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Sie blicken mutig in die Zukunft. Doch können sie ihre Träume auch verwirklichen?
Karlskrona 1910. Dank ihrer Freundschaft und ihres Mutes haben Marlene und Liv gemeinsam eine Zuflucht geschaffen: Der malerische Rosenhag ist ein Ort, an dem Frauen einander helfen, sich gegenseitig unterstützen und Geheimnisse austauschen – ganz gleich, welche Herkunft sie auch haben mögen. Doch als ein Mann aus Marlenes Vergangenheit plötzlich in ihrem wohl geordneten Leben auftaucht, scheint alles, woran sie einst glaubte, nicht mehr gültig. Und auch das zarte Band zu Oskar könnte nun zerreißen. Liv hingegen ist bereit, sich neu zu verlieben. Wäre da nicht ihr grausamer Ehemann Sten Boregard, der mit allen Mitteln versucht, ihr Leben aus den Angeln zu reißen. Mit Zuversicht wollen die Frauen in eine selbstbestimmte Zukunft schreiten – aber ihnen werden immer wieder Steine in den Weg gelegt. Können sie ihren Gegnern endlich gemeinsam die Stirn bieten? Oder müssen sie ihre Träume ein für alle Mal aufgeben?
Starke Frauenfiguren und das malerische Setting Schwedens – die unvergessliche Familiensaga von SPIEGEL-Bestsellerautorin Corina Bomann.
Entdecken Sie auch die mitreißende Waldfriede-Saga von Bestsellerautorin Corina Bomann:
1. Sternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede
2. Leuchtfeuer. Die Schwestern vom Waldfriede
3. Sturmtage. Die Schwestern vom Waldfriede
4. Wunderzeit. Die Schwestern vom Waldfriede
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 685
Veröffentlichungsjahr: 2025
Corina Bomanns Romane sind mit einer Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren nicht aus den Bestsellerregalen wegzudenken. Mit ihren beliebten historischen Sagas steht sie regelmäßig auf den vorderen Plätzen der SPIEGEL-Bestsellerliste und begeistert ihre Leserschaft mit mutigen Heldinnen, großen Gefühlen und bewegenden Schicksalen – so auch zuletzt mit ihrer vierbändigen Waldfriede-Saga. Ihre neue Reihe »Die Frauen vom Rosenhag« entführt nach Schweden, wo zwei mutige Protagonistinnen für ihre Freiheit und die Liebe kämpfen.
Außerdem von Corina Bomann lieferbar:
Die Schmetterlingsinsel
Die Waldfriede-Saga:
Sternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede
Leuchtfeuer. Die Schwestern vom Waldfriede
Sturmtage. Die Schwestern vom Waldfriede
Wunderzeit. Die Schwestern vom Waldfriede
Die Rosenhag-Saga:
Die Frauen vom Rosenhag. Traum vom Neubeginn
Die Frauen vom Rosenhag. Sehnsucht nach Freiheit
www.penguin-verlag.de
Corina Bomann
Sehnsucht nach Freiheit
Roman
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Copyright © 2025 by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Carlos Westerkamp
Covergestaltung: bürosüd
Coverabbildung: Trevillion Images (Nathalie Seiferth), www.buerosued.de
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31841-3V001
www.penguin-verlag.de
Die Luft war schwer und stickig. Ein übler, süßlicher Geruch strömte mir entgegen, als ich durch die Tür der kleinen Hütte trat und sie hinter mir zuzog. Sogleich sehnte sich meine Lunge nach der klaren Sommerluft, nach der Stadt, die mit ihrem Leben und ihrem Trubel imstande war, einen alles vergessen zu lassen.
Doch ich konnte nicht anders. Ich musste sie noch einmal sehen.
»Alexej, bist du das?« Ihre Stimme klang schwach und rau. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken.
Ihre Pflegerin, Schwester Jewgenia, hatte mir geschrieben, dass es ihr sehr schlecht ginge und das Ende bald nahte. Obwohl ihre Kräfte sie verließen, fragte sie jeden Tag nach mir.
Ich zog mir die Mütze vom Kopf und durchquerte die Küche. Das Feuer in dem großen Eisenherd war verloschen, Kühle erfüllte den Raum. Ansonsten schien sich nichts geändert zu haben.
Es war ein Segen, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung bleiben konnte. Meine Mutter hatte sich dagegen gewehrt, ins Krankenhaus gebracht zu werden. Sie wollte nicht mit anderen dahinsiechen, nachdem die Gesellschaft sie zu einer Ausgestoßenen gemacht hatte.
»Die Leute wollten mich nicht, als ich gesund war, so sollen sie auch nicht Zeuge meines Verfalls werden«, hatte sie zu Schwester Jewgenia gesagt. Daraufhin hatte sich diese bereit erklärt, zusammen mit dem Dorfarzt mehrmals in der Woche nach ihr zu schauen.
»Ja, ich bin’s, Mama«, rief ich, als ich das Schlafzimmer betrat. Der Geruch war hier stärker, und mir drehte sich beinahe der Magen um.
Katerina Petrowna versank beinahe zwischen den Kissen. Von der kräftigen, energischen Frau war kaum noch etwas übrig. Ihr dunkelblondes Haar war ergraut, ihre Haut hing welk von ihrem Körper und hatte einen grauen Unterton. Ihre Wangenknochen traten scharf hervor, ihre Lippen waren rissig. Nur ihre blauen Augen waren noch wie damals. Doch in ihnen glänzte das Fieber.
»Du bist gekommen!« Mühsam zog sie ihre Hand unter der Decke hervor und streckte sie mir entgegen.
Erschüttert von ihrem Anblick zögerte ich. Mein Blick fiel auf die blutigen Tücher neben ihr. Auch an ihren Fingern klebte etwas Blut.
Es war kaum zu glauben, dass sie noch nicht einmal fünfzig war. Vor mir lag eine Greisin, gezeichnet von langen Monaten des Leids. Eine Blume, die vor ihrer Zeit verwelkt war.
Jewgenia hatte mir geschrieben, dass man es zunächst für Tuberkulose gehalten hatte. Doch es war weitaus schlimmer. Krebs hatte der Arzt diagnostiziert, nachdem er ihre Lunge durchleuchtet hatte. Niemand konnte etwas für sie tun.
