Die sieben Gründe zu töten - Uwe Wilhelm - E-Book

Die sieben Gründe zu töten E-Book

Uwe Wilhelm

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Beschreibung

Im Angesicht des Bösen stellt sich die Frage: Was bist du bereit, für die zu tun, die du liebst?

Die ehemalige Staatsanwältin Helena Faber steht vor dem Nichts. Sie hat ihren Job und ihre Freiheit verloren, ihre Ehe ist gescheitert, und ihre beiden Töchter wurden vor ihren Augen entführt. Die Ältere, Katharina, konnte befreit werden, aber deren kleine Schwester Sophie bleibt verschwunden. Eine Spur führt nach Saudi-Arabien und obwohl ihre Mutter es mit allen Mitteln verhindern will, macht Katharina sich alleine auf die Suche nach Sophie. Eine gefährliche, eigentlich unmögliche Reise, die für Katharina den Tod bedeuten könnte. Helena hat keine Wahl – sie muss Katharina helfen, wenn sie nicht beide Kinder verlieren will …

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Seitenzahl: 490

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Buch

Die ehemalige Staatsanwältin Helena Faber steht vor dem Nichts. Sie hat ihren Job und ihre Freiheit verloren, ihre Ehe ist gescheitert, und ihre beiden Töchter wurden vor ihren Augen entführt. Die Ältere, Katharina, konnte befreit werden, aber deren kleine Schwester Sophie bleibt verschwunden. Eine Spur führt nach Saudi-Arabien, und obwohl ihre Mutter es mit allen Mitteln verhindern will, macht Katharina sich alleine auf die Suche nach Sophie. Eine gefährliche, eigentlich unmögliche Reise, die für Katharina den Tod bedeuten könnte. Helena hat keine Wahl – sie muss Katharina helfen, wenn sie nicht beide Kinder verlieren will …

Der Autor

Uwe Wilhelm, geboren 1957 in Hanau, hat Germanistik und Schauspiel studiert. Seit 1987 arbeitet er als Autor für Drehbücher, Theaterstücke und Sachbücher. Er hat mehr als 120 Drehbücher u. a. für Bernd Eichinger, Katja von Garnier und Til Schweiger verfasst. Uwe Wilhelm ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Berlin.

Von Uwe Wilhelm bei Blanvalet erschienen:

Die sieben Farben des Blutes

Die sieben Kreise der Hölle

Die sieben Gründe zu töten

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Uwe Wilhelm

DIE

SIEBEN GRÜNDE

ZU TÖTEN

Roman

Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch.

Sämtliche Handlungen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Die beschriebenen Begebenheiten, Gedanken und Dialoge sind fiktiv.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright © 2019 by Blanvalet

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

© Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

(Aliyev Alexei Sergeevich; martin_stuard; DrObjektiff)

JB · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22321-2V001

www.blanvalet.de

Wie wäre es, wenn die schöne Scheherazade dem grausamen König Schahriyâr keine Märchen aus Tausend und einer Nacht erzählt hätte, sondern ihm den Schwanz abgeschnitten und in sein hässliches Maul gestopft hätte, damit er ein für alle Mal an seiner Geilheit erstickt wäre? Die Welt von einem Tyrannen zu befreien, ist doch allemal ein guter Grund, um zu töten, meinen Sie nicht?

Nadeen al Sharif

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Saudi-Arabien eine menschenverachtende Diktatur und in der Unterdrückung von Frauen ohne jedes Beispiel ist.

Uwe Wilhelm

Lust

In dem Theaterstück Penthesilea wird beschrieben, wie die Königin der Amazonen den Mann tötet, den sie eigentlich liebt. Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend, den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust, sie und die Hunde, die wetteifernden, Oxus und Sphynx den Zahn in seine rechte, in seine linke sie, als ich erschien, troff Blut von Mund und Händen ihr herab, heißt es im Bericht einer Begleiterin im 25. Kapitel. Die Psychiatrie nennt Penthesileas Verhalten eine extreme Form der sexuellen Abweichung. Früher nannte man es schlicht und einfach Perversion. Aber ist es tatsächlich abweichend und pervers? Oder ist es nicht vielmehr der Versuch, die Grenzen des Erlebbaren zu überschreiten, sich im höchsten Augenblick des Eros aufzulösen und durch das Vergießen des Blutes zu einem Gott zu werden? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Doch ich werde es demnächst ausprobieren.

Rashid Gibran, Das Buch Dionysos, S. 26

Sophie

November 2018

He wants you to come, sagt die Frau. Ich trage das Kleid, das sie mir angezogen hat, gleich nachdem ich an Bord gekommen bin. Im Spiegel sehe ich eine Prinzessin. Bin ich das?, frage ich. Die Frau sagt, ich würde auf einem goldenen Thron sitzen und all meine Wünsche würden in Erfüllung gehen. Ja, alle außer dem einen.

Sie führt mich zu einer zweiflügeligen Tür. Die Griffe sind aus Gold und sehen aus wie Delphine. Noch einmal richtet sie mein Kleid, wischt an meinen Lippen entlang, legt eine Haarsträhne zur Seite. Dann klopft sie und lauscht. Sie wartet. Was ist hinter der Tür?, frage ich. Die Frau lächelt, während sie sie leise öffnet. Hat jemand Herein gesagt? Ich habe nichts gehört, weil mein Herz so laut schlägt. Die Frau verbeugt sich. So tief, dass sie nicht in den Raum hineinsehen kann. Lass mich nicht alleine, will ich sagen. Aber da ist sie schon nicht mehr da.

»Wie geht es dir?«, fragt ein Mann.

Seine Stimme ist dünn und hoch. Ich will auf die Frage antworten, weil ich hoffe, dass mir nichts passieren wird, wenn ich artig bin. Zumindest nicht das, was die anderen Mädchen erzählt haben. Ich habe Durst, will ich sagen. Aber ich bekomme keinen Ton heraus. Vielleicht werde ich ersticken.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagt der Mann. »Willst du etwas trinken?«

Ich schaue nach unten. Meine Füße versinken in dem weichen hellblauen Teppich.

»Schau mich an«, flüstert der Mann.

Ich hebe den Kopf. Ich bin überrascht, weil der Mann ein hellrotes Gewand trägt. Er liegt gekrümmt auf einem riesigen Bett und erinnert an eine Krabbe. Seine Haare sind tiefschwarz, seine Augen sanft, die Nase schmal. Auf der Oberlippe hat er eine Narbe. Wie Joaquin Phoenix in dem Film Gladiator. Er ist bestimmt nicht älter als dreißig.

Auf einem goldenen Tisch neben dem Bett steht eine Shisha, die auch aus Gold ist. Auf der Spitze des Glasbehälters glühen kleine Kohlen weiß und rot. Der Mann fasst nach einem Schlauch, führt ihn zu seinem Mund und saugt so fest daran, dass seine Wangen sich nach innen wölben. Dann atmet er Rauch aus. Es riecht nach Gummibärchen.

»Willst du dich setzen?«, fragt er.

Er winkt mich zu sich, klopft auf ein Kissen, das zwischen seinen Beinen liegt. Ich setze mich lieber an den äußersten Rand des Sofas.

»Du wunderst dich sicher, dass ich so gut deutsch spreche.«

Ich nicke.

»Ich habe vor ein paar Jahr in Berlin an der HU im Nebenfach Deutsche Literatur studiert. Das zwanzigste Jahrhundert mochte ich besonders. Thomas Mann und Hans Fallada und Günter Grass. Kennst du Die Blechtrommel?«

»Nein.«

»Weißt du, dass unter den großen Schriftstellern keine einzige Frau ist?«

Ich schüttele den Kopf. Woher soll ich das wissen? Das war in Deutsch in der Schule noch nicht dran.

»Weißt du, warum das so ist?«

»Nein.«

»Weil das Gehirn von Frauen kleiner ist als das von Männern. Elfriede Jelinek war die einzige deutsche Frau, die den Literaturnobelpreis bekommen hat. Dabei schreibt sie grässliches Zeug. Völlig unzusammenhängend und wirr. So als würde sie aufschreiben, was ihr gerade in den Sinn kommt. Willst du einen Film sehen?«

Ich schüttele erneut den Kopf.

»Schade.«

Jetzt ärgere ich mich. Wieso habe ich abgelehnt? Wenn wir einen Film schauen, wird er mich vielleicht in Ruhe lassen, denke ich.

»Oder vielleicht doch«, beeile ich mich.

»Magst du Harry Potter?«

»Okay.«

Der Mann nimmt eine Fernbedienung, sucht auf Amazon nach Harry Potter und der Halbblutprinz, und dann läuft der Film auf einer Leinwand, die so groß ist wie das Garagentor bei uns zu Hause.

»Komm her. Von da drüben kannst du doch gar nichts sehen«, befiehlt der Mann.

Ich rücke näher an ihn heran. Er riecht nach einem Frauenparfüm.

