Die Frau mit den zwei Gesichtern - Uwe Wilhelm - E-Book

Die Frau mit den zwei Gesichtern E-Book

Uwe Wilhelm

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Beschreibung

Eine Frau, die mit allen Wassern gewaschen ist. Ein totgeglaubter Widersacher. Und ein Auftrag, der ihre einzige Chance zu sein scheint...

Noa Stern ist jung, alleinerziehend und hat Geldprobleme. Für ihre Mitmenschen eigentlich eine ganz normale Frau, wissen nur wenige, dass sie auch noch ein anderes Gesicht hat. Eines, das alles andere als durchschnittlich ist. Denn Noa kann mit der Waffe genauso gut umgehen wie mit ihrem Motorrad und kennt als Vermittlerin zwischen dem Establishment und der Berliner Unterwelt jede noch so dreckige Ecke ihres Viertels. Und sie wird von einem der mächtigsten Männer der Hauptstadt erpresst. Mit einem verhassten Kapitel ihrer Vergangenheit, das unter allen Umständen geheim bleiben muss. Sie soll einen gefährlichen Auftrag für ihn erledigen. Noa ahnt nicht, dass mit dem Job nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Tochter auf dem Spiel steht …

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Das Buch

Noa Stern ist jung, alleinerziehend und hat Geldprobleme. Für ihre Mitmenschen eigentlich eine ganz normale Frau, wissen nur wenige, dass sie auch noch ein anderes Gesicht hat. Eines, das alles andere als durchschnittlich ist. Denn Noa kann mit der Waffe genauso gut umgehen wie mit ihrem Motorrad und kennt als Vermittlerin zwischen dem Establishment und der Berliner Unterwelt jede noch so dreckige Ecke ihres Viertels. Und sie wird von einem der mächtigsten Männer der Hauptstadt erpresst. Mit einem verhassten Kapitel ihrer Vergangenheit, das unter allen Umständen geheim bleiben muss. Sie soll einen gefährlichen Auftrag für ihn erledigen. Noa ahnt nicht, dass mit dem Job nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Tochter auf dem Spiel steht …

Autor

Uwe Wilhelm, geboren 1957, hat mehr als 120 Drehbücher unter anderem für Bernd Eichinger, Katja von Garnier und Til Schweiger verfasst. Darunter Tatort und Polizeiruf, die Kinofilme Bandits, Gebrüder Sass und Friendship. Außerdem Theaterstücke, u. a. Fritz! (über Friedrich den Großen). Nach einem Schicksalsschlag ist Uwe mehrere Monate durch Amerika, Indien, Tansania und Israel gereist und hat 2015 begonnen Romane und Thriller zu schreiben. Sein neuestes Werk »Die Frau mit den zwei Gesichtern« erzählt die aufregende Geschichte eines weiblichen Bodyguards im heutigen Berlin.

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Uwe Wilhelm

DIE

FRAU

MIT DEN

ZWEI

GESICHTERN

Roman

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2020 by Uwe Wilhelm

© 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: © Eric Forey/Trevillion Images;

www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23287-0V001

www.blanvalet.de

Zur wilden Renate

In den letzten drei Wochen war die Temperatur auch nachts nicht unter dreißig Grad gefallen. Die Luftfeuchtigkeit lag bei achtzig Prozent, die brütende Hitze trocknete jeden Gedanken aus, das Atmen fiel schwer, und die Zeit war eingeschlafen. Selbst das Nichtstun fiel schwer. Die Sieben-Uhr-Nachrichten waren vorbei, im Radio lief Sunshine Reggae. Noa Stern war mittlerweile seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen und so müde, dass sie im Stehen hätte einschlafen können. Aber den letzten Job des Tages konnte sie nicht absagen. Sie hatte monatliche Zahlungen auflaufen lassen, inzwischen waren es schon mehr als zweitausendfünfhundert Euro. Der Gläubiger wurde ungeduldig. Also schwarzes Abendkleid, Handtasche mit Schlagstock, Telefon, Handschellen. Klebeband mit Metallfäden an den Fußsohlen, falls sie die Highheels ausziehen musste. Sie wollte nicht wieder in Glasscherben treten und sich den kleinen Zeh selbst amputieren, wenn sie barfuß jemandem hinterherrannte. Die Baby Eagle zur Sicherheit in dem Holster an der Innenseite des rechten Oberschenkels.

Noa fuhr mit ihrer Triumph Srambler zum Soho House, um die Schutzperson abzuholen, von dort ging es mit dem Limousinen-Service zum Zielort, dem Salon Zur wilden Renate. Große Premierenfeier für einen Kinofilm. Vierhundert geladene Gäste. Es hatte Drohungen gegeben, weil die Schutzperson einen ihren Schauspielerkollegen wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte.

Die Schutzperson war fünfunddreißig Jahre alt, Hauptdarstellerin in dem Film und von der Gala zum neuen deutschen Filmstar mit internationalem Potenzial erklärt worden. Sie war nervös und redete wie ein Wasserfall. Dass sie bisher ja nur Fernsehen gemacht habe, Tatort und so was, dass Kino doch was anderes sei, und ob Noa von dem Film gehört habe. Noa hatte nur den Trailer gesehen. Es ging um Gangster, die sich in Noas Augen so benahmen, als hätten sie in der Bronx einen vom Goethe-Institut gesponserten zweiwöchigen Ghetto-Kurs belegt. Sie sagte, dass ihr der Trailer gefallen habe, die Schauspielerin toll sei und bestimmt bald einen Anruf aus Hollywood erhalten würde. Die Schutzperson nahm das Kompliment dankbar entgegen, und Noa lächelte beruhigend. Du machst das gut, sagte sie mit ihrem Blick, Ich bin bei dir. Die Schutzperson ergriff Noas Hand und drückte sie fest. Der Job sollte bis Mitternacht gehen, danach wollte die Schutzperson ins Bett, um ihre zehn Stunden Schönheitsschlaf zu halten. Kein Problem, meinte Noa. Wenn es um Schönheitsschlaf ging, hätte sie allerdings zwei Monate lang schlafen müssen.

Vor dem Club hatte sich eine Wolke aus hysterischen Fans versammelt, der übliche kritische Moment. Es gab zwar eine Absperrung, die Security hatte acht Leute postiert, aber es gab auch immer ein paar Verrückte, die sich nicht zurückhalten ließen. Noa spürte die Anspannung, ein Kribbeln in Beinen und Armen. Die Sorge, dass sie etwas übersehen könnte, dass jemand aus der Masse heraus plötzlich angreifen würde, bewaffnet mit einem Messer oder einer Pistole oder Säure. Alles schon erlebt. Sie kannte den Club. Vom Markgrafendamm aus gab es einen Lieferanteneingang, da wartete niemand, und es empfahl sich, von dort in den Club zu gehen. Aber die Schauspielerin wollte sich ihren Fans zeigen, da war sie wie die meisten ihrer Kollegen, ein Junkie an der Nadel der Bewunderung. Als Noa die Wagentür öffnete, wurden sie von wildem Gekreische empfangen. Die Fans drängten gegen die Gitter, riefen ihren Namen, bettelten um Autogramme, streckten der Schutzperson die Handys entgegen. Noa scannte die Gesichter. Viele junge Frauen und ältere Männer. War jemand darunter, der seltsam aussah, angespannt, wütend? Sie drängte sich zwischen die Schutzperson und das Gitter, drückte aufdringliche Hände zur Seite, schob Selfiesticks zurück. Die Schutzperson schrieb Autogramme, brachte sich für Selfies in Position. Nicht mit dem Rücken zu den Fans stellen, hatte Noa ihr eingeschärft, aber diese Vorgabe hatte die Schutzperson im Überschwang der Begeisterung schon wieder vergessen. Sie wollte das Bad in ihren Fans genießen. Für Noa war es die halbe Stunde, in der sie jedes Mal durch die Hölle ging. Dann endlich ging es in den Club.