Ich gab mir einen Ruck. Ich wollte nicht zu denen gehören, die sie mieden. Vorsichtig nahm ich ihre Hand in meine. Wie ein zerbrechlicher Vogel fühlte sie sich an. Die Angst, ihr wehzutun, packte mich, doch ich ließ sie nicht los.
»Ich habe so gehofft, dass du kommst!« Ein Lächeln trat auf ihr Gesicht. Nun wirkte sie jünger, und vor meinem geistigen Auge erschien wieder die wunderschöne Frau, die sie einst war.
»Verzeih mir bitte, dass ich so spät dran bin«, sagte ich, obwohl in ihrer Stimme keinerlei Vorwurf gelegen hatte. »Unser Schiff ist in schwere See geraten.«
Das war die einzig akzeptable Erklärung für mein Ausbleiben. In Wirklichkeit war ich feige gewesen. Ich hatte das Unausweichliche verdrängen wollen.
»Dass ich dich noch einmal sehen darf …«, sagte sie, löste ihre Hand aus meiner und streichelte meine Wange.
»Es ist auch schön, dich zu sehen.« Ich versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
»Schau in die Kommode, obere Schublade«, sagte sie plötzlich, und ihre knochige Hand deutete auf das Möbelstück neben der Tür. Als ich klein war, hatte ich dort nie hineinsehen dürfen. Jetzt zog ich die oberste Schublade auf. Schwacher Lavendelduft strömte mir entgegen.
Ich wagte nicht, die Dinge zu berühren, die dort lagen. Taschentücher, eine Puderdose, ein Schal, Strümpfe … Es waren so intime Dinge meiner Mutter, dass ich sogleich rot wurde.
»Unter den Taschentüchern ist ein Umschlag«, sagte sie. »Gib ihn mir bitte.«
Meine Finger kribbelten unangenehm, als ich das Geforderte an mich nahm. Rasch schob ich die Schublade wieder zu und reichte den Umschlag meiner Mutter.
Sie zog etwas hervor, das ich im nächsten Augenblick als eine kleine Bleistiftzeichnung erkannte. Mit einem liebevollen Lächeln strich sie darüber und gab sie mir dann.
Es war das Portrait eines jungen Mannes. Er hatte eine breite Stirn, ein kräftiges Kinn und lockige Haare. Seine Augen waren hell wie das Eis im Polarmeer. Um Lippen und Kinn trug er einen leicht angedeuteten Bart. Im ersten Moment hätte ich es für ein Portrait von mir gehalten.
»Ich habe es gezeichnet«, erklärte sie. »Damals …«
Das überraschte mich. Nie hatte ich gesehen, dass meine Mutter etwas malte oder zeichnete. Stets fragte ich mich, woher mein Talent zum Malen kam. Warum ich etwas nur anschauen musste, um es dann haargenau wiedergeben zu können. Jetzt wusste ich es.
»Bin ich das?«, fragte ich verwundert.
Sie blickte mich verständnislos an. »Nein … erkennst du ihn nicht?«
Ich schüttelte den Kopf, und meine Gedanken begannen zu arbeiten. Meine Mutter hatte ihn nie erwähnt … Könnte es sein …
»Finde ihn!«, platzte es aus ihr heraus, dann griff sie nach meiner Hand. Ihre unvermutete Kraft erstaunte mich. »Du musst ihn finden und ihm sagen, dass ich sterbe. Versprichst du mir das?«
Marlene
Die Julisonne brannte auf uns herab, während wir in Richtung Rosenhag liefen. Grashalme peitschten meine Waden, und ich fragte mich, was mich wohl beim Haus erwartete.
Auf meine Frage, wer der Besucher war, hatte Liv geantwortet: »Er wollte mir seinen Namen nicht nennen. Er sagte nur, dass er dich sprechen will.«
Es war also ein Mann. Das zerschlug meine kleine Hoffnung, dass Sigrun vielleicht gekommen sein könnte. Sicher, sie hatte uns sehr viel Ärger eingebrockt mit ihrer Rückkehr zu ihrem brutalen Ehemann, aber dennoch wünschte ich mir immer noch, dass sie einsehen würde, ohne ihn besser dran zu sein. Allein an Torben zu denken ließ mich zornig werden. Doch ich schob es beiseite.
Nicht einmal vier Wochen war es her, dass Livs Ehemann, der Reeder Sten Boregard, meine Freundin Ingrid Lasebrö und mich aus dem Rosenhag geworfen hatte, dem Haus, das wir eigentlich zu einem sicheren Zufluchtsort für Frauen machen wollten.
Dann hatte sich das Blatt plötzlich gewendet.
Ich warf einen Blick auf Oskar, der neben mir ging. Sein dunkles Haar klebte an seiner Stirn, und von seinen Schläfen perlte der Schweiß. Ein warmes Gefühl durchzog mich.
Er war nicht nur Reporter, sondern arbeitete auch als Ermittler für die Seehaftversicherung. Durch seine Nachforschungen und ein in Königsberg aufgetauchtes Schreiben meines verstorbenen Mannes Bjarne hatte dem Reeder das Handwerk gelegt werden können.
Vor Oskar hatte ich geglaubt, nie wieder lieben zu können – doch ihm hatte ich nicht widerstehen können. Er hatte mir nicht nur neuen Mut gegeben und mich wieder fühlen lassen, sondern mir auch geholfen, das alte Wildhüterhaus in Nättraby als Entschädigung zu bekommen. Das Rosenhag würde nun endlich ein Haus der Frauen werden!
Viel Arbeit lag vor uns, doch nach den Wochen der Aufregung hatte ich endlich ein wenig Hoffnung. Möglicherweise hing das mit dem Brief zusammen, den ich in der Tasche trug.
Das, worauf ich schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, war eingetreten: Meine Mutter hatte mir geantwortet! Ich wusste freilich nicht, was in dem Brief stand. Es konnte auch eine Ablehnung sein, die Mitteilung, dass ich mich nie wieder bei ihr melden sollte. Aber bevor ich ihn las, musste ich wissen, wer da mit mir reden wollte.
Endlich tauchte das Rosenhag vor uns auf. Das dichte Gebüsch, das das Haus umgab, ließ mich zunächst nichts erkennen. Dann sah ich, dass vor dem Zaun niemand stand. Ich hielt kurz inne und schaute mich nach meinen Begleitern um.