»Rauchst du Shisha?«

»Nein, ich bin ja erst elf.«

Ich tue so, als würde ich mich auf den Film konzentrieren. Aber das geht nicht, weil der Mann dauernd dazwischenredet. Irgendwann nehme ich allen Mut zusammen.

»Wollen wir nicht den Film schauen?«, frage ich.

»Ich will lieber Musik hören«, sagt er.

Er scheint wütend zu sein, schaltet den Film aus. Jetzt hören wir orientalische Musik.

»Tanze für mich«, sagt der Mann.

»Ich kann nicht tanzen.«

»Wieso? Alle Frauen können tanzen.«

Er ist irgendwie unsicher. Vielleicht hat er genauso viel Angst wie ich. Ich weiß nur nicht, warum. Ich fange an zu tanzen. Und ich hoffe immer noch, dass er mich in Ruhe lässt, wenn ich genau das tue, was er von mir verlangt. Er schaut mir zu. Ich glaube, er ist nicht zufrieden.

»Willst du lieber zu einer anderen Musik tanzen?«

Ich sage, dass ich Beyoncé toll finde. Er lässt Hold up vonBeyoncé laufen. Und ich tanze. Natürlich nicht so, wie ich zu Hause mit Kata tanze, wenn wir so tun, als wären wir Superstars. Ich bewege nur die Füße hin und her. Ich will nicht, dass der Mann denkt, es würde mir Spaß machen.

»Ist das alles?«, fragt er.

Der Mann greift nach einer Flasche und schenkt Sekt in einen goldenen Becher, den er mit spitzen Fingern fasst, als wären sie die Flügel einer Pinzette. Mama hat mir mal gesagt, dass Moslems keinen Alkohol trinken, weil es für sie Sünde ist. Aber vielleicht ist er kein Moslem. Einmal war ich bei Leila, einem Mädchen aus meiner Klasse, zum Spielen eingeladen. Nur waren in Leilas Zimmer keine Spielsachen, weil das Gotteslästerung ist. Hat Leila gesagt. Und sie hat geschworen, dass niemand in ihrer Familie Alkohol trinkt. Trotzdem hat ihr Vater sie immer wieder verprügelt. Mein Papa trinkt manchmal ziemlich viel Alkohol, aber er hat mich und Kata nie geschlagen. Nur beim Monopoly.

»Ich heiße Ilias«, sagt der Mann.

»Ich heiße Sophie«, sage ich.

»Nein«, widerspricht er. »Du heißt Samira.«

Er lächelt.

»Weißt du, was Samira bedeutet?«

»Nein.«

»Freundin der Nacht.«

Freundin der Nacht. Er lacht laut, als würde er sich über meine Angst amüsieren. Und mit einem Mal weiß ich, was nun kommt. Ich höre auf zu tanzen. Ich will einfach stehen bleiben und tapfer sein, aber meine Beine wollen nicht. Ich falle zu Boden und weine und schluchze und bitte Ilias, mir nichts zu tun.

»Mein Vater hat viel Geld für dich bezahlt«, sagt er. »Und er hat gesagt, du würdest gehorchen. Und ich müsste dich einreiten wie ein Kamel.«

Weil ich weiterweine, wird er richtig wütend. Er packt mich und reißt mir das Kleid vom Körper. Die Knöpfe platzen ab und fliegen umher wie ein aufsteigender Schwarm Spatzen. Ich bin nackt. Und ich weine noch mehr, und dann wird er richtig unsicher.

»Was ist denn, warum weinst du?«, fragt er.

»Ich will zu meiner Mama«, antworte ich so leise, dass ich es selbst kaum hören kann.

»Das verstehe ich. Aber das geht nicht«, sagt der Mann.

Er läuft aufgeregt umher. Schaut mich an. Trinkt. Schaut wieder. Dann fleht er mich an, ich soll aufhören zu weinen. Aber es gelingt mir nicht. Da wird er noch wütender. Er packt mich, wirft mich auf das Bett, legt sich auf mich und hält mir den Mund zu. Ich versuche mich von ihm zu befreien, weil ich keine Luft mehr kriege. Doch er ist zu stark. Und in seinen Augen sehe ich eine dunkle Wut.

Katharina

Dezember 2018

Seit drei Monaten lebe ich in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik der Charité in Mitte. Den genauen Grund dafür kenne ich nicht. Vielleicht weil ich, nachdem ich vor einem Jahr zusammen mit meiner Schwester Sophie entführt wurde, das eine oder andere Mal versucht habe, mich umzubringen. Es kann aber auch ein anderer Grund sein. Es ist schwierig, das genau zu sagen, wenn man erst mal hier ist. Ich habe ein eigenes Zimmer, das ich selbst gestalten darf, solange die Accessoires nicht dazu geeignet sind, mich selbst zu verletzen. Mit Tesafilm habe ich Fotos an die Wände geklebt, auf denen Bäume zu sehen sind. Ich habe ein Bett, mit zwei Gittern rechts und links, an die ich bei Bedarf fixiert werden kann. Tisch, Stuhl, Schrank, Regal für Bücher – und einen toten Sperling. Vor einer Woche ist er durch das Gitter vor dem offenen Fenster in mein Zimmer geflogen. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat. Ich habe ihn Axel genannt und mit den Körnern gefüttert, die ich von Brötchen abgekratzt habe. Aber er wurde nicht zutraulich. Dann dachte ich, dass er vielleicht ein Weibchen ist, sich durch Axel sexistisch beleidigt fühlt und lieber Amy heißen möchte. Aber er oder sie hat nie etwas gesagt. Heute Morgen war Axel beziehungsweise Amy tot. Ich hoffe, nicht wegen meiner Namensgebung. Schwester Sigrun meint, der Grund sei mit Sicherheit ein Herzinfarkt, weil er oder sie den Weg nach draußen nicht mehr gefunden hat. Sigrun ist eine unserer Betreuerinnen. Sie ist dafür zuständig, dass wir uns auf der Station vegetarisch ernähren und diszipliniert die vielen Medikamente schlucken, die die selektive Noradrenalin-Wiederaufnahme hemmen. Manchmal muss auch das Serotonin oder das Dopamin gehemmt werden. Ich kenne mich da nicht so aus. Ich lass sie einfach machen. Leonie im Zimmer nebenan findet ihre Tabletten scheiße, weil sie davon Pickel kriegt. Aber sie nimmt sie trotzdem. Und jetzt denkt sie auch nicht mehr, sie wäre Tabaluga. Manchmal gibt sie welche an Greta weiter. Greta wäre gern Jesus. Sie weiß, dass sie dafür an Gott glauben und eine Geschlechtsumwandlung machen müsste. Da hakt es bei ihr.

Ich weiß nicht genau, warum ich hierhergekommen bin. Ich weiß nur noch, dass ich vor ein paar Monaten im Görlitzer Park zusammengebrochen bin. Aber warum? Was wollte ich da? Vielleicht habe ich mit den anderen rumgehangen. Vielleicht habe ich Bier getrunken und billigen Scheiß geraucht. Vielleicht habe ich auch stärkeren Shit genommen. Als die Polizei gekommen ist, bin ich total abgedreht. Hab geschrien und wirres Zeug geredet. Soweit ich weiß, war Fatima, die sich um mich kümmern sollte, nicht in Berlin, weil sie in der Türkei nach meiner Schwester gesucht hat. Ich habe damals zweiunddreißig Kilo gewogen. Trotzdem war ich stark genug, dass sie mich im Krankenwagen fesseln mussten, weil ich einem Sani in die Eier getreten hatte.

Während ich mich hier in der Psychiatrie langweile, ist meine kleine Schwester Sophie immer noch in den Händen von irgend so einem verdammten Scheißkerl, in irgend so einem verdammten Scheißland. Weil meine Eltern mich am 8. November gerettet und Sophie im Stich gelassen haben. Dafür hasse ich meine Mutter und meinen Vater. Obwohl es mir bei ihm schwerer fällt, vielleicht, weil es so ein Vater-Tochter-Ding ist. So was wie ein weiblicher Ödipuskomplex, keine Ahnung, ob es das gibt.

Seit ein paar Wochen habe ich etwas, das sich lebensbedrohliche Anorexia nervosa nennt. Rausgekommen ist es, weil ich ein paar Schlucke von dem Desinfektionsmittel genommen habe, mit dem die Putzfrauen die Spuren unserer Kreativität beseitigten. Blöde Nüsse. Ich habe neben der Kloschüssel in einer Lache aus Urin und Kacke gelegen. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden. Kotzen oder pinkeln oder kacken.

