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Egoismus – warum wir ihn zum Überleben brauchen
Der Egoist – eine gefürchtete Spezies. Sein vermeintliches Motto: Wenn jeder an sich selber denkt, ist an alle gedacht. Uwe Wilhelm widmet sich dieser verkannten Charaktereigenschaft und beleuchtet sie in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen: den männlichen und den weiblichen Egoismus, den religiösen und den gesunden Egoismus als entscheidendes Überlebensmittel. Ohne ihn wären die Erfolgreichen nicht erfolgreich. Der Autor fragt unter anderem nach genetischen Voraussetzungen und beziehungstechnischen Folgen. Eine facettenreiche Annäherung, die uns zuruft: Werde der, der du bist!
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Seitenzahl: 281
Veröffentlichungsjahr: 2014
UWE WILHELM
ICH!
LOB DES EGOISMUS
Gütersloher Verlagshaus
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Coverfoto: © karandaev – Fotolia.com
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-14283-4V002
www.gtvh.de
»Das Gegenteil von Egoismus lautet nicht Nächstenliebe, sondern die Unfähigkeit, eigene Bedürfnisse festzustellen und für sie einzutreten.«
UWE WILHELM
»Alles, was wir an Menschen bewundern, Edelmut, Güte, Ehrlichkeit, Anstand, Mitgefühl, Herz, führt in unserem Gesellschaftssystem nur zu Fehlschlägen.
Während alle Eigenschaften, die wir angeblich verachten, Härte, Raffsucht, Selbstsucht, Charakterlosigkeit zum Erfolg beitragen.«
JOHN STEINBECK, DIE STRASSE DER ÖLSARDINEN
»Eigentlich gewinnt immer der, der sich nicht an die Spielregeln hält.«
ANGELA MERKEL
Inhalt
Wie alles begann ...
1. Ich muss Sie warnen
2. Ein Superegoist Namens Jesus Christus
3. Sei ein braves Mädchen, Heidi Klum
4. Die Kastration der Männer
5. Frauen sind Tiere
6. Männer sind auch Tiere
7. Mutter Teresas Märchenstunde
8. Es gab nie ein Paradies
9. Das Ich auf der Bühne
10. Wie ich ein Egoist wurde (und was meine Familie dazu meinte)
Wie Sie auch ein Egoist werden können
Nachwort
Danksagung
Wie alles begann ...
»Sie können mich mal.«
Ich stand auf, zeigte den beiden Herren imaginär den Mittelfinger und verließ den Tisch neben dem Fenster zum Hof im Café Einstein. Aufgebracht stolperte ich an den eng gestellten Tischen vorbei, rempelte eine Dänin an, blieb mit der Jacke an einem Stuhl hängen, zerrte am Gürtel, bis zwei Laschen abrissen. Dann taumelte ich die Treppe zur Toilette hinab, rutschte auf den frisch geputzten Steinstufen aus, landete prompt auf dem Steißbein, woraufhin ein spitzer Schmerz durch meinen Körper blitzte, hinauf in den Kopf fuhr, dort allerhand Unflätigkeiten brüllte, bevor er wieder in meinen Hintern zurückkehrte. Einen Moment lang war ich unfähig, mich zu bewegen, saß zornstarr auf der Treppe, und als ich wieder denken konnte, hatte meine Wut derartige Temperaturen erklommen, dass ich am liebsten den ganzen Laden in die Luft gesprengt, wahlweise eine Schmerzensgeld-Klage gegen das Einstein angestrengt hätte. Ich wollte und brauchte Genugtuung. Ein paar Tausend Euro für ein gebrochenes Steißbein. Eine lebenslange Rente wegen einer Bandscheibenquetschung. Irgendetwas. Hauptsache, mein Ego würde wieder aufgerichtet. Aber dann ließ der Schmerz nach, und ich dachte, es wäre zu zeitraubend und auch kleinlich, einen Arzt aufzusuchen, der mir bescheinigen müsste, dass die blauen Flecken an meinem Hintern tatsächlich von den Café-Einstein-Stufen herrührten. Außerdem schämte ich mich wegen meiner Tollpatschigkeit. Und zuletzt tat mir die Putzfrau leid, die vermutlich ihren Job verlieren würde, weil sie vergessen hatte, die Treppenstufen trocken zu wischen.
Wie war ich nur in diese Situation gekommen? Ganz einfach. Ich hatte den beiden Herren vom Verlag angeboten, ein außerordentliches Buch über Egoismus zu schreiben. Keinen philosophischen Baldrian, keinen risikolosen Richard David Precht, keinen euphemistischen Stefan Klein, noch nicht mal einen Kirchner, der vor fünfzehn Jahren die »Kunst, ein Egoist zu sein« propagiert hatte. Es sollte ein außerordentliches, ein ehrliches Buch werden. Eines, das Geschichten von Menschen erzählt, für die Egoismus nicht mit der Rücksichtslosigkeit eines Investmentbankers gleichzusetzen ist und für die Egoismus nicht bedeutet, zu asozialen Arschlöchern zu werden. Die beiden Herren vom Verlag hatten die Köpfe geschüttelt, als hätte ich gerade behauptet, die Erde sei doch eine Scheibe. Sie waren unsicher gewesen, hatten gezögert, mich zweifelnd angesehen, eben genau so, wie Herren und Damen von Verlagen grundsätzlich jeden erfolglosen Autor in einer Art Fluchtreflex zweifelnd anschauen. Ich vermute, es ist in ihren Angestelltenverträgen als Präambel niedergeschrieben.