Der Fußboden klebte, die Sessel waren dreckig. Die Sofas sahen aus, als würden sie Bakterien und Viren für jede bekannte Geschlechtskrankheit bereithalten. Aus den Klos waberte Uringestank. Noa wunderte sich, dass ausgerechnet solche Orte für Partys ausgesucht wurden, aber der Salon war angesagt und gab sich morbid, cool und unsterblich. Das Personal war unfreundlich, und das Publikum schien darauf zu stehen. Berliner Charme auf Speed. Die Schutzperson winkte, gab Küsschen, umarmte und lachte. Sie sagte etwas, das Noa nicht verstand. Die Musik war zu laut. Die Bässe riefen Herzrhythmusstörungen hervor. Noa fragte nach. »Bleiben Sie mir vom Hals, ich kann mich ja kaum bewegen«, sagte die Schutzperson. Die Bar im zweiten Stock war auf Drogen und brauchte zehn Minuten für einen Drink. Noa hatte Mühe, die Schutzperson in dem Gedränge nicht zu verlieren. Einer der Gäste hatte schon ordentlich getankt. Es war ausgerechnet jener Kollege, der wegen der sexuellen Belästigung nicht auf der Party hätte sein dürfen. Eigentlich. Er taumelte auf die Schutzperson zu, umarmte sie und schrie etwas, das sich nach Blowjob anhörte. Angeblich hatte sie ihm in dem Film zwei Blowjobs gegeben, woraus er nun auch in der Realität sein Menschenrecht auf diese Form der sexuellen Befriedigung ableitete. Die Schutzperson stieß ihn zurück, und es kam zum Handgemenge. Noa zwängte sich bis zum Schauspielerkollegen vor und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie ihn nicht verletzen, aber vorübergehend ausschalten würde. Dabei drückte sie ruckartig so fest auf seinen Solarplexus, dass er Atemprobleme bekam. Kurz bevor er ohnmächtig wurde, legte sie ihn auf einem Sofa ab, aber sie hatte übersehen, dass der Kollege seine Entourage mitgebracht hatte. Sie waren zu viert und drängten lärmend in den Raum. Testosteron auf Koks flackerte in ihren Augen und verlangte Krawall. Ein paar Provokationen, gefolgt von rüden Beleidigungen. Noa ärgerte sich. Sie hatte die Jungs schon vorher gesehen, aber nicht richtig eingeschätzt. Mit einem schnellen Blick erfasste sie den Linksaußen als den Gefährlichsten der vier und hielt geradewegs auf ihn zu. Stellte sich vor ihn, bat ihn höflich, die Party zu verlassen. In seinen Augen sah sie, dass er sich jenseits jeglicher Impulskontrolle befand. Er richtete den Zeigefinger auf sie, fuchtelte millimeternah vor ihren Augen herum, lachte sie aus und spuckte ihr ins Gesicht. Als er ihr ins Gesicht schlug, ging es schnell. Noa ergriff mit der Linken seine Hand, kugelte ihm mit der Rechten den Zeigefinger aus und kurz darauf wieder ein. Er schrie auf, hielt sich die Hand und ging in die Knie. Noa sah die anderen drei Typen an. »Hat noch jemand Bedarf?«, fragte sie. Niemand hatte. Ein Mann kam auf Noa zu, stellte sich als Produzent des Films vor und dankte ihr. Die Schutzperson hatte genug von der Party und wollte ins Hotel, was Noa ebenfalls für die beste Lösung hielt. Außerdem konnte sie den Job dann schon vor Mitternacht beenden. Das Honorar blieb wie vereinbart: tausend, bar, unversteuert. Die Schutzperson dankte Noa und wollte wissen, was Noa zu ihrem Kollegen gesagt hatte. Dass er ein braver Junge sein solle, antwortete Noa. Zurück beim Soho House, schwang sie sich im Abendkleid und mit Highheels auf ihr Motorrad und fuhr ins Büro. Sie konnte noch nicht nach Hause fahren. Nach solchen Abenden musste sie zuerst runterkommen. Außerdem wollte sie noch schnell die Liste der Klientinnen durchgehen, um die sie sich am nächsten Tag kümmern musste.

Vor einem Jahr hatte sie ihre Anstellung bei Loewe Security gekündigt und ihre eigene Firma aufgemacht. Noa wollte endlich jemand sein, beweisen, dass sie mehr konnte, als Befehle zu exekutieren, hinter C-Promis hinterherzulaufen, bei denen die einzige Bedrohung darin bestand, nicht erkannt zu werden. Be successful or die trying. Sie wollte zeigen, dass sie es konnte, bevor die anderen erkannten, dass sie eine Blenderin war. Noa’s Security UG. UG stand für Unternehmergesellschaft mit Haftungsbeschränkung; die sei wichtig, hatte ein Herr Groß vom Jobcenter ihr erklärt, damit sie nicht mit allem, was sie besaß, bezahlen müsste, sollte sie pleitegehen. Den Namen fand er okay, Noa auch, er war ja auch ihre Erfindung. Bis ihre Mutter sie vor einer Woche darauf hinwies, dass die Abkürzung von Noa’s Security UG NSU lautet. Ausgerechnet NSU, diese Truppe von rassistischen, faschistischen Vollidioten, die nichts anderes als der militärische Arm der AfD waren. Da waren aber bereits Visitenkarten, Briefkopf, Kugelschreiber mit dem Firmennamen usw. gedruckt und tausenddreihundert Euro ausgegeben. Jetzt musste sie wieder bei den Ämtern vorstellig werden und eine Namensänderung beantragen. Der neue Name sollte Personenschutz Stern UG lauten. Abgekürzt PSU, was laut Google nur noch für ein paar sterbende sozialistische Parteien stand. Ihre USP war trotzdem clever. Sie zielte auf die Frauen, die sich nicht mehr alles gefallen ließen, die sich beschwerten, wenn der Chef ihnen den Arsch tätschelte, oder die einfach nein sagten, wenn sie neinmeinten. Dabei brachten die Schauspielerinnen, Politikerinnen, Sportlerinnen, die Muttis aus Dahlem und Zehlendorf das Geld, damit Noa den Frauen helfen konnte, denen niemand mehr half. Den Sechzehnjährigen, die aus irgendeinem Kaff in Rumänien hierhergelockt wurden und in Flatrate-Bordellen arbeiten mussten. Den Zwangsverheirateten, die verprügelt und vergewaltigt wurden. Den Alten und Armen und Hässlichen, um die sich niemand kümmerte. Es sprach sich schnell herum, dass da jemand war, der sich doch kümmerte. Aber es gab ein Problem. Es trudelten mehr Anfragen ein, als sie bewältigen konnte. Die Tage hätten hundert Stunden haben müssen, die Monate tausend Tage, es hätte nicht gereicht. Sie schlief kaum noch. Dann war sie auch noch an einem Sonntag auf dem Weg nach Schöneberg mit ihrer Scrambler in den Landwehrkanal gefahren. Passanten hatten sie gerettet, die Feuerwehr hatte das Motorrad aus dem Kanal gefischt. Da war ihr endgültig bewusst geworden, sie musste ihre Firma anders organisieren. Die Frauen dazu bewegen, dass sie einander halfen. Ihr müsst euch zusammenschließen. Ich kann euch für einen Tag helfen, an allen anderen Tagen müsst ihr euch selbst helfen. Hilfe zur Selbsthilfe. Hieß es nicht überall, dass das der beste Weg sei? Bei den schlimmen Fällen wurde sie aktiv. Holte Frauen aus Wohnungen, aus Flüchtlingsheimen, brachte sie zu Anwälten in der Friedrichstraße, die pro bono arbeiteten. Wenn die Fälle noch schlimmer waren, wenn sie ein Mädchen aus dem Keller irgendeines reichen Arschlochs befreien musste, und der ihr drohte, sie zu zerstören, rief sie Alma an.

Die nächste Klientin hatte sie für mittags einbestellt. Sie gehörte zu denen, die Noas kleine Firma sponserten. Es ging um einen Arzt, der bei einer Schönheitsoperation gepfuscht hatte und der Klientin jetzt nachstellte. Auf den Fotos waren die Folgen der OP nicht zu übersehen. Danach war die Ehefrau eines Lehrers dran. Sie wollte nicht beschützt werden, sondern fragte an, wie viel es kosten würde, wenn Noa ihn verprügeln würde. Sie war intelligent, und die ewigen Demütigungen satt, die sie ertragen musste, nur weil sie schlauer war als Klausdieter, zusammengeschrieben. Die Bitterkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Noa nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Schreibtisch. Kippte die Lehne des Schreibtischstuhls nach hinten und dachte nach. Das Bier war kühl, und langsam löste sich die Anspannung des Tages. Eine Ehe ist für Frauen nichts anderes als das institutionalisierte Stockholmsyndrom, hatte Alma gesagt.

Als ein lautes Klopfen Noa aufschreckte, war es bereits hell. Sie saß immer noch auf dem Schreibtischstuhl, hatte die Rückenlehne immer noch nach hinten gekippt, die Füße immer noch auf dem Schreibtisch abgelegt. Sie nahm ihr Handy. Neun Uhr fünfundzwanzig. Ihr Rücken tat weh, das linke Bein war eingeschlafen.

So humpelte sie zur Tür.

