beschützend. Erst wenn wir drohten, wieder in die Umarmung des Bruders Morpheus hineinzufallen, standen wir auf, tranken heißen Kaffee, brieten uns Eier und Speck, rezitierten Gesetzestexte, Verordnungen oder Dialogfetzen, lachten, debattierten über die politische Weltlage, stritten und versöhnten uns. Dann begann der Tag. Unsere Wege trennten sich, Tom schlenderte zur Beale, ich fuhr zur PTC.
Während dieser Jahre, zwei mussten es gewesen sein, sah ich die Frau von einst immer wieder durch das Bild huschen. Ich ertappte sie dabei, wie sie mich dürstend ansah, als ob ich etwas hätte, das sie begehrte. Etwas, das ihr abhanden gekommen sei. Und immer, immer trug sie die roten Ballerinas, so wie ich als Kind die roten Mary-Janes getragen hatte. So als wollte sie, dass ich sie wiedererkennen würde. Manchmal war es mir, als ob mir fröstelte. Dann schlang ich die Arme um meinen Oberkörper und rieb mir die Oberarme, heftig, sodass die Haut rot war und brannte. Wenn ich danach den Blick wieder hob, war sie meistens schon fort. Nur manchmal hielt sie so lange aus, als ob sie wollte, dass ich sie noch einmal sah, bevor sie mich verließ. In diesen Momenten sah sie mich mit so viel unverhohlenem Mitleid an, dass es mir gleich wieder eisig den Rücken emporkroch. Ich erzählte Tom nichts davon. Ich wollte unsere heile Welt durch diesen Humbug nicht gefährden. Er hatte es eh schwer genug mit seinen Abschlussprüfungen.
Und dann kam der Tag. Oder besser gesagt: Er kam nicht. Der Tag der Regelblutung. Ich überlegte fieberhaft, ob ich mich vielleicht nur verzählt hatte, aber das hatte ich nicht. Mein Körper funktionierte wie ein Uhrwerk, in allen Belangen. Also kaufte ich mir einen Test, schloss mich auf dem WC ein und pinkelte auf den Streifen, so wie jede andere Frau mit so einem Verdacht. Dieser Akt machte uns alle gleich – egal ob jung, ob alt, egal ob reich oder arm. Kind im Anmarsch? Halt den Teststreifen unter dich und schon weißt du, wann es so weit ist. Mir stürzten tausend Gedanken durch den Kopf. Was würde aus dem gemeinsamen Leben mit Tom werden? Wohin würde die Leichtigkeit verschwinden? Ein Kind, das hieß Verantwortung tragen. Da drehte sich das Leben nicht mehr um uns beide, da würde ein anderes Wesen die Mitte ausfüllen. Würde es uns einen oder trennen? Wollte Tom überhaupt Vater werden? Und ich Mutter? Was würde es bedeuten, wenn wir uns von der Möglichkeit eines Menschen verabschieden würden? Aber das war keine Option, zu sehr waren wir im Glauben aufgewachsen. Ich hätte mir sofort eine runterhauen mögen, dass ich diesen Gedanken auch nur gestreift hatte. Ich bemerkte, dass das Ergebnis sichtbar war, wer weiß wie lange schon. Und ja, da war sie. Die Möglichkeit. Ein werdender Mensch. Ein neues Leben.
Als Tom an diesem Abend von der Universität nach Hause kam, hatte ich den Tisch gedeckt, eine Kerze brannte. Sommerblumen standen in der Glasflasche eines am Morgen geleerten Smoothies. Was denn sei, fragte er. Ich legte ihm den positiven Test auf die Serviette auf seinem Teller. Für einen Moment zeichnete sich eine Frage auf seinem Gesicht ab, danach strahlte er, umfing mich mit seinen Armen und küsste mich. Dann sank er auf die Knie, streichelte den Stoff über meinen Bauch, machte mir einen Antrag und hieß unser Kind willkommen.
