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Ein großartiger Roman über eine Frau, die vor der atemberaubenden Landschaft der Lofoten zurück ins Leben findet. Ein Holzhäuschen mit Blick auf den Fjord, ein kleines Boot und die atemberaubende Landschaft Norwegens. Mehr braucht Gro Kristjánsdóttir nicht für ihren Neuanfang auf den Lofoten, nachdem ihr Mann überraschend verstorben ist. Die Natur am Polarkreis ist rau und unbarmherzig, doch mit der Zeit lernt Gro, ihr neues Leben zu lieben, die Eiseskälte des Winters und die hellen Nächte des Sommers. Als sie eines stürmischen Abends über Funk einen Notruf erhält, ist es mit der Einsamkeit vorbei. Ein Fischer ist an den Felsen ihres Fjords havariert. Gro pflegt ihn gesund und ist selbst überrascht, dass dieser fremde Mann ihr wieder eine Ahnung von Nähe vermittelt … «Dieses Buch ist ein Sehnsuchtsort, den man nicht mehr verlassen will.» Romy Fölck
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Seitenzahl: 473
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anette Strohmeyer
Roman
Ein einsamer Fjord, ein Leben mit dem Herzschlag der Gezeiten.
Ein Holzhäuschen mit Blick auf den Fjord, im Rücken die Berge und davor ein Steg mit einem kleinen Boot. Mehr braucht Gro Kristjánsdóttir nicht für ihren Neuanfang auf den norwegischen Lofoten. In der Erdölindustrie hat sie Karriere gemacht; durch ihre besondere Fähigkeit, die Natur zu lesen und Ölvorkommen zu entdecken, ist ihr Ruf legendär. All das ist nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes Nicklas bedeutungslos geworden. Die Natur am Polarkreis ist rau und unbarmherzig, doch mit der Zeit lernt Gro, das neue Leben am Fjord zu lieben, die Eiseskälte des Winters und die hellen Nächte des Sommers, die unzähligen Schattierungen von Blau und das goldene Licht, das die Berge zum Leuchten bringt. Während sie durch die Gegend streift oder beim Angeln dem Flug eines Seeadlers zusieht, findet sie Schritt für Schritt zurück ins Leben. Als sie eines stürmischen Abends über Funk einen Notruf erhält, ist es mit der Einsamkeit vorbei. Der Fischer Jens ist an den Felsen havariert. Gro pflegt ihn gesund und ist selbst überrascht, dass dieser fremde Mann ihr wieder eine Ahnung von Nähe vermittelt. Einige Zeit später entdeckt sie zwei ehemalige Kollegen in der Gegend, die Ausschau nach Ölfeldern halten. Und plötzlich gerät der Fjord, der für Gro zur Heimat geworden ist, in Gefahr …
Anette Strohmeyer, geb. 1975 in Göttingen, hat mehrere Jahre in Kopenhagen verbracht und lebt nun auf der dänischen Insel Møn, wo sie mit Blick aufs Meer Romane, Krimis und Hörspiele schreibt. Die Autorin hat sich auf skandinavische Literatur spezialisiert und bringt ihre Erfahrungen, die sie in Dänemark und den nordischen Nachbarländern gesammelt hat, stets in ihre Bücher ein.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung FAVORITBUERO, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-02263-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Den längsta resan är resan inåt.
Die längste Reise ist die Reise nach innen.
Dag Hammarskjöld
67° 55' 09.1" N, 13° 02' 25.3" O
Für Daniel
Gro steuerte das Motorboot über das glatte Wasser, in dem sich die umliegenden Berge spiegelten: neue Welten aus blauen Schatten und schwarzen Gesteinsschichten. Verwunschene Reiche, die weder im Hier noch im Dort zu sein schienen. Schlafende Eisriesen.
Sie hatte den Fjord nicht danach gefragt, ob er Besuch empfangen wollte. Und noch dazu welchen, der so schnell nicht wieder gehen würde. Ihr neues Zuhause sollte gewisse Bedingungen erfüllen, vor allem aber sollte es eines sein: einsam und schwer zugänglich.
Sie hatte einige Fjorde in Betracht gezogen, allesamt nördlich des Polarkreises. Schließlich war ihre Wahl auf diesen hier gefallen. Ein Fjord auf einer Insel im Nordatlantik, an dem nur ein einziges Haus lag.
Der Lärm des Motors dröhnte so laut durch das Tal, dass sie sich vorkam wie ein Eindringling. Gro wusste, dass allein ihre Anwesenheit ausreichte, um das Gefüge zu stören. Sie brachte die Luft zum Schwingen, während das Boot auf dem Wasser v-förmige Heckwellen hinterließ, die ans Ufer schlugen und dort Stücke der zarten Eiskante abbrachen. Unter der Wasseroberfläche bewegten sie den Seetang, lange, anmutig tanzende Wedel. Vermutlich fragten sich die Fische, was da über ihre Köpfe hinwegdröhnte und einen Schweif aus Luftperlen hinter sich herzog.
Oberhalb des Wassers wirkte der Fjord, als hätte jemand die Zeit angehalten. Unberührt lag das Tal da und beäugte misstrauisch diesen Gast, der ohne Aufforderung gekommen war.
Gro hob den Blick zu den Bergen. Weiß bepudert thronten sie über dem Wasser, während das schwindende Tageslicht sich mit einem letzten rosa Hauch auf ihren Gipfeln niederließ.
Sie atmete ein. Die kalte Luft prickelte auf ihren Wangen. Viel hatte sie nicht aus ihrem alten Leben mitgenommen. Nur Schmerz und Erinnerungen. Leider konnte man diese nicht wie lästiges Gepäck am Bahnsteig stehen lassen.
Sie lenkte das Boot zum Schwimmsteg, der am Ende des Fjords von Felsen gestützt ins Wasser ragte. Graue, verwitterte und mit Schnee bedeckte Planken, die einen Übergang von einem Element in das andere darstellten; vom glasklaren arktischen Gewässer zu Steinen, Eis und Schnee.
Ein paar Meter weiter oben stand das Haus.
Licht brannte in einem der Fenster. Ein einladender Schein, der Geborgenheit und die Anwesenheit einer warmen Seele verhieß, die mit einem Lächeln die Tür aufmachen, sie in die Arme schließen und ihr im geheizten Haus einen Tee kochen würde. Gro erschauerte angesichts dieses Trugbildes, das ihr Geist da produzierte. In ihrem neuen Zuhause wartete niemand auf sie. Niemand würde ihr die Tür öffnen. Gro hatte die Lampe selbst angeschaltet, bevor sie zum Einkaufen aufgebrochen war. Und der Ofen war sicherlich auch längst kalt.
Es war anstrengend gewesen, sich unter Leute zu begeben. Sich vorher zu waschen, ordentliche Kleidung anzuziehen und ein Gesicht aufzusetzen, das keinen dazu veranlasste, sie anzusprechen. Sie wollte nicht danach gefragt werden, wie es ihr ging, woher sie kam oder was sie allein da draußen am Fjord machte. Das ging niemanden etwas an.
Natürlich glaubten die Leute in der nächstgelegenen Ortschaft, über sie Bescheid zu wissen. Die Menschen liebten Klatsch. Und eine Frau, die ein jahrelang leer stehendes Haus kaufte, um an einem einsamen Fjord zu leben, erregte in einer Gegend, in der sonst nicht viel los war, Aufmerksamkeit. Doch niemand hatte es gewagt, sie anzusprechen, und Gro hatte in aller Ruhe ihre Einkäufe erledigt. Danach war sie schnell wieder abgehauen.
Sie erreichte den Steg und ließ den Motor verstummen. Die letzten Schwingungen des Maschinengeräuschs flogen durch das Tal. Hinauf zu den Bergen, wo sie an den eisigen Hängen verebbten. Und schließlich war sie da. Die Stille. Mit einer Gewaltigkeit, die beinahe ohrenbetäubend war, beängstigend und wunderschön zugleich. Hatte man sich daran gewöhnt, tat sich ein Universum an neuen Geräuschen auf, das ein ungeübtes Ohr nicht wahrzunehmen vermochte: das verhaltene Knistern der Eiskristalle am Ufer, der kaum spürbare Windhauch über dem dunklen Wasser und der entfernte Ruf des Seeadlers jenseits der Bergspitzen. Gro wusste, wo diese geheimnisvolle Welt zu finden war. An diesem Fjord begegnete man ihr überall. Sie war rein. Nicht verzerrt oder verschmutzt, wie all die anderen Orte, die die Menschen mit ihrem Lärm füllten.
Gro sprang auf den Steg, ihre Schuhe kratzten mit einem Knirschen über den gläsernen Körper der Stille. Sie hievte ihre Einkäufe aus dem schaukelnden Boot, das ihre einzige Verbindung zur Außenwelt darstellte, und trug die Kartons und Taschen hinauf zum Haus. Das Licht im Fenster war der einzige helle Punkt in einem Meer aus Blau.