»Was wollen Sie denn?«, hatte ich sie gefragt. »Ein Buch über Egoismus zu schreiben bedeutet entweder, die Leser mit dem klinisch reinen Zeigefinger der Moral daran zu erinnern, was für schlechte Menschen sie sind, zu zeigen, wie sie das Schlechte in sich überwinden können und ihnen zu raten, sich demgemäß schleunigst zu bessern. Oder es bedeutet, zu erklären, wie man es in fünf Schritten schafft, sich selbst zu lieben, indem man Listen anlegt und auf Fragebögen zu Kreuze kriecht.«
Aber helfen solche Bücher? Nein. Niemals. Sie, meine lieben Leser, haben mit Sicherheit schon solche Bücher gekauft, weil sie gehofft haben, Sie könnten ein anderer Menschen werden. Und sind Sie es? Nein. Warum nicht? Weil solche Bücher die literarische Entsprechung zu Crystal Meth sind!
»Vielleicht kennen Sie dieses Zeugs aus der amerikanischen Fernsehserie Breaking Bad,« sagte ich zu den beiden Herren aus dem Verlag.
Bei Meth kriegt man nach der Einnahme einen amtlichen Putzwahn. Man kommt sich vor, als sei man wieder achtzehn, fühlt sich wie eine Mischung aus Brad Pitt, Einstein und Herkules und hat unfassbar guten Sex. Das hängt mit dem Dopamin zusammen, das durch die Einnahme von Meth im Gehirn ausgeschüttet wird. Und wofür ist Dopamin verantwortlich? Für Antriebssteigerung, Motivation und Hochstimmungen! Aber wenn der Flug zur Sonne irgendwann vorbei ist, wird der arme Ikarus augenblicklich depressiv und braucht dringend Nachschub, um noch irgendetwas zu spüren, das Ähnlichkeit mit einem guten Gefühl hat. Aber das funktioniert nicht. Und dann fängt Brad Pitt an zu versumpfen, wäscht sich nicht mehr und kratzt sich dafür das Gesicht auf, weil er denkt, er wäre schmutzig, kriegt den glasigen Blick eines verurteilten Steuersünders und riecht auch so. Und genauso ist es mit den Büchern, die den Egoismus eine menschliche Schwäche nennen. Sie erzählen dem Leser, dass er ein ganz wunderbarerer, moralisch wertvoller Mensch werden kann, ein Gandhi, eine Mutter Teresa, eine Angelina Jolie und ein Bono. Alles, was er oder sie tun muss, ist, es zu wollen. Er oder sie muss lediglich dem Egoismus abschwören. Und das geht ganz einfach, weil wir alle im Grunde unserer Herzen ja selbstlose Altruisten sind und nur aufgrund einer persönlichen Entgleisung bisher nicht die Stufe zum Menschengott geschafft haben.
»Solche Bücher sind wie Meth«, schrie ich die beiden Herren vom Verlag an. »Sie tun so, als wäre der Egoismus, der so viel mit unserer Seele, unseren Trieben, unseren Genen zu tun hat, eine Schwäche. Und was noch schlimmer ist, sie behaupten, die Frage nach Egoismus könnte mit dem Verstand beantwortet werden. Sie wollen den Egoismus in der Pathologie der Vernunft sezieren!«
Ich hatte mich so sehr aufgeregt, dass ich, wie bereits erwähnt, eine Dänin angerempelt hatte und die Treppenstufen hinunter gestürzt war. Da saß ich also. Atmete schwer und wusste nicht, wie ich das Adrenalin wieder aus meinem Körper herauskriegen sollte. Um mich zu beruhigen, ging ich auf die Toilette und blieb dort eine Viertelstunde. Danach beschloss ich, mich nicht verunsichern zu lassen, die Herren vom Verlag nicht weiter anzuschreien, sondern ihnen ruhig und vernünftig zu erklären, warum ich mein eigenes, spezielles Buch schreiben wollte. Und seltsamerweise verstanden sie meine Gründe. Sie lächelten mich sogar an.
»Schreiben Sie das Buch so, wie Sie es für richtig halten«, sagten sie im Chor.
Und das tat ich. Ich schrieb mein Buch. Hier ist es. Sie halten es in Händen. Und ich schwöre Ihnen, dieses Buch liegt mir mehr am Herzen als alles, was ich in den letzten Jahren geschrieben habe. In dieses Buch sind Gespräche eingegangen, die ich mit Menschen geführt habe, die mir wichtig sind und auf deren Meinung ich nicht verzichten wollte. Geschichten, die ich von Fremden gehört, Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe. Es waren dramatische Gespräche, gruselnde Erzählungen, beunruhigende Geständnisse. Die Szenen, die daraus entstanden sind und die Sie hier lesen werden, lassen sich mitunter nicht einer einzelnen Person zuordnen. Manche Figuren habe ich anonymisiert, gelegentlich habe ich verschiedene Personen zu einer Person zusammengefügt. Ich habe manches weggelassen und anderes übertrieben, um Sie zu unterhalten. Aber alles in allem ist es das Buch geworden, das ich schreiben wollte und das mich während des Schreibprozesses verwandelt hat. Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen genauso geht.