Es war Toms Zuversicht, die mich durch die Schwangerschaft brachte. Es waren seine Hände, die meine geschwollenen Füße massierten, abends, auf der Couch. Mit ihm konnte ich meine geheimen Ängste meistern, die Angst vor der Verantwortung, für ihn, für mich, für das ungeborene Leben. Ich hatte Angst um unser »Wir«, ich hatte Angst, dass wir keine Zeit mehr füreinander hätten, wenn das Kleine erst einmal da wäre. Ich hatte Angst, dass ich mich in eine keifende Frau mittleren Alters verwandeln würde, verbittert und neidisch auf das Leben der anderen, so wie es meine Mutter mir immer vorgelebt hatte. Ich hatte Angst, nicht mehr die zu sein, die ich jetzt gerade war, unbeschwert, voller Zuversicht, voller Vorfreude auf meine Zukunft. Ich mochte die Person nicht, die vor lauter Sorgen nicht geradeaus denken konnte. Ich mochte den anschwellenden Bauch nicht, meine schwindende Taille, die schweren Beine. Aber dann kam Tom nach Hause, sah meine Misere und heiterte mich mit wenigen Scherzen auf. Er gab mir großzügig von seiner Leichtigkeit ab, von seiner Freude, seinem Vorwärtsdrang. Ihm konnte es nicht schnell genug gehen, seinen Spross endlich in den Armen zu halten. Da waren wir uns einig, denn ich wollte die Schwangerschaft auch so schnell wie möglich hinter mich bringen. Viele Frauen genießen diese neun Monate, in denen das neue Leben in ihnen sprießt und knospt. Sie sind schön, leuchten von innen heraus und verbreiten eine Wärme und Gelassenheit, von denen alle um sie herum partizipieren. Ich gehörte nicht zu ihnen, mir fehlte der Glow, ich konnte nur verschwitzte Strähnen um ein fleckiges Gesicht herum bieten. Aber letztlich waren das alles nur Äußerlichkeiten. Tom brachte es fertig, dass ich Momente lang das Glück spürte, das da in mir heranwuchs. Er konnte die Freude in mir hervorlocken, die Vorfreude auf das Kleine. Und je näher ich der Entbindung kam, desto tragfähiger wurden diese Momente. Desto mehr dehnten sie sich aus, bis sie mich mit allen Glückshormonen überschütteten, die eine Schwangerschaft gemeinhin bot.
Die letzten Wochen hütete ich das Bett, die Hand auf meinen Leib abgelegt, horchte in mich hinein, wartete auf ein Strampeln, einen Tritt, ein Lebenszeichen von meinem kleinen Babyboy. Das ließ nicht lange auf sich warten, ich sang dem Kleinen vor. Gemeinsam performten wir »We will rock you«, Babyboy begleitete meine Altstimme mit seinen winzigen Füßchen und die Bauchdecke war wie ein Trommelfell gespannt. Dann kam der Tag, an dem er herauswollte, pünktlich, wie ein Uhrwerk. Das hatte er wohl von mir übernommen. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass wir uns noch gar nicht auf seinen Namen geeinigt hatten. Und so befeuerten wir uns auf der Fahrt zum Krankenhaus mit allen Namen, die es bereits in die zweite Runde geschafft hatten, aber wir fanden keinen, der uns beiden gefiel. Als wir im Krankenhaus ankamen, wurden wir von einem dunkelhäutigen Pfleger in Empfang genommen, der sich schnell und gründlich um alle Formalien kümmerte und mich dann sofort auf Station brachte. Während er und Tom mich in den Kreißsaal schoben, löste Tom für einen Moment seinen Blick von mir und sah zu dem Pfleger – wie er hieße, fragte Tom. Der Mann antwortete, überrascht und belustigt gleichermaßen. Tom sah mich an, ich nickte und so war es beschlossen. Als unser Babyboy auf die Welt kam und mir in die Arme gelegt wurde, streichelte ich über sein flaumiges, stellenweise verschmiertes Gesicht und nannte ihn zum ersten Mal »Henry«.