Besorgnis lag in Oskars goldbraunen Augen. Livs Gesicht war hochrot.
»Wo ist er?«, fragte ich.
»Vielleicht im Haus«, mutmaßte Liv.
Ich stieß die Gartenpforte auf und eilte den Weg entlang. Ich warf einen Blick durch das Fenster in die Küche, wo Ingrid gerade vor einem der Vorratsschränke stand. Hatte sie den Fremden hereingebeten?
Es wirkte nicht so. Und es wäre nicht Ingrids Art gewesen, ihn irgendwohin zu setzen, ohne eine kleine Stärkung anzubieten.
»Vielleicht ist er wieder gegangen«, sagte Liv. »Merkwürdig. Er hatte so bestimmt gewirkt …«
Im nächsten Augenblick trat er hinter der Hausecke hervor. Seine Kleidung war abgewetzt, er sah aus, als hätte er einen sehr langen Weg hinter sich. Um den Hals trug er ein rotes Tuch, sein Haar war dunkel, und seine Augen schimmerten in einem eisigen Blau.
Die Augen! Plötzlich wurde mir die Kehle eng, und ein Schwindel erfasste mich. Ehe ich nach Oskars Arm greifen konnte, sackten die Knie unter mir weg, und ich stürzte in Dunkelheit.
Liv
»Um Gottes willen!«, rief ich aus.
Der Mann sprang erschrocken zurück, wirbelte herum und rannte davon.
»He!«, rief Oskar und wollte nach ihm greifen, doch er war schneller und verschwand, ehe Oskar ihn einholen konnte. Ich hockte mich neben Marlene. Sie war sehr blass, ihre Lippen wirkten blutleer. Angst schoss durch meine Glieder.
»Marlene«, rief ich und rüttelte an ihr. »Marlene!«
Doch sie rührte sich nicht.
Oskar kniete sich neben mich und legte prüfend zwei Finger an ihren Hals. »Ihr Herz schlägt«, sagte er und hob sie vorsichtig auf seine Arme. Ich sprang auf und öffnete die Haustür.
Ingrid stieß einen Schrei aus, als wir hereinkamen. »Was ist passiert?«
»Sie ist in Ohnmacht gefallen, als sie den Burschen sah«, antwortete ich und folgte Oskar in die Stube. Dort legte er sie vorsichtig auf dem Sofa ab.
»Bursche?«, fragte Ingrid.
»Er hatte mich draußen angesprochen«, erklärte ich erschüttert. »Wenn ich gewusst hätte …«
Oskar kniete sich neben sie und tätschelte leicht ihre Wangen. »Marlene? Marlene, hörst du mich?« Doch auch seine Stimme konnte sie nicht aus der Ohnmacht holen.
»Haben Sie Riechsalz?«, wandte er sich an mich, während er besorgt über ihr Haar und ihre Wangen strich.
Ich schüttelte den Kopf und ärgerte mich darüber, dass ich beim Einkaufen all der Dinge, die wir brauchten, nicht auch daran gedacht hatte.
»Hat sie vielleicht einen Sonnenstich?«, fragte Ingrid, die hinter uns durch die Tür getreten war. »Wir sollten einen Arzt holen!«
»Ich fahre sofort los!« Oskar schnellte in die Höhe. »Sie beide passen gut auf sie auf, ja?«
»Natürlich«, gab ich zurück und sah ihm nach, wie er aus der Tür stürmte.
»Marlene?«, sagte ich sanft und rieb ihr die Handgelenke.
»Soll ich vielleicht Knoblauch holen?«
Ich wusste nicht, ob das helfen würde. Doch da ich spürte, dass Ingrid etwas tun wollte, nickte ich. »Falls es ein Hitzschlag ist, wäre vielleicht auch kaltes Wasser nicht schlecht.«
»Bin sofort zurück.« Ingrid verschwand in der Küche, wo ich sie rumoren hörte.
Ich blickte zu Marlene. Ihr Atem schien wieder etwas kräftiger zu werden, doch noch immer regte sie sich nicht.
Ich versuchte mich an meine eigene Ohnmacht zu erinnern. Es war erst wenige Monate her, dass mein Pferd durchgegangen war und meine Kutsche in den Graben gerissen hatte. Marlene hatte mich gefunden und mir geholfen. Das war der Beginn unserer Freundschaft gewesen.
Ingrid kehrte mit Knoblauch und Wasser zurück. Sie hockte sich neben mich und legte Marlene einen kalten Lappen auf die Stirn. Ich zerrieb die Knoblauchzehe zwischen meinen Fingern, doch der Geruch war eher aromatisch als unangenehm. Als ich sie Marlene unter die Nase hielt, verstand ich, welche Angst sie damals gehabt haben musste, als sie mich neben dem umgekippten Surrey gefunden hatte.
Ingrid nahm den Lappen von Marlenes Stirn und tauchte ihn in die kleine Wasserschüssel, die sie neben das Sofa gestellt hatte.
»Wenn ich dran denke, wie dein Mann damals hier hereingestürmt ist mit den Polizisten …« Sie erschauderte. »Nicht mal da ist sie umgefallen.«
»Wir lange kennst du sie denn schon?«, fragte ich. Während meiner kurzen Besuche hier hatte ich keine Gelegenheit gehabt, Ingrid Lasebrö näher kennenzulernen. Ich wusste von ihr nur das Wenige, was Marlene mir erzählt hatte.
»Eine ganze Weile«, sagte sie. »Sie hat mir vor einigen Jahren beigestanden, als mir jemand eine Tracht Prügel angedroht hatte. Ich hatte seinen Müll nach etwas Essbarem durchsucht, kurz nachdem mein Mann gestorben war.«
Die Worte schnürten mir die Kehle zusammen. Mehr denn je wurde mir klar, dass wir so einen Ort wie das Rosenhag brauchten. Einen Ort, an dem Frauen in Sicherheit waren – und versorgt werden konnten, wenn sie selbst dazu nicht in der Lage waren.
Ingrid schaute auf ihre Finger. Sie waren schwielig, und man erkannte noch deutlich die Narben von Rissen.