1. Ich muss Sie warnen
Wenn Sie erwarten, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches ein anderer Mensch sind, muss ich Sie enttäuschen. Und wenn Sie befürchten, dass Sie nach rund 250 Seiten wie Dieter Bohlen Spaß daran haben, ihre Mitmenschen zu demütigen, kann ich Sie beruhigen. Sie werden noch die Person sein, die Sie jetzt sind. Ob das ein Glück ist oder eine Tragödie, müssen Sie dann selbst entscheiden. Ich werde Ihnen auch nicht erzählen, was Sie tun müssen, um ein Egoist zu werden, auch wenn das Buch »Lob des Egoismus« heißt. Ich werde keinen Plan entwerfen, wie Sie Ihr Leben auf den Kopf stellen können. Ich weiß, das wird in der Ratgeberliteratur üblicherweise gemacht. Aber Sie und ich wissen, wie schwer es uns fällt, unser Leben zu ändern. Wir schaffen es ja kaum, dauerhaft ein paar Kilo abzunehmen oder regelmäßig die Klobrille hochzuklappen. Gewohnheiten hinter sich zu lassen und zu neuen Ufern aufzubrechen ist nichts, was wir durch die Lektüre eines Buches erreichen können. So etwas sind langwierige Prozesse, die durch Therapien, Meditation oder auch Schicksalsschläge eingeleitet werden und Übung, Übung, Übung brauchen. Trotzdem ist das Thema »Egoismus« ein existenzieller und höchst aufregender Gegenstand unseres täglichen Lebens. Es ist Gegenstand vieler Bücher, Talkshows und Sonntagspredigten.
Für die einen bedeutet Egoismus, zuallererst gut zu sich selbst zu sein, für sich selbst zu sorgen, sich selbst wichtig zu nehmen – wichtiger als andere. Für die einen also bedeutet Egoismus gut ist, was gut für mich ist, aber nicht zwangsläufig gut ist,was anderen schadet.
Für die anderen bedeutet Egoismus asoziale Selbstsucht, krankhafter Narzissmus, der an den Grundvereinbarungen einer Gemeinschaft rüttelt, heillose Fixierung auf materielle Werte, unterirdische sittliche Reife, anormale Unfähigkeit zu Mitleid und Nächstenliebe, was jeweils mit Ausstoß aus der Gesellschaft und/oder ewigem Höllenfeuer bestraft werden muss.
Die einen sehen im Egoismus die Quelle für freie Individuen, die selbstbewusst miteinander leben. Die anderen wollen den Egoismus abschaffen, operativ entfernen und in moralische Gulags verbannen. Aber im Grunde ist es doch so, wie David Copperfield fragt: Welches Leben werde ich leben, meines oder das eines anderen?
Das war auch die Frage, die mich anspornte, dieses Buch zu schreiben. Und als ich erste Gespräche zum Thema Egoismus führte, gab es durchaus ehrliches Interesse und sogar heimliche Bekenntnisse. Die waren, Sie können es sich vorstellen, nicht immer zustimmend und ermutigend. Im Gegenteil. Meistens war es, als würde ich mitten im Vatikan eine Diskussion über den Segen der Homosexualität beginnen. Ich wurde angegriffen, beleidigt, lächerlich gemacht und als berechnend dargestellt. Es wurde mir unwissenschaftliches Arbeiten (wo doch klar ist, dass das kein Fachbuch ist) und Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Ich würde, hieß es von manchen meiner Gesprächspartner, zum Zerfall der Gesellschaft beitragen, würde Kälte, Rücksichtslosigkeit und Gewissenlosigkeit befördern. Man warf mir vor, ich hätte keine Ahnung davon, was ich mit diesem Buch anrichten würde. Ich blieb dann stets ruhig und antwortete, dass es absurd und heuchlerisch sei, wenn der Egoismus verdammt werde. Wenn wir nämlich für einen Moment die moralische Brille absetzen, erkennen wir doch, dass wir selbst im heimlichen Kämmerchen unserer seelischen Unterwelt den Egoismus gut finden. Einfach weil Egoisten oft das kriegen, was wir auch gerne hätten: Geld, schöne Frauen, reiche Männer. Bewundern wir nicht sogar manchmal die verdammten Egoisten? Wenigstens ein kleines bisschen? Egoisten sind im Beruf erfolgreich, als Manager, Sportler oder Künstler. Sie ackern oder lassen andere für sich ackern und haben kein Problem damit, ganz vorne zu stehen. Sie haben nicht nur in materieller Hinsicht oft ein besseres Leben als wir anderen. Und dabei sind sie mit sich und der Welt im Reinen. Unter sich selbst jedenfalls leiden die Egoisten, mit denen ich gesprochen habe, am wenigsten.