Die Tage unserer frühkindlichen Sorglosigkeit waren bereits seit meiner Geburt gezählt. Während mein Dad als Trucker im interkontinentalen Warenverkehr unterwegs war, schlug sich meine Mutter mit einem Minijob, dem kärglichen Auskommens meines Vaters und der zusätzlichen Unterstützung durch das Amt über die Runden. Das meiste davon kam allerdings nicht der Familie zugute, sondern ihrem Durst. Sie brauchte ihr tägliches Quantum an Bier und auch an Kippen, um gut drauf zu sein. Es durfte auch gerne mal ein Gin sein oder ein Likörchen. Während erst ich, und später dann Colleen und ich, bevorzugt gegen Monatsende mit kalten Nudeln mit Tomatenketchup abgespeist wurden, gönnte sich Mutter so einiges. Den Alkohol, den Tabak und ein gerütteltes Maß an Nickerchen, die sie davon abhielten, ihren Pflichten im Haushalt und als Mutter nachzukommen. Und so sah es eben chaotisch aus. Für uns war es normal. Wir liebten Ma trotz allem, auch wenn sie uns unwillig fortstieß, wenn wir ihre Kreise störten. Dad liebte diese Sarah Dickson auch, die jetzt Mistress Joyce hieß, nachdem er ihr erst einen Ring an den Finger gesteckt und dann einen Braten in die Röhre geschoben hatte. Erst mich, später dann, bei einem Heimataufenthalt, Colleen.
Sarah Dickson hatte sich ihr Leben nicht so vorgestellt. Sie war vielleicht nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber mit Sicherheit die schärfste Salami auf der Pizza, da verdiente sie doch einen Kerl, der ihre Vorzüge zu schätzen wusste. Warum sie sich ausgerechnet in Pete Joyce verguckt hatte, konnte sie später nicht sagen und sich erst recht nicht verzeihen. Aber nun war es eben so geschehen und das Einzige, was ihr blieb, war der stille Protest.
Es kam, wie es kommen musste. Als Colleen zweieinhalb Jahre alt war und ich sieben, spielte das Jugendamt nicht mehr mit. Sie hatten Sarah schon länger im Visier, hatten ihr Unterstützung angeboten, wollten mit ihr gemeinsam an dem Erhalt der Kleinfamilie arbeiten. Aber Sarah spielte nicht mit. Tränenreich erklärte sie bei den Kontrollbesuchen, warum sich die Lage immer noch nicht gebessert hatte, zog Colleen und mich in ihre speckigen Arme und wiegte uns, ob wir wollten oder nicht und kehrte ihrer Realität den Rücken zu. Irgendwann reichte es ihrer Sachbearbeiterin. Sie kam in unser Zimmer, mit zwei Koffern. Einer war für mich bestimmt, wie sie sagte, der andere für Colleen. Gemeinsam packten wir die wenigen Habseligkeiten, die noch heil genug waren, um mit uns auszuziehen, und gingen dann in das Wohnzimmer, um uns von Ma zu verabschieden. Aber die lag mal wieder auf dem Sofa, die Arme trotzig unterschlagen, die Unterlippe zitternd vorgeschoben, die Haare gesträubt.
»Kommst du uns besuchen, Ma?« Ich trat vor sie hin und strich ihr vorsichtig über den Scheitel.
»Nein«, nuschelte sie. »Michael, sei ein lieber Junge und gib mir die Flasche da auf dem Tisch.«
Ich nahm meine Hand zurück, drehte mich zum Tisch und griff nach der Bierflasche. »Hier, bitte. Willst du noch was anderes?«
Da setzte sich Sarah auf, sah mich, ihren Sohn, kuhäugig an und sagte mit viel Herzweh in der Stimme: »Vergiss mich nicht, Michael. Ich habe dich sehr lieb. Mach mir keine Schande.« Dann verdrückte sie einige wenige Tränen, denen ich nicht so recht glauben mochte. Sie zog mich in ihre Arme, strich über mein Haar und drückte mir einen labberigen Kuss auf den Scheitel. Dann entließ sie mich in die Obhut der Amtspflegerin und sank wieder auf dem Sofa hin. »Geh, Michael«, hauchte sie noch dramatisch. »Geh in ein besseres Leben!«
Zu dritt traten wir aus dem kleinen abgewrackten Häuschen. Colleen saß auf dem Arm der Pflegerin, ich ging an ihrer Seite und schleppte mich mit dem Koffer ab. Mein Name ist Michael und das ist meine Geschichte.