Ich zittere. Der dünne Flaum auf Armen und Rücken wärmt mich nicht. Die Kälte kommt von innen, von den Knochen. So als ob die sich von den arroganten Muskeln befreien wollen, die den Knochen immer vorschreiben, was sie zu tun haben. Ich krieche zum Heizkörper, der rhythmisch klopft. Wie mein Magen. Keine Ahnung, wieso. Vielleicht sind es Klopfzeichen von Sophie, die mit mir Kontakt aufnehmen will, um mich zu warnen. Vielleicht will sie mir sagen, dass ich für alle Zeit hierbleiben muss, weil ich beschmutzt bin. Weil die Welt mir die Vergewaltigungen nicht verzeihen kann. Irgendwas muss ich doch getan haben, wenn ich vor drei Jahren entführt und zweiundvierzig Mal vergewaltigt worden bin. Ich weiß noch, wie mich in den ersten Tagen die Leute in der Nachbarschaft angesehen haben. Mit diesem Mitleidsblick, der dir sagt, dass du ab jetzt ausgestoßen bist. Da habt ihr völlig recht. Ich bin der Auswurf eines Menschen, der früher einen Namen hatte und dessen Lebenszweck jetzt aus Hungern, Fressen, Scheißen und Kotzen besteht. Ich bin eine Kannibalin meiner selbst.

Die Assistenzärztin hat mich auf dem Klo gefunden. Sie heißt Dr. Wurst, und ich soll sie Dr. Bettina nennen, wegen dem Vertrauen oder so. Sie ist groß und eckig. Alles an ihr ist eckig. Das Gesicht, die Schultern, die Hände, sogar der Gang. Sie weiß aus Büchern und aus der sicheren Distanz der Beobachtung, was mit mir los ist. Mein Problem ist, dass ich mir die Schuld an dem gebe, was mit Sophie und mir passiert ist, sagt sie. Weil ich nicht verhindert habe, dass wir beide in den Lieferwagen eingestiegen sind. Vor drei Jahren, vor dem Olympiastadion. Wenn sie mit dieser sanften Idiotenstimme spricht, die in dem Laden alle drauf haben, neigt sie jedes Mal den Kopf zur Seite. Du bist nicht schuld, sagt sie. Immer wieder, wie so ein blöder Papagei. Du bist nicht schuld. Pro Sitzung mindestens drei Mal. Sie sagt, wenn ich so weiter mache, wenn ich weiterhin nichts esse, werde ich krank. Ich weiß, was sie meint. Magersucht führt zu Störungen der Fruchtbarkeit, zu Haarausfall, Osteoporose, häufigem Frieren, Nierenschäden, Herz-Kreislauf-Störungen, Ohnmachtsanfällen und schlechten Zähnen. Was sie vergessen hat, ist die Königsdisziplin aller Magersüchtigen. Ich weise sie darauf hin und zeige ihr meinen linken Arm, in den ich mit einem Kugelschreiber mein kleines Erbauungsvokabular eingeritzt habe. Hass. Blut. Fotze.

Dr. Bettina sagt, dass ich es selbst in der Hand habe, ob und wann ich die Geschlossene verlassen darf. Und sie fragt mich, ob ich mir bewusst sei, dass auch die Anorexie eine Reaktion auf die Schuld ist, die ich mir selbst gebe. Ich antworte, dass die Anorexie keine Reaktion auf irgendeine der unzähligen Nutzbarmachungen der Löcher in meinem Körper sei, sondern eine Vorsichtsmaßnahme. Ich will keine Frau werden. Denn die Aussicht darauf, erwachsen zu sein, trägt keine Sehnsucht in sich. Sie ist eine Bestrafung, bestehend aus Ehemann, Sex und Kindern. Dennoch versucht Dr. Bettina seit sechs Monaten, mich davon zu überzeugen, dass es ein Leben jenseits der Schmähungen gibt, die ich meinem Körper zumute. Und wenn ich eines Tages die Klinik verlasse, wird sie glauben, dass sie erfolgreich gewesen ist. Dann wird sie in ihrem Bericht schreiben, dass ich einen Weg aus dem Tal der Depressionen gefunden habe. Sie werden mich zu einem beispielhaften Fall erklären, der beweist, dass mithilfe der richtigen Medikamente eine Heilung möglich ist. Ich werde mich artig bedanken und verschweigen, dass es nur einen Grund gibt, meinen Körper nicht länger zu zerstören. Der Grund heißt Sophie. Am Tag, als meine Eltern mich hier eingeliefert haben, habe ich eine Nachricht von Sophie erhalten. Wenn du die Nachricht liest, sag Mama und Papa, dass ich auf einem Schiff bin. Ich habe Angst. Aber ich halte durch, bis ihr kommt.

Ich werde mein Nest verlassen. Ich werde mich auf etwas vorbereiten, zu dessen erfolgreicher Durchführung mir alles fehlt, was nötig ist. Erfahrung, Wissen, Kraft und Geld. Das Einzige, was ich besitze, ist Wut.

Helena

Januar 2019

Ich taumele dem Wachsein entgegen, halte mich an diesem winzigen blinden Moment fest, an dem der Tag mich noch nicht enttäuscht hat. Dann hoffe ich, dass alles, was bisher passiert ist, noch dem Schlaf gehört. Ich öffne die Augen. Und sofort fährt der Schmerz wie ein Schwert durch mich hindurch. Seit ich im Knast bin, hat sich meine Sprache verändert. Nicht nur meine Wortwahl, sondern auch mein Denken. Ein mir bisher fremdes Pathos hat sich in meinem Bewusstsein eingenistet. Ich denke so Sachen wie: Es gibt Ereignisse im Leben, die sind ein Erdbeben. Sie reißen Gewissheiten ein gleich einer einstürzenden Brücke, verschlucken Hoffnungen und türmen Angst und Elend auf, als seien es die Trümmer einer Stadt, die auf faulen Fundamenten errichtet ist. Helga, eine der Beamtinnen, hat mir geraten, ich solle Gedichte schreiben. Gedichte? Angesichts dessen, was passiert ist? Ich weiß doch, warum ich so denke und fühle. Als meine Töchter entführt wurden, dachte ich, die Hölle habe sich aufgetan. Da wusste ich nicht, was mich erwartet, als ich Katharina gerettet hatte und Sophie nicht. Und ich wusste auch nicht, was mich erwartet, als ich für drei Jahre eingesperrt wurde. Hinter meterdicken Mauern, gefoltert von den Blüten meiner Fantasie. Wieder so ein Satz. Blüten meiner Fantasie. Heute Morgen sind es mal wieder Bilder von den Geburten. Kata ist im Taxi auf die Welt gekommen. Die Fruchtblase war gesprungen, Robert war bei einem Einsatz, und ich habe ein Taxi gerufen. Aber schon nach hundert Metern ging es los. Kata wollte aus mir heraus, als könnte sie mich nicht leiden. Sie war voller Ungeduld. Und sie hatte sofort die Augen auf. Der Taxifahrer hat gedacht, ich nehme ihn auf den Arm. Sie sah aus, als wäre sie bereits vor einer Woche geschlüpft. Mal abgesehen von dem Blut und der Käseschmiere. Bei Sophie wusste ich, dass ich rechtzeitig ins Krankenhaus gehen muss. Aber dann war es ganz anders als bei Kata. Ich habe stundenlang gekämpft. Ich glaube, Sophie wollte um alles in der Welt in der dunklen, nassen und warmen Höhle bleiben und weiter an der Nabelschnur hängen. Als sie draußen war, hat sie endlos gebrüllt. Es hat sich wie Wut angehört. Wut darüber, dass ich sie in die Welt geschickt habe. Ausgerechnet sie ist jetzt dazu verurteilt, von mir getrennt zu sein.

Ich greife nach dem Foto von Sophie an der Wand, das an der Kopfseite meines Bettes hängt. Meine Hände tasten ins Leere. Wo ist es? Ich richte mich auf, schaue unter das Bett, zum Waschbecken, zum Tisch. Es ist weg. Ich blättere hektisch durch die Bibel, blättere zu der Stelle, an der ich es manchmal aufbewahre. Psalm 91. Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Es ist weg. Ich drehe die Bibel auf den Kopf, schüttele sie. Weg. Habe ich es, als ich es zum letzten Mal angeschaut habe, nicht wieder zurückgelegt? Das kann nicht sein. Ich würde mich daran erinnern, weil ich mich an alles erinnere. An alles, was geschehen ist, was ich je gedacht, gesagt oder getan habe. Das Foto ist auch in keinem der anderen Bücher. Nicht unter der Matratze, nicht im Schrank. Wieso ist es nicht da? Ich brauche es. Ich muss es jeden Tag mehrmals anschauen, weil es mich davon abhält, in eine tiefe Depression zu verfallen. Die Stunden, in denen ich nicht an sie denke, übertrumpfen mehr und mehr die, in denen sie in mir lebendig ist. Deswegen das Foto. Es zwingt mich, an sie zu denken. Dafür schäme ich mich.