Da stellt sich doch die Frage, wieso wir selbst es nicht schaffen, unser Licht leuchten zu lassen? Ist es, weil wir den Blick der Anderen, der Gesellschaft fürchten? Haben wir Angst davor, selbst für egoistisch gehalten zu werden, wenn wir unseren Eigennutz leben? An sich selbst zu denken, heißt allein zu sein – ein asozialer Mensch, unreif und unfähig für die Gemeinschaft, dem man mit erhobenem Zeigefinger droht. Man ist einfach untragbar. Den charismatischen Alpha-Tierchen gilt unsere ganze Verachtung. Unsere Neidreflexe sind jederzeit abrufbar, moralisch grundierte Empörung ist immerzu bereit zuzuschlagen. »Wir sind die Guten«, rufen wir den Egoisten entgegen! Und haben doch nur Angst, unseren eigenen Egoismus zu leben und dann gemieden, ausgestoßen, verfemt zu werden. Lieber erlösen wir uns im Dasein für andere. »Helfen macht high«, sagen wir, tarnen unsere Ichbezogenheit mit Altruismus und werden zu Opfern einer hinterhältigen Diffamierungsstrategie, die wir im Laufe der Zeit brav zu unserer eigenen gemacht haben.
Was aber würde eigentlich passieren, wenn wir egoistisches Verhalten als etwas Positives erkennen könnten? Wenn ich mich fragen würde, wo ICH eigentlich hinkomme, wenn ICH zu mir komme? Wer könnte ICH sein, wenn ICH immer (oder zumindest immer öfter) ICH wäre?
Als ich einmal eine Ohrfeige für diese Frage bekam, verbunden mit der Aufforderung, bescheidener zu sein, spätestens in diesem Moment wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich dachte, wenn ein Vorhaben auf so viel Abwehr stößt, bevor auch nur das erste Wort geschrieben ist, dann muss ich weitermachen. Und so wie im Vatikan das Thema Homosexualität keines sein kann, weil es nicht sein darf, so wie dort also künstlich geschaffene Verbote und Gebote konserviert und fortgeschrieben werden, so gehen wir mit dem Thema Egoismus um.
Und Sie? Wie ist Ihre Meinung zum Thema Egoismus? Sind Sie eingeschriebenes Mitglied der Vereinigung der Egoisten oder tummeln Sie sich eher bei den Altruisten? Gehören Sie zu denen, die für sich da sind, oder zu denen, die für andere da sind? Haben Sie Angst, ihre Wünsche zu äußern und »Nein!« zu sagen? Weichen Sie zurück, um anderen Platz zu machen? Dienen Sie gerne oder lassen Sie sich bedienen? Halten Sie sich für besser, schöner, klüger als die Menschen in Ihrer Umgebung, oder denken Sie eher, dass Sie sowieso nichts können, scheiße aussehen und besser den Mund halten sollten? Leiden Sie unter Burn-out oder kommen Sie gerade von einem vierwöchigen Strand-, Berg- und Abenteuerurlaub zurück? Vermutlich sind Sie nicht sicher und wollen sich bei so einer heiklen Frage nicht festlegen (was den Verdacht nahelegt, dass Sie zur Liga der Altruisten gehören). Aber das macht nichts.
Es gibt einen einfachen Test, um die Wahrheit herauszufinden: Wenn Sie bei der Frage nach einer Weltmacht mit drei Buchstaben statt »USA« ohne die Spur eines Zweifels »ICH« ausrufen, sind Sie ein Egoist und können dieses Buch im Buchladen wieder ins Regal stellen oder bei Amazon ohne Begründung zurückschicken. Wenn Sie mit »mein Mann«, »meine Frau« oder »mein Chef« oder »Gott« antworten, haben Sie nicht nur die Frage falsch beantwortet (drei Buchstaben!), Sie sollten auch unbedingt dieses Buch lesen. Und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem ich es geschrieben habe: Sie sind nämlich hundertprozentig kein Egoist. Und das weiß ich so sicher, weil ein Egoist niemals ein Buch mit dem Titel »Ich. Lob des Egoismus« in die Hand nehmen würde. Das wäre so absurd wie ein Buch, das beweist, dass Einatmen fürs Überleben notwendig ist. Sie dagegen haben das Buch gekauft und sogar bis hierhin gelesen. Das heißt, Sie sind ein Altruist (in welchem Stadium auch immer – therapiefähig oder unheilbar) und vermutlich heimlich daran interessiert, mehr über einen Egoismus zu erfahren, der gesund ist, richtig, überlebensnotwendig und daher lobenswert. Das freut mich für Sie, weil es ein mutiger und tapferer Schritt ist. Aber gleichzeitig muss ich Sie warnen. Und zwar aus drei Gründen. Erstens werden Sie, wenn Sie auf der letzten Seite des Buches angekommen sind, vielleicht noch kein Egoist, keine Egoistin sein, aber sich unaufhaltsam auf dem Weg dorthin befinden, zweitens werden sie vermutlich weniger depressiv sein und drittens von den übrigen Altruisten als Ketzer und Verräter verfolgt werden.
Ich kann das so sicher behaupten, weil ich wie Sie bin. Nein, das stimmt nicht. Ich war wie Sie. Fast mein ganzes Leben lang. Bis am 18. Juli 2007 etwas Fürchterliches passierte. Mein jüngerer Bruder, der allen Menschen um ihn herum immer zu Diensten war, der sich sein Leben lang nicht gewehrt hatte, immer auf der Flucht vor den Nächsten, die Unmögliches von ihm forderten, brachte sich an diesem Tag um. Unerwartet und überraschend. Ich hatte zwei Tage zuvor noch mit ihm telefoniert, und er hatte mir von einer neuen Liebe und einem neuen Job berichtet. Und dann war er tot.