Ich weiß nicht, was mich so resilient gemacht hat. Das Leben hat es weiß Gott nicht leicht gehabt mit mir und ich nicht mit ihm. Aber bei allen Kalamitäten habe ich mein Lachen nie verloren. Mein Lachen nicht und auch nicht das Wissen um meinen Wert. Bei Colleen, meiner Schwester, sah das ganz anders aus. Sie war immer unsicher, wusste nicht, wo ihr Platz in der Welt war, konnte und wollte nicht kämpfen, wenn es um etwas Wichtiges ging, und war damit in dieser Richtung unserer Mutter ähnlicher als gewollt. Aber das durfte man ihr nicht sagen, dann sah sie rot und fauchte und spuckte und warf mit Gegenständen um sich. Colleen war eben ein leidenschaftlicher Mensch, sie dachte, träumte, fantasierte in Multicolor, sie aß mit Genuss, sie trank übermäßig, sie hatte leidenschaftlichen Sex – all das aber nur, wenn sie sich unbeobachtet vorkam. Oder, wenn sie mit Typen zusammen war, die zwar diese Vorlieben zum Teil förderten, ihr insgesamt aber nicht guttaten. Ich musste sie häufig aus solchen Verbindungen heraushauen, retten, weil sie sich nicht trennen konnte. Dafür war ich eben der größere Bruder, eine Rolle, die ich von Anbeginn angenommen hatte.
Jetzt hatte ich diese Rolle nicht mehr inne. Vor sechs Jahren starb Colleen an den Folgen von Brustkrebs. Sie hatte sich nicht behandeln lassen, wies eine Chemotherapie von sich und verlangte stattdessen nach Palliativversorgung. Sie fragte nicht, wie es mir damit ging. War es ihr egal? Oder nutzte sie zum ersten Mal die Gelegenheit, eine wichtige Entscheidung für sich selbst zu treffen? So oder so, sie war schließlich eingeschlafen, friedlich, wie ich hoffe. In der Zeit davor durfte ich sie auf dem Weg durch die fünf Trauerphasen begleiten.
Als sie die Diagnose Krebs erhielt, war es bereits offenkundig. Ein Geschwür war an der Hautoberfläche aufgebrochen. Dennoch wollte sie dem Arzt keinen Glauben schenken. »Das ist doch nur ein eingewachsenes Haar, ein entzündeter Follikel, meinetwegen vielleicht ein Furunkel, aber doch kein Krebs!«
Dann erfolgte die Biopsie und damit die Validierung der Verdachtsdiagnose. Der Krebs war weit fortgeschritten, er hatte bereits metastasiert. Die Lunge war betroffen, die Lymphknoten, und Colleen war in Rage. »Warum bist du nicht früher zum Arzt gegangen?«, wagte ich einmal, zu fragen. Daraufhin sprang sie mir fast ins Gesicht. Warum sie sich damit rumschlagen müsste und nicht Mutter? Und wer hatte schon von Beginn an wissen können, dass es Krebs sei? Sie hatte einfach nicht die Pferde scheu machen wollen. Sie hatte mich schonen wollen. Ach Quatsch, sie hatte sich einfach nicht mit der Angst auseinandersetzen wollen. Und auch jetzt empfand sie es als galoppierende Frechheit, dass gerade sie diese Diagnose bekommen hatte.
Irgendwann verklang der Ärger und sie wandelte sich hin zu einer Mutter Theresa. Sie gab ihre Besitztümer fort, spendete Kleidung und Decken für die Obdachlosen, half bei der Essensausgabe der Heilsarmee und übte sich in Demut. Ich fragte sie einmal, was sie da mache oder welcher Geist in sie gefahren wäre, und sie sagte daraufhin nur, dass sie ihr letztes Hemd hergeben würde, um mitzuerleben, dass ich einmal glücklich werden würde. Mit einer Frau an meiner Seite. Da bekam ich ein schlechtes Gewissen, denn ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass Colleen irgendwann in Armut sterben würde. Auf der anderen Seite war ich noch nicht in der Lage, mich dauerhaft zu binden. Ich wollte es schon, so langsam drängte mich meine Sehnsucht, aber es war schwer. Das erlebte ich gerade mit Jessi Monroe. Sie wünschte sich Offenheit und Romantik, ich musste mich dazu zwingen. Es fühlte sich nicht richtig an.