Mit dem Fuß stieß Gro die Tür auf, die nie abgeschlossen war, und schleppte die Lebensmittel in das Gästezimmer, das ihr als Vorratskammer diente. Wenn es gut lief, würde sie erst in zwei Monaten wieder zum Einkaufen fahren müssen.
Nach dem letzten Karton blieb sie im Türrahmen stehen und blickte auf die glatte Oberfläche des Fjords mit dem Glanzbild der Berge darauf. Der rosafarbene Hauch war von ihren Spitzen verschwunden. Der Tag bettete sich zur Ruhe. Jetzt würde die Nacht ihren kristallbesetzten Mantel ausbreiten. Die Dunkelheit würde über Gro wachen in perfekter Schönheit.
Vieles am Fjord war perfekt. Das klare Wasser, die Berge, der Himmel. Der Schnee. Nur Gro nicht. Sie war ein Makel. Ein Rußfleck auf dem weißen Kleid des Januars.
Sie schloss die Tür und betrat die Küche. Dort stellte sie das alte Transistorradio an und drehte es laut. Heute war sie nicht bereit für die Stille.
Gro stellte die leere Tasse auf den zerschrammten Küchentisch und blickte aus dem Fenster. Seit sie vor einem Monat an den Fjord gekommen war, hatte er sich kaum verändert. Genau wie sie sich kaum verändert hatte. Noch immer war da die alte, nimmer müde werdende Traurigkeit in ihrem Körper, sie saß in ihren Knochen und Muskeln, genauso wie die Erinnerungen an das Schreckliche …
Würde das je anders werden?
Sie schob den Stuhl zurück und ging hinüber ins Schlafzimmer. Als sie den Raum betrat, fröstelte sie. Aus der Ecke neben der Tür drückte ein dunkles Energiefeld gegen ihre Schläfe.
Er war da, seit sie da war. Sie hatte ihn mitgebracht. Ihr schwerstes Gepäck.
Sie drehte sich zu ihm um.
«Hallo, Nicklas», sagte sie. «Wie geht es dir?»
Gro näherte sich dem Gegenstand, der sich unter einem Tuch verbarg. Sie hatte die Urne mit Nicklas’ Überresten auf den zweiten Nachttisch gestellt und in die Zimmerecke neben der Tür geschoben. Jetzt harrte er dort aus. Nicht ganz im Licht, nicht ganz im Schatten. Buchstäblich in der Zwischenwelt. Sie streckte die Hand aus und berührte das Tuch.
«Tut mir leid, dass ich dich hergebracht habe.» Ihre Stimme war kaum zu hören. Die Kälte des Zimmers legte sich wie ein Mantel aus Eiszapfen um ihre Schultern.
Sie wollte sich abwenden, da bemerkte sie eine kleine Bewegung vor dem Fenster. Draußen hatte es begonnen zu schneien. Wie Daunen schwebten die Flocken aus dem Abendhimmel und legten sich auf die lichtbeschienene Schneedecke vor dem Haus. Ein Tanz des Vergessens. Begleitet vom großen Nichts der Stille.
Aber das war es nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, sondern ein dunkler Fleck, der lebhaft durch das Blauweiß des Schneegestöbers hüpfte und interessiert umherpickte. Ein kleiner Vogel mit einem kurzen kräftigen Schnabel und einem weißen Federkleid, das mit schwarzen Sprengseln durchsetzt war. Auf seiner Stirn trug er einen roten Tupfen wie das Barett eines Soldaten. Geschäftig hüpfte er durch den Schnee und wich dabei den mächtigen Flocken aus. Ein zweiter Vogel gesellte sich hinzu und kurz darauf ein dritter. Was waren das denn für putzige Kerlchen? Und warum waren sie nicht in den Süden geflogen wie ihre Artgenossen?
Gro stellte sich auf die Zehenspitzen. Die drei Vögel flatterten umher und suchten trotz der grimmigen Kälte fröhlich nach Futter. Gro fragte sich, was es da draußen in der Kargheit des Winters zu fressen gab.
Ein dumpfer Laut drang an ihr Ohr. Vermutlich ein Schneebrocken, der vom Dach gefallen war oder von den Krüppelkiefern hinterm Haus. Erschrocken flatterten die Vögel auf und stoben in verschiedene Richtungen davon. Einer von ihnen wählte den falschen Weg und knallte genau vor Gros Gesicht gegen die Scheibe. Er stürzte ab und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Wie erstarrt stand sie da. War das Tier von dem Licht fehlgeleitet worden, das durch die Tür hinter Gro ins Schlafzimmer fiel? Endlich löste sie sich aus der Starre und drückte ihre Stirn gegen das kalte Glas. Unter ihr war ein kleines Loch im Neuschnee, darin zappelte der Vogel. Er schaffte es nicht herauszukommen.
Das Flattern unter ihr im Schnee wurde schwächer. Die anderen Vögel kamen herbeigeflogen und hüpften zu ihrem Kameraden, konnten jedoch nichts für ihn tun.
Mit einem Satz stand Gro im Flur, schlüpfte in ihre gefütterten Stiefel und in die Daunenjacke und zog die Tür auf. Kalte Luft wehte ihr entgegen, und Gro atmete ein paar Schneeflocken ein. Hustend trat sie hinaus und bahnte sich einen Weg um das Haus herum. Als sie um die Ecke bog, sah sie zwei Vögel davonfliegen und sich zwischen den Kiefern verstecken, die gebeugt unter ihrer weißen Last dastanden.
Gro fand das Loch unter dem Fenster und ging in die Hocke. Das Flattern hatte aufgehört. Schnell griff sie mit ihren klammen Fingern in den Schnee. Sie ertastete den Vogel und zog ihn heraus, schirmte seinen kleinen Körper gegen die Flocken ab. Das Tier hockte mit halb geschlossenen Augen auf ihrer Handfläche und machte keinerlei Anstalten zu fliehen. Im Gegenteil, es schien, als fühle es sich in der Höhlung ihrer Hände geborgen.
Gro setzte den Vogel zurück auf den Schnee. Dort blieb er sitzen, die Augen ganz geschlossen und den Kopf eingezogen; ein kleines Häufchen Federn. Sein rechter Flügel hing herab. Hatte er ihn sich gebrochen?
Gro fühlte sich schuldig, weil er gegen ihre Scheibe geflogen war. Ihr war klar, dass sie das Kerlchen nicht sich selbst überlassen konnte. Sie umfing das Federknäuel mit den Händen und trug es ins Haus. In der Küche setzte sie den Vogel auf den Tisch, wo er benommen hocken blieb.
Ratlos blickte Gro auf ihn herab. Ein Handy, auf dem sie hätte im Internet nachsehen können, was in seinem solchen Fall zu tun war, hatte sie nicht. Sie hatte bewusst alle Drähte zur Außenwelt gekappt.
Ihr Blick fiel durch die zweiflügelige Glastür ins Wohnzimmer, in dem ein riesiges Regal die gesamte Rückwand ausfüllte. Seite an Seite standen die bunten Bücher mit den verschiedensten Titeln auf ihren Rücken. Manche waren mit goldenem Schnitt versehen, manche kleideten sich in sachliche Nüchternheit. Die meisten waren zerlesen, nur wenige schienen unberührt. Romane, Erzählungen, Märchen, wissenschaftliche Texte, Bildbände und Anleitungen.
Ein analoger Schatz des Wissens.
Wenn die Menschen früher darin Hilfe gefunden hatten, so konnte sie das heute auch. Zuerst musste sie jedoch das kleine Vögelchen sicher unterbringen. Gro lief in das Gästezimmer, das im Moment ihre Vorratskammer war, und zog aus einer der unausgepackten Taschen eine rote Strickmütze hervor. Sie schlug den Saum um und legte sie auf den Küchentisch, auf dem der Vogel bereits ein Häufchen Kot hinterlassen hatte. Rasch kleidete Gro die Mütze mit Küchenkrepp aus und setzte den Vogel hinein.
«Schön dableiben, hörst du?» Sie trat wieder vor die Wand aus Büchern im Wohnzimmer. War da nicht auch ein Band über Vögel gewesen? Gro las sich durch die Titel und zog einen illustrierten Naturkundeführer aus dem Regal, der zwischen einem Pflanzenbestimmungsbuch und einem Bildband mit dem Titel Livet i Fjæra – das Leben in Küstengewässern – stand. Sie setzte sich an den Küchentisch, und als sie Buch aufschlug, fiel ein Briefumschlag heraus. Darin steckten eine Postkarte und ein zusammengefalteter Zettel. Auf der Postkarte war eine halb nackte Frauenstatue abgebildet, die mit Grünspan überzogen war. Im Hintergrund lagen das Meer und eine mit Sonnenlicht besprenkelte Felseninsel. Gro drehte die Karte um und las: «Besuch bei der Robbenfrau Kópakonan. Herzliche Grüße von den Färöer-Inseln, deine Marie.» Auf dem Zettel hatte die Verfasserin ein kleines Märchen über die besagte Robbenfrau dazugeschrieben:
Auf den Färöer-Inseln glaubt man, dass Robben einst Menschen waren, die freiwillig ins Meer gegangen sind. An einem Tag im Jahr, in der Dreikönigsnacht, ist es ihnen erlaubt, an Land zu kommen. Sie ziehen ihr Fell aus und amüsieren sich mit den Menschen.