Der Schock hat mich monatelang festgehalten. Ich war unfähig zu denken, zu fühlen, zu handeln. Ich tat so, als würde der Suizid meines Bruders mich nicht betreffen. Ich kümmerte mich nicht um mich, sondern um meine trauernden Eltern. Das war zu diesem Zeitpunkt richtig und meine Rettung. Bis ich irgendwann zusammenbrach und nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Als ich nach Wochen wieder Boden unter die Füße bekam, versuchte ich, den Grund für die traurige Tat zu finden. Aber es gab nicht einen Grund, es gab viele. Chronische Krankheiten, das finstere Verhältnis meines Bruders zu unseren Eltern, eine Beziehungskrise, eine tiefe, verzweifelte Trauer. Und ein Grund unter den vielen, das wurde mir irgendwann klar, war sein schwaches Selbstwertgefühl. Mein Bruder hatte sich unter den Menschen, für die er da sein musste, verloren. Ein Gefühl, das ich selbst gut kannte. Seit Jahren, seit meiner Kindheit. Und dann begann der Suizid meines Bruders an mir zu ziehen, ein schwarzer, giftiger Sog voller Stimmen, die mich aufforderten, ihm zu folgen. Das Leid, die Schmerzen und die Trauer zu beenden. Doch anders als mein Bruder hatte ich Glück und fand damals in einem Film von Fatih Akin einen Satz, der mein Leben veränderte: »Wenn du dein Leben beenden willst, ist das noch lange kein Grund, sich umzubringen.«
Damals begann meine Reise. Meine Hero’s Journey – die Heldenreise, wie es in der Literatur zum Drehbuchschreiben heißt. Ich bin natürlich kein Held, gemessen an denen, die wir Helden nennen. Ein Held ist jemand, der eine Aufgabe schultert, die größer ist als er selbst. Ein Held ist jemand, der in Betracht zieht, zu scheitern, ausgestoßen zu werden, real oder symbolisch zu sterben. Ein Held ist jemand, der für eine gute Sache kämpft. »Ein Held ist nicht mutiger als ein gewöhnlicher Sterblicher – aber er ist es fünf Minuten länger«, sagte der Dichter Ralph Waldo Emerson. Und ich will ehrlich sein, unter diesem Blickwinkel bin ich dann doch ein Held. Der Held meines eigenen Lebens. Einfach weil ich versuche, jeden Tag fünf Minuten länger mutig zu sein als am Tag zuvor. Und ich möchte Sie ermutigen, eben das auch zu sein, jeden Tag fünf Minuten länger mutig – Held oder Heldin ihres eigenen Lebens.
Ich begann also mit der Arbeit an dem Buch »Lob des Egoismus«. Der Titel klingt zumindest gut, dachte ich nach ersten Überlegungen. Er ist aufsässig und mutig, bringt das Thema auf den Punkt und fordert den Leser heraus! Aber hinter all dem Mut war es wie das berühmte Pfeifen in einem Wald, in den ich dummerweise hineingegangen war, weil ich dachte, ich wüsste, was ich tue. Es wuchsen Fragen und Ideen, die ich kaum festhalten konnte, weil sie immer dann, wenn ich sie ansehen wollte, davonrannten, wie Kinder vor der dunklen Kellertreppe. Verständlich, oder? Immerhin ging es ja um etwas, das mir fremd war, nämlich die erste Silbe des Begriffs Egoismus: Ego. Ich. Und kaum hatte ich die ersten Schritte auf dieses unbekannte Terrain getan, wusste ich schon nicht mehr, wo ich war. Konnte ich zurück? Gab es einen Ausgang? In welche Richtung sollte ich gehen? Gab es Fallen, Abgründe, Löcher, in die ich stürzen konnte, Sümpfe, die mich verschlingen würden? Lauerten irgendwo kleine, gehässige Gnome, die wussten, dass es falsch war, dass ich scheitern würde, weil ich unfähig, dumm und wertlos war? Und was war mit den Belehrungen, Befehlen, Warnungen aus allen Zeiten, die mir plötzlich wie ein gefährlicher Wasserfall in den Ohren rauschten?
Lob des Egoismus. Dieser Satz war und ist mein Navigationsgerät. Er führte mich an einen Ort in mir, der mir bis dahin unbekannt war und solange nicht existiert hatte, bis ich ihn betrat. Ein Ort, an dem ich Ausgrabungen starten musste, um meine Selbstachtung, meine Würde und meinen Stolz wiederzuentdecken. Ich wurde zu einem Archäologen der unschuldigen Tage und fand etwas, das einer Mumie ähnelte. Eingewickelt in steingewordene Tücher. Als ich sie löste, sah ich ein stolzes, lächelndes Wesen. Ich sah es an, musste blinzeln, um es erkennen zu können. Ich spürte, es war bei Strafe verboten, es anzuschauen oder gar anzufassen. Ich wandte den Blick ab. Oder wich es meinem Blick aus? Keine Ahnung. Ich wusste, was es ist, aber nicht, wie es ist. Das musste ich herausfinden. Und ich fand es heraus.