Jemand muss es gestohlen haben. Das ist die einzig mögliche Erklärung. Jemand war in meiner Zelle. Jemand aus meiner Gruppe. Während ich geschlafen habe oder während der Arbeitszeit oder dem Hofgang. Vielleicht auch eine aus der Trachtengruppe wie die dicke Helga, die in ihrer Uniform aussieht wie eine Wurst. Ich schreie, ich reiße die Matratze vom Bett herunter. Werfe den Tisch um. Wo ist das Foto? Sophie am Tag, als sie mit einem Aufsatz über mich und meine Arbeit den ersten Platz beim Berliner Wettbewerb Junge Dichter gewonnen hat. Sie ist neun Jahre alt. Sie hält eine kleine Trophäe in der linken Hand, die Kalliope darstellen soll, die Muse der Dichtung und Philosophie. In der rechten einen Gutschein für ein Jahr kostenlose Nutzung der Bibliothek in der Westendallee. Sophie ist reine Freude.

Es war, als wollte uns das Schicksal ein letztes Mal mit dem Gefühl des vollendeten Glücks überhäufen, damit wir nur umso tiefer fielen, als es uns in die bodenlosesten Höllen der Verzweiflung stürzte.

Durch Schreie alarmiert, rückt die Trachtengruppe an. Helga und Yasemin.

»Was ist los, warum schreist du so rum, bist du verrückt geworden?«

Helga steht breitbeinig vor mir. Ihr Blick sagt mir, dass sie wütend ist, weil ich sie bei irgendetwas gestört habe. Normalerweise kann sie mich nicht leiden, jetzt hasst sie mich, weil sie kurz vor Schichtwechsel noch mal kommen muss. Yasemin steht hinter ihr. Sie ist rangniedriger, aber im Gegensatz zu Helga verschlagen. Sie droht, mich in den Bunker zu sperren, wenn ich nicht sofort aufhöre. Ich sage, dass ich bestohlen wurde. Dass Sophies Foto verschwunden ist. Sie nehmen die Nachricht hin, als würde ich mich über das Wetter beschweren. Beide wissen, was das Foto mir bedeutet. Sie sind Mütter wie ich. Aber es gibt etwas, das uns unterscheidet. Auch sie haben Angst, dass ihren Kindern etwas passieren könnte. Doch wenn sie nach Hause kommen, wissen sie, dass es nur eine Furcht von vielen war.

»Wenn du dich nicht sofort beruhigst, kommst du in den Bunker«, wiederholt Yasemin.

Niemand will in den Bunker. Der Bunker ist wie Krebs. Alles Schlechte wuchert darin.

»Willst du eine Anzeige machen?«

Will ich eine Anzeige machen? Nein. Falls ich bestohlen wurde, ist eine Anzeige das Dümmste, was ich machen kann. Von diesem Moment an wäre das Foto, falls jemand es geklaut hat, für immer verloren.

»Nein, keine Anzeige«, sage ich.

»Dann beruhige dich.«

»Ja.«

»Es wird schon wieder auftauchen.«

»Ja.«

Sie haben mehr Erfahrung als ich. Sie wissen, dass jede Handlung hier drinnen einem Zweck dient. Irgendwann werde ich eine Nachricht erhalten, dass das Foto aufgetaucht ist. Dass ich es zurückbekomme, wenn ich etwas dafür tue. Ich kann den Erhalt der Nachricht beschleunigen, indem ich mir Unterstützung hole.

»Hast du dich beruhigt?«

»Ja.«

Sie ziehen ab.

Bisher habe ich mich von allen ferngehalten. Gehöre keiner Gang an. Ich müsste irgendetwas mit ihnen gemein haben, mehr als nur Herkunft und Geschlecht. Zum Beispiel Erfahrungen. Was uns Menschen vom Anbeginn unserer Existenz auf diesem Planeten zusammenschweißt, sind gemeinsame Erlebnisse. Das, was die Frauen hierhergebracht hat. Wenn du einen Menschen umgebracht hast oder im großen Stil betrogen hast. Wenn du gedealt hast, geklaut. Anfangs haben sie mich Sumpfbiber genannt, weil ich mich in der Nähe der Vollzugsbeamtinnen aufgehalten habe. Ich habe in meiner Naivität gedacht, wir gehören auf die gleiche Seite, weil ich in einem anderen Leben Staatsanwältin war. Irrtum. Für diejenigen, die das Gesetz vertreten, zählt nicht, wer du mal warst. Hier zählt nur, was du getan hast, wer du jetzt bist und wer du sein willst.

Ich werde mich in Danielas Hände begeben. Sie ist zweiundfünfzig Jahre alt, sitzt wegen Totschlags und ist eine der Bienenköniginnen hier drin. Und sie ist hinter mir her. Irgendwann werde ich dich ficken, hat sie am zweiten Tag meiner Haft gesagt. Ich weiß, was das heißt. Wenn sie schlecht drauf ist, ist es so, wie das Wort klingt.

Robert

März 2019

Doha ist die Hauptstadt von Katar, einem der wohlhabendsten Länder der Welt. Neben unfassbarem Reichtum existierte ebenso unfassbare Armut. Die Straße lag abseits des Zentrums, wo die Glastürme in die Höhe wachsen. In dieser Straße war Sophie angeblich von einem Zeugen gesehen worden. Damit ich erfuhr, um welches Haus es sich handelte, musste ich an mehrere Leute insgesamt einhunderttausend Dollar zahlen. Das Geld stammte aus Erspartem und dem Rest des Geldes, das der Verkauf von Helenas Haus eingebracht hatte.

Ich habe das Haus drei Wochen lang observiert. Ich habe gesehen, wie eines Nachts ein Transporter durch das baufällige Tor fuhr und zwei Männer ausstiegen. Sie waren von der Polizei. Zumindest trugen sie Polizeiuniformen. Ich habe gewartet, bis sie wieder verschwunden waren. Dann bin ich losgegangen. In dem Haus wohnten vier Mädchen. Die Jüngste war nicht älter als vier oder fünf. Sie sprach französisch. Ich habe die Ambulanz angerufen. Dann habe ich mir den Mann geschnappt, der sie bewacht hat. Ich habe ihm das Foto von Sophie gezeigt. Er hat gegrinst. Da habe ich ihm das Nasenbein gebrochen.

Ich habe ihn entführt und zwei Wochen lang in einem Boot vor der Küste außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone festgehalten. Ich habe ihm Schmerzen zugefügt, die stärker waren als seine Angst. Sein Grinsen war ihm vergangen, irgendwann hatte ich ihn gebrochen. Er sagte, er wüsste, wo Sophie sich befindet. Ich bin zu der Adresse gefahren, die er mir genannt hat. Eine Villa am östlichen Stadtrand. Ich habe wieder gewartet und beobachtet. Im Hof standen Bentleys, Porsches, Ferraris. Männer kamen und gingen. Ein paar Mal wollte ich losgehen und diejenigen abknallen, die aus den Autos stiegen. Doch ich musste zuerst sicher sein, dass Sophie sich auch tatsächlich dort befand. Frauen waren nicht zu sehen. Und dann war da ein Mädchen. Etwa so groß wie Sophie. Ich konnte sie nicht erkennen, weil sie verschleiert war. Sie schrie. Auf Deutsch. Ihr Schreien hörte sich nicht wie Sophie an. Aber vielleicht hat sich ihre Stimme verändert, dachte ich. Durch all das, was sie erlebt hat.

Als ich sicher war, dass kein Mann mehr im Haus sein konnte, startete ich gegen Mitternacht den Angriff. Ich erschoss die beiden Frauen, die die Mädchen bewachen sollten. Dann weckte ich die Mädchen. Es waren sieben. Keine davon war Sophie. Ich habe sie aufgefordert, in meinen Wagen einzusteigen. Sie wollten nicht. Sie weinten und jammerten. Sie dachten, ich würde sie irgendwo in der Wüste aussetzen oder im Meer ertränken. Ich habe dem deutschen Mädchen erklärt, dass ich sie zur deutschen Botschaft bringen würde, was ich auch getan habe. Danach bin ich zurück zum Strand gefahren und mit dem Boot hinaus aufs Meer. Ich habe dem Mann, dessen Name Djengiz war, das Stromkabel der Bootsbatterie an den Mund gehalten, an seine Eier, an die Augen. Ich habe ihm ein Ruder in den Arsch geschoben, bis das Blut herausspritzte. Nach einer Woche war ich sicher, dass er nicht gelogen hatte. Er wusste nicht, wo Sophie gefangen gehalten wird. Er hatte mir die Adresse nur deshalb genannt, damit ich ihm nicht weiter wehtun würde. Ich band den Anker an seine Beine und warf ihn über Bord. Danach fuhr ich zurück an Land, zündete das Boot an und ging in ein Hotel. Ich wollte mich ausruhen, nachdenken und auf einen Funken Hoffnung warten. Dann wollte ich wieder losziehen.

Es gibt Leute, die denken, dass ich genauso bin, wie diejenigen, die meine Tochter entführt haben und vergewaltigen. Nein, ich bin nicht wie die. Ich bin schlimmer.