Ein Bauerssohn wollte herausfinden, ob das stimmte, und ging in der Dreikönigsnacht zum Strand. Er sah, wie unzählige Robben an Land schwammen, ihr Fell ablegten und zu Menschen wurden. Eine hübsche Frau verbarg ihr Fell direkt neben seinem Versteck und eilte zum Tanz ins Dorf. Der Bauerssohn stahl das Fell, und als die Robbenmenschen am Morgen zurückkehrten und ihr Fell wieder anzogen, fand die hübsche Frau ihres nicht. Traurig blieb sie am Strand und musste den Robben dabei zusehen, wie sie wieder ins Meer schwammen. Der Bauerssohn nahm die Frau mit auf seinen Hof. Sie musste bei ihm leben und gebar ihm mehrere Kinder. Eines Tages fand sie den Schlüssel zur Truhe, in der er ihr Fell eingeschlossen hatte. Sie zog es über und verschwand im Meer, wo ihr Robbenmann, der sie seit Jahren vermisst hatte, auf sie wartete. Wenn ihre Menschenkinder jedoch an den Strand gingen, um zu spielen, kam die Robbenfrau herbeigeschwommen und blickte voller Liebe aus dem Wasser.
Interessante Geschichte, dachte Gro. Sie legte den Zettel weg und blätterte durch die vielen Illustrationen des Vogelkundebuchs, um herauszufinden, welcher Gattung ihr kleiner Besucher angehörte, der nun friedlich in seiner Mützenmulde schlief. Sorgfältig studierte sie sein schwarz-weißes Federkleid. Aber es war die kräftige Form seines Schnabels, die sie schließlich auf die Spur brachte. Es musste ein Vertreter der Finkenfamilie sein. Waren das nicht Zugvögel? Sie blätterte durch die Finken, bis sie bei zwei Arten angelangt war, die einen roten Stirnfleck besaßen. Eine davon war der Birkenzeisig, der die Winter in Mitteleuropa verbrachte. Der andere Vertreter war ganzjährig in der Arktis anzutreffen: der Polar-Birkenzeisig.
«Na, da haben wir dich.» Gro betrachtete den Vogel. «Ein Acanthis hornemanni.»
Der Vogel antwortete nicht, plusterte sich nur auf.
«Und was frisst du so?» Sie las nach und zog die Augenbrauen hoch. «Samen von Birken und Nadelbäumen?» Sie schaute aus dem Fenster, vor dem es stockfinster war. Gab es diese Bäume hier am Fjord überhaupt? Sie hatte bisher nicht darauf geachtet und kannte nur die Krüppelkiefern hinterm Haus. Morgen früh würde sie nachschauen. Der Kleine brauchte etwas zu fressen, wenn er wieder zu Kräften kommen sollte.
Mit Sorge dachte Gro an den hängenden Flügel. Sie scheute sich davor, die fragilen Schwingenknochen mit ihren ungeschickten Fingern abzutasten.
Sie legte das Kuvert mit der Robbenfrau-Geschichte und der Postkarte als Lesezeichen in das Buch und klappte es zu.
Im Gästezimmer wählte sie aus ihren Vorräten zwei Konserven für das Abendessen aus. Erbsen und Fischklöße. Nicklas hätte die Nase gerümpft über diesen Fertigfraß, aber er war nicht mehr da.
Gro machte das Gericht heiß und setzte sich mit dem dampfenden Teller an den Tisch. Der Vogel hatte schlummernd den Kopf eingezogen, war tief in seinen Träumen bei seiner Zeisigfamilie.
«Guten Appetit.» Gro steckte sich einen Löffel mit Erbsen in den Mund. «Ich glaube, ich nenne dich Mats», fügte sie mit vollem Mund hinzu.
Als Gro erwachte, war es kurz nach acht. Seit Langem hatte sie mal wieder gut und tief unter ihrer Daunendecke geschlafen. Draußen vor dem Fenster herrschte drückende Dunkelheit. Das Außenthermometer zeigte bestimmt zweistellige Minusgrade an.
Bibbernd zog Gro die Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch, sie wollte am liebsten liegen bleiben. Früher war es ihr leichtgefallen, morgens aufzustehen. Ihre Tage hatten viel Aufregendes zu bieten gehabt, Erlebnisse und Begegnungen, die sie berührt und inspiriert hatten. Heute war da nur noch eine bleierne graue Masse in ihr, die alles erstickte.
Seit eineinhalb Jahren war Nicklas nicht mehr bei ihr.
Gro presste die Lippen aufeinander. Ob sie je wieder in der Lage sein würde, Freude zu empfinden? Ihre Familie und Freunde sagten, dass der Schmerz vorübergehen und die Zeit ihre Wunden heilen würde. Aber in dem Zustand, in dem sie sich nach wie vor befand, mit diesem schwärenden Loch in der Brust, fiel es ihr schwer, an so etwas wie Heilung zu glauben.
Das wird schon wieder.
Kopf hoch.
Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild von Nicklas auf, wie er am Vordersteven ihres Segelbootes saß und die Beine baumeln ließ. Die Sonne umschmeichelte seine braun gebrannte Haut.
Gro spürte Tränen aufsteigen, doch sie blinzelte sie weg.
Ihr fiel ein, dass jemand auf sie wartete, und sie sprang aus dem Bett. Frierend zog sie sich an und huschte ins Wohnzimmer. Mats saß in seinem Mützennest auf dem Sofa und sah sie an. Gro hatte ihn am Abend in die Stube getragen, damit er über Nacht in der Nähe des Kaminofens war.
«Na, wie geht es uns heute?»
Der Vogel legte den Kopf schief und öffnete kurz den Schnabel.
«Heißt das, du hast Hunger? Tja, den habe ich auch.»
Gro legte einige Holzscheite auf die Glut im Ofen, die sie mit einem Kohlebrikett über die Nacht rettete, und trug Mats in seiner Mütze in die Küche, wo sie ihn behutsam auf dem Tisch platzierte. Er machte keine Anstalten herauszuhüpfen, wirkte aber wenigstens nicht mehr so elend wie gestern. Sein Flügel hing allerdings noch immer herab.
Gro stellte den Teekessel auf den alten Elektroherd und erwärmte Wasser, das sie in ihre Tasse mit Instantkaffee goss. Auf den Ölplattformen, auf denen sie gearbeitet hatte, hatte es den Luxus einer High-End-Barista-Maschine nicht gegeben. Der Kaffee musste stark und heiß sein, mehr Ansprüche hatte er nicht zu erfüllen. Ihr Kollege Derek Thompson, der ein Genusstrinker war, hatte zu jedem Arbeitseinsatz seine eigene Kaffeemaschine mitgebracht. So ein modernes Kapseldings, obwohl ihr Gepäck, das sie im Hubschrauber mitnehmen durften, stark limitiert war. Aber Derek hatte lieber auf Kleidung und Bücher verzichtet als auf seinen Kaffee. Gro war immer glücklich gewesen mit ihrem Quick-and-dirty-Plattformkaffee und hatte lieber ein paar gute Romane eingepackt. Die Wochen auf See konnten lang werden.
Sie rührte zwei Löffel Zucker in die Tasse und nahm einen Schluck, seufzte dankbar. Hauptsache, warm. Danach mischte sie sich ihr Müsli zusammen und gab je einen Löffel Nüsse und Honig dazu. Als sie Milch aus dem Kühlschrank holen wollte, stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, welche zu kaufen. Genervt von ihrer Vergesslichkeit ging sie zur Spüle und gab lauwarmes Wasser in das Müsli. Ihre Logistik hier am Fjord lief noch nicht rund. Mit der Schüssel in der Hand und der Müslipackung unter dem Arm trat sie an den Tisch. Sie fischte ein paar Nüsse heraus und hielt sie Mats hin. Doch der war nicht daran interessiert. Wie zum Protest schloss er die Augen und plusterte sich auf.
Ratlos blickte Gro ihn an. Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, streute sie ihm ein paar Haferflocken in die Mütze. Sie setzte sich an ihren Platz und aß ihr Frühstück mit Blick aus dem Fenster, vor dem sich allmählich die Konturen des Fjords aus der Dunkelheit schälten.
«Wenn es hell ist, besorge ich dir Futter. Hoffentlich finde ich was», sagte sie und trank einen Schluck Kaffee.
Mats blinzelte.
Gro blinzelte zurück.
Als sie aufgegessen hatte, schien der Polar-Birkenzeisig schon wieder zu schlafen. Leise räumte sie das Geschirr in die Spüle.