Wonder Woman

Die junge Frau war achtzehn, vielleicht aber auch erst fünfzehn. Sie trug einen marineblauen Overall von Donna Karan, die riesige Sonnenbrille war von Gucci, der Kopfhörer von Beats, der Hidschab von Dolce & Gabbana. Nur die weiße Lederjacke schien von keinem bekannten Label zu sein. Um den Zeigefinger der rechten Hand schlängelte sich ein goldener Ring. In der linken Hand hielt sie das neueste iPhone. Mit einem ihrer ewig langen Fingernägel angelte sie einen Fremdkörper aus dem Augenwinkel. Eine Geste, die sie mit Sicherheit aus einer amerikanischen Serie abgeschaut hatte.

»Sind Sie Noa Stern?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Noa.

»Kann ich reinkommen?«

»Sicher.«

Noa schloss die Tür hinter ihr und bot ihr einen Stuhl an. Dann setzte sie sich auf den Schreibtischstuhl, nahm die Bierdose vom Tisch und sah sich das Mädchen genau an. Die Lippen sahen aus wie aufgespritzt, aber das waren sie nicht. Jemand hatte sie geschlagen. Sie hatte die Rötungen gut überschminkt. Und das, was Noa zuerst für Herpes hielt, war ein Riss an der Unterlippe.

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte sie.

»Das ist nicht so einfach«, erklärte das Mädchen.

Sie schlug die Beine gekonnt übereinander, saß gerade, als würde sie für ein Porträt fotografiert werden. Diese jungen Frauen altern zu schnell, dachte Noa. Noch keine sechzehn, und sehen aus wie dreißig. Sie dachte an ihre Tochter Ava. Die war zwar erst dreizehn, aber vermutlich würde sie auch bald mit knallrotem Lippenstift, schicken Handtaschen und einem BH anfangen, in den sie Socken stopfte. Was sollte werden, wenn sie erstmal vierzig wurden? Wo war dann die Zeit, in der sie rebelliert hatten? In der sie die Welt auf den Kopf gestellt hatten, nur um zu sehen, ob etwas für sie abfiel? In der sie sich gegen ihre Eltern stemmten, um selbst jemand zu werden, kein Abziehbild, keine Version von irgendjemand anderem? Angefüllt mit Enthusiasmus und Idealismus und Egoismus, all dem Scheiß, den man Pubertät nannte.

»Ich werde verfolgt«, erklärte das Mädchen.

»Von wem?«, fragte Noa.

»Typen, die für meinen Vater arbeiten.«

»Oh! Wie wäre es mit der Polizei?«

»Das geht nicht. Die rufen meinen Vater an, er sagt, dass es eine Familiensache ist, und dann darf er mich wieder mitnehmen.«

Sie klang ziemlich abgebrüht, als habe sie das schon häufiger erlebt.

»Du willst nicht zur Polizei gehen, aber du denkst, dass ich dir helfen kann? Wieso?«

»Jemand hat mir Sie empfohlen.«

»Wer?«

»Ich weiß nicht mehr, wie die heißt. Sie haben jedenfalls den Mann von der verprügelt. Außerdem haben Sie im Internet jede Menge Fünf-Sterne-Bewertungen.«

Ja, die hatte Noa. Und sie hatte sie sogar alle selbst geschrieben, dann an ihre Freundinnen geschickt, damit die sie von ihren Accounts aus posteten.

»Sie sind wirklich Noa Stern, oder?«, fragte das Mädchen.

»Steht draußen an der Tür«, antwortete Noa.

»Da steht Noa’s Security UG.«

»Und?«

»Es könnte ja auch sein, dass Sie die Sekretärin sind.«

»Sieht das hier so aus, als könnte ich mir eine Sekretärin leisten?«

Das Mädchen sah sich um. Rechts an der Wand hingen ein paar gerahmte Urkunden. Das Zertifikat zur erfolgreichen Ausbildung als Mobile Sicherheitsfachkraft inklusive Führerschein, ausgestellt von der IHK. Daneben die Bestätigung der erfolgreichen Prüfung über die gewerbliche Waffensachkunde nach § 7 WaffG. Darunter Urkunden für eine fundierte Ausbildung, Unterweisung in Taktik, Technik und anderen Dingen, um eine Person professionell zu schützen.

»Und Sie sind ein Bodyguard für Frauen?«, fragte das Mädchen.

»Ja, bin ich.«

Es gab nicht viele von ihrer Sorte. Bodyguard war immer noch ein Männer-Beruf. Kevin Costner hatte ihm in dem Film mit Whitney Houston ein Denkmal gesetzt. Allerdings hatte Noa sich gefragt, wo der tolle Kevin war, als Whitney allein in ihrem Hotel in der Badewanne lag und sich das Leben nahm.

»Sie müssen mir helfen. Mein Vater will mich nach Beirut schicken. Ich soll da meinen Onkel heiraten. Aber der ist hässlich. Außerdem wird er mich vergewaltigen und mir vier Kinder machen und mich irgendwann totschlagen. Und wenn ich nicht nach Beirut fliege, bringt mein Vater mich um.«

Das wurde ja immer besser. Die Kleine wurde nicht nur verfolgt, jetzt wollte ihr Vater sie auch noch umbringen. Noa holte eine Cola aus dem Kühlschrank.

»Willst du auch eine?«

»Ich trinke nur Zero.«

Vielleicht übertrieb die Kleine, dachte Noa, als sie sich wieder setzte. Mädchen, die ihr Leben lang beschützt und dadurch entmündigt werden, heulen schnell, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es haben wollen. Auch das kannte sie von Ava.

»Sie glauben mir nicht, oder?«

Das Mädchen nahm die riesige Sonnenbrille ab, schob den Hidschab nach hinten. Das rechte Auge war zugeschwollen, der linke Augapfel blutunterlaufen. Auf der Stirn direkt unter dem Haaransatz klaffte eine Platzwunde. Das linke Jochbein leuchtete rot. Und dann fing sie an zu zittern, als hätte sie Schüttelfrost. Kinder sollten nicht solche Angst haben, dachte Noa. Vor allem nicht vor ihren Vätern. Väter waren dazu da, ihre Kinder zu beschützen und nicht, um sie zu verprügeln.

»Okay«, sagte Noa.

Das Mädchen sprang auf, lief um den Schreibtisch herum und umarmte Noa. Ihr Körper fühlte sich unter der Camouflage aus Schminke und Kleidern warm und weich an. Noa verstand sehr gut, was in dem Mädchen vorging. Wir alle brauchen jemand, der uns hält und für uns da ist, wenn es schwierig wird, der uns sagt, was wir tun sollen und weiß, dass alles gut werden wird. Die Kleine legte fünfzig Euro aus ihrer Dolce & Gabbana-Geldbörse auf den Schreibtisch.

»Sie kriegen noch mehr.«

»Das klären wir später. Aber erstmal sagt du mir, wie du heißt.«

»Tiara.«

»Und weiter?«

»Moussa.«

»Dein Vater ist Osman ›Samy‹ Moussa?«

»Ja.«

Noa legte den Kopf nach hinten. Ausgerechnet er. Der Mann war stinksauer auf sie, weil wegen ihr zwei seiner Cousins im Knast saßen. Und weil sie seiner Frau einen Anwalt besorgt hatte, dem sie vertrauen konnte.

»Da sind sie«, sagte das Mädchen.

Durch das geöffnete Fenster war zu hören, wie eine Urgewalt vor dem Gesundbrunnen-Center aufmarschierte. Laut brüllende Motoren. Dann das Schreien der Reifen, die über den trockenen Asphalt rutschten. Türen wurden aufgerissen und kurz hintereinander hart zugeschlagen. Kommandos, aus dem Weg zu gehen, gebrüllt. Glas fiel zu Boden und zerbrach. Ein Baby weinte. Ein Mann beschwerte sich halbherzig. Noa kannte diese Auftritte. Sie sollten Schrecken verbreiten. Dass man vor Angst in die Hose pinkelte und vor Entsetzen nicht mehr wusste, was man tun sollte. Diese Typen hatten keine Angst, dass jemand die Polizei rufen könnte, weil so etwas wie Polizei in ihrem Reptiliengehirn nicht vorkam. Wie auch. Das Reptiliengehirn war fünfhundert Millionen Jahre alt. Damals gab es noch keine Polizei. Und bis die Polizei in ihren lächerlichen Opel Zafiras im Gesundbrunnen-Center anrauschte, hätten die Reptilien ihren Job längst erledigt.