Als ich aus Katar zurückkam, musste ich es erklären. Den Kollegen, den Leuten, die mir Geld geliehen hatten, der Presse. Hast du sie gefunden? Gibt es Neuigkeiten? Irgendwelche Spuren? Weder noch. Keine Neuigkeiten, keine Spuren. Ich habe gesagt, dass ein Entführungsfall nach ein paar Monaten bei der Kripo auf Wiedervorlage kommt. Die Akte wird beiseitegelegt, bis ein Kollege sie irgendwann wieder hervorholt. Vielleicht weil sich ein Zeuge gemeldet hat, weil ein Indiz aufgetaucht ist. Ich habe niemandem gesagt, dass ich in einer Sackgasse feststecke, die eigentlich ein Labyrinth ist, das mich immer wieder an denselben Punkt führt.

Die Anteilnahme war groß. Angebote zu reden, irgendwas zu machen, damit ich den Kopf freibekommen konnte. Nach einem Monat kamen die nächsten Fragen. Was wirst du jetzt machen? Wieso trinkst du so viel? Hast du aufgegeben? Wieso bist du hier? Warum suchst du nicht weiter? Ich habe versucht, es zu erklären. Als stünde ich vor Gericht. Es ging um das beste Plädoyer.

Der erste Grund, warum ich die Suche nach Sophie aufgegeben habe, muss eigentlich jedem plausibel erscheinen, der meine Situation nicht persönlich erlebt hat. Ich habe mehr als zweihunderttausend Euro ausgegeben, um Sophie zu finden. Ich bin um die halbe Welt geflogen. Ich habe Leute bestochen, verprügelt und gefoltert. Jetzt ist kein Geld mehr da, um irgendwas Sinnvolles zu unternehmen. Und alles jenseits sinnvoller Schritte kommt einem Aktionismus gleich, der Sophie, sollte sie doch noch am Leben sein, unter Umständen noch mehr gefährdet.

Den zweiten Grund verstehen nur die, deren Kind verschwunden und nicht wiederaufgetaucht ist. Noch nicht mal als misshandelte Leiche. Ein totes Kind kannst du betrauern. Du kannst heulend am Grab knien, du kannst dich auf das Grab werfen, du kannst daran denken, dich umzubringen. Das alles kannst du tun, weil du die Gewissheit hast, dass dein Kind nicht mehr leidet. Doch der Gedanke, dass dein Kind noch lebt, ist nicht zu ertragen. Und der darauffolgende Gedanke, was es zu erleiden hat, wie es um dich und seine Mutter weint, macht dich wahnsinnig.

Es gibt diesen Satz, dass ein Mann, dem du alles nimmst, zu einer geladenen Waffe wird. Das ist Unsinn. Mir wurde alles genommen. Meine Tochter Katharina spricht nur noch das Nötigste mit mir. Meine Ex-Frau Helena wird in zwei Jahren aus dem Gefängnis entlassen, und dann wird sie mich fragen, wieso ich aufgegeben habe. Sophie ist vermutlich tot. Und wenn sie lebt wäre es besser, sie würde bald sterben.

Sophie

April 2019

Ich habe keine Bücher, keine Musik, kein Handy. Weil Ilias Mutter Angst hat, ich würde meine Eltern anrufen oder ihnen eine Nachricht schreiben. Hallo Mama, ich bin hier in Saudi-Arabien, das Wetter ist schön, das Essen auch. Ich hänge meistens in meinem Zimmer herum. Ich habe übrigens ein Baby. So was in der Art.

Ich bewohne ein Zimmer im hinteren Trakt des Palastes. Es liegt im ersten Stock am Ende eines Ganges, neben den Zimmern, in denen noch andere Frauen wohnen. Von hier aus kann ich durch die Verdunklungsjalousien auf den Hof und das Hauptgebäude sehen. Es ist sandfarben und sieht überhaupt nicht so aus, wie man sich einen Palast vorstellt. Er ist modern gestaltet, ohne Schnörkel und Verzierungen und so. Eher könnte er in New York stehen, aber das weiß ich nicht so genau, weil ich noch nie in New York war. Der Hof zwischen dem Frauentrakt und dem Hauptgebäude ist mit Marmor ausgelegt. In der Mitte gibt es einen wahnsinnigen Springbrunnen. Die Fontäne spritzt bestimmt fünfundzwanzig Meter hoch, noch über das Dach des Palastes hinaus. Die farbigen Lampen lassen ihn wie einen Regenbogen erstrahlen. Drumherum ist so ein kleiner Garten angelegt, mit Palmen und Blumen und einem Rasen, der aussieht, als sei er gemalt. Überall liegen Kissen verstreut, darüber sind riesige Baldachine gespannt. Es erinnert mich an die Oase in dem Film Aladin. Nein, eigentlich mehr an das Paradies, wie ich es einmal in der Schule gemalt habe. Nachmittags, wenn die Männer fertig sind mit Aufräumen und den Pflanzen, können wir Frauen für zwei Stunden in den Innenhof gehen. Ansonsten halten wir uns in unseren Zimmern auf, abends dürfen wir in das Gemeinschaftszimmer.

Wir sind neun Frauen. Die meisten sind älter als ich. Seit der Geburt meiner Tochter wohne ich hier. Ich darf sie nicht sehen. Aber Lilibeth, die in der Küche arbeitet und das Essen für die Kinder macht, sagt, dass es ihr gut geht. Sie darf nicht Katharina heißen, weil es ein christlicher Name ist. Der Scheich hat entschieden, dass sie Abidah genannt wird, die Magd Allahs. Vor sechs Monaten bin ich in einer total langweiligen Zeremonie mit Ilias verheiratet worden. Von ihm habe ich Abidah. Nachdem ich schwanger geworden bin, hat er seinen Vater angefleht, dass ich im Palast bleiben darf. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder ich bin seine Sklavin, oder wir heiraten, wofür ich zum Islam konvertieren musste. Ich weiß nicht, was sonst passiert wäre. Die Frau im Zimmer neben meinem, sie heißt Sara, und sie ist bestimmt schon über zwanzig, hat mir erzählt, dass Frauen und Mädchen manchmal aus dem Palast verschwinden, wenn sie nicht verheiratet werden oder Sklavin und so sein wollen. Oder wenn sie nicht machen, was die Männer von ihnen wollen. Oder wenn sie zu alt sind. Niemand weiß, was dann mit ihnen passiert. Manche sagen, dass die Frauen in der Wüste ausgesetzt werden, wo sie von wilden Tieren gefressen werden oder verdursten. Ich glaube das mit den Tieren nicht. Gibt es wilde Tiere in der Wüste?

Es ist acht Uhr abends. Ein paar Frauen sind beim Gebet. Ich nicht, weil ich noch nicht weiß, wie das geht. Ich soll es lernen, aber wann, weiß ich noch nicht. Wenn ich frage, heißt es immer nur, bald. Bald ist hier die wichtigste Zeiteinheit. Niemand weiß, wann bald ist. Im Fernsehen laufen Nachrichten auf Englisch. Nichts Besonderes. Der König ist von einer Auslandsreise zurückgekommen. Die Straßen vom Flughafen in die Stadt sind mit Blumen geschmückt, die es in der Hitze gerade so lange aushalten, bis die Kolonne der schwarzen Limousinen vorbei ist. Dann vertrocknen sie, als sei der Tod eine Erlösung. An jedem Laternenpfahl hängt ein halbes Dutzend kleine Flaggen. Und neben der Straße stehen die neuesten Ambulanzen und Polizeifahrzeuge, und Feuerwehrfahrzeuge spritzen Wasserfontänen in die Luft, und wir können erkennen, wie das Wasser schon verdunstet, bevor es auf den Asphalt trifft. Am Eingang der Stadt stehen ein paar Bewohner am Straßenrand und jubeln den Fahrzeugen der Kolonne zu. Leyla sagt mir, dass sie jedem Fahrzeug zujubeln, weil sie nicht wissen, in welchem davon der König sitzt. Leyla ist auch älter als ich und wahnsinnig schön. Irgendwo am Strand wird eine riesige Anlage gebaut, in der Touristen wohnen sollen. In Riad hat die Religionspolizei einen Mann und eine Frau verhaftet, die aus demselben Kaffeebecher getrunken haben. Auf dem Hinrichtungsplatz haben sich nach dem Freitagsgebet Hunderte versammelt. Der Mann erhält fünfzig Stockschläge, die Frau achtzig. Ihr Platz ist links auf dem Platz, seiner rechts. Die Abaya der Frau glänzt in der Sonne von ihrem Blut. Manchmal zeigen die Nachrichten, wie Todesurteile vollzogen werden. Dann werden Frauen erschossen und Männer mit dem Krummsäbel geköpft. Leyla sagt, dass es schmerzlos und humaner ist als die Giftspritze oder der elektrische Stuhl in Amerika. Ich lerne, dass die Gullydeckel auf dem Henkersplatz nicht für das Regenwasser da sind. Wie sollten sie auch, es regnet hier nur ganz selten. Und dann ist es nicht mehr als ein Schauer, der schnell verdunstet. Die Temperaturen steigen, sagt der Mann vom Wetterdienst. Und die Welt ist schön bunt. Ich schließe die Augen und bin bei Katharina und Mama. Wir sitzen zu dritt auf dem Sofa und schauen Gilmore Girls. Die beste Serie, ever.