Als sie mit Winterhose, Stiefeln und Jacke bewehrt vor die Tür trat, gefror der warme Hauch ihres Atems auf ihren Wimpern. Gro wischte sich mit den Handschuhen über die Augen. Danach blickte sie über den Fjord und war einen kurzen Moment gefangen von seiner Schönheit.
Das Wasser hatte einen dunkelblauen, fast schwarzen Farbton. Unten am felsigen Ufer und rund um den Steg hatten sich weißblaue Eisränder gebildet, die aussahen wie gefrorene Zirruswolken. Weiter hinten auf dem Meer spiegelte sich der wolkenlose Himmel, der mittlerweile ein pastellfarbenes Rosa gemischt mit Gelb und Hellblau angenommen hatte, eingerahmt vom Weiß der Berghänge. Ein perfektes Gemälde, mit Frost gemalt.
Der Neuschnee knirschte unter Gros Sohlen, als sie um das Haus zu den Krüppelkiefern stapfte. Die Bäume waren unter der frischen Schneelast kaum noch als solche zu erkennen, und Gro glaubte, in die Gesellschaft von sagenhaften Winterkobolden geraten zu sein, die gerade eine stumme Versammlung abhielten. Ehrfürchtig blieb sie stehen und lauschte. Aber kein Laut war zu hören, kein Piepsen, kein Rascheln, Knacken oder Kichern von Gnomen, kein Wind, der die Zweige in Bewegung brachte. Nicht der winzigste Lebenshauch von irgendetwas. Alles lag starr da. Doch Gro war noch nicht bereit, das Universum der Stille zu betreten. Sie musste sich um Mats kümmern. Der Kleine brauchte artgerechte Nahrung.
Sie trat zwischen die Kiefern, die sie nur wenig überragten, bekam die Spitze eines Zweiges zu fassen und schüttelte kräftig daran. In einem Schwall fiel der Schnee zu Boden und gab den Blick auf die Zapfen frei. Mit raschen Griffen drehte Gro sie ab und steckte sie in den Beutel. Dann schüttelte sie am nächsten Zweig und pflückte, bis der Beutel voll war.
Als sie von den Kiefern abließ, drang ein leises Piepen an ihr Ohr. Sie drehte sich um, konnte jedoch die dazugehörigen Vögel nirgendwo ausmachen. Vermutlich verbargen sie sich zwischen den schützenden Zweigen der Kiefern – Mats’ Familie und Freunde.
«Ich bringe ihn euch zurück, sobald es ihm besser geht, versprochen», sagte sie leise und trat zufrieden mit ihrer Ausbeute den Rückweg an.
In Haus begannen ihre Wangen zu brennen. Rasch entledigte sie sich ihrer Winterkleidung und der Stiefel, die sie zum Abtauen in eine flache Wanne stellte.
«Bin wieder da!», rief sie und rieb sich die kalte Nase. In der Küche hockte Mats nach wie vor in seiner Mütze und blinzelte sie schläfrig an. Von den ausgestreuten Flocken hatte er nichts angerührt.
«Ich hab etwas Leckeres mitgebracht.» Auf Socken huschte Gro ins Wohnzimmer und legte die Hälfte ihrer Ernte rund um den Kaminofen aus. Die Flammen in seinem Inneren loderten einladend. Sie hoffte, dass die plötzliche Wärme die Zapfen aufspringen lassen und die Samen freigeben würde.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Ein kleiner Vogel wie Mats benötigte sicher auch etwas zu trinken. Wie hatte sie das außer Acht lassen können? Schnell füllte sie eine Untertasse mit Wasser und hielt sie ihm hin. Tatsächlich tippte er nach einigem Zögern seinen Schnabel hinein.
Erleichtert ließ Gro sich auf den Stuhl sinken und stützte den Kopf auf beide Hände. Eine Weile gab es nur sie und ihren neuen Zimmergenossen.
Leises Knistern holte sie aus ihren Gedanken, und sie drehte sich zum Ofen um. Im Wohnzimmer waren einige der Zapfen aufgesprungen und hatten ihren Inhalt preisgegeben. Gro fegte die Samen zusammen und brachte eine Handvoll davon auf einer weiteren Untertasse zu Mats. Der Vogel beäugte die ihm dargebotene Speise, schüttelte sich und klappte die Flügel ein.
«Nicht das Richtige?» Enttäuscht stellte Gro die Untertasse ab und überlegte, was sie sonst sammeln könnte. Am südlichen Fjordufer stand ein Birkenwäldchen, dort könnte sie nachsehen, ob es etwas zu holen gab. Aber lohnte sich der beschwerliche Weg? Die feinen Birkensamen waren doch sicher längst davongeweht worden. Sie lehnte sich zurück. Die Kiefernzapfen waren das Einzige, was sie Mats anzubieten hatte.
Gro spürte, dass der Ofen sich abkühlte und legte zwei Scheite nach. Sie musste Holz holen. Und um das Eis am Steg hatte sie sich heute auch noch nicht gekümmert. Wenn sie es nicht entfernte, würde das Boot festfrieren. Es war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt, abgesehen von der veralteten Seefunkanlage im Arbeitszimmer, die sie noch nicht auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft hatte.
Also ging sie wieder in den Flur, vollzog dieselbe Prozedur wie vorhin und zwängte sich in die Schneekleidung. Mütze auf und raus. Ihr Atem drang in dichten Wolken aus ihrem Mund und behinderte ihre Sicht. Der Winter am Fjord war mühselig, hatte nichts von der Leichtigkeit einer Mittsommernacht, in die man einfach so hinausspazieren und im lauen Abendlicht umhertanzen konnte. Und obwohl die eisige Jahreszeit ihr jeden Tag Anstrengungen abforderte und mit ihrer unerbittlichen Härte das Leben schwermachte, mochte Gro den Winter. Er war verlässlich. Eine unverrückbare Konstante. Während Frühling, Sommer und Herbst launisch sein konnten, war der Winter immer eines ganz sicher: kalt. Gerade diese Klarheit gab ihr Halt in dem neuen Leben, in dem sie sich nun zurechtfinden musste.
Gro stapfte hinüber zum Holzschuppen, der gleichzeitig als Werkstatt und Unterstellplatz für Geräte diente. Alle Habseligkeiten des Vorbesitzers des Hauses, ein älterer Herr namens Greger, waren nach wie vor hier, wofür Gro dankbar war. So hatte sie sich keine Möbel kaufen müssen. Sie öffnete die Tür, um Licht hineinzulassen, denn im Schuppen gab es keinen Strom. Sie zog die große Axt aus dem Hackklotz und platzierte ein Scheit darauf. Mit Schwung zerteilte sie das Holz und zerkleinerte weitere Scheite, bis sie unter den unzähligen Lagen ihrer Kleidung zu schwitzen begann und ausreichend Kleinholz zusammenhatte. Im Schuppen lagerte genug Brennmaterial, um sie durch den Winter zu bringen, dafür hatte sie gesorgt. Das Einzige, was knapp werden könnte, falls ihr Boot tatsächlich einmal festfror, waren die Lebensmittel.
Am besten, sie kümmerte sich gleich darum. Gro zog die Handschuhe aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn, damit er nicht auf ihrer Haut gefror.
Sie nahm das Werkzeug, das sie Eispickel nannte – eine lange Holzstange, die an einem Ende mit einem kleinen Spaten und am anderen mit einem spitzen Stahldorn bewehrt war – und lief damit hinunter zum Wasser. Das Tageslicht hatte einen zarten Goldton angenommen, der die Spitzen der Berge zum Leuchten brachte. Ihr Haus jedoch stand durchweg in den blauen Schatten, im Winter fiel kein Sonnenlicht in den Fjord.
Gro betrat den zugeschneiten Steg, mit jedem Schritt darauf bedacht, nicht auszurutschen und auf die dünne Eisschicht auf dem Wasser zu fallen. Wenn sie einbrach, würde sie keine fünf Minuten überleben. Ihre dicke Kleidung würde sie gnadenlos nach unten ziehen.
Als sie das Boot erreichte, kniete sie sich hin und holte mit dem Eispickel aus. Die gefrorene Schicht war nicht dick, brach beim ersten Versuch mit einem klirrend-schmatzenden Geräusch. Im Fjord gab es zwar Gezeiten, die zweimal am Tag die Steine am Ufer freilegten und das Eis an vielen Stellen abplatzen ließen, aber der Steg schwamm, befestigt an Pfählen, auf dem Wasser auf und ab, und die Eisschicht bewegte sich mit ihm. Gro bearbeitete zunächst das Eis rund um das Boot, anschließend entlang des Stegs. Kleine Schollen trieben auf das schwarze Wasser hinaus. Der Fjord würde sie in sich aufnehmen, sie zum Schmelzen bringen und an den Rändern wieder neu wachsen lassen – ein ewiger Kreislauf, von dem Gro und ihr Eispickel ein Teil geworden waren.