»Marlene war für mich da, als niemand sonst sich um mich scherte. Sie hat mir immer Sachen aus dem Wald gebracht. Kräuter, Früchte, Nüsse. Dank ihr bin ich am Leben geblieben.« Die Falte zwischen ihren Augenbrauen wurde tiefer. »Marlene ist sonst immer so stark. Aber die vergangenen Monate waren wohl zu viel für sie.«
Da konnte ich ihr nur Recht geben. Es waren für Marlene sehr harte Wochen und Monate gewesen. Sie war geschlagen worden, hatte ihre Anstellung in der Lampenfabrik verloren, und dazu hatte sich noch die Aufregung um das Rosenhag und ihren verstorbenen Mann gesellt.
»Auch starke Menschen haben vermutlich ihre Grenze«, sagte ich und strich über Marlenes Wange. Ein wenig Farbe war immerhin zu ihr zurückgekehrt.
Ich blickte auf meine Taschenuhr. Wie lange mochte Oskar mit dem Pferdefuhrwerk bis in den Ort brauchen? Und wie lange zurück? Gab es hier überhaupt noch einen Arzt? Der alte Dr. Madsen, vor dem ich mich als Kind immer gefürchtet hatte, war möglicherweise schon gestorben …
Plötzlich stöhnte Marlene auf. Sie drehte den Kopf zur Seite, nahm einen tiefen Atemzug und öffnete die Augen.
»Marlene!«, riefen Ingrid und ich im Chor aus.
»Wo bin ich?«, fragte sie und blinzelte benommen, während sie versuchte, sich wieder aufzurichten.
»Langsam«, sagte ich, während ich sie stützte. »Du bist im Rosenhag. Alles ist gut.«
Für eine Weile starrte sie vor sich hin.
»Wo ist Oskar?«, fragte sie dann und sah sich um.
»Auf dem Weg zum Arzt. Wir wussten nicht … Du bist einfach umgekippt …«
Marlene zog die Stirn kraus, und für einen Moment schwankte sie. Erschrocken griff ich nach ihrer Hand.
»Bleib bei uns«, sagte ich schnell und machte mich bereit, sie aufzufangen.
Marlene
Ich glaubte nicht an Geister. Was war es also, was ich vorhin gesehen hatte? Und warum hatte dieser Anblick solch eine große Macht über mich?
Ich spürte den festen Druck von Livs Hand.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Es war nur …« Ich konnte nicht einmal sagen, was es war. Plötzlich erschien mir die Begegnung, als hätte ich sie nur geträumt. »Ist er noch da?«, fragte ich.
Liv schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist weggelaufen.«
Ingrid erschien neben mir und reichte mir eine Tasse Wasser. »Hier, trink etwas.«
Ich verspürte keinen Durst, dennoch nahm ich gehorsam einen Schluck.
»Wie geht es dir?«, fragte Liv nun, während sie sich neben mir auf dem Sofa niederließ.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Seltsam.« Ich spürte, dass sie wissen wollte, was das alles zu bedeuten hatte, aber ich konnte es mir selbst nicht erklären.
»Oskar wird bald mit dem Arzt zurück sein«, sagte Ingrid. »Es wird besser sein, wenn er sich deinen Kopf anschaut. Im Sommer kann man sich so leicht einen Sonnenstich holen.«
Ich war mir sicher, dass ich keinen Sonnenstich hatte. Doch möglicherweise war es wirklich gut, wenn mich jemand untersuchte.
Oskar kehrte eine halbe Stunde später zurück. Der Arzt, den er ins Haus führte, war noch recht jung. Er hatte rotblondes Haar und einen Schnurrbart. Die Tasche, die er in seinen schlanken Händen trug, war nagelneu.
»Ich bin Doktor Jan Hellström, der Nachfolger von Doktor Madsen«, stellte er sich vor. »Herr Andersson sagte, dass Sie aus dem Nichts heraus das Bewusstsein verloren haben.«
»Mir geht es wieder besser«, antwortete ich und blickte über die Schulter des Arztes zu Oskar. Die Sorge in seinen Augen tat mir leid. Ich wollte ihm keinen Schrecken einjagen.
Dr. Hellström hockte sich vor mich, zog mir nacheinander die Augenlider hoch und drückte mit den Daumen sanft auf meine Schläfen. »Tut das weh?«, fragte er.
»Nein«, antwortete ich. Tatsächlich tat mir überhaupt nichts weh. Nur mein Magen kribbelte, und mein Herz wollte sich einfach nicht beruhigen.
»Haben Sie sonst irgendwelche Beschwerden?«, fragte er, worauf ich wieder verneinte.
»Sie hat vor einiger Zeit einen Fausthieb abbekommen«, schaltete sich Ingrid ein, die an der Stubentür erschienen war.
»Wie lange ist das her?«, fragte Dr. Hellström.
»Etwa vier Wochen«, sagte ich.
Der Arzt nahm dies mit einem Nicken zur Kenntnis und schickte alle anderen aus dem Raum.
»Könnte es sein, dass Sie schwanger sind?«, fragte er dann mit leiser Stimme.
Auf einmal wurde mir heiß. Ich hatte mit Oskar geschlafen, ohne mir groß Gedanken zu machen. Konnte es sein? Mit Bjarne hatte ich es so lange versucht …
»Wann hatten Sie Ihre letzte Blutung?«, fragte der Arzt weiter und holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück.
»Vor anderthalb Wochen«, antwortete ich.
»Gut, dann können wir das wohl ausschließen«, sagte Dr. Hellström und nahm seine Tasche wieder in die Hand. »Ruhen Sie sich aus und melden Sie sich umgehend bei mir, sollte es einen weiteren Ohnmachtsanfall geben.«
Nachdem der Arzt wieder gegangen war – Liv hatte sich bereit erklärt, ihn mit dem Fuhrwerk zurück zu seiner Praxis zu bringen –, kam Oskar zu mir.
»Wie geht es dir?«, fragte er und schloss die Stubentür leise hinter sich.
»Recht gut«, gab ich zurück und streckte die Hand nach ihm aus. »Der Doktor fragte, ob es möglich wäre, dass ich schwanger sein könnte.«
Oskars Augen weiteten sich. »Und, könntest du …«
Ich lächelte ihn an. »Nein, ich habe meine Blutung bekommen.« Ich blickte ihn an. Was wäre, wenn …?, fragte ich mich, wagte aber nicht, diese Worte laut auszusprechen. Noch immer hafteten die Enttäuschungen und der Schmerz über den Verlust von Bjarnes Kind an mir.