Ich verspreche Ihnen, sich mit dem Thema Egoismus zu beschäftigen ist kein Spaziergang. Es heißt, sich durch einen sumpfigen Dschungel zu schlagen, durch einen Abgrund des Lächerlichen, der Bestrafung und der unverzüglichen Müdigkeit. Es heißt, sich mit anderen Egoisten herumzuschlagen, vor allem den wortgewandten, hinterhältigen und mächtigen, die davor warnen, egoistisch zu sein. Es sind nämlich stets Egoisten, die fordern, dass der Egoismus bekämpft wird. Sie schreiben Bücher, halten Vorträge, treten im Fernsehen auf.
Doch egal, wie laut die Empörung aufschreit, es gibt Egoismus. Seit ewigen Zeiten, sonst hätte es nicht der zehn Gebote und der sieben Todsünden (Hauptlaster) bedurft. Und die Prediger der Nächstenliebe und der Solidarität wissen natürlich, dass sie heucheln. Sie meinen auch auf keinen Fall sich selbst, wenn sie den Egoismus ans Kreuz nageln. Aber das hält sie trotzdem nicht davon ab, zu wettern und dabei ihr Territorium gegen illegale Einwanderer wie Sie und mich zu verteidigen.
Und dann heißt ein Egoist zu sein auch noch, eine unheilige Allianz von Staat, Elite und Intellektuellen als das zu entlarven, was sie ist: eine Bande von Ultra-Egoisten, die sich zusammengetan haben, ihre Stellungen zu verteidigen, indem sie den Egoismus verdammen, während sie selbst ihn unablässig leben und feiern. Sie drohen mit der Hölle oder der Entfremdung vom wahren Leben oder dem Ausschluss aus der Gemeinschaft, mit dem asozialen Brandzeichen auf der Stirn: Egoist! Ihr tödlichstes Werkzeug ist die Angst. Und wir, das heißt, Sie, lieber Leser, und ich sollen uns in der wärmenden Sonne der Nächstenliebe die richtige Gutmenschen-Bräunung zulegen, damit wir uns für die besseren Menschen halten können. Natürlich heftet sich auch die gesellschaftliche Elite bei jeder Gelegenheit das soziale Turnabzeichen »Nächstenliebe« ans Revers, verschweigt aber, dass sie auf dem Weg in den Himmel für gewöhnlich noch einen kleinen Umweg über den Verschiebebahnhof Egoismus einlegt. Für alle die gilt: ich zuerst und dann mal sehen. Trotzdem predigen uns die Gralshüter des Altruismus sorgenvoll die Notwendigkeit zur Gemeinschaft. Wieso aber begreifen wir nicht, was für ein cleverer Schachzug es ist, von anderen Solidarität zu fordern und selbst egoistisch zu sein? Kirche, Staat und Therapeuten dudeln in einer komatisierenden Endlosschleife das Lied von der Abschaffung des selbstsüchtigen Teufels in uns. Und ganz besonders heuchlerische Inquisiteure des Egoismus sind gewisse Sachbuchautoren. Sie schlagen sich die Nächte um die Ohren, arbeiten monatelang rücksichtslos gegen sich und andere hart, schreiben dreihundert Seiten darüber, wie man selbstlos werden kann und hoffen, dass ihr Buch ein Bestseller wird. Auf den letzten Seiten bedanken sie sich dann bei ihren Familien dafür, dass sie ihren Egoismus ausgehalten haben. Im Übrigen findet man diese Leute nicht in Hilfsorganisationen und an Orten, wo sie ihre Predigt der Selbstlosigkeit in gute Taten umsetzen könnten. Warum nicht? Weil das zu wenig Geld und Ruhm bringt, zu selbstlos ist.
Aber all die Bauernfänger können sich zum Teufel scheren. Sie interessieren mich nicht. Ich habe anderes zu tun, Wichtigeres. Es geht nämlich um die Rückgewinnung von Selbstachtung, Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstliebe. Es geht zuallererst um mich und um Sie. Es geht darum, Gegenwart und Zukunft zurückzuerobern und den Fokus endlich wieder auf uns zu richten. Es geht für jeden von uns darum, seine Persönlichkeit anzuschauen, zu entdecken, was wir wollen und was wir brauchen und vor allem, was uns daran hindert, es zu erreichen. Der Schritt zu einem individuellen gesunden Egoismus kann ein kleiner sein, der eigene Egoismus kann sich in scheinbar harmlosem Verhalten im Alltag zeigen, oder er kann ein kraftvolles Behaupten eines Ego sein. Wir kommen nicht als weißes Blatt auf die Welt. Wir sind introvertiert oder extrovertiert, wir sind mutig oder ängstlich. Und: Zwischen den Extremen ist alles möglich! Es gibt also Unterschiede und die sind richtig und notwendig. Entscheidend ist allein die Frage nach einem selbstbestimmten Leben.