Sie stand auf und warf einen Blick auf das goldene Licht hoch oben auf den Bergen. Ein Ort, der höheren Wesen vorbehalten war, den Wächtern der Stille, die den Plan des Lebens kannten. Für einen Moment spürte Gro so etwas wie Zufriedenheit in sich, zum ersten Mal seit Monaten. Es war doch Zufriedenheit, oder? Seit Nicklas gestorben war und sich ihr Leben auf einen Schlag geändert hatte, konnte sie sich und ihren Empfindungen nicht mehr trauen.
Sie schob die Wollmütze aus der Stirn und wanderte zurück zum Schuppen. Dort stellte sie den Eispickel in die Ecke und schleppte den Korb mit dem Brennholz zum Haus hinüber.
Drinnen zog sie schnell ihre Kleidung aus, hängte sie zum Trocknen an die Haken und trug das Holz ins Wohnzimmer. Für heute war sie genug draußen gewesen. Es war einfach zu kalt.
Sie legte ein Scheit auf die Glut und wärmte ihre steifen Finger am Ofen. Als sie sich wieder ohne Einschränkung bewegen ließen, ging Gro in die Küche. Auf dem Tisch lagen die Schalen der Kiefernsamen verstreut. Die Untertasse war leer.
Mats hockte in seinem Mützennest und blickte sie verschmitzt an.
«Du Schlingel», sagte Gro mit einem breiten Lächeln. «Hat es geschmeckt?»
Der Vogel blinzelte.
«Gut, dann hole ich Nachschub.» Durch ihren Erfolg beschwingt, fegte sie vor dem Ofen weitere Samen zusammen und brachte sie Mats, der jedoch schon in den nächsten Schlummer gefallen war.
Mit warmer Zärtlichkeit im Bauch betrachtete Gro das gefiederte Geschöpf. Gestern hatte sie noch geglaubt, dass sie nicht imstande wäre, sich über irgendetwas zu freuen. Geschweige denn, Verantwortung für ein kleines Lebewesen zu übernehmen. Sie schaffte es ja gerade mal, sich um sich selbst zu kümmern.
«Hol dir eine Katze oder einen Hund, dann bist du nicht so einsam und hast immer einen warmen, weichen Körper an deiner Seite, den du streicheln kannst», hatte ihre beste Freundin Sanne ihr geraten, nachdem die große Wärme an Gros Seite fortgegangen war. Aber Gro hatte nichts und niemanden um sich haben wollen. Nichts, was ihre wertvollen Kraftreserven anfraß, die sie dringend benötigte, um den Resetknopf zu drücken.
Jetzt war da dieses Vögelchen, das sich in ihre Mütze kuschelte und ihre Aufmerksamkeit verlangte. Und zu ihrem Erstaunen fühlte es sich gut an.
Vielleicht hatte Sanne recht und sie sollte sich eine Katze zulegen. Eine von diesen langhaarigen norwegischen Waldkatzen, mit der sie ihr Haus teilen könnte. Gro stellte sich vor, wie sie gemeinsam auf dem Sofa schmusten und dem Knistern des Kaminfeuers lauschten, ihre Hand im flauschigen Fell der Katze vergraben, das wohlige Schnurren im Ohr.
Gro lächelte.
Dann schüttelte sie den Kopf. Nein, das mit der Katze war eine Schnapsidee. So ein Tier gehörte nicht hierher. Es würde die Nester der Vögel leer räumen wie ein Kind die Keksdose an Weihnachten. Die Vogelwelt am Fjord war keine Katzen gewohnt, sie kannte nur den Polarfuchs, den Marder, den Adler und die Raubmöwe als natürliche Feinde. Das Ökosystem durfte nicht durcheinandergebracht werden. Dass Gro jetzt hier lebte, war schon Störung genug.
Kein schöner Gedanke.
Sie sah Mats beim Schlafen zu, kam innerlich wieder zur Ruhe.
Draußen neigte sich der kurze Tag dem frühen Abend entgegen. Im Winter gab es hier nicht viel zu tun, außer am Tisch zu sitzen, Müsli zu kauen und hinaus auf den Fjord zu blicken. Und natürlich das Haus warm zu halten. Eine Art Grundversorgung, ein Am-Leben-Halten auf niedrigster Flamme. Im Sommer würde das sicher anders werden. Leichter, unbeschwerter, heller. Aber vielleicht auch nicht.
Vielleicht hockte sie im Sommer immer noch hier und starrte mit den gleichen finsteren Gedanken auf den Fjord.
Das Leben war nicht gerecht.
Gro schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte, und bemerkte, wie Mats sich regte. Er gähnte und flatterte mit den Flügeln. Seine rechte Schwinge machte die Streckung nicht ganz mit, aber immerhin konnte er sie bewegen. Er schmiegte sich in die Mütze und wirkte zufrieden und satt. Gro würde ihn füttern und tränken, bis er zu Kräften käme. Danach würde sie weitersehen.
Sie machte sich den zweiten Plattformkaffee, kehrte mit der Tasse in der Hand zum Tisch zurück und trank in kleinen Schlucken. Vor dem Fenster schimmerte der Fjord im Blau der hereinbrechenden Polarnacht, ein atemberaubend schöner Anblick, der Gro jedes Mal in seinen Bann zog. Doch heute lag ihre Aufmerksamkeit ganz auf dem kleinen Vogel, der ihr Herz auf so wundersame Weise rührte.
Der nächste Tag begann etwas wärmer mit nur einstelligen Minusgraden. Mats’ Samenvorrat war fast erschöpft. Nach dem Frühstück ging Gro wieder nach draußen, um neue Zapfen zu holen. Auf den Ästen der Krüppelkiefern hatte sich über Nacht eine stachelige Schicht aus Eiskristallen gebildet. «Nebeleis» nannte Gro die großen Kristalle mit den feinen Verästelungen, und es tat ihr leid, diese kleinen Kunstwerke zu zerstören, um an die Zapfen zu gelangen.
Mit einem Schaudern dachte sie an ihr altes Leben zurück. Ihr früherer Job hatte der Natur erheblichen Schaden zugefügt. Auf Bohrinseln im Polarmeer nach Öl zu suchen, hatte ihren Ehrgeiz entfacht, Nervenkitzel und Energie bedeutet. Heute, an ihrem friedlichen Fjord, war all das weit weg. Ein von Gier geleiteter Frevel, für den sie sich mittlerweile schämte.
Als Gro einen Beutel Zapfen zusammenhatte, kehrte sie zum Haus zurück. In der kuscheligen Wärme der Küche begrüßte Mats sie mit einem «Tschilp».
«Hallo», grüßte Gro zurück. Sie legte den Beutel auf den Boden und setzte sich zu ihrem kleinen Freund an den Küchentisch. «Ich habe Nachschub besorgt.»
«Tschilp!» Mats ruckte mit dem Kopf und pickte einen Samen auf. Dann hüpfte er einmal im Kreis über die Tischplatte und hinterließ ein kleines Häufchen. «Tschilp.»
«Schon gut, fühl dich ganz wie zu Hause.»
Mats öffnete die Flügel. Die verletzte Schwinge schien beweglicher zu werden. Aber fliegen konnte er noch nicht.
Gro stand auf und legte die frischen Zapfen vor dem Ofen aus. Das fröhliche Zwitschern ihres neuen Mitbewohners folgte ihr dabei wie eine Girlande aus perlenden Tönen.
Nicklas lachte. Es regnete stärker, und er zog Gro unter einen der Sonnenschirme aus Palmblättern, die am Strand standen. Obwohl es tropisch schwül war und der Monsun sich wie eine warme Dusche anfühlte, schmiegte sich Gro an Nicklas. Sein Hemd war durchnässt, und seine Haare klebten an seiner Stirn. Er küsste sie, lange und leidenschaftlich. Seine Hände auf ihren Hüften.
«Ich liebe dich», flüsterte er.
«Ich dich auch.» Gro sah in seine wundervollen blauen Augen.
Er nahm ihre Hand und küsste jeden einzelnen Finger. Als er fertig war, hatte sie ein Stück grünes Glas am Ringfinger stecken. Es war die vom Meer glatt geschliffene Öffnung einer Bierflasche, die Nicklas am Strand gefunden haben musste.
«Willst du mich heiraten?»
Gro stutzte. Über das Heiraten hatten sie nie gesprochen. Sie waren einfach zusammen. Gemeinsam glücklich. Ohne Ring oder Versprechen. Sie fühlte sich überrumpelt. Hatte er den Antrag geplant? Oder war ihm die Idee spontan gekommen, als er das Stück Glas gefunden hatte?
Nicklas blinzelte irritiert. «Warum sagst du nichts?»
Gro biss sich auf die Lippen. Sie drehte den Glasring an ihrem Finger. «Heineken oder Carlsberg?», fragte sie.
«Keine Ahnung, von welcher Marke das Glas stammt. Ist das wichtig?»
«Nein, aber womit wir nachher anstoßen schon, oder?» Sie begann zu grinsen, und endlich kapierte er.
Er umfasste ihre Schultern und schüttelte sie scherzhaft. «Dass du mich aber auch immer so auf den Arm nehmen musst!»