Oskar setzte sich neben mich. Zu gern hätte ich gewusst, was ihm jetzt durch den Kopf ging. Sanft nahm er meine Hand und küsste sie. »Du sollst wissen, dass ich nichts dagegen hätte, wenn wir ein Kind bekämen.«
»Bist du sicher?«, fragte ich. Auch wenn ich ihn liebte, waren wir doch von einer Ehe noch ein gutes Stück entfernt. Und ich wollte ihn zu nichts zwingen.
»Ja, absolut. Wenn es so sein soll, werde ich mich nicht aus meiner Verantwortung stehlen.«
»Aber ich möchte auch nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, selbst wenn du mich einmal nicht mehr liebst.«
Ein fragender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Wie kommst du darauf? Ich liebe dich! Und daran wird sich nichts ändern.«
»Aber wenn …«
»Marlene«, sagte er und strich mir sanft über die Wange. »Niemand weiß, was sein wird. Ich kann nur sagen, was ich jetzt fühle. Ich liebe dich, und wenn du ein Kind von mir bekommen würdest, würde ich versuchen, ihm ein guter Vater zu sein.«
Ich sah ihm in seine wunderschönen Augen. Ich wusste selbst nicht, woher diese Gedanken plötzlich kamen. Ich beugte mich vor und küsste Oskar. Er zog mich fest in seine Arme und hielt mich für eine Weile.
Ich versuchte mir uns mit einem Kind vorzustellen, schob den Gedanken aber beiseite. Ich wollte nicht auf etwas hoffen, das ich vielleicht nie haben konnte.
»Diese Ohnmacht«, begann ich schließlich. »Das war etwas anderes.«
Oskar blickte mich fragend an. Konnte ich ihm sagen, was ich vermutete?
»Der Mann … Ich weiß nicht, was er von mir wollte«, fuhr ich fort und mein Herz begann wieder zu pochen. »Er war viel zu jung, doch er ist meinem Bjarne wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Liv
Eine Stunde später kehrte ich zum Rosenhag zurück. Nachdem ich Dr. Hellström bei seiner Praxis in Nättraby abgesetzt hatte, war ich noch zu einem der Fischer gefahren, dessen Haus direkt an der Küste stand.
Schon früher hatten meine Mutter und ich die in Salzlake eingelegten Heringe, die seine Familie anbot, sehr gemocht. Glücklicherweise hatte die junge Frau am hauseigenen Verkaufsstand noch ein paar vorrätig gehabt.
Ich stelle die Bremse des Wagens fest und kletterte herunter. Als ich durch die Gartenpforte trat, erblickte ich Oskar und Marlene in inniger Umarmung. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, dann räusperte ich mich. Sogleich ließen sie voneinander ab und bekamen rote Köpfe.
»Lasst euch nicht stören«, sagte ich lachend.
»Ist dem guten Doktor wieder schlecht geworden?«, fragte Oskar. »Als ich ihn gefahren hatte, hatte ich das Gefühl, dass es ihm gleich hochkommen würde. Dabei waren wir gar nicht so schnell.«
»Er meinte, dass Sie ihn an einen römischen Wagenlenker erinnert haben«, gab ich zurück. »Aber ich glaube, er hat nicht so sehr ein Problem mit der Geschwindigkeit, sondern eher mit dem Vertrauen in andere.« Ich hob das Glas mit den eingelegten Heringen in die Höhe. »Ich habe uns etwas zum Abendessen mitgebracht. Sie bleiben doch sicher?«
Oskar schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nicht. Ich werde gleich wieder nach Karlskrona zurückkehren. Mein Zeitungsverleger hat mich morgen zum Frühstück eingeladen.«
»Oh, das klingt nach einer großen Ehre«, sagte ich.
»Es ist für ihn eher die Möglichkeit, mich über den Stand der Ermittlungen auszuquetschen.«
Ich verstand. Und auch wenn ich der Meinung war, dass Sten seine gerechte Strafe bekommen musste, spürte ich doch wieder eine leichte Beklommenheit.
»Außerdem will ich mich ein wenig in der Stadt umsehen.« Marlene und er warfen sich einen verschwörerischen Blick zu. »Marlene wird Ihnen mehr erzählen. Aber ich sollte mich jetzt besser verabschieden.«
Er reichte mir die Hand, dann ging er mit Marlene zum Tor. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass sie sich küssten, und eine merkwürdige Sehnsucht erwachte in meiner Brust. Würde ich mich je richtig verlieben können? Richtig verlieben und nicht auf Geheiß meines Vaters einen Ehemann für mich gewinnen, so wie es bei Sten gewesen war?
Warmer Dunst strömte mir entgegen, als ich das Haus betrat. Ingrid stand am Herd und zog die Haut von den gekochten Kartoffeln. Das scharfe Aroma der Zwiebeln, die in einer Schüssel auf dem Tisch standen, reizte meine Augen, aber mein Magen freute sich schon auf die Köstlichkeit, die vor uns lag.
»Schau mal, was ich hier habe!«, sagte ich und stellte das Glas auf den Tisch.
Ingrid blickte auf, und ihr Gesicht begann zu leuchten. »Das sind ja wahre Schätze!«
»Ich dachte mir, dass wir auf den Schrecken etwas Gutes verdient haben.«
Im nächsten Augenblick trat Marlene durch die Tür. Ihre Wangen wirkten erhitzt, und ihre Augen leuchteten. Oskar schien ihr wirklich gutzutun.
»Brauchst du noch Hilfe, Ingrid?«, fragte sie, während sie an den Küchentisch trat.
»Nein, setz dich nur hin und ruh dich aus. Dank Liv werden wir ein Festessen haben.«
»Das war ein wilder Tag, nicht wahr?«, sagte ich.