Jetzt kommt eine arabische Serie. Ich verstehe zwar kein Wort, aber sie scheint wie Gute Zeiten, Schlechte Zeiten zu sein, nur dass die Schauspielerinnen die meiste Zeit verschleiert herumlaufen. Sara sitzt neben mir. Sie ist die Einzige, die von Anfang an mit mir gesprochen hat. Ihr habe ich erzählt, wie ich hierhergekommen bin. Dass ich entführt worden bin und zuerst zusammen mit meiner Schwester in einen Raum eingesperrt war, und dann wochenlang in einer Holzkiste war, bis ich zuletzt versteigert worden bin. Bei Sara war es noch schlimmer. Ihr Vater hat sie verkauft, da war sie sechs Jahre alt. Wie Aischa, Mohammeds erste Frau. Der Scheich hat sie sofort geheiratet, damit er mit ihr schlafen konnte. Aber schwanger ist sie erst mit dreizehn geworden.

»Du musst aufpassen«, hat sie mir geraten. »Wenn Ilias kein Interesse mehr an dir hat, darf jeder ran. Die Hierarchie sieht so aus, es gibt die Mütter der Kinder, sie stehen ganz oben. Dann die Frauen zum Angeben. Und zuletzt die Frauen, an denen man seine Wut auslassen kann.«

Ich frage sie, ob ich ihr Handy haben kann. Sie schüttelt den Kopf.

»Du weißt genau, was passiert, wenn ich dir mein Handy gebe. Ich will nicht noch mehr Ärger haben«, antwortet Sara.

Sie isst sehr wenig, weil sie auf ihr Gewicht achten muss. Tarik, der älteste der Brüder, hat zu ihr gesagt, dass sie fett sei. Und fette Frauen kann er nicht ausstehen. Alte noch weniger. Wenn Ilias mich nicht bekommen hätte, hätte er mich genommen, hat er zu ihr gesagt. Weil ich jung und dünn bin. Manchmal isst Sara so wenig, dass sie einfach so umkippt. Es gibt Couscous und Huhn. Es gibt andauernd Huhn. Manchmal wird nach dem Abendessen eine der Frauen abgeholt. Es können auch zwei oder drei sein, sogar wenn sie mit einem der Söhne verheiratet sind. Vielleicht darf der Scheich sich jede Frau nehmen, die er will. Ich weiß es nicht. Und ich traue mich auch nicht zu fragen. Ich glaube, ich habe Angst vor der Antwort.

Ich muss ein schwarzes Tuch über meinen Kopf legen, das mein Gesicht komplett verhüllt. Der Schweiß läuft meinen Rücken hinunter. Die anderen Frauen schwitzen nicht so schlimm, obwohl sie eine Abaya tragen. Aber ich schwitze sehr schnell, da bin ich wie mein Vater. Unsere ideale Lebenswelt wäre der Südpol, hat er immer gesagt. Die Abayas hängen wie schwarze Säcke an ihren Schultern. Ich muss noch keine Abaya tragen. Ich weiß nicht, warum. Die Frauen müssen auch die Tarha und den Niqab tragen. Er ist etwa so groß wie ein Din-A4-Blatt. Mit zwei Schnüren rechts und links wird er hinten am Kopf zugebunden. Solange kein Mann in der Nähe ist, nehmen die anderen Frauen den Niqab ab. Erst wenn es klopft, ziehen sie ihn über, sodass nur ein schmaler Schlitz für die Augen freibleibt. Wenn ich sie ansehe, denke ich immer an Teenage Mutant Ninja Turtles. Dann kichere ich, und Sara versteht nicht, warum ich kichere. Sie kennt die Serie nicht.

Es klopft. Schnell legen die Frauen den Niqab an. Ich lege das Tuch über meinen Kopf. Der Mann, es ist immer derselbe, kann eigentlich nicht erkennen, welche die Frau ist, die er holen soll. Langsam kommt er näher. Ich bete, dass er Sara und nicht mich nimmt. Er bleibt vor uns stehen. Sieht mich an, nickt kurz. Ich bin dran, heißt das. Ich habe Angst, und mein Magen zieht sich zusammen. Mir ist so übel, dass ich mich auf der Stelle übergeben könnte. Ich versuche aufzustehen, aber meine Beine sind total schwach, ich knicke sofort um. Sara fängt mich auf und stützt mich.

»Es wird schon nicht so schlimm werden«,flüstert sie.

Ich weiß, dass das eine Lüge ist. Und sie weiß es auch. Als ich vor dem Mann stehe, schüttelt er den Kopf.

»Setz dich wieder hin«, herrscht er mich an. Dann deutet er auf Sara. »Du.«

Sara zuckt zusammen.

»Nimm deine Tasche mit«, befiehlt er.

Sara schüttelt den Kopf. Der Mann packt sie und zieht sie nach draußen.

Ich bin froh, dass sie gehen muss. Sie ist älter als ich und kann mehr ertragen.

Nadeen

Oktober 2019

»Wie Sie wissen, ist Scheherazade eine der Hauptfiguren aus der Sammlung morgenländischer Erzählungen. Sie trägt den Titel Tausendundeine Nacht und ist ein Klassiker der Weltliteratur. Kennt jemand die Geschichte?«

Dr. Nadeen al Sharif steht im Hörsaal 20 der KAUST, der King Abdullah University of Science and Technology in Thuwal, einem kleinen Fischerdorf etwa einhundert Kilometer nördlich von Dschidda. Im Auditorium sitzen nur Frauen. Eigentlich dürfen an der KAUST, im Gegensatz zu allen anderen Universitäten, Studentinnen und Studenten dieselben Veranstaltungen besuchen. Es gibt hier keine Geschlechtertrennung mehr. Aber der Dekan hat verfügt, dass die Vorlesungen von Dr. Nadeen al Sharifausschließlich Frauen vorbehalten sein sollen. Niemand weiß warum. Der Dekan vermutlich auch nicht. Vielleicht befürchtet er, dass der Inhalt der Vorlesung die männlichen Studenten verwirren oder sogar kränken könnte.

Da sich keine der Studentinnen meldet, nimmt Nadeen ihr iPad hoch und liest aus Wikipedia vor.

»Schahriyâr, König einer ungenannten Insel zwischen Indien und dem Kaiserreich China, ist über die Untreue seiner Frau so empört, dass er sie töten lässt und einem seiner Wesire die Anweisung gibt, ihm fortan jede Nacht eine neue Jungfrau zuzuführen, die jeweils am nächsten Morgen ebenfalls umgebracht wird. Nach einiger Zeit beschließt Scheherazade, die Tochter des Wesirs, die Frau des Königs zu werden, um das Morden zu beenden. Sie beginnt, ihm Geschichten zu erzählen; am Ende der Nacht ist sie an einer so spannenden Stelle angelangt, dass der König unbedingt die Fortsetzung hören will und die Hinrichtung aufschiebt. In der folgenden Nacht erzählt Scheherazade die Geschichte weiter, unterbricht am Morgen wieder an einer spannenden Stelle und so weiter. Nach tausendundein Nächten hat sie ihm drei Kinder geboren, und der König gewährt ihr Gnade.«

Dr. Nadeen al Sharif schaut in die ratlosen Gesichter der mehr als dreihundertfünfzig Studentinnen. Soweit das möglich ist, weil ein paar von ihnen den Niqab tragen. Die Hälfte trägt ein Kopftuch, die in den hinteren Reihen noch nicht mal das.

»Sie wissen nicht, warum ich mit Ihnen über Scheherazade sprechen will, oder?«

Kollektives Kopfschütteln.

»Sie sind Naturwissenschaftlerinnen, Sie sind Ingenieurinnen, Sie sind Programmiererinnen. Zumindest werden Sie ein entsprechendes Diplom in den Händen halten, wenn Sie fleißig waren, wovon ich ausgehe, und Ihr Studium erfolgreich beendet haben. Ob Sie dann in Ihren Berufen arbeiten oder eher Haus und Kinder hüten, wird sich noch herausstellen.«

Rumoren. Nadeen hat einen Punkt angesprochen, der einigen Studentinnen Sorgen macht.