Gro lachte, und Nicklas verschloss ihren Mund mit einem Kuss. Danach legte sie ihren Kopf an seine Schulter und blickte hinaus aufs Meer. Der Regen prasselte auf den Schirm und malte konzentrische Kreise auf das türkisfarbene Wasser.
Gro grub ihre Zehen tiefer in den feinen weißen Sand und beschloss, Nicklas nie wieder loszulassen.
Und dennoch hatte sie es getan.
Gro legte das grüne Stück Meerglas, das sie an einen der glücklichsten Tage ihres Lebens erinnerte, zurück in das Bücherregal. Sie drängte den Kloß in ihrem Hals zurück und ließ den Blick über die vielen Bücher gleiten. Sie hatte lange gebraucht, um die Sortierung der Titel zu verstehen, da sie ihr vollkommen chaotisch erschienen war. Doch irgendwann war ihr klar geworden, dass die Anordnung einem bestimmten System folgte. Im Zentrum des Regals, als wäre es der Kern der Wahrheit, standen Nachschlagewerke und Naturführer über Tiere, Pflanzen, Sterne und Steine. Drumherum Sachtexte, Abhandlungen, Wörterbücher und Biografien, gefolgt von Romanen und Krimis, und ganz außen zu beiden Seiten des Regals, wie ein Schutzwall, Märchen, Sagenbücher und religiöse Werke.
Gro staunte über diese konzentrische Systematik, die eine Reise durch die physische wie metaphysische Welt darstellte. Von innen nach außen. Vermutlich hatte der Vorbesitzer des Hauses diese Sammlung angelegt und jedem Buch ganz bewusst seinen Platz zugedacht. Es wirkte fast, als hätte er seine Ordnung aufgebaut wie die Schichten der Erde. Innen der feste Kern, danach der flüssige äußere, gefolgt vom unteren und oberen Erdmantel, dann die Asthenosphäre und zum Schluss die Lithosphäre. Doch das war nicht alles. Es gab noch den unsichtbaren Teil, die Atmosphäre, durchsichtig, flüchtig, nicht greifbar … wie die Religion oder die Mythen.
Gro schob einen kleinen Raubtierschädel mit spitzen Zähnen und eine ovale Dose aus Lapislazuli beiseite, die neben dem Meerglas als Dekoration im Regal lagen, und zog eines der Bücher aus der Mitte. Es war ein bebildertes Buch über Schneeflocken. Mit Kristallen und ihrem Wachstum kannte Gro sich aus, es war Teil ihres Geologiestudiums gewesen. Auch wie Schnee und Eis entstanden und sich daraus Gletscher formten. Aber so detaillierte Makroaufnahmen einzelner Schneekristalle hatte sie noch nicht gesehen. Fasziniert trug sie das Buch in die Küche und setzte sich zu Mats. Der Vogel beäugte sie und ihren Schatz.
«Sieh mal.» Sie zeigte auf das Foto einer besonders filigranen Schneeflocke und las den dazugehörigen Text vor. «Diese Form heißt ‹flauschige Raupe›. Lustig, oder? Und die hier ‹gespaltener Stern›. Es gibt auch eine ‹Pfeilspitze› und den ‹Kronleuchter›. Und das, was ich Nebeleis nenne, ist schlicht Raureif. Nebeleis klingt aber schöner, findest du nicht?»
Mats legte den Kopf schief und betrachtete zusammen mit ihr die Bilder. Dann rieb er beide Schnabelhälften aufeinander und plusterte sich auf, während Gro weiter in dem Buch blätterte und etwas über Nadeln, Plättchen, Prismen und Rosetten lernte. Als sie am Ende der faszinierenden Geschichte über die Entstehung der Schneeflocken angekommen war, bekam sie Lust, hinauszugehen und nach den verschiedenen Kristallformen zu suchen. Vielleicht könnte sie sogar welche fotografieren? Fast alles aus ihrem früheren Haus hatte sie verkauft, aber ihre geliebte Spiegelreflexkamera hatte sie in letzter Sekunde noch eingepackt. Zu dem Zeitpunkt war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie jemals wieder Freude am Fotografieren finden würde.
Gro presste die Kiefer aufeinander, Tränen stiegen ihr in die Augen. Jener Kummer, den sie vorhin so erfolgreich unterdrückt hatte. Sie schluchzte, ein vibrierender, gequälter Ton. Der Schmerz übermannte sie regelmäßig, oft mehrmals am Tag, manchmal wie aus dem Nichts. Dann floss alles, was sich angestaut hatte, wie in einer Flutwelle ab, erlöste sie für einen kurzen Moment von dem Druck in ihrem Inneren. Doch Gro wusste, dass es nur eine kurzfristige Linderung bot, bald würde sich der nächste Kummersee anstauen und mit einem Dammbruch drohen. Vielleicht war das ein Grund dafür, warum sie sich von der Welt zurückgezogen hatte. Sie wollte sich nicht länger dafür rechtfertigen müssen, dass sie ständig weinte.
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und ließ ihre Schluchzer lauter und lauter werden, bis sie das eine Wort herausschrie, was regelmäßig auf die Tränen folgte.
Warum?
Sie hob den Kopf und sah durch den Tränenschleier auf die Bücher. Sie schauten aus ihrer magischen Kreisordnung zurück. Doch auch sie kannten die Antwort nicht. Niemand kannte sie, nicht einmal das Universum und erst recht nicht Mats, der in der Küche hockte. Er war bloß ein weiterer Zeuge ihres Schmerzes, den nichts und niemand zu lindern vermochte.
Als Gro am nächsten Morgen ins Wohnzimmer kam, war Mats verschwunden, das Mützennest auf dem Ledersofa leer. Mit pochendem Herzen lief sie umher, konnte ihn jedoch nirgends finden. Im Ofen war noch etwas Glut, daher warf sie schnell ein Scheit nach und eilte in die Küche. Dort hockte er – was für ein Glück – auf der Stuhllehne ihres gewohnten Platzes und putzte sich munter das Gefieder.
«He, kannst du wieder fliegen?»
Mats zwitscherte und schüttelte sich.
Vorsichtig näherte sie sich dem Vogel und wollte sich zu ihm setzen. Doch er flog auf, drehte ein paar Runden durch die Küche und steuerte zielstrebig auf das Fenster zu.
«Nein!» Gro sprang nach vorn und ruderte mit den Händen in der Luft.
Mats wich aus und landete ungeschickt auf dem Boden. Eine Weile saß er da, sein Köpfchen ruckte hin und her, als sondierte er die Küche aus der neuen Perspektive. Er hüpfte über die Dielen und flog mit einem Samen im Schnabel auf den Tisch, wo er ihn aufknackte und fraß. Danach umrundete er einmal die Tischplatte und erhob sich in die Luft, steuerte erneut auf das Fenster zu, hinter dem ein klarer Wintertag lag. Gro gelang es mit einem Winken zu verhindern, dass er gegen die Scheibe knallte. Stattdessen landete er auf der Fensterbank und ließ einen durchdringenden Tschilplaut hören. Rief er nach seiner Familie? Aufgeregt begann er, an der Scheibe auf und ab zu flattern. Er wollte raus. Weg von ihr.
Gros Brust zog sich zusammen.
Es wurde Zeit. Ein neuer Abschied.
Gro zog den Reißverschluss ihrer Strickjacke hoch und streckte entschlossen beide Hände nach dem Vogel aus. Im letzten Moment zögerte sie, nach Mats zu greifen, doch dann überwand sie ihre Scheu und fing ihn ein. In der warmen Höhlung ihrer Hände beruhigte er sich und ließ sich von ihr zur Tür tragen.
Gro öffnete sie mit dem Ellenbogen und trat hinaus in den eiskalten Morgen. Zitternd hielt sie inne, den warmen Vogel in ihren Händen. Sollte sie ihn wirklich freilassen? Käme er zurecht? Mats war eine wilde Kreatur. Er gehörte nach draußen in die Natur, der Fjord war seine Heimat, so gerne sie ihn auch bei sich behalten wollte.
Mit einem Seufzen öffnete sie ihre Hände. Mats erstarrte erschrocken, sein Gewicht war kaum zu spüren. Ein Häufchen Leben.
Beim nächsten Wimpernschlag war er fort. Gro verfolgte Mats’ Flug in Richtung Wasser, wo er am Ufer einen Bogen beschrieb und umkehrte. Wollte er zu ihr zurück? Gros Herz hüpfte. Doch im nächsten Moment änderte er seine Flugbahn und nahm Kurs auf das Kieferndickicht hinter dem Haus. Dann war er verschwunden.
Kälte kroch in Gros Hände. Enttäuscht ließ sie die Arme sinken und spürte den Mahlstrom in ihrem Inneren, der alles in sich hineinfraß, was Freude bereitete.
Zurück im Haus kochte Gro sich einen Tee, doch als sie den ersten Schluck nahm, kamen die Tränen zurück. Sie tropften in die Tasse und vermischten sich mit dem heißen Getränk, verursachten konzentrische Kreise.