»Das war er tatsächlich.« Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder. Das Strahlen, das sie soeben noch umgeben hatte, erlosch plötzlich. Sie blickte kurz auf ihre Hände, die mittlerweile keine Spuren von Lampenöl mehr an sich hatten, dann schaute sie mich an. »Ich habe es Oskar schon erzählt. Der junge Mann … er sah Bjarne zum Verwechseln ähnlich. Das war es auch, was mir solch einen Schreck eingejagt hat.«
Meine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Eigentlich gab es dafür nur zwei logische Erklärungen. »Woher mag er gekommen sein?«
»Um das zu erfahren, hätte ich mich wohl länger auf den Beinen halten müssen.« Sie verzog das Gesicht. »Oskar meinte, dass er ihn auf dem Weg in den Ort nirgends mehr gesehen hatte.«
»Ja, er scheint gute Beine zu haben«, sagte ich.
»Vielleicht sollte man die Polizei einschalten«, sagte Ingrid, doch Marlene schüttelte den Kopf.
»Er hat mir doch nichts getan.«
»Aber er hat sich aus dem Staub gemacht, als er sah, dass du in Ohnmacht gefallen bist.«
»Das heißt noch nicht, dass er mir irgendetwas antun wollte. Möglicherweise hat er nur Angst bekommen.« Marlene zog die Augenbrauen zusammen. »Diese Ähnlichkeit …«
»Es könnte ein jüngerer Bruder gewesen sein«, sagte ich. »Oder ein Halbbruder.«
»Aber wenn es so jemanden gäbe, hätte Bjarne dir doch wohl von ihm erzählt, oder nicht?«, fragte Ingrid, während sie sich nun ebenfalls am Tisch niederließ.
»Ich habe immer geglaubt, dass er mir alles erzählen würde … Aber wenn ich so darüber nachdenke …«
»Was ist mit deinen Schwiegereltern?«, fuhr ich fort. »Du hast mir erzählt, dass der Kontakt zu ihnen abgerissen ist, aber …«
»Einen Bruder von der Seite hat er ganz bestimmt nicht«, sagte Marlene.
»Das muss nicht heißen, dass es keinen Halbbruder gibt«, erwiderte Ingrid. Aber überzeugend klang das alles nicht.
Blieb nur die eine Erkenntnis, die ich Marlene gegenüber nicht aussprechen wollte.
»Wäre es denn möglich, dass Bjarne irgendwo …« Ingrid stockte. »Ich meine, vor deiner Zeit.«
Marlene wurde plötzlich blass. »Er … er hat nie davon gesprochen.«
»Aber kommt das denn hin?«, fragte ich. »Dein Mann war nicht so alt, dass er einen erwachsenen Sohn haben könnte, nicht wahr? Dieser Bursche hier war ungefähr in unserem Alter.«
»Bjarne wäre jetzt dreiundvierzig«, gab sie zurück, und ein bekümmerter Ausdruck erschien in ihren Augen. Sie hatte mir erzählt, dass sie sich ein Kind mit Bjarne gewünscht hatte. Dass sie einmal schwanger gewesen war, das Kind allerdings nach der Unglücksnachricht von seinem Tod verloren hatte.
Das Herz wurde mir schwer. Ich wusste mittlerweile, wie sehr Marlene ihren Mann geliebt hatte. Hin und wieder hatte ich sie sogar um diese Liebe beneidet. Dass er möglicherweise ein so großes Geheimnis vor ihr gehabt hatte, würde sie bis in die Grundfesten erschüttern.
»Vielleicht ist es wirklich nur ein verschollener Halbbruder«, versuchte ich sie und auch mich zu beruhigen. »Einer, den selbst Bjarne nicht kannte. Und wer weiß, vielleicht wusste nicht mal sein Vater von ihm.«
Marlene runzelte die Stirn. Wirklich überzeugt wirkte sie nicht.
Ich griff nach ihrer Hand. »Möchtest du es denn wirklich wissen?«
»Ja«, antwortete sie entschlossen. »Deshalb habe ich Oskar gebeten, nachzuforschen. Alles ist besser als diese Ungewissheit.«
Marlene
Über die Aufregung um unseren unerwarteten Besucher hatte ich den Brief in meiner Rocktasche beinahe vergessen. Während die zarten Heringe auf meiner Zunge zergingen, fiel er mir wieder ein. Es überraschte mich, dass meine Mutter geantwortet hatte. Besonders in der ersten Zeit nach meiner Hochzeit war ihre Antwort nur eisernes Schweigen gewesen.
Was sie wohl schrieb?
Als der Abwasch erledigt war, zog ich mich in den Garten zurück und ließ mich auf der Bank nieder, die wir unter dem Gestrüpp gefunden und gereinigt hatten. Kurz lauschte ich dem Abendgesang einer Amsel, dann zog ich den Umschlag hervor, fuhr mit der Hand über das Papier und öffnete ihn. Mein Herz begann zu klopfen, und meine Finger wurden eiskalt, als ich die vertraute Handschrift sah.
Liebe Marlene,
dein Brief hat mich überrascht, und ich muss ehrlich sagen, dass ich mit mir gerungen habe, ob ich dir antworten soll. Aber deinem Vater geht es im Moment sehr schlecht, und so habe ich mich entschlossen, es zu tun.
Mein Magen zog sich zusammen, und obwohl ich Ablehnung seitens meiner Eltern gewohnt war, überkam mich die altbekannte Enttäuschung. Die Worte meiner Mutter klangen alles andere als herzlich. Und was hatte es mit meinem Vater auf sich?
Es freut mich, dass du es geschafft hast, nach all dem Unglück wieder auf die Beine zu kommen. Ich bezweifle, dass dieses Haus auf Dauer der richtige Ort für dich ist. Ich würde es lieber sehen, wenn du dir einen neuen Mann suchst, einen, der wirklich für dich sorgen kann …
Meine Hände schlossen sich um das Papier und zerknüllten es, ohne, dass ich den Rest gelesen hatte. Zornige Tränen schossen mir in die Augen. Es war also immer noch dasselbe. Ich ersparte mir alles Weitere, erhaschte lediglich einen Blick auf die letzte Zeile am unteren Ende des Blattes.
PS: Wenn du nur etwas von den Sämereien haben möchtest, kannst du sie gern bei mir abholen. Ich wäre die Letzte, die dir in deiner jetzigen Situation Hilfe verweigert.
Dieses Angebot erweckte eher meinen Ärger, als dass es mich erleichterte. Was würde mich erwarten, wenn ich mich zu ihnen begab? Ein paar Sämereien waren das nicht wert.
Ich ließ das Papierknäuel in der Rocktasche verschwinden. Im gleichen Augenblick bog Liv um die Ecke. Natürlich sah sie, was ich tat, und ich konnte meine Gefühle nicht vor ihr verstecken.