Den Stimmen nach zu urteilen, waren sie zu sechst. Sie würden sich auf die drei Ausgänge verteilen. Die Firmenschilder neben der Haupttür lesen. Auf Noa’s Security UG stoßen. Eins und eins zusammenzählen. Sich von da zu Noas Büro vorarbeiten. Maximal zehn Minuten brauchen. Die Tür eintreten, Noa die automatischen Pistolen an die Stirn halten und das Mädchen, das heulend vor ihrem Schreibtisch saß, an den Haaren packen und sie zurück zu ihrem Vater schleifen. Danach würden sie das Büro mit Baseballschlägern in handliche Stücke zerlegen.

Für Noa hieß das, sie musste sich gut überlegen, ob sie den Auftrag wirklich annehmen konnte. Und ob sie eine Chance hatte, aus der Sache heil rauszukommen, wenn etwas schiefgehen sollte. Das Credo, das ihr alter Chef Maik Loewe ihr mit auf den Weg gegeben hatte, fiel ihr ein. In unserem Job musst du wissen, wann du einen Auftrag annimmst und wann du vernünftig sein und einen Auftrag ablehnen musst. Das war richtig. Aber manchmal war vernünftig nur ein anderes Wort für Feigheit.

Luftverschmutzung

Sie hielten es nicht für nötig anzuklopfen. Sie kamen herein und bauten sich in Noas Büro auf. Sie trugen schwarze Sonnenbrillen und gehörten zu einer Lebensform, die immer noch nicht ausgestorben war. Fossile Reflexe, töten, rauben, zerstören, lebten in ihnen weiter. Die Arme über der Brust verschränkt, damit die Muskeln und die Tattoos deutlich sichtbar waren. Bei dem in der Mitte mit dem millimetergenau rasierten Bart war es eine Königskobra, die aus dem T-Shirt hervorkroch, am Hals das Maul aufriss und ihren Nackenschild ausfuhr. Die drei feinen schwarzen Striche unter dem linken Auge erzählten von drei Morden. An seinen Nasenlöchern klebten zwei winzige weiße Reste wie Puderzucker von einem Donut.

Noa saß hinter ihrem Schreibtisch, den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Hände im Schoß und darin die Baby Eagle für den Notfall.

»Falls Sie zu mir kommen, weil Sie Hilfe brauchen oder ich Sie beschützen soll, muss ich Sie leider enttäuschen. Ich nehme nur weibliche Klientinnen«, sagte sie.

»Brauchst du welche?«, fragte der Rechte.

»Wieso? Denken Sie über eine Geschlechtsumwandlung nach?«

»Nein, das ist nicht unser Thema«, sagte der Linke.

Keine Drohung, sondern ein eleganter Einstieg auf Noas ironischen Smalltalk. Das bedeutete, er war der Boss. Er war nicht tätowiert, trug lediglich einen kleinen Saphir im rechten Ohrläppchen.

»Wir haben nur eine unbedeutende Frage, wenn Sie erlauben«, sagte Saphir lächelnd. Es war das böseste Lächeln, dass ihr je begegnet war.

»Es gibt keine unbedeutenden Fragen, nur unbedeutende Antworten. Also nur zu.«

»Sie haben nicht zufällig ein Mädchen gesehen? Etwa eins sechzig groß, Sonnenbrille, Hidschab, weiße Lederjacke, blauer Overall.«

»Nein.«

»Also ist die Kleine nicht hier reingekommen und hat zum Beispiel gefragt, wo die Toilette ist?«

»Nein, aber wenn, dann hätte ich sie den Gang runter und nach links geschickt. Hat sie was verbrochen?«

»Wie man es nimmt. Sie hat einem Freund von mir ein Brotmesser in die Hand gestochen.«

Davon hatte Tiara nichts gesagt. Noa spürte, wie der Schweiß in feinen Rinnsalen ihren Rücken hinunterlief, sich an der Wirbelsäule in einem größeren Rinnsal sammelte und in ihrer Jeans verschwand.

»Das ist übel. Aber wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?«

»Sie hat Sie gegoogelt.«

»Verstehe. Vielleicht machen wir es so. Sie lassen mir Ihre Karte da, und wenn das Mädchen doch noch hier auftauchen sollte, rufe ich Sie an. Okay? Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen. Ich hab noch zu tun.«

Die drei bewegten sich nicht. Das mussten sie auch nicht. Ihre schiere Anwesenheit erzählte davon, dass hier ein rechtsfreier Raum eröffnet wurde. Und wie in allen rechtsfreien Räumen galt das Recht derer, die in der Überzahl und brutaler waren. Noa hätte natürlich einfach aufstehen und selbst ihr Büro verlassen können. Aber dann würden die drei Typen alles auf links drehen und irgendwann feststellen, dass Tiara nur vier Meter entfernt hinter einer unsichtbaren Tür stand. Man konnte ihr Parfüm riechen. Chanel No. 5. Das beste Parfüm für eine Sechzehnjährige, die sich zehn Jahre älter machen will. Dass die drei Typen es nicht rochen, lag daran, dass der Rechte Égoïste benutzte. Ein präpotentes Parfüm aus den Neunzigern.

»Was ist das da?«

Saphir deutete auf die Tür in der linken Wand.

»Der Raum für die Putzsachen. Man will es ja sauber haben.«

»Was dagegen, wenn wir mal reinschauen?«, fragte er.

Er wartete Noas Antwort nicht ab, gab Égoïste ein kurzes Zeichen, der machte einen Schritt auf die Tür zu. Noa versuchte, so entspannt wie nur möglich zu klingen.

»Ja.«

»Wie bitte?«

Die Frage kam wie eine Peitsche.

»Wenn Sie den ganzen Satz hören wollen, ja, ich habe was dagegen, dass Sie reinschauen.«

Saphir erneuerte das Zeichen. Es war ein Kopfnicken. So unscheinbar, dass es nur jemand verstehen konnte, der schon eine Weile mit ihm zusammenarbeitete. Égoïste wollte die Tür öffnen, sie war abgeschlossen.

»Sehen Sie«, sagte Noa.

»Schlüssel«, sagte Saphir.

»Hab ich nicht.«

»Tatsächlich?«

Saphir kam auf den Tisch zu. Stützte die Hände auf der Tischplatte ab. Er war so nahe, dass Noa Sex riechen konnte. Wahrscheinlich hatte er am Morgen nicht geduscht. Noa sah ihm in die Augen. Blieb cool, blinzelte nicht, hielt einfach der Gefahr stand, obwohl sie wusste, dass sie keine Chance gegen die drei Kerle hatte. Und dann kam der Schlag so ansatzlos, dass sie nicht ausweichen konnte. Er traf sie am Kinn und am rechten Ohr. Ihr Kopf flog zur Seite. Die Umgebung wurde in ein pfeifendes Rot getaucht. Woher wissen Männer, wie sie zuschlagen müssen? Lernen die das im Kindergarten? Beinahe hätte sie die Pistole fallen lassen. Sie umklammerte den Griff der Baby Eagle. Beim nächsten Mal würde sie abdrücken.

»Hör zu, du Miststück«, sagte Saphir.

Ein feiner Nebel aus Speicheltropfen traf sie im Gesicht.

»Du hast jetzt zwei Möglichkeiten. Erstens, du machst die verfickte Tür auf. Zweitens, ich nehm deine hässliche Fresse und schlag damit die Tür ein.«

Er hielt eine Pistole an Noas Kopf. Wo hatte er die so schnell her? Spannte den Hahn. Noa atmete langsam ein und wieder aus und wieder ein und wieder aus.

»Die Vormieterin hat den Schlüssel aus Versehen mitgenommen«, sagte sie. Ruhig und unerschütterlich.

»Und woher weißt du dann, dass das der Raum für Putzsachen ist, wenn du keinen Schlüssel hast?«, fragte Saphir.

»Steht so im Mietvertrag.« Immer noch ruhig. Immer noch unerschütterlich. Auch wenn sie aufs Äußerste angespannt war.

Kobra nahm Anlauf und trat die Tür ein. Krachend brach das Türblatt aus den Scharnieren. In dem Raum standen tatsächlich Putzsachen. Besen, Schrubber, Eimer. Biologisch abbaubare Reinigungsmittel aus dem Biomarkt Denn’s im Bahnhof Gesundbrunnen. Und eine Kloschüssel. Kobra betätigte die Spülung. Wahrscheinlich wusste er selbst nicht, wieso. Dann standen die drei eine Weile ratlos da. Es gab keine andere Tür. Saphir nickte Noa zu.