Ein riesiges Ölreservoir mitten in der Barentssee, 71 Grad Nord, 88 Kilometer nordwestlich vom norwegischen Hammerfest gelegen.
Arktische Gewässer, rund 174 Millionen Barrel Öl, die es zu fördern galt.
Die Goliat Floating Production, Storage and Offloading. Kurz FPSO. Ein gigantisches Geschöpf aus 64000 Tonnen Stahl. Saugt mit 22 Rüsseln 100000 Barrel Öl pro Tag aus den unterseeischen Bohrlöchern. Die nördlichste Hochseeplattform der Welt, gestaltet wie ein riesiger Elefantenfuß, mitten ins Meer gestellt.
Ein Monstrum, gebaut, um ein Monstrum zu zähmen.
Ein bedrohlicher Ort.
Gros zweite Heimat.
Das Leben auf einer Offshore-Ölbohrplattform war hart und streng durchgetaktet. Zwei Arbeitsschichten von je zwölf Stunden, Tag und Nacht, rund um die Uhr, das ganze Jahr.
Gro teilte sich den wenigen Platz mit rund zweihundert Männern und Frauen. Die meisten davon Roughnecks. Die Härtesten unter den Harten.
Das Wetter bestimmte die Laune derjenigen, die gerade in der Schicht arbeiteten. Mitten auf hoher See, mit schwerstem Gerät, bei Sturm oder Eisregen. Trotz fabelhafter Bezahlung blieb es einer der gefährlichsten Jobs der Welt. Arbeiten am Limit. Die Gefahr immer im Nacken. Sie alle waren süchtig danach.
Kein Tag war wie der andere. Wenn der Bohrturm lief und das Gestänge sich durch den schlammigen Meeresboden in die darunterliegenden Gesteinsschichten fraß, konnte alles passieren.
Sie waren Adrenalinjunkies. Abhängig vom nächsten Kick.
Auch mit Anfang vierzig zog es Gro noch raus auf das Oil-Rig, die Ölplattform. Sie arbeitete schon seit fünfzehn Jahren als Explorations- und Operationsgeologin und konnte nicht genug davon bekommen. Wenn die Erschließung eines neuen Ölfelds anstand, war sie oft mehrere Wochen am Stück auf See, manchmal sogar Monate. Sie wusste nie, wie lange sie von zu Hause weg sein würde. Nach Öl zu bohren hieß, die Unberechenbarkeit zu umarmen. Die Natur ließ sich schwer in einen Zeitplan zwingen. Aber genau das machte den Reiz aus, der kleine Rest Unwägbarkeit, der stets über allem schwebte. Dieser eine winzige Faktor, der einen das Leben kosten konnte, der eine ganze Plattform zu versenken vermochte, wenn man nicht achtgab.
Gro war bei dem Erdöl- und Erdgaskonzern Oilnor ASA in Stavanger angestellt. Für ihn erkundete und erschloss sie die Lagerstätten. Ein verantwortungsvoller Job, der hohe Qualifikationen voraussetzte, denn ihre Aufgabe war es, ihren Firmenchefs zu sagen, wo sie bohren sollten. Eine Explorationsbohrung konnte bis zu vier Wochen dauern, je nachdem, wie tief das ölführende Speichergestein lag. Das dazu erforderliche Offshore-Rig kostete 50000 Dollar – am Tag. Eine Fehleinschätzung ihrerseits konnte die Firma mehrere Millionen Dollar kosten. Aber das hatte Gro nie geschreckt. Im Gegenteil, sie liebte diesen Thrill. The thrill to drill.
Außerdem war ihre Fehlerquote eine der niedrigsten in der gesamten Branche. Deshalb leckten sich die großen Erdölkonzerne regelrecht die Finger danach, sie für sich zu gewinnen. Doch Gro war standorttreu wie ein Kormoran, lebte seit zwei Jahrzehnten in Stavanger, wo das Hauptquartier von Oilnor ASA lag, und war seit sechzehn Jahren mit Nicklas verheiratet. Sie liebte beides, ihren Mann und ihren Job. In regelmäßigen Abständen ging es raus auf eine Offshore-Einrichtung, um Bohrungen zu leiten oder die Verlegung eines Rigs zu überwachen, während Nicklas zu Hause blieb. Er arbeitete ebenfalls in der Branche, allerdings für eine Offshore-Logistik-Firma, die darauf spezialisiert war, Ölplattformen mit technischem Equipment zu versorgen. Auch er war Geologe, hatte nach dem Studium jedoch eine andere Richtung eingeschlagen. Wollte lieber im Büro sitzen als rausfahren, um Gesteinsproben zu nehmen und sie zu untersuchen. Oder am Ende gar Löcher zu bohren und mitten auf dem Ozean mehrere Tausend Meter tief im Schmutz zu wühlen.
Sie hatten sich im Studium an der Universität im schottischen Aberdeen kennengelernt. Der ruhige, besonnene Nicklas und Gro, die wilde Abenteurerin. Seine leisen Gefühle und ihre laute Lust am Leben. Gegensätze, die nicht füreinander geschaffen schienen. Ihre Kommilitonen hatten sich lustig gemacht und ihrer Beziehung keine zwei Monate gegeben. Das war vor sechsundzwanzig Jahren gewesen. Nun wohnten Nicklas und sie in einem weißen Holzhaus auf der Halbinsel Hundevåg mit Blick auf den Jachthafen. Sie hatten zwei Autos, ein Boot und null Kinder. Den Sommerurlaub verbrachten sie in ihrer Hütte auf der Hardangervidda oder auf ihrer Segeljacht. Im Winter flogen sie nach Bali, Dubai oder Thailand, wo Nicklas ihr den Heiratsantrag gemacht hatte. Ein ganz normales Paar mit Höhen und Tiefen, aber zufrieden.
Nicklas war eher der häusliche Typ, kochte gerne und überraschte Gro mit neuen kulinarischen Kreationen, sobald sie abends nach Hause kam oder nach einem mehrwöchigen Aufenthalt von einer Plattform zurückkehrte. Ausgehungert nach allem, was es auf der Plattform nicht gab. Gutes Essen, Nähe, Sex. Nicklas kümmerte sich in ihrer Abwesenheit um Haus und Hof. Ihr Liebesleben war erfüllt und ihr tägliches Miteinander von gegenseitiger Wertschätzung und Vertrauen geprägt. Ihre Kommilitonen von damals hätten gestaunt über die Stabilität ihrer Beziehung. Sie war hart und geradlinig wie eine Basaltsäule, aber auch weich und nachgiebig wie das Magma im Erdinneren. In den Augen ihrer gemeinsamen Freunde waren sie das perfekte Paar. Unzertrennlich und doch unabhängig voneinander. Jeder ließ dem anderen seine Freiräume, vergaß dabei jedoch nie die Pflichten einer Beziehung. Die Anziehungskraft beruhte auf ihren Unterschieden, nicht auf ihren Ähnlichkeiten. Gro nannte es ihre Plus-minus-Liebe.
Sie würden immer wieder zueinanderfinden. Immer.
Doch es kam anders. An dem Tag, der ihr Leben schlagartig änderte, war Gro weit weg. Auf der Bohrplattform Dark Blue in der Barentssee. Es war der 4. Juni 2022. Gegen Mittag begann ihr Magen zu knurren, und mit einem Lächeln dachte sie an Nicklas. Was würde er sich heute kochen? Gegrillten Lachs mit Limettenjus und einen Salat aus gebackener Avocado mit Granatapfelkernen? Die kalorienhaltige Kost, die auf der Plattform in der Kantine serviert wurde, war eher für die in den Zwölf-Stunden-Schichten arbeitenden Roughnecks geeignet als für verwöhnte Geologinnengaumen. Aber Gro passte sich schnell an. Dann gab es eben Hacksteak und Kartoffelbrei oder tonnenweise Nudeln mit irgendeiner Soße. Davon wurde man satt und desto mehr konnte sie sich auf zu Hause freuen.
Vor ihrem inneren Auge sah sie Nicklas in der Küche an der Kochinsel aus schwarzem Marmor stehen, wie er mit einer eleganten Bewegung Limettensaft über den duftenden Lachs träufelte. Seine blauen Augen strahlten. Kochen war Nicklas’ Leidenschaft. Heute Abend würden sie endlich wieder miteinander sprechen, hatten sich für 20 Uhr zum Telefonieren verabredet. Viel Kontakt gab es nicht, wenn Gro auf der Plattform war, denn die Offshore-Telefonie via Satellit war teuer und wurde reglementiert. Umso mehr freute sie sich darauf, später Nicklas’ Stimme und sein sanftes, warmes Lachen zu hören.
«Was denkst du?», fragte ihr schottischer Kollege Derek Thompson mitten in ihre Gedanken hinein. Er war Prospektionsgeologe wie sie und gehörte zu ihrem festen Team, wurde von allen aber nur «Doctor D» genannt. Er saß neben ihr am Labortisch, von dem sie gemeinsam den aktuellen Bohrprozess überwachten, der seit Tagen lief.