»Ich will mit Ihnen über Scheherazade sprechen, weil wir alle, wenn wir die Geschichte zum ersten Mal hören, denken, wie mutig und selbstlos diese junge Frau ist. Sie bewegt den König dazu, von seinem mörderischen Handeln abzulassen. Oder wir denken uns: Was ist es doch für eine brillante Idee, den König mit einer Geschichte voller Cliffhanger zu einer Art Serien-Junkie zu machen, der es kaum abwarten kann, bis in der nächsten Nacht die Fortsetzung folgt. Vielleicht lesen wir darin auch die Metapher von der heilenden Kraft des Geschichtenerzählens, oder die von der Opferbereitschaft einer Heldin, die anderen das Leben rettet, indem sie ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt. Oder gar die Metapher vom Sieg der Liebe über die Barbarei? Das alles ist naheliegend und durchaus plausibel. Vielleicht sollen auch wir lernen, dass eine Frau Karriere machen kann, wenn sie sich einem Mann unterwirft, ihm schöne Geschichten erzählt, noch schönere Augen macht und dann, wenn er danach verlangt, die Beine öffnet. Aber, meine Damen, es gibt auch eine Lesart, die nicht so heldenhaft klingt. Und ich frage mich, wieso bisher niemand auf die Idee gekommen ist, sich die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht aus der Sicht des weiblichen Personals anzuschauen.«

Die meisten Studentinnen klappen ihr MacBook Air auf. Sie halten sich bereit, alles mitzuschreiben, was diese Frau mit den wachen, funkelnden Augen, den kurzen tiefschwarzen Haaren und der Narbe an der Stirn ihnen zu erzählen verspricht.

»Wie wäre es zum Beispiel«, fährt Nadeen fort, »wenn wir uns fragen, was für ein König das ist, der abends auf dem Sofa sitzt und unbedingt wissen will, wie die Geschichte, die Scheherazade ihm erzählt, weitergeht? Erlebt er nicht jeden Tag ein Füllhorn an Intrigen, Verbrechen und Aufständen? Und reicht ihm das nicht? Ich hätte an seiner Stelle abends die Nase voll von irgendwelchen Erzählungen. Wieso also wollte der König die Geschichten hören? War er dermaßen gelangweilt, dass er das Ganze als ein nettes Spiel angesehen hat? War er jeden Abend auf einen neuen Kick aus? Hat er eine Abwechslung in seinem öden Königsalltag voller Speichellecker gebraucht? Oder hat er sich gedacht, wollen wir doch mal sehen, was diese Scheherazade so draufhat? Und wenn eine von ihren Geschichten nicht spannend genug ist, lass ich ihr einfach am nächsten Morgen die Kehle durchschneiden.«

Rumoren in den Reihen der Studentinnen. Sie sehen sich an. Haben sie richtig gehört? Spricht Dr. Nadeen al Sharif von Schahriyâr oder spricht sie vom aktuellen König? Nadeen nimmt die Unruhe wahr. Und sie nimmt auch wahr, dass die beiden Aufpasserinnen, die der Dekan in die Vorlesung beordert hat, besonders fleißig mitschreiben. Eine hat ihr iPhone auf das Pult gestellt und filmt Nadeens Vortrag.

»Oder war Scheherazade so unfassbar schön, dass Schahriyâr sich überlegt hat: Hey, die Kleine sieht gut aus, ich lasse sie eine Weile am Leben? Was ja bedeuten würde, dass Schönheit für ihn das herausragende Kriterium war, um den Wert einer Frau zu bestimmen, und nicht etwa Intelligenz oder Güte oder Talent. Ist das die Sorte König, wie wir sie uns wünschen?«

Sie balanciert an einem Abgrund entlang. Den meisten Studentinnen ist völlig klar, von wem Dr. Nadeen al Sharif eigentlich spricht, wenn sie von Schahriyâr spricht. Einige drehen sich zu den beiden Aufpasserinnen um. Werden sie einschreiten? Werden sie den Dekan holen? Wird die Vorlesung abgebrochen? Es ist ohnehin verwunderlich, dass die Leitung der Uni Dr. al Sharif erlaubt hat, hier zu sprechen. Man kennt sie doch. Man weiß, dass sie eine der ersten Frauen war, die Auto gefahren ist. Unverschleiert, weil das mit Niqab unmöglich ist. Und die ein Video davon gepostet hat, woraufhin sie zu zehn Stockschlägen verurteilt wurde. Eine Zeit lang hieß es, sie sei nach England ausgewandert. Aber das war offensichtlich ein Gerücht, gestreut von der Regierung, um sie aus der Öffentlichkeit verschwinden zu lassen. Jedenfalls kann man ihr Facebook-Profil nicht mehr aufrufen. Website, Twitter und Instagram sind auch nicht mehr erreichbar. Wieso also darf sie ausgerechnet hier sprechen?

»Sind Sie noch bei mir, meine Damen? Lassen Sie sich nicht von den zwei Protokollantinnen irritieren. Die beiden Damen sorgen lediglich dafür, dass die Geschichte, die ich Ihnen erzähle, auch für andere Interessierte zur Verfügung steht. Zweitens: Wie steht es um das seelische Gleichgewicht eines Königs, der nur deshalb, weil eine seiner vielen Frauen mit einem anderen im Bett war, so wütend ist, dass er sie umbringen lässt und anschließend aus gekränkter Eitelkeit zahllose weitere junge Frauen oder Mädchen vergewaltigt und ermordet? Was wäre denn, wenn seine Frau nicht aus Liebe oder sexueller Frustration oder schlicht aus Lust mit einem anderen intim geworden wäre, sondern selbst auch vergewaltigt wurde? Hat er sie das gefragt? Oder hat das für ihn keinen Unterschied gemacht, weil eine Frau bei außerehelichem Sex auf alle Fälle schuldig ist?«

Eine der Aufpasserinnen nimmt ihr Handy und telefoniert aufgeregt. Als sie merkt, dass zweihundert Augenpaare sie anstarren, verlässt sie den Hörsaal. Die Tür fällt hart ins Schloss. Nadeen lässt sich davon nicht beeindrucken. Allerdings merkt sie, dass einige Studentinnen noch unruhiger werden. Sie fragen sich wahrscheinlich, ob sie nicht in vorauseilendem Gehorsam die Veranstaltung verlassen sollten, damit man ihnen später nichts vorwerfen kann.

»Übrigens steht nirgendwo, wie alt die Mädchen waren, die der König hat umbringen lassen. Waren sie – wie Mohammeds Lieblingsfrau Aischa – erst sechs Jahre alt? Und wieso war Schahriyâr in seiner lächerlichen Ehre so gekränkt, dass er jedes Mädchen, das er nachts vergewaltigte, am nächsten Tag umbringen ließ? Kann man das als vernünftige und weise Handlungsweise eines Herrschers bezeichnen, oder passt dieses Verhalten nicht eher zu einem psychopathischen Serienmörder?«

Zwei Studentinnen verlassen den Saal. Andere sehen sich immer noch unsicher an. Doch Nadeen lässt sich davon nicht irritieren.

»Drittens, meine Damen, wie hat sich Scheherazade gefühlt? Es heißt in der Geschichte, sie hätte sich freiwillig von dem König heiraten lassen, sie hätte ihm Tausendundeine Nacht lang Geschichten erzählt, das sind zwei Jahre, neun Monate und ein Tag. In der Zeit ist sie dreimal schwanger geworden, das heißt, kurz nach einer Geburt war sie bereits wieder schwanger und hat drei Kinder auf die Welt gebracht. Nur, um das grausame und sinnlose Morden zu beenden. Wie hat sie sich wohl gefühlt, wenn ihre Geschichte sich morgens dem Ende und dem Cliffhänger genähert hat? Hatte sie feuchte Hände? Hat sie ihren Gatten immer wieder erwartungsvoll angeschaut, um aus der mindesten Reaktion lesen zu können, wie er wohl bei Sonnenaufgang reagieren wird? Hat sie es kaum ausgehalten, bis er endlich sein willkürliches Urteil gefällt hatte? Hat sie zu Allah gebetet, dass er sie am Leben lässt?«

Das Getuschel wird nun so laut, dass Nadeen kurz ihren Vortrag unterbricht.

»Ich weiß, in der Ankündigung steht: Poststrukturalistische Exegese einer Erzählung der Weltliteratur. Ich habe die Veranstaltung so genannt, weil ich dadurch ein wenig den wahren Inhalt meines Vortrages verschleiern konnte. Sie, meine Damen, haben jetzt die Wahl, den Saal zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen, wobei ich Ihnen schwöre, dass Sicherheit nicht existiert. Oder Sie bleiben hier als Schwestern dieser außerordentlichen Heldin. Ich gebe Ihnen zwei Minuten Zeit, sich zu entscheiden.«

Die eine Aufpasserin kommt nach dem Telefonat zurück, setzt sich und flüstert mit der anderen. Die Studentinnen sehen es. Aber keine steht auf. Sie klappen ihre MacBook Air zu, packen ihre Hefte zurück in die Taschen. Rücken auf den Stühlen nach vorne, als wollten sie Dr. Nadeen al Sharif so nahe sein, wie es nur geht. Nadeen nimmt es als eine Welle aus Energie und Mut wahr. Sie lächelt.