»Wenn wir erfahren, dass sie hier war, ist es besser, du bist dann weit weg.«

Dann steckte er die Pistole ein und verließ das Büro. Kobra und Égoïste machten sich ans Aufräumen. Sie griffen nach den Regalen und rissen sie zu Boden. Fotos, die Noa zusammen mit Promis zeigten, wurden auf den Boden geschmettert. Glasscherben spritzten durch die Gegend. Die Kentia-Palme wurde aus dem Topf gerissen und die Zweige zerbrochen. Eigentlich sollte sie die Luft reinigen. Aber gegen diese Form der Luftverschmutzung kam sie nicht an. Als Kobra dann allerdings den kleinen Berliner Porzellanbären mitnehmen wollte, rief Noa ihn zurück.

»Den Bären hat mir meine Tochter zur Geschäftsgründung geschenkt. Sie hat gesagt, er wird mir Glück bringen. Also bleibt er hier«, sagte sie.

Kobra sah zuerst sie, dann Égoïste erstaunt an. Dann lachte er.

»Hör dir die kleine Fotze an.«

Er ging auf Noa zu, baute sich vor ihr auf.

»Und wenn er nicht hierbleibt?«

»Unter dem Tisch habe ich eine Baby Eagle. Das große Magazin mit 15 Schuss 9 mm Parabellum. Vielleicht kennst du das Modell. Der Lauf zielt ziemlich genau auf dein Reproduktionsinstrument. Entweder du stellst den Bären hier vor mir ab, oder deine Familienplanung hat sich erledigt.«

Wieder das Lachen. Diesmal aber nicht mehr so selbstsicher. Er beschimpfte Noa mit dem üblichen Vokabular. Und Noa fragte ihn, was er damit bezwecken wollte, wenn er sie auf das primäre weibliche Geschlechtsmerkmal reduzierte. Kobra wusste darauf keine Antwort. Er stellte den Bären ab und verließ zusammen mit seinem Kumpel Noas Büro. Sie lauschte noch den Schritten nach, als die beiden sich den Flur entlang entfernten.

Und dann kam das Zittern. Es war so stark, dass Noa beide Hände brauchte, um die Pistole in ihren Hosenbund zu stecken. Solche Begegnungen produzierten Haarrisse in ihrem Selbstbewusstsein. Sie blieb noch eine Weile sitzen. Sie hatte bedrohliche Situationen erlebt. Aber das eben gehörte auf einen Spitzenplatz. In dem Jahr, in dem sie ihr Büro im Wedding eröffnet hatte, war ihr einiges begegnet, das sie noch nicht gekannt hatte. Mehr als einhundert Klientinnen aus allen Teilen der Stadt waren seitdem in ihr kleines Büro gekommen. Sie hatten geweint, geflucht, gejammert. Hatten gedroht, sich umzubringen. Noa brachte sie in Frauenhäuser, zu den guten Anwälten, versteckte sie bei sich zuhause. Hörte ihnen nächtelang zu und tröstete, so gut es ging. Von denen, die es sich leisten konnten, hatte sie das volle Honorar genommen, damit sie sich auch um die kümmern konnte, die kein Geld hatten. Bei zweien war sie gescheitert. Eine hatte Tabletten genommen, eine andere hatte sich vor die S-Bahn gelegt. Es waren Ehefrauen, Partnerinnen, Freundinnen von Unternehmern, Ärzten, Lehrern, Schauspielern, Taxifahrern, Bauarbeitern, Arbeitslosen, Zuhältern, die gewalttätig wurden, wenn es nicht nach ihrem Willen ging. Und jedes Mal hatte Noa sich gefragt, woher die Aggressionen kamen, wenn sie zuschlugen, einsperrten, vergewaltigten. Bewies nicht all das, dass die Idee von der Würde des Menschen in Bezug auf Frauen zu einer kuriosen Lüge wurde, wenn die Typen keinen Bock mehr auf Reden hatten, wenn sie nicht bekamen, wovon sie glaubten, dass es ihnen zustünde, wenn sie sich in die Enge gedrängt fühlten, wenn sie klarmachten, wie die Macht verteilt war. Das waren jedes Mal die Augenblicke, in denen Noa daran dachte, ihren Job wieder aufzugeben, aufs Land zu ziehen und sich nur noch um Hühner, Gänse und Schafe zu kümmern.

Beethovens Fünfte

Sie stand in einer gelben Pfütze. Es war ihr peinlich, dass sie in die Hose gemacht hatte. Aber als die Tür in die Toilette gekracht war, jemand die Toilettenspülung betätigt hatte, nur einen Meter von ihr entfernt, war es passiert. Der Raum war gerade groß genug für zwei Regale und einen Menschen, der dazwischen stehen konnte. Sie hielt ein Ohr an die Tür. Seit fünf Minuten konnte sie kein Wort mehr von draußen hören. Sie wusste nicht, was passiert war. Ob die Kerle Noa mitgenommen hatten, ob sie sie verprügelt hatten, ob sie tot war. Sie wartete noch eine weitere Minute, dann klopfte sie zaghaft. Und dann dauerte es nochmal eine halbe Ewigkeit, bis eine Sperre an der Decke gelöst wurde und die unsichtbare Tür hinter der Kloschüssel sich öffnete. Noa stand davor. Das Büro hinter ihr war ein einziges Chaos.

»Sind die weg?«

»Ja«, sagte Noa.

»Tut mir leid. Echt.«

»Ja.«

Mehr nicht. Tiara wollte die Tränen zurückhalten, aber weil die Angst sich löste und sie so froh war, dass die Kerle sie nicht gefunden hatten, konnte sie nicht anders, als Noa wieder zu umarmen und loszuheulen.

»Ist alles gut«, sagte Noa. »Du bist in Sicherheit.«

Trotzdem konnte Tiara Noa nicht loslassen. Es war, als ob sie dann fallen würde. In ein schwarzes Loch ohne Boden. Zum Glück ließ Noa es zu. Sie machte nichts. Stand einfach nur wie eine große Schwester, die Bescheid weiß und alles richtig macht. Es vergingen Minuten, bis Tiara sich lösen konnte. Noa reichte ihr Toilettenpapier, sie schnäuzte sich die Nase. Jetzt sah sie, dass Noas rechte Gesichtshälfte rot und geschwollen war.

»Was ist mit deinem Gesicht?«, fragte sie.

Noa sah in den Spiegel.

»Ist schon ein Wunder, dass die Kerle genau wissen, wie sie zuschlagen müssen.«

Sie zog Grimassen, bewegte die Gesichtsmuskeln. Mit dem Zeigefinger prüfte sie, ob ein Zahn wackelte. Aber es schien alles in Ordnung zu sein. Tiara fand es stark, dass Noa sich nicht hatte beeindrucken lassen. Sie hatte ja alles mit angehört und nur darauf gewartet, dass Noa sie an die Schweine ausliefern würde. Aber das hatte sie nicht getan. Sie war cool geblieben, und die Typen waren abgezogen. Ihre Bewunderung für Noa wuchs mit jedem Gedanken.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Tiara.

»Weiß ich noch nicht. Aber ich arbeite dran.«

Noa ging zu ihrem Schreibtisch, nahm eine Geldbörse heraus.

»Okay«, sagte sie, »du schließt hinter mir ab. Und du machst auf keinen Fall auf, es sei denn, es brennt. Dann wischst du mit dem Putzlappen die Pfütze auf. Wenn ich zurückkomme, klopfe ich wie in Beethovens Fünfter.«

Tiara hatte keine Ahnung, was Beethovens Fünfter sein sollte. Aber das war jetzt auch nicht wichtig. Wichtig war, dass Noa sie allein lassen wollte.

»Wo gehst du hin?«, fragte sie beunruhigt.

»Ich hole neue Klamotten für dich.«

»Nein, spinnst du? Auf keinen Fall. Du darfst mich hier nicht allein lassen. Was ist, wenn die Wichser zurückkommen?«

»Das wird nicht passieren. Hör zu. Du bist zu mir gekommen, weil du Hilfe brauchst. Die kriegst du, aber du musst mitmachen. Ich bin nicht dein Kindermädchen. Okay?«

»Okay.«

»Gut. Dann schließ hinter mir ab. Und räum auf.«

Noa ging, Tiara schloss die Tür ab, und dann stand sie alleine inmitten des Chaos. Sie musste schon wieder weinen. Vielleicht hätte sie doch das Angebot von dem Anwalt mit dem bescheuerten Namen annehmen sollen. Er kannte angeblich einen Polizisten, der sich um sie kümmern würde. Aber irgendwas stimmte nicht mit dem. Der war einfach zu scheißfreundlich gewesen. Dann hatte er auch noch so getan, als würde er ihr helfen, und wollte sie zur Polizei bringen. Von wegen. Die waren doch alle gleich. Machten sich in die Hose, wenn sie hörten, dass es um ihren Vater ging. Nicht so wie Noa. Wenn die Bullen vor einem von seinen Läden vorfuhren, kamen die gleich zu zwanzig und superbewaffnet. Und trotzdem machten sie nichts. Sie verstand nicht, wieso die ihrem Vater nicht in den Hintern traten. Die wussten doch, was für Geschäfte er machte.