»Ist es etwas Schlimmes?«, fragte sie.
»Wie man es nimmt.« Ich seufzte. »Ich hatte gedacht, dass sie einmal darauf verzichten würde, mir zu sagen, wie ich mein Leben zu leben habe. Aber offenbar hat sich in der zurückliegenden Zeit nichts geändert.«
»Mütter können manchmal schwierig sein«, sagte Liv. »Wer weiß das besser als ich?« Sie lächelte schief. »Willst du ihr antworten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Möglicherweise war es ein Fehler, ihr überhaupt zu schreiben.«
»Sag das nicht. Du hast dem Rosenhag helfen wollen. Für unser Ziel muss man alles versuchen.«
Damit hatte sie recht. Aber ich würde es nicht noch einmal tun.
»Bleibst du über Nacht?«, fragte ich und legte meinen Arm um ihre Schulter. Ich war froh, dass sie hier war und mich ein wenig von meiner Mutter ablenken würde.
»Ja«, antwortete Liv. »Das Rosenhag ist ja jetzt mein Zuhause, nicht wahr?«
Die Ereignisse des zurückliegenden Tages und Ingrids lautes Schnarchen ließen mich nicht in den Schlaf kommen. Nachdem ich eine Weile an die Decke gestarrt hatte, erhob ich mich vorsichtig und ging zu dem Stuhl, über dem mein Rock hing. Ich zog das Papierknäuel hervor, griff nach meiner Lampe und trug beides in die Küche. Dort machte ich Licht.
Einen Moment lang betrachtete ich versonnen den neuen Glaskolben der Lampe, den Oskar mir geschenkt hatte. Er hatte noch keinerlei Rußspuren, das Licht brannte darin hell und klar.
Dann wandte ich mich dem Brief zu.
Ich hatte es nicht über mich gebracht, ihn zu verbrennen, denn es wurmte mich, nicht das ganze Schreiben gelesen zu haben. Meine Reaktion vorhin war voreilig gewesen. Bjarne hatte immer gemeint, dass man jemanden, der etwas zu sagen hatte, ausreden lassen sollte – auch wenn einem das Gesagte nicht passte.
Bjarne … Mein Herz fühlte sich schwer an. Welche Geheimnisse hattest du vor mir?
Ich schob den Gedanken beiseite und konzentrierte mich auf die Zeilen. Auch beim zweiten Mal wirkten sie nicht besonders freundlich. Widerwille regte sich in mir, doch ich zwang mich, weiterzulesen.
Ich kann mir denken, was dir jetzt durch den Kopf geht. Dass ich dir nichts mehr zu sagen habe. Das mag stimmen. Du bist achtundzwanzig und eine freie, mündige Frau.
Aber eine Mutter kann nur schwerlich davon ablassen, Träume und Wünsche für ihre Tochter zu haben. Es ist mir so unheimlich schwergefallen, dich an diesen Mann zu verlieren.
Doch vielleicht habe ich es auch falsch gesehen. Vielleicht habe ich den Fehler gemacht, dir nicht richtig zuzuhören?
Ich weiß, dass die Brücken zwischen uns, wenn auch nicht ganz zerbrochen, so doch sehr wacklig sind. Dennoch … würde ich mir wünschen, mit dir reden zu können. Von Angesicht zu Angesicht.
Überlege es dir bitte.
Viele Grüße von deiner Mutter
Ein Knarren ließ mich herumwirbeln. Liv stand in der Tür, barfuß, ein Tuch über dem Nachthemd. Müde rieb sie sich die Augen.
»Du bist das also«, sagte sie und trat näher. »Ich dachte schon, dass wir hier einen Einbrecher hätten.«
»Ich habe doch kein Geräusch gemacht«, gab ich zurück.
»Nein, aber ich habe den Lichtschein gesehen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Seit der Sache mit Sten schlafe ich nicht mehr so gut.«
»Ein Einbrecher würde wohl kaum Licht machen.« Mit dem Fuß schob ich einen Stuhl unter dem Tisch hervor. »Setz dich, wenn du magst.«
Liv ließ sich nieder. »Du hast dir also doch noch mal den Brief angeschaut?«
»Ja.« Ich strich die welligen Kanten mit dem Finger glatt. »Ich fürchte, ich habe vorschnell geurteilt.«
»Hat sie etwas Versöhnliches geschrieben?«
»Es ist merkwürdig«, sagte ich, während mein Blick erneut über die Zeilen schweifte. »Zunächst kommt sie mit den alten Vorwürfen. Dann jedoch sagt sie, dass sie mich gern wiedersehen würde.« Ich rieb mir übers Gesicht. Das Nachdenken machte meine Lider schwer. »Mein Vater ist offenbar krank.«
»Was hat eigentlich zu eurem Zerwürfnis geführt? Wirklich nur, dass du deinen Bjarne geheiratet hast?«
Ich nickte und schnaubte spöttisch. »Kaum zu glauben, nicht wahr?«
»Er scheint ein guter Mann gewesen zu sein. Warum also die Abneigung?«
»Was weiß ich. Weil sie glaubten, dass er nicht gut genug für mich wäre. Dass er das Weite suchen, mich im Stich lassen würde.« Die letzten Worte ließen meine Kehle trocken werden.
Ich schüttelte den Gedanken ab. Der Brief meiner Mutter verlangte eine sofortige Entscheidung von mir.
»Vielleicht sollte ich den Versuch wagen und zu ihnen fahren«, sagte ich. »So kann mein Vater nicht behaupten, dass ich ihn trotz seiner Krankheit gemieden hätte.«
»Nach allem, was ich gehört habe, bist du ihm nichts schuldig«, sagte Liv.
»Du hast recht. Aber möglicherweise …« Ich stockte und blickte wieder auf das Schreiben. »Ich kann mich nicht gegen die Hoffnung wehren, die dieser Brief in mir auslöst.«
Liv sah mich besorgt an. Ich spürte ihre Zweifel. Aber etwas in mir wollte an einen Wandel glauben.