»Wäre es also, viertens, nicht klüger, die Geschichte der Scheherazade in Zukunft anders zu erzählen, nämlich als das, was sie ist: das uralte Martyrium einer Frau in den Händen eines kranken Herrschers? Sollten wir uns nicht bewusst sein, dass die Geschichten, die wir erzählen, wie auch die Sprache, die wir benutzen, in einem performativen Vorgang die Realität wenn schon nicht erschaffen, so doch zumindest mitkonstruieren? Sollten wir nicht also aufhören, die Märchen von bedauernswerten Opfern zu erzählen, und stattdessen von Heldinnen berichten, die sich gegen ihren Peiniger auflehnen? Wie wäre es, wenn Scheherazade dem König Schahriyâr, bei dem man nie weiß, wann er wieder Gefallen an seinen kranken und frauenverachtenden Spielen findet, den Schwanz abschneiden und ihm in sein hässliches Maul stopfen würde, damit er ein für alle Mal an seiner Geilheit erstickt? Denn die Welt von einem Tyrannen zu befreien, ist allemal ein guter Grund, um zu töten, meinen Sie nicht? Es ist ein guter Grund, glauben Sie es mir. Ich weiß das, weil ich die wiedergeborene Scheherazade bin.«

Atemlose Stille. Dann bricht ein ungeahnter Applaus über Nadeen herein. Der zu einem Orkan aus Buhrufen und Pfiffen anwächst, als vier kräftige Männer der KAUST-Security unter der Anleitung eines Uni-Vorstandes Nadeen vom Pult wegziehen und aus dem Hörsaal führen.

Sophie

Februar 2020

Ilias’ Mutter Fida hat mich zu sich gerufen. Sie will mir zeigen, wie man sich rechtgläubig anzieht und so. Deswegen bin ich schon sehr früh aufgestanden und habe mich gereinigt, wie sie es mir vor einer Woche gezeigt hat. Nicht nur Zähneputzen und Haare kämmen wie immer, sondern ich habe auch meine Schamhaare rasiert und unter den Achseln die Haare entfernt. Außerdem Fingernägel und Fußnägel geschnitten. Parfüm lege ich nicht auf, weil es sein kann, dass ich Qassim treffe. Und Fida hat gesagt, Parfümieren ist verboten, wenn man einem Mahaarim begegnet. Das sind Männer, die eine Frau nicht heiraten darf. Also der Vater, Schwiegervater, Opa, Bruder, Halbbruder, Sohn, Enkelsohn und so weiter. Ich finde das mit dem Parfüm total übertrieben. Als würde Qassim sich sofort auf mich stürzen, weil ich gut rieche. Bei Tarik bin ich mir nicht so sicher. Manchmal sieht er mich so eigenartig an, dann lächelt er und spitzt den Mund, als würde er mir einen Kuss zuwerfen. Dabei weiß er doch, dass ich die Frau von Ilias bin. Egal. Ich befolge die Regeln, damit man mir nichts vorwerfen kann. Und weil ich irgendwann eine gute Muslima sein will. Auch wenn das alles so kompliziert ist, dass ich denke, ich werde es mir nie im Leben merken können. Ich habe jetzt schon ein ganzes Buch vollgeschrieben, wie ich richtig beten muss und so.

Es ist ein guter Moment, zu Fida zu gehen, weil Ilias heute seinen Vater trifft. Er ist nach dem Aufstehen ziemlich aufgeregt gewesen. Vielleicht nimmt er mir die Firma weg, hat er dauernd gesagt. Aber ich weiß nicht einmal, welche Firma damit gemeint ist. Ilias ist eigentlich für den Bau der Kinos zuständig. Und es geht nur langsam voran, hat er mir erzählt. Weil es immer noch einflussreiche Leute gibt, die behaupten, dass Kinos haram sind und das Tor zur Hölle. Weil es Filme gibt, wo man sieht, wie zwei sich küssen und ins Bett gehen. Oder Frauen nicht verschleiert sind und Auto fahren. Na und?, habe ich gefragt. Das ist überall in der Welt erlaubt. Wieso machen die so ein Theater? Ilias ist dann wütend geworden und hat gesagt, ich würde das nicht verstehen. Was er aber nicht versteht, ist, dass wenn eine Sache verboten ist, dann ist doch auch das Geld verboten, das man damit verdient. Ich habe ihm gesagt, dass er mit seinem Vater darüber sprechen soll.

Ich habe wieder das Tuch über den Kopf gelegt, das meine Haare und mein Gesicht verhüllt. Wenn ich über den Hof gehe und einem Mann begegne, darf er auf keinen Fall mein Gesicht sehen. Ich kann nur ganz langsam die Treppe runtergehen, weil ich durch den schwarzen Stoff nicht gut sehen kann. Wie eine alte Oma schleiche ich Stufe für Stufe hinunter. Bevor ich die Tür zum Hof aufmache, schaue ich nach, ob jemand in der Nähe ist. Zum Glück ist der Hof leer, weil alle noch beim Morgengebet sind. Und die, die nicht beten, bleiben an ihren Arbeitsplätzen und warten, bis das Gebet vorbei ist. Ich bete immer noch nicht. Und eigentlich dürfte ich nicht in den Hof gehen, aber es ist ein so schöner Ort, dass ich es einfach mache. Die Wege sind mit weißen Marmorplatten ausgelegt. Überall blühen Blumen, der Rasen ist so dicht wie ein Teppich. In der riesigen Voliere, die meterhoch über dem Brunnen aus Marmor und Gold schwebt, schwirren Kanarienvögel umher und machen einen unglaublichen Lärm, als würden sie mich vor etwas warnen wollen. Aber sie machen während der Gebetszeiten immer so einen Lärm, vielleicht wollen sie mit dem Muezzin wetteifern.

Fida ist mit dem Gebet schon fertig. Sie erwartet mich in der Tür zu ihrem Haus. Es ist das zweitgrößte nach Qassims Haus. Ich staune immer noch, wie reich die sein müssen. An jeder Ecke steht Porzellan herum, wahnsinnig viele Sachen sind aus Gold. Und erst die Möbel. Es ist ein bisschen wie in Sanssouci in Potsdam, wo wir ein paar Mal waren. Ilias hat mir erzählt, dass sein Vater überall in der Welt alte Möbel kauft. Der Hammer ist allerdings die Garage unter dem Palast. Da stehen die teuersten Schlitten der Welt. Und nicht nur zwei oder drei. Es sind bestimmt zwanzig, von denen einige total verstaubt sind, weil die schon seit Jahren nicht mehr gefahren werden. Ilias sagt, dass er sie verkaufen will, aber sein Vater lässt ihn nicht.

»Komm rein, mach schon«, sagt Fida. Dabei bemerke ich aus den Augenwinkeln ihr Handy auf dem kleinen Tisch neben dem Eingang. Für einen kurzen Moment denke ich, dass ich es nehmen könnte, wenn sie nicht hinschaut. Aber dann traue ich mich nicht. Wir gehen in Fidas Ankleidezimmer, das fast so groß wie unser ganzes Haus in der Westendallee ist. Wenn ich daran denke, kommen mir total die Tränen. Bevor Fida sieht, dass ich weine, wische ich die Tränen schnell weg und sage, dass mir was in die Augen gekommen ist. Ich muss aufhören, an zu Hause zu denken. Es ist besser, wenn ich damit klarkomme, dass ich jetzt hier bin und hierbleiben werde. Und ich glaube nicht, dass Mama oder Papa noch kommen, um mich zurückzuholen. Vielleicht wissen sie gar nicht, wo ich bin. Oder es ist irgendetwas passiert. Irgendetwas Schlimmes.

Im Schrank hängen bestimmt mehr als fünfzig Abayas. Alle in Schwarz. Ein paar davon verziert. Spitzen und Strass und so was. Vielleicht sind es aber auch echte Edelsteine.

»Komm her!«, befiehlt Fida.

Heute sieht sie alt aus. Vielleicht ist sie auch nur müde. Ich weiß nicht, wie alt sie ist. Tarik, der älteste der drei Brüder, ist achtunddreißig. Wenn Fida wie ich mit zwölf Mutter geworden ist, dann müsste sie jetzt mindestens fünfzig sein. Dabei sieht sie aus wie sechzig. Oder noch älter. Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Und ich darf sie auch nicht fragen, weil mir das nicht zusteht. Dabei würde ich gerne mit ihr reden, um rauszufinden, wieso sie manchmal so wütend ist und die Angestellten schlägt. Vor zwei Tagen hat sie Lilibeth mit einem Besenstiel geschlagen. Nur weil das Couscous versalzen war. Am Ende hat sie sogar ein Messer genommen und versucht, sie zu erstechen. Und obwohl Lilibeth einen Kopf größer ist als Fida und unglaublich stark, ist sie kreischend vor Fida weggerannt und hat sich in den Kühlraum geflüchtet. Fida hat geschrien, dass sie rauskommen soll. Aber Lilibeth hat die Tür von innen zugehalten. Erst nach vier Stunden, als der Muezzin zum Nachmittagsgebet gerufen hat, hat sie sich herausgetraut. Sie hat gezittert, und ihre Lippen waren ganz blau. Ich glaube, noch eine Stunde länger da drin und sie wäre erfroren. Ginto, unser Koch, hat sie in ihr Zimmer gebracht, damit sie warm duschen konnte.