Räum auf, hatte Noa gesagt. Mit spitzen Fingern fasste Tiara einen Lappen an und wischte das Pipi auf. Es ekelte sie, obwohl es ihr eigenes war. Danach stellte sie die Regale wieder auf und räumte die Ordner ein. Sie wunderte sich, dass die meisten leer waren, obwohl die Rücken mit Namen beschriftet waren. Die Scherben und das Grünzeug fegte sie zusammen und stopfte alles in einen Mülleimer. Es fühlte sich gut an, weil sie sich nützlich machen konnte. Obwohl sie Noa erst seit einer Stunde kannte, hatte sie das Gefühl, sie könnte ihr alles erzählen. Na gut, vielleicht nicht sofort alles, aber nach und nach schon. Sie würde ihr sogar das Video zeigen, das sie gemacht hatte. Weil Noa die Einzige war, die wusste, was dann zu tun war. Die hatte keine Angst. Als es klopfte, schreckte sie auf. Da da da daa. Da da da daa. War das Beethovens Fünfter?

»Wer ist da?«, fragte Tiara.

»Ich bin’s«, antwortete Noa.

»Noa?«

»Wer denn sonst?«

Hastig schloss Tiara die Tür auf. Bevor Noa in das Büro schlüpfte, schaute sie noch einmal den Gang entlang.

»Ich hab doch gesagt, ich klopfe wie in Beethovens Fünfter.«

»Was ist Beethovens Fünfter?«

»Die 5. Symphonie. Kennst du die nicht? Was lernt ihr eigentlich in der Schule?«

»Ich hab alles aufgeräumt«, sagte Tiara.

Sie dachte, dass Noa sie loben würde, aber die hielt ihr nur eine Tüte von H&M hin. Darin waren eine Jeans und ein Schlüpfer. Außerdem ein Paar Sneaker.

»Was ist das denn?«

»Wieso?«, fragte Noa.

»Ripped Jeans sind total aus der Mode. Und dann auch noch von H&M. Das tragen nur Prollmädchen.«

Sie würde das niemals anziehen. Es war schon schlimm genug, dass sie in der totalen Scheiße steckte. Aber das war noch lange kein Grund, das Zeug von H&M anzuziehen. Und dann sah sie, dass es auch noch eine »L« war. Sie trug keine »L«. Sie trug »M«. Das sah man doch. Noa schien das nicht zu interessieren.

»Dann läufst du eben in deiner vollgepinkelten Jeans rum«, sagte sie.

Tiara griff murrend nach der Jeans. Während sie aus den nassen Klamotten schlüpfte und die neuen anzog, nahm Noa ihr Handy und tippte etwas ein.

»Wem schreibst du?«

»Es kann sein, dass die Typen auf der Lauer liegen, weil sie glauben, dass du dich irgendwo im Center versteckst.«

Sie ging auf und ab, trommelte ungeduldig mit der rechten Hand auf den Oberschenkel. Dann blieb sie stehen, sah Tiara an und wurde ernst.

»Ich weiß, wo ich dich hinbringe«, sagte sie. Sie nahm ihr Handy, wählte die Nummer, die bei den Favoriten ganz unten stand. Schaltete den Lautsprecher an.

»Alma?«, sagte Noa.

»Noa?«, sagte Alma.

Eine tiefe, raue Stimme, die sich nach einem Mann anhörte.

»Bist du zuhause?«

»Kommt drauf an.«

Tiara gab Noa ein Zeichen.

»Was ist?«, fragte Noa.

»Ich gehe nicht zu einem Kerl«, flüsterte Tiara.

»Das ist kein Kerl. Sie heißt Alma«, flüsterte Noa.

Dann nahm sie das Handy wieder hoch.

»Ich brauche deine Hilfe.«

Stille.

»Alma?«

»Du hast wirklich Nerven, Noa. Ein halbes Jahr lang höre ich nichts von dir, und dann rufst du an, und der erste Satz lautet: Ich brauch deine Hilfe.«

»Ich weiß. Tut mir leid.«

»Ist das alles? Tut mir leid?«

»Nein, natürlich nicht. Aber das Jahr war die absolute Hölle. Ich habe nur gearbeitet. Und ich hab ein schlechtes Gewissen. Ich schwöre es dir. Alma, bitte, es ist wirklich wichtig.«

Tiara hörte zu, wie Noa seelisch auf die Knie vor dieser Alma ging. Was war das für eine Frau? Irgendwas musste zwischen den beiden gelaufen sein, das mehr als nur die typische Frauenfreundschaft war. Hatten die was miteinander gehabt? War das so eine komische Lesbennummer? Eigentlich wollte Tiara sich das nicht vorstellen. Sie hatte nichts gegen Lesben. Bisher war sie aber auch nur einmal einer begegnet. Das war in der Schule gewesen. Die Frau hatte ganz normal ausgesehen. Sie war von irgend so einer Kirche und hatte ihnen was über Religion und Toleranz erzählt. Die Jungs hatte die so fertiggemacht, dass sie schon vor dem Klingeln wieder abgedampft war. Weil Noa sich auf die Toilette zurückgezogen hatte, konnte Tiara nicht mehr hören, um was es ging. Aber dann kam Noa wieder heraus und meinte, sie würden jetzt zu dieser Alma fahren. Tiara war echt gespannt.

Noa & Alma

Noa war dreiunddreißig Jahre alt, durchschnittlich attraktiv. Eins zweiundsiebzig bei siebenundsiebzig Kilo. Sie hatte mehrmals beschlossen, fünf Kilo abzunehmen. Nach einem Monat waren es nur noch sechs. Ihr Gesicht war kantig und wirkte männlich. Das half in ihrem Job, sonst würde man sie nicht ernst nehmen. Wenn man sie allerdings fragte, würde sie lieber wie eine der feenhaften Frauen aussehen, die in den Galeries Lafayette hunderte Euro für Kosmetik ausgeben und Beschützerinstinkte wecken. Aber die Leute schließen nun mal von deinem Äußeren auf dein Inneres. Bei ihr dachte man deshalb, sie sei eine harte Kriegerin. Das war sie auch. Manchmal. An allen anderen Tagen war sie das weltweit größte Naturvorkommen an Schuldgefühlen. Weil sie keinen Mann hatte, weil sie nicht genug Geld verdiente, um ihrer Tochter Ava jeden Wunsch zu erfüllen, weil sie ihr nicht sagen konnte, was mit ihrem Vater passiert war. Weil sie sich ab und zu wünschte, dass jemand sie in die Arme nahm und ihr sagte, dass alles gut werden würde. Es war, als hätte sie zwei Gesichter und wüsste nicht, welches das richtige war.

Sie hatte mal was mit Alma gehabt. Es war nur eine Affäre gewesen. Ein Monat, und dann war es wieder vorbei. Aber es gehörte zu der Sorte Erfahrungen, die etwas in Noa verrückten. Eine Tür öffneten, die sie danach nicht mehr schließen konnte. Sie hatten sich auf einem Konzert kennengelernt. Irgend so eine Rapperin, an die Noa sich nicht mehr erinnern konnte. Alma war komplett in Leder gekleidet und zog vor der Bühne eine geile Show ab, woraufhin alle anderen einen Kreis um sie bildeten und sie anfeuerten. Noa konnte den Blick nicht von ihr lassen. Eine Mischung aus Bewunderung und neidgeborener Ablehnung. Nach einer Weile zog Alma sie in den Kreis, und sie lieferten zusammen eine Nummer zu Independent Woman von Destiny’s Child ab. Dann war Alma plötzlich verschwunden. Total verschwitzt ging Noa nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Und da stand Alma. Sie hatte vor der Halle auf sie gewartet. Du bewegst dich gut, sagte sie. Als Noa weitergehen wollte, hielt Alma sie an der Hand fest und küsste sie. Ohne Vorwarnung. Als wüsste sie, dass Noa bereit für sie war. Es fühlte sich wie ein Überfall an, von dem Noa nicht wusste, dass sie ihn herbeigesehnt hatte. Sie konnte sich nicht wehren. Die Lust, die aus Alma hervorstrahlte, der Kuss, der versprach, sie zum Träumen zu bringen, sie schweben zu lassen, war gefährlich und aufregend. Als würde eine Schleuse geöffnet. Als habe sie lange im Dunkeln gesessen und das Leben stumm an sich vorbeiziehen lassen, und auf einmal machte jemand das Licht an.