Wie aber können wir so sein, wie wir sein wollen? Um zur Antwort auf diese Frage zu gelangen, müssen wir das tun, was Freud mit der »Ausgrabung einer verschütteten Stadt« verglichen hat. Wir müssen vergessene Schichten unseres Ich freischaufeln und dorthin vordringen, wo unser Selbstbild, unser Selbstwertgefühl und unser Egoismus beschädigt wurde. Es gibt keinen Kurs »Wie werde ich ein Egoist, wie eine Egoistin?«. Einfach deshalb, weil jeder von uns seine eigene Hölle mit sich herumschleppt, oder freundlicher ausgedrückt: Jeder von uns hat (mindestens) eine Persönlichkeit, und die ist nicht durch eines der tausend Selbsthilfebücher zu therapieren. Der Weg ist viel schwieriger und steiler. Ich und Sie müssen unsere Komfortzone verlassen. Und nicht nur die, die gemütlich ist, sondern auch die, unter der wir leiden und die wir trotzdem nicht verlassen, weil wir Angst haben, alles andere wäre noch schlimmer. Das ist schwer, ich weiß, aber wir können es versuchen. Wer sagt denn, dass Sie nicht die Klügste, der Stärkste, die Schönste, der Lustigste, die Schnellste sein können? Wissenschaftler wissen, dass das bis ins hohe Alter möglich ist. Es ist nicht mehr allein die Pubertät, in der die großen Umbrüche stattfinden, sondern auch die Zeit zwischen 25 und 55. Und danach ist noch lange nicht Schluss. Aber wann auch immer wir anfangen, in den Spiegel zu schauen und zu erkennen, dass unser bisheriges Leben von Angst, Feigheit und Gewohnheiten geprägt war – die Tür muss jeder für sich selbst öffnen.
Also, welches Leben werden Sie leben? Ihres oder das eines anderen? Von der Antwort auf die Frage handelt dieses Buch. Es ist ein Aufruf zur Revolte. Es ist ein Erkenntnisbuch und ein Erlaubnisbuch. Es beschreibt den Egoismus als den missing link zwischen bewussten Zielen und unbewussten Motiven. Es ist ein Buch für Menschen, die sich nicht länger selbst belügen wollen. Es ruft aus: Werde der, der du bist! Es zeigt auf, dass wir an uns denken dürfen, dass wir es sogar müssen, wenn wir authentisch sein wollen. (Muss ich dann mein ganzes Leben ändern? Nein, mach den ersten Schritt und dann entscheide.) Es erzählt vom Glück, bei sich zu sein. Es ist eine Anleitung zum Aufbegehren! »Ich. Lob des Egoismus« ist ein Reiseführer zu sich selbst (egal, wer das ist).
2. Ein Superegoist Namens Jesus Christus
»Egoismus ist Drang zum Dasein und Wohlsein.«
ARTHUR SCHOPENHAUER
»Egoismus ist kein Prinzip, sondern eine Tatsache.«
FRIEDRICH NIETZSCHE
Nazareth, das Jahr 12 unserer Zeitrechnung. Ein Haus am Rand der Siedlung.
»Mama, stimmt es?«, fragte er seine Mutter.
»Stimmt was?«, fragte sie zurück.
»Du weißt schon.«
»Nein, ich weiß nicht.«
»Dass ich ein Bastard bin.«
»Wer sagt das?«
»Alle.«
Alle sagten, er sei ein Bastard. Unehelich gezeugt, weil seine Mutter und sein Vater nicht bis zur Hochzeit hatten abwarten können. Es gab auch ein paar Nachbarn, die sagten, seine Mutter hätte sich mit einem Fremden ins Bett gelegt. Einige hatten einen Mann beobachtet, der aussah, als sei er wohlhabend. »Wahrscheinlich hat er ihr Geld gegeben, und sie hat sich hingelegt«, flüsterten sie. Doch wieso sollte sich ein Reicher in dieses Loch von einem Haus begeben, in dem sie seit ihrem Wegzug aus Bethlehem wohnten?, fragte er sich. Und wieso sollte seine Mutter Ehebruch begehen, wo sie doch wusste, dass darauf die Todesstrafe stand? Jedes Mal wenn er sie fragte, nannte sie alle, die das behaupteten, gemeine Lügner und Denunzianten. Trotzdem wollten die Gerüchte nicht verstummen. Sie konnten nicht verstummen, und er ahnte auch, warum. Seine Mutter war noch jung, sie war eine hübsche Frau, und sie weigerte sich, einen Schleier zu tragen. Das weckte die Lust der Männer und den Neid ihrer Frauen. Und solange sie nicht bereit war, einen Schleier zu tragen, würden die Verleumdungen nicht verstummen. Er hatte seine Mutter gefragt, warum sie keinen Schleier trug. Und sie hatte geantwortet, dass man sich niemals den Heuchlern beugen darf. Sie würde keinesfalls klein beigeben und nicht schon wieder umziehen. Auch wenn es ein gefährliches Unterfangen war, in Nazareth zu bleiben. Denn sollten sich die Verleumder irgendwann durchsetzen, würden sie seine Mutter bis zum Hals in ein Loch eingraben. Und dann würden sie sie so lange mit Steinen bewerfen, bis sie tot wäre. Trotz ihrer sieben Kinder.
»Du darfst nicht auf die Lügner hören, hast du gehört? Das sind Heuchler und gemeine Verleumder. Sag es!«
»Es sind Heuchler und gemeine Verleumder.« Das wusste er natürlich, das wusste jeder. Später würde er diesen Lügnern ins Gesicht schreien: »Wer aber von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.« Aber jetzt noch nicht. Jetzt war er noch zu klein. Doch weil er klein, zart und feingliedrig war, beinahe wie ein Mädchen, und weil er schöne Haare und strahlende Augen hatte und anders aussah als die anderen Jungs in der Schule, nannten sie ihn einen Bastard und verprügelten ihn.
»Ich gehe nicht mehr zur Schule«, sagte er.