«Ich weiß noch nicht», antwortete Gro, tauschte das eckige Metallschälchen mit den zerkleinerten Gesteinsproben unter dem Mikroskop gegen ein anderes aus und blickte wieder durch die Okulare. Die Probe stammte aus einer Kernbohrung aus 1200 Meter Teufe unter dem Meeresboden. Das Bohrungsrig Dark Blue befand sich im Goliat-Feld, ein paar Kilometer östlich der Goliat FPSO. Draußen herrschten Eisregen und Minusgrade, und das mitten im Frühsommer. Die Barentssee war kein Spielplatz.
Das Logbuch schrieb Tag zehn der Bohrung, und alle hofften, in den nächsten Stunden auf die Öltasche zu stoßen, die Gro in 1200 Meter Teufe verortet hatte. Im Sandstein aus der Mittleren Trias, der sogenannten Kobbe-Formation. Circa 242 Millionen Jahre alt. Doch bis jetzt ließen die Indizien, dass sie auf der richtigen Spur waren, auf sich warten.
«Die Porosität stimmt. Das ist ganz klar die Sandsteinschicht unter der Schiefertonlage», sagte sie und verschob die Probe unter dem Mikroskop, um die Körnung des Gesteins besser erkennen zu können. «Was sagt die Fluoreszenz?»
Derek schaute durch das getönte Glas des Analysekastens. «Nichts.»
Gro tippte mit dem Finger auf den Tisch und fragte sich, warum sie auf einmal so nervös war. Ihren Berechnungen zufolge müssten sie unter der impermeablen Schicht aus Schiefer mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ölführendes Speichergestein stoßen. Darauf deuteten alle vorangegangenen Untersuchungen und unzählige seismische Messungen mitsamt 3D-Modellierungen hin. Wieder und wieder hatte sie es berechnet. Es musste stimmen! Direkt unter ihnen sollte sich eine Aufwölbung in den Erdschichten befinden, eine sogenannte Ölfalle unter einer Antiklinale. Das Öl sammelte sich unter einer als Barriere dienenden Schieferschicht, welche sie mit dem Bohrer vor ein paar Stunden durchstoßen hatten. Doch die aus dem Bohrschlamm entnommenen Proben wiesen keine Spuren von Kohlenwasserstoffen auf. Also weder Öl noch Gas.
Gro lehnte sich auf ihrem Drehstuhl zurück. «Wir müssen mit Steen sprechen.» Sie griff nach dem Bordtelefon und wählte die Nummer des Supervisors, der den gesamten Betrieb der Bohrplattform steuerte.
«Was gibt’s, Kristjánsdóttir!», rief Steen Høyland durchs Telefon.
«Wir haben nichts, obwohl wir bei 1200 Metern sind. Eigentlich müsste da längst etwas sein.»
«Dann untersucht die letzten paar Meter des Bohrkerns noch einmal», schlug Steen vor.
«Längst geschehen.»
Stille am anderen Ende. Vermutlich rechnete Steen im Kopf durch, was es bedeutete, wenn sie kein Öl fanden. Es ging um viel Geld. Sollten sie aufhören zu bohren, und es an einer anderen Stelle versuchen, wären zehn Tage und 500000 Dollar verloren, und es würde den Umzug der gesamten Plattform nach sich ziehen, was noch mal 100000 Dollar kosten würde. Wenn Gro falschlag und sie auch an der neuen Stelle nichts fanden, würde die Firma mehrere Millionen verlieren. Dann konnte Gro nur hoffen, dass Oilnor nicht an ihren Fähigkeiten zu zweifeln begann.
Aber auf das Hoffen allein hatte sie sich noch nie verlassen. Was zählte, waren Fakten und handfeste Daten. Und die sagten, dass sie richtiglag.
«Was ist deine Einschätzung?», fragte Steen.
Gro wollte antworten, als sie ganz unvermittelt ein Kälteschauer packte und einmal kräftig schüttelte. Sie biss die Zähne aufeinander, damit weder Steen noch Derek etwas bemerkten. Was war los mit ihr? Sie blickte auf die Karte mit der stratigrafischen Abbildung der Gesteinsschichten, durch die sie sich gerade hindurchbohrten, und blieb an der Spitze einer Aufwölbung hängen. Sie war sich doch sicher, oder?
«Vielleicht haben wir die Antiklinale nicht in ihrem vorausberechneten maximalen Scheitelpunkt getroffen», erklärte sie. «Daher könnte die ölführende Blase etwas tiefer liegen.»
Steen stieß einen brummenden Laut aus. «Also bohren wir weiter?»
«Nein, wir warten. Derek und ich werden die Proben der Bohrkerne noch einmal untersuchen. Sollten wir nichts finden, trommeln wir alle zu einer Besprechung zusammen und ziehen das Headquarter hinzu. Dann entscheiden wir gemeinsam.» Gro wusste, wie schwach das klang, denn normalerweise scheute sie sich nicht, einen raschen Entschluss zu treffen. Aber eben hatte sie etwas gespürt. Eine Bewegung in ihrem Inneren, wie eine Kontinentalverschiebung, die sie von ihrer gewohnten Zuversicht abschnitt.
«Okay», entgegnete Steen. «Ihr meldet euch, wenn ihr die Ergebnisse habt.» Damit legte er auf. Kurz und knapp wie immer.
Gro strich sich die kurzen Haare aus der Stirn. Unter dem orangefarbenen Sicherheitsoverall, den alle Arbeiter auf der Plattform trugen, fröstelte sie erneut. Sie holte tief Luft und stieß sie angestrengt wieder aus.
«Geht es dir nicht gut?», fragte Doctor D.
Gro schüttelte den Kopf. Sie wusste selbst nicht, was mit ihr los war. Gewöhnlich behielt sie immer die Ruhe, trotz der Verantwortung, die auf ihren Schultern lastete. Bisher hatte sie jedes Mal die Investitionskosten, die durch die Bohrung entstanden, um ein Hundertfaches wieder reingeholt.
Bisher.
Gro rollte auf dem quietschenden Laborstuhl zurück. Draußen herrschte Eisregen, vielleicht fror sie deswegen. Sie schielte auf den elektrischen Heizkörper an der Wand, der schon auf höchster Stufe lief. Daran konnte es also nicht liegen. Wahrscheinlich war es im Geologencontainer total warm, nur dass sie es nicht merkte. Im Gegenteil, sie fror wie ein Schneider. Hatte sie sich bei dem Mistwetter etwas eingefangen? Ausgerechnet in der heißen Phase der Bohrung, in der sie so gut wie unabkömmlich war? Sie fasste sich an die Stirn. Entgegen ihrer Vermutung war sie nicht übermäßig warm.
«Mit dir ist doch was. Das sehe ich.» Derek blickte sie besorgt an.
«Es ist nichts.» Gro schüttelte den Kopf. «Lass uns weiterarbeiten. Time is money.»
Sie stand auf, ging zu der Kiste mit den gereinigten Bohrschlammproben, holte zwei Metallschalen heraus und reichte eine davon Derek. Während sie ihr Schälchen unter das Mikroskop schob, legte er seine Probe auf einen Muldenträger aus glasiertem Porzellan und bereitete alles für die Fluoreszenz-Untersuchung vor.
Als Gro die mineralische Beschaffenheit der gelbgrauen Gesteinskrümel durch das Mikroskop betrachtete, ging es ihr besser. Das Frösteln war verschwunden, und sie fühlte sich wieder in ihrem Element. Sie konzentrierte sich auf die Probe und erkannte rundlich abgeschliffene Quarzpartikel und die glänzenden Kristallflächen von Feldspäten in einer körnigen Matrix aus Goethit.
Dann hörte sie Derek jubeln.
«Wir haben eine Fluoreszenz!»
«Was? Lass sehen!» Schlagartig begann Gros Herz zu klopfen. Sie drehte sich um, umfasste das getönte Glasfenster des UV-Licht-Kastens und schaute ins Innere. Derek hatte recht. Die Probe leuchtete gelblich.
Gro richtete sich auf und streckte eine Hand aus. «Doctor D, wir haben es geschafft. Wir haben Öl!»
Ihr Kollege schlug ein und stieß einen weiteren Jubellaut aus, während sich in Gro ein berauschendes Siegesgefühl ausbreitete.
«Ich rufe Steen an», sagte sie und griff nach dem Hörer.
Im nächsten Moment wurde die Tür vom Container aufgerissen und ein Schwall eiskalten Regens wehte zu ihnen herein, zusammen mit Steen Høyland.
«Ah! Gut, dass du kommst!», rief Gro überschwänglich. «Wir haben Öl!»
Doch Steen zeigte keine Regung, er starrte sie an, sein Gesicht kalkweiß und feucht vom Regen. Wie in Zeitlupe öffnete er den Mund, doch es kam kein Ton heraus.