Sie fuhren mit dem Taxi zu Alma nach Hause. Sprachen unterwegs kein Wort, um die Spannung nicht mit Banalitäten zu entweihen. Noa war so aufgeregt wie vor dem ersten Mal. Sie konnte kaum atmen. An der Tür bezahlte Alma das Taxi. Es ging mit dem Aufzug in die neunte Etage. Die Wohnung war ein Klischee aus Tausendundeiner Nacht. Überall Teppiche, Kissen, Plüsch, rote Vorhänge, ein Himmelbett. Sie tranken Champagner. Was dann folgte, war nicht das, was Noa sich bis dahin unter Sex mit einer Frau vorgestellt hatte. Alma führte sie hinab in einen feuchten Abgrund. Die Blicke auf Noas Scham waren so intensiv, als könnte Alma sie allein mit ihren Augen zum Höhepunkt bringen. Ihre Hände schwebten über Noas Haut, ohne sie zu berühren, erzeugten einen Sog, als sei Alma der Mond und Noa das Meer, das sich sehnsüchtig hob und senkte. Aber all das war nur der erste Akt von Dantes Hölle. Die erste Woche. Die Vorbereitung der Schülerin auf die Ankunft der Hohepriesterin. Was dann folgte, war eine Symphonie aus Berührungen, für die Noas Haut kein Hindernis darstellte, die in ihre Zellen eindrangen und etwas aufschreckten, das vor Millionen von Jahren ein Tier gewesen sein musste. Eine Echse, die sich selbst verschlingt. Alles in Noa sehnte sich nach Händen und Lippen, nach Küssen und Bissen, nach Atem und Gerüchen und Säften.

In der zweiten Woche führte Alma ihre beachtliche Sammlung von Instrumenten vor, die sie jede Nacht ausprobierten. Dann waren Schmerzen an der Reihe, Hingabe und Unterwerfung und Erlösung. Dinge, die Noa nie mit einem Mann gemacht hatte. In dieser Woche dachte sie, sie sei für den Sex mit einem Mann für immer verloren. Dann kam die dritte Woche, und zwei Freundinnen von Alma tauchten auf. Rita und Sahar. Noas Ahnungen wurden gefüttert. All ihre Körperöffnungen nahmen an dem Abenteuer teil. Sie schluckten irgendwelches Zeug, und Hemmungen und Schamhaftigkeit waren nur noch karge Schatten. Es waren vier Wochen, in denen das Versprechen des ersten Blickes eingelöst wurde. Nein, mehr noch, in denen die Einlösung alles übertraf, was Noa erwartet und befürchtet hatte. Alma zog bei Noa ein. Das war nicht einfach, weil Noas Mutter einen Mann erwartet hatte und sich erst daran gewöhnen musste, dass Noa mit einer Frau zusammen war. Ava fand Alma nett und erklärte sie sofort zu ihrer Freundin. Außerdem fand sie es toll, dass Alma Schauspielerin war.

Aber da hatte Alma den Beruf bereits an den Nagel gehängt und begonnen, als Escort zu arbeiten. Die Nacht nicht unter 2000 Euro. So viel hatte sie als Schauspielerin nur selten verdient. Nebenbei schrieb sie ihre Begegnungen und Erfahrungen für eine große Zeitung auf. Abenteuerliche Geschichten, von Männern, die bereit waren, viel Geld für eine Frau auszugeben. Sie verabredete sich mit ihren Kunden in feinen Restaurants zum Dinner. Man trank Champagner, aß Kaviar und Austern. Dabei prüfte Alma, ob die Männer, die sie anschließend mit ins Hotel nahm, es auch verdienten, von ihr behandelt zu werden. Wenn einer nicht kultiviert war, dumm, oder dieses psychopathische Flackern in den Augen zeigte, war der Abend nach dem Dinner beendet. Alma kassierte dann nur die Hälfte. Gewissermaßen als Verdienstausfall. Die meisten allerdings waren durchaus interessante Typen. International. Spanier, Italiener, Franzosen, in letzter Zeit auch vermehrt Chinesen. Interessante Typen im Bett. Die seltsamsten allerdings waren Engländer. Vollendete Umgangsformen, humorvoll, mit einer beeindruckenden Verachtung gegenüber der eigenen Schwäche. Auf dem Zimmer dann allerdings packten sie Bedürfnisse aus, die sogar Alma staunen ließen. Lediglich Japaner konnten ihnen noch das Wasser reichen. Almas durchaus naive Idee war, den Job zehn Jahre lang zu machen, dann genug Geld auf der hohen Kante gespart zu haben und für den Rest ihres Lebens durch die Welt zu reisen. Sie war mit dem Vorhaben schon ziemlich weit gekommen. Bis eines Tages Sam, eine ihrer Kolleginnen, von einem Drei-Tagesjob nach Paris nicht zurückkam.

Die Polizei riss sich nicht gerade ein Bein bei der Suche nach ihr aus. Als sie sie nach einer Woche immer noch nicht gefunden hatten, machten Noa und Alma sich gemeinsam auf die Suche nach Sam. Sie hörten sich in der Szene um. Der Kunde war ein reicher Geschäftsmann aus Paris gewesen. In der SM-Szene bekannt. Vor allem für das Blut, das fließen musste. In Paris hatte er keine Frau mehr gefunden, die bereit war, seine Wünsche zu erfüllen. Deswegen hatte er sich nach Deutschland aufgemacht. Dass Sam nicht mehr auftauchte, konnte nur bedeuten, dass der Kerl sie hatte verschwinden lassen. Einen Tag, bevor Noa und Alma wieder zurück nach Berlin fliegen wollten, fand die Polizei Sams Leiche auf einer Müllhalde. Sie war kein Mensch mehr. Jack the Ripper hätte sicher seine Freude gehabt. Zwei Monate später hatten sie den Kerl aufgestöbert. Er gehörte der Regierung an. War im Innenministerium tätig. Die Pariser Kolleginnen erzählten ihnen, dass der Typ sehr einflussreich sei. Wahrscheinlich würden Indizien und Beweismittel noch vor Eröffnung des Prozesses verschwinden. Also mussten sie einen anderen Weg finden, wie sie ihn bezahlen lassen konnten. Eine Woche später war er tot. Er hatte sich in seinem Apartment selbst in der Kloschüssel ertränkt.

Alma beendete die Beziehung. Ohne Erklärung, ohne letzte Umarmung, ohne Kuss. Was war passiert? Noa wusste es nicht. So jäh, wie es begonnen hatte, war es vorbei. Aber sie litt, als habe man ihr die Haut vom Körper abgezogen, ihr Herz in siedendes Öl getaucht. Sie dachte, sie müsste sterben, und verstand nicht, warum. Wie hatten die Wochen mit Alma sie so erschüttern können? Sie hatten die Tage mit reden, spazieren gehen und vor allem mit Sex verbracht. Nichts Besonderes. Was war es dann, das so anders war? Alma war weich. Sie forderte nicht, sie lockte und verführte. Sie wich zurück und entzog sich. Damit hatte Noa nicht gerechnet. Sie kannte das männliche Verlangen. Sie hatte es sich zu eigen gemacht. Aber Alma hatte sie mit einem Teil ihrer Persönlichkeit in Verbindung gebracht, der tief in ihr schlummerte und den sie nicht kennen wollte. Vielleicht war es so, dass sie, die starke, die unsterbliche, die witzige Frau, auch noch eine andere Seite in sich trug? Und diese Seite alles andere als heroisch war? Noa fühlte sich beschmutzt, sie schämte sich, sie wollte die vier Wochen am liebsten ungeschehen machen. Sie löschen im Archiv ihrer Erfahrungen.

Don’t Hurt Yourself

Sie verließen das Gesundbrunnen-Center durch einen Seiteneingang, achteten darauf, das sie nicht einem von Moussas Leuten in die Arme liefen. Noa hatte mit Alma vereinbart, dass sie sofort zu ihr fahren würde. Als sie das Parkhaus erreichten, und Noa vor einem Motorrad stehen blieb, fiel Tiara aus allen Wolken.

»Was? Ich soll auf das Ding steigen?«, empörte sie sich.