Mein Zögern schien Colleen in eine tiefe Depression zu stoßen. Das tat mir leid und so versuchte ich alle Tricks, um sie wieder aufzuheitern. Das Lachen aus diesen Tagen, so gezwungen und verkrampft es manchmal auch klang, gehörte zu den glücklichsten Erinnerungen zwischen Colleen und mir. Aber die dunklen Zeiten überwogen in Summe. Colleen starrte in das Nichts vor sich, war apathisch und in sich gekehrt. Ihr schien alles egal zu sein. Leben, warum noch leben, wenn das Sterben eh schon an die Tür klopfte. Wozu kämpfen, wo doch der Körper danach schrie, die Waffen zu strecken. Geh mir weg mit dem Scheiß, sagte sie immer, wenn ich mit einem neuen Vorschlag ankam, etwas Sonne in ihr Dasein hineinzulassen. Sie wollte so oft nicht, aber ich blieb am Ball. Sie war immerhin meine kleine Schwester, ich musste sie beschützen, musste ihr die verbleibende Lebenszeit schön gestalten, wollte es ihr leichter machen. Immerhin war ich älter und stärker, das war schon immer so gewesen.
So wie damals, als sie mit so einem Lappen zusammen gewesen war. Keith Gernegroß, ein dünnes Hemd mit Größenwahn. Hielt sich für den Pascha schlechthin, das Nonplusultra der Männerwelt, für dessen Aufmerksamkeit frau dankbar sein musste. Er kassierte Colleen ab, stellte einen Haufen Forderungen und setzte diese gerne auch mit seinen Fäusten durch. Colleen verpfiff ihn nicht bei mir, aber ich hatte zwei gesunde Augen und sah das Ergebnis der Misshandlungen. Irgendwann konnte ich ihr Schweigen nicht länger hinnehmen, also packte ich sie in meinen Wagen, fuhr sie nach Hause und griff mir Keith. Nachdem ich ihm eine Ansprache und zwei, drei Kopfnüsse verpasst hatte, warf ich ihn aus dem Haus. Er wagte nicht mehr, sich wieder zu zeigen. Colleens Dankbarkeit hielt sich in Grenzen. Aber was sollte es schon, Hauptsache, sie war den Typen los. Dass es nicht allzu lange dauern würde, bis sie den nächsten Loser an Land zog, war mir schon bewusst, auf eine subtil verborgene Art, die sich eher im Hintergrund des Bewusstseins aufhielt und erst beim Eintreten des konkreten Ereignisses ihr ›Hab’ ich es dir nicht gesagt?‹ ins Ohr schmetterte. Warum das so war? Darüber kann ich später noch spekulieren.
Fürs Erste sei nur so viel gesagt: Meine Schwester konnte anscheinend nicht anders leben, ohne sich permanent erniedrigen zu lassen. Ich war nicht fähig, Bindungen einzugehen, beziehungsweise aufrechtzuerhalten. Aber wenigstens hatten wir einander und so war es nicht verwunderlich, dass, als sie krank wurde, meine Seele einen Sprung bekam. Einen Knacks eben. Und damit dieser Knacks nicht reißt, damit dieser Steinschlag meines Denkens und Fühlens nicht zu einem riesigen Riss mutiert, muss ich über meine Schwester sprechen. Und manchmal auch über mich. Aber meistens über meine Schwester. Es gibt tausenderlei Anekdoten, die sie in all ihren Facetten zeigen und ich werde einen Großteil davon erzählen. Also, es wäre besser, wenn man mich reden lässt, denn wenn nicht, dann tut es mir weh und dann gehe ich einfach weg. Ich suche dann das Lachen in mir und ich werde es finden, aber der, der mir wehgetan hat, wird das nicht mehr erleben dürfen. Und das wäre schade, denn mein Lachen ist ansteckend. Herrje, wir haben nur das eine Leben, das sollten wir uns nicht vermiesen lassen. Immer nach vorne schauen, die Dinge anpacken, die den Weg auf dem Highway unserer Existenz verbauen. Immer schön die Unbill in etwas Schönes verwandeln, dann lebt es sich leichter. Ich muss ja selbst immer lachen, so viel Kalenderblattunsinn auf einem Haufen, da würde selbst ein Einhorn im Strahl speien. Aber irgendwo steckt ein Körnchen Wahrheit in dem Soufflé der Mutmachsprüche. Oder nicht?