»Du musst zur Schule gehen. Oder willst du ein dummer Tagelöhner wie dein Vater, überall herumschikaniert und für die Arbeit nicht bezahlt werden?«
»Nein. Trotzdem gehe ich nicht zur Schule.«
Sie nahm ihn in den Arm und tröstete ihn. Sie wusste, dass er es ernst meinte.
In dieser Nacht schlief Maria schlecht. Der Mond stand wie ein fetter Ballon am Himmel, es war für die Jahreszeit viel zu warm, und sie schwitzte. Sie sah ihren Sohn an, der unruhig neben ihr schlief, und sie wusste nicht, warum sie ihn so liebte. Vielleicht weil er ihr Erstgeborener war. Vielleicht weil er so selbstbewusst und egoistisch war und ihr nicht gehorchte, was sie ihm seltsamerweise nie übel nahm. Sicher schlug sie ihn ab und zu, sperrte ihn in den Ziegenstall, gab ihm nichts zu essen. Aber bei ihm war sie viel nachsichtiger als bei ihren anderen Kindern, ohne wirklich zu ahnen, warum. Allerdings wusste sie auch, dass Sie sich etwas einfallen lassen musste, damit ihr kleiner Liebling nicht immerzu verprügelt wurde. Sie hatte ja stets geschworen, dass ihr Mann Josef der Vater des Jungen sei. Das Problem war nur, dass der Junge nicht wie sein Vater aussah. Seine Haut war dunkler, seine Augen blau und die Haare waren lockig. Und er war intelligent. Nicht so ein Simpel wie Josef, dem sie mit vierzehn zur Frau gegeben worden war. Der war ein versoffener Bauarbeiter, der sie wie Vieh behandelte, sie zum Sex zwang und das bisschen Geld, das er verdiente, mit seinen Kumpels in Kneipen durchbrachte. Wenn er dann betrunken nach Hause kam, verprügelte er sie, bis sie jammernd unter das Bett kroch. Dann nahm er sich seine Kinder vor und schlug auch sie windelweich. Bei dem Jungen allerdings schlug Josef besonders hart zu. Wahrscheinlich wegen der Gerüchte, dass das Kind nicht von ihm sei, weil er zur fraglichen Zeugungszeit ein paar Kilometer weiter auf einer Baustelle gearbeitet hatte. Als Josef Maria einmal mit einem Ochsenziemer blutig geprügelt hatte, hatte sie ihm gestanden, dass sie fremdgegangen war. Er wollte wissen, wer der Kerl gewesen sei, mit dem sie sich ins Bett gelegt hatte. Sie kannte seinen Namen nicht. Aber um Josef davon abzuhalten, sie weiter zu verprügeln, sagte sie, dass der Mann jemand Wichtiges sei, ein hohes Tier. Einer, gegen den sie sich nicht wehren konnte und auch nicht durfte. Josef glaubte das nicht, und sie glaubte es selbst auch nicht. Aber was blieb ihr übrig? Sollte sie sagen, dass es jemand war, den sie noch nie zuvor gesehen hatte? Der zufällig in der Gegend gewesen war? Der einfach nur nett und freundlich zu ihr war? Sie hielt an der Geschichte fest, weil es die einzige Chance war, weiteren Prügeln zu entgehen. Für sie und ihren kleinen Sohn.
Als die Sonne aufging, weckte sie ihn, gab ihm Milch und Brot zu essen und setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Es stimmt«, sagte sie.
»Was?« fragte er.
»Das mit dem anderen Mann.«
Jesus sah sie zuerst irritiert an, dann sprang er auf und stieß dabei den Becher mit der Milch um.
»Es stimmt? Dann bin ich wirklich ein Bastard?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Weil der Mann nicht irgendjemand war.«
Entsetzt starrte er seine Mutter an. »Was heißt das? Wer war es? Jemand, den ich kenne?«
»Nein, du kennst ihn nicht. Aber du wirst ihn irgendwann kennenlernen.«
Die Geschichte, die sie sich in der Nacht ausgedacht hatte und die sie ihm nun erzählte, war keine neue Geschichte. Sie hatte sie vor ein paar Jahren von einem Reisenden gehört, der sie wiederum im fernen Griechenland aufgeschnappt hatte. Dort soll ein Mann namens Platon nicht von seinem Vater Ariston, sondern von dem Gott Apollon gezeugt worden sein. Dabei war die Mutter, deren Namen sie vergessen hatte, Jungfrau geblieben. Dieser Platon soll ein besonderer Mann gewesen sein, den alle achteten und verehrten. Ein Lehrer, sehr klug, sehr eigenwillig. Viele Männer sollen ihm gefolgt sein. Sie fand, das war die passende Geschichte für sie und ihren Sohn Jesus. Und sie wusste, wenn sie sie oft genug erzählte, würden die Leute sie irgendwann glauben. Schon allein deshalb, weil sie unsicher waren, ob vielleicht tatsächlich etwas Wahres an der Geschichte dran war.
»Du meinst, irgendein Gott ist mein Vater?« Jesus sah seine Mutter entgeistert an. Wollte sie ihm wirklich erzählen, er sei von höherer Geburt?
»Nein, nicht irgendein Gott, sondern unser Gott. Er ist nachts zu mir gekommen, und ich wurde schwanger, ohne dass er mich berührt hat.«
»Das glaube ich nicht.«
»Es ist wahr.«