»Das ist kein Ding«, sagte Noa. »Das ist eine Triumph Scrambler 1200 XC. Die hat einen Bonneville-Motor, neunzig PS, und läuft Spitze hundertsiebzig.«

Tiara war trotzdem nicht begeistert. Noa drückte ihr einen Helm in die Hand. Und als sie losfuhren, konnte Tiara sich gerade noch an ihr festklammern, sonst wäre sie vom Sozius heruntergerutscht. Ab und zu stieß sie mit dem Helm an Noas Helm. Vor allem, wenn Noa an einer Kreuzung Gas gab, das Vorderrad sich vom Asphalt löste und sie dreißig, vierzig Meter wie eine wütende Göttin die Brunnenstraße hinunter in Richtung Hackescher Markt raste, dabei mit äquilibristischer Kunst die Balance hielt, bis sie vor der Ampel an der Bernauer das Gas wegnahm, woraufhin die Maschine sich wieder hart auf das Vorderrad herabließ.

Es ging in Richtung Osten. Irgendwann flog ein Schild mit der Aufschrift Hellersdorf an ihnen vorbei. Am Straßenrand hingen Plakate von der AfD. Nach einer halben Stunde erreichten sie die Gegend, in der sich endlose weißgestrichene Wohnfabriken aneinanderreihten. Sie bogen in eine Seitenstraße ein. Tiara sah Männer, die gelangweilt auf den Spielplätzen saßen und Schnapsflaschen herumreichten. Die Kinder waren fett. Wie ihre Mütter. Ausgeschlachtete Autowracks standen am Straßenrand, kaputte Möbel, die jemand aus dem Fenster geworfen hatte, lagen auf den Bürgersteigen. Müll stapelte sich in schwarzen Säcken. Ein alter Mann wühlte darin und wurde von einem jungen Mann mit Steinwürfen vertrieben. Als Noa anhielt und die Triumph an einen Laternenpfahl kettete, bemerkte sie Tiaras Erschrecken. Das Viertel war verwahrlost. Und anders als im Wedding schien sich hier niemand mehr zu kümmern. Hierhin hatte man die Nutzlosen und Ausgestoßenen vertrieben, in die sozialen Abwasserkanäle, damit sie im reichen Berlin nicht störten. Es war der Endbahnhof für die Trinker, die Kranken, die Hässlichen, die Hartzer, die Ausländer, die Schwarzen, die Migranten. Wenn das Wort Großstadtdschungel je mehr als Poesie war, dann hier. Noa winkte einen Mann mit schlechten Zähnen herbei. Sie drückte ihm einen Zehner in die Hand. Er sollte auf das Motorrad aufpassen. Wenn sie zurückkam und irgendwas fehlte, würde sie ihn finden und ihm die Eier abreißen. Der Mann nickte eifrig. Noa zog Tiara zu einem zwölfstöckigen Hochhaus.

An den meisten Klingelschildern stand kein Name. Noa wusste trotzdem, wo sie draufdrücken musste. Ein Krächzen, und die Tür sprang auf. Weil der Aufzug kaputt war, mussten sie in den neunten Stock laufen. Das machte Tiara nichts aus. Sie konnte locker mit Noa mithalten, weil sie viermal pro Woche ins Lokahi Loft auf den Stepper ging. Im Neunten atmete sie noch nicht mal schwer. Und dann wurde, bevor sie noch klopfen konnten, die Tür aufgerissen. Laute Musik brach über sie herein. Don’t Hurt Yourself von Beyoncé. Und die Frau hatte eine Frisur, als sei ihr Kopf explodiert. Dunkelrote Locken, die abstanden wie bei einer Zwiebelblüte. Sie war älter als Noa. Vielleicht Ende dreißig.

»Das ist Alma, das ist Tiara«, sagte Noa.

Tiara reichte Alma die Hand. Almas Händedruck war fest. Als würde sie in sich ruhen. Eine Frauenstimme meldete sich aus dem Hintergrund.

»Wer ist es?«

»Noa«, antwortete Alma. »Und ein Mädchen.«

»Was für ein Mädchen?«

»Kommt rein.«

Alma bat die beiden Frauen in die Wohnung. Bevor sie die Tür schloss, sah sie im Treppenhaus nach, ob ihnen jemand gefolgt war.

Die Wohnung sah wie ein Pop-up-Store aus. In der Küche standen vier schwarze Klappstühle und ein Campingtisch, das Wohnzimmer war offensichtlich von den vorherigen Mietern zurückgelassen worden. Sofa, zwei Sessel, Couchtisch und eine Schrankwand in Eiche. Im Schlafzimmer lagen zwei riesige Matratzen und Berge von Kissen und Decken. Nichts passte zueinander. Nichts war für die Ewigkeit eingerichtet. Noch nicht mal für die nächsten paar Monate. Tiara hatte Alma nach der Toilette gefragt und war dabei an dem einzigen Zimmer vorbeigekommen, dessen Tür geschlossen war. Zuerst hatte sie ihre Neugier bändigen können, aber auf dem Rückweg von der Toilette glaubte sie, ein leises Stöhnen zu hören. Als sie die Tür öffnete, war sie überrascht.

Das Zimmer war ganz in Rot gehalten. Rote Wände, roter Fußboden, rote Decke. Unzählige Kerzen warfen ein schummriges Licht. An der Wand gegenüber der Tür stand ein Metallkäfig in der Form eines Würfels. Er war ungefähr einen Meter hoch, die Stäbe standen zehn Zentimeter auseinander. Darin lag eine Puppe ohne Kleider. Sie sah unglaublich echt aus. Der rechte Arm reichte aus dem Käfig heraus, als würde sie nach etwas greifen. Tiara schauderte. Vor allem, als die Puppe anfing zu stöhnen. Was war das hier? Irgend so eine BDSM-Sache? Ließ der Kerl sich foltern, weil er sonst … Natürlich wusste sie wie alle Mädchen, mit denen sie herumhing, welche Möglichkeiten der sexuellen Selbstverwirklichung es gab. Aber so eine kannte sie noch nicht. Leise schloss sie die Tür und ging zurück in das Wohnzimmer, wo Noa und Alma auf dem Sofa saßen. Eine dritte Frau hatte sich dazugesetzt. Ihre Beine waren um Almas Hüften geschlungen. Sie war in einen schwarzen Trainingsanzug gekleidet. Tiara setzte sich in einen Sessel und hörte zu, wie Alma sich über irgendwen aufregte.

Es war eine total absurde Situation. Sie war vor ihrem Vater geflohen ohne einen Plan, wie es danach weitergehen sollte. Junis hatte vor zwei Tagen am Telefon gesagt, er würde nach Berlin kommen, und dann würden sie beide abhauen. Seitdem hatte er sich nicht mehr gemeldet. Und jetzt saß sie in dieser Schrottbude mit drei Frauen und wartete darauf, dass jemand ihr sagte, was nun geschehen sollte. Sie hatte Durst, getraute sich aber nicht, nach einer Cola zu fragen. Außerdem war sie müde und hungrig und überfordert und wäre am liebsten nach Hause gefahren und hätte sich in ihrem Bett verkrochen. Aber das ging nicht. Also musste sie durchhalten.

»Alles okay?«, fragte Noa.

»Ich weiß nicht«, stotterte Tiara. »In dem Zimmer ist ein Mann.«

Die Frau im Trainingsanzug sah auf ihr Handy.

»Noch fünf Minuten. Ich schau mal nach ihm.«

Sie bewegte sich unglaublich geschmeidig, schien fast zu schweben.

»Ich habe mit Alma ausgemacht, dass du ein paar Tage hierbleiben kannst«, sagte Noa.

»Komm her«, sagte Alma. »Setz dich zu mir.«

Tiara gehorchte.

»Darf ich?«, fragte Alma.

Sie deutete auf Tiaras Hidschab. Ihr Blick war freundlich, beinahe zärtlich. Sie lächelte wie jemand, dem man vertrauen konnte.

»Oder willst du lieber selbst?«

Tiara nickte. Sie schob den Hidschab zurück und zeigte Alma die Verletzungen.

»Wer war das?«

»Samy Moussa«, erklärte Noa.

Almas Stirn legte sich anerkennend in Falten. Sie schenkte Tee in ein Glas und trank es in einem Zug aus. Almas Blick war jetzt nicht mehr freundlich. Eher abweisend und verächtlich.

»Fickst du ihn?«

Tiara erschrak. Was sollte sie darauf antworten?

»Sie ist seine Tochter«, half Noa aus.

»Das muss nichts heißen.«

Weil die Teekanne leer war, stand Alma auf und ging in die Küche.

»Was sind diesmal die Pläne?«, rief sie. »Bullen? Überfall? Oder soll Samy Moussa das Vertrauen in die Zukunft verlieren?«

Vertrauen in die Zukunft verlieren. Tiara staunte über die Formulierung.