»Hör auf dein Herz«, sagte sie. »Und wenn es dir sagt, dass du zu ihnen gehen musst, dann tu es.«
Alexej
Ich wusste nicht, was ich mir dabei gedacht hatte, zu diesem Haus zu gehen. Nun verfluchte ich mich dafür. Es war unklug gewesen. Ich hätte es anders anstellen müssen. Aber jeder, den ich in Karlskrona gefragt hatte, hatte mich zu dem kleinen Krämerladen von Ove Malmström geschickt.
Der alte Mann hinter der Theke hatte mich zunächst nicht verstanden. Dabei bildete ich mir ein, dass mein Schwedisch ganz passabel war. Ich hatte es von einigen schwedischen Matrosen gelernt, mit denen ich gefahren war. Nachdem ich es mehrfach wiederholt hatte, schien bei ihm der Groschen zu fallen.
»Wenn Sie etwas über Bjarne Walsted wissen wollen, müssen Sie zu seiner Frau gehen.«
Diese Worte hatten mich wie ein Fausthieb getroffen.
Dann hatte ich sie gesehen und sie mich, und plötzlich war sie zusammengebrochen. Ich war normalerweise niemand, der einfach so weglief. Aber in diesem Augenblick wusste ich keinen anderen Ausweg.
Jetzt bedauerte ich meine Flucht. Diese Frau war möglicherweise die Einzige, die mir etwas zu diesem Mann hätte erzählen können.
Schnaufend wälzte ich mich auf meinem Lager herum. Das kleine Zimmer war recht ordentlich, doch das Bettgestell quietschte furchtbar, wenn man sich darauf bewegte. Außerdem fehlte mir das Schwanken, das Klatschen der Wellen und das Raunen des Windes. An Land zu sein fiel mir immer sehr schwer, und ich konnte es kaum erwarten, wieder auf See zu kommen.
Was sollte ich tun, wenn ich ihn nicht fand? Würde ich meiner Mutter ins Gesicht blicken und ihr sagen können, dass es mir unmöglich gewesen war, ihre Nachricht zu überbringen?
Und was tat ich in der Zwischenzeit? Ich war kein reicher Mann, hatte mir lediglich etwas von meiner Heuer zusammengespart für den Fall, dass ich keine neue Arbeit fand.
Schließlich erhob ich mich. Es hatte keinen Zweck, Ruhe zu suchen, wenn mein ganzer Körper zu brennen schien. Ich schlüpfte in meine Kleider und verließ das Zimmer. Ich musste nachdenken, und das konnte ich am besten am Hafen tun, dort, wo der Wind blies und der vertraute Geruch des Meeres mich umgab.
Die letzten Gäste des Gasthofes saßen noch am Tresen. Ich sah sie, als ich durch den Hintereingang schlüpfte und dann am Fenster vorbeiging.
Vor ein paar Monaten hätte ich das sein können. Wenn wir in einem Hafen lagen, hatte ich mich mit meinen Kameraden immer in die jeweiligen Gasthöfe gesetzt und dort getrunken und mich manchmal auch zu einem Mädchen gelegt – egal, ob gegen Bezahlung oder ohne.
Seit ich von der Krankheit meiner Mutter wusste, hatte sich das geändert. Ich fand keinen Gefallen mehr an den Freudenmädchen, und der Alkohol verursachte mir Albträume. Nachdem ich etliche Male im Schlaf gesehen hatte, wie meine Mutter vor meinen Augen in Blut ertrunken war, hatte ich es sein lassen.
Die milde Abendluft tat mir immerhin gut, sie klärte meinen Kopf, und es gelang mir, das Bild der Sterbenden zurückzudrängen.
Die Straßen der Stadt waren verwaist, nur hier und dort hörte man das Bellen eines Hundes. Auch ohne alle Wege dieses Ortes zu kennen, gelangte ich bald in die Nähe des Hafens. Mehrere Dampfschiffe lagen vor Anker, eines von ihnen wurde sogar noch im Lampenschein entladen.
Sofort regte sich in mir der Wille nachzufragen, ob sie noch ein Paar Hände gebrauchen konnten. Dann erinnerte ich mich wieder an meinen Auftrag. Nein, ich konnte nicht einfach davonfahren und sie im Stich lassen. Ich musste diesen Mann finden.
Ich entfernte mich also wieder von dem Schiff und strebte einigen leeren Bänken zu. Dort ließ ich mich nieder und beobachtete von Weitem das Schiff. Sehnsucht nach dem Meer erwachte in meiner Brust. Meine Mutter konnte das nicht verstehen – doch wer von den Leuten an Land war schon dazu in der Lage?
»Was dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«, fragte eine Stimme. Offenbar hatte ihr Besitzer ziemlich tief ins Glas geschaut. Ich blickte zur Seite. Menschen hatten es an sich, meine Nähe zu suchen, das kannte ich von anderen Orten – und auch von Schiffen. Keine Ahnung, wie sie darauf kamen, dass man mir vertrauen oder mit mir ein gutes Gespräch führen konnte.
Zunächst war das Gesicht des Mannes kaum in der Dunkelheit auszumachen, doch als er die Bank umrundete, erkannte ich den Krämer, den ich gestern aufgesucht hatte.
Auch er schien sich an mich zu erinnern. »Ah, Sie!« Er schaute mich glasig an. »Haben Sie sie gefunden?«
Ich nickte. »Ja, aber sie … sie ist in Ohnmacht gefallen, bevor ich sie ansprechen konnte.«
Der Alte zog die Augenbrauen zusammen, als hätte er mich nicht richtig verstanden. »Das ist bedauerlich. Armes Mädchen. Sie hat so viel durchgemacht.«
Sie war eine hübsche Frau und wirkte nicht, als hätte das Leben ihr sonderlich viele Steine in den Weg gelegt. Dass sie vor mir zusammengebrochen war, schrieb ich ihrer Schwäche zu. Sie war eben nicht wie meine Mutter.
»Was denn?«, fragte ich spöttisch. »Sie ist die Frau eines Kapitäns und wohnt in einem hübschen Haus.« Ich konnte nicht umhin, Abscheu für sie zu empfinden.
Der Alte sah mich eine Weile prüfend an. »Ja, wissen Sie es denn nicht?«, fragte er mich dann. »Ich dachte, Sie wüssten es.«
»Was soll ich wissen?«
»Dass Bjarne Walsted tot ist.«
Oskar
Am nächsten Morgen machte ich mich in aller Frühe auf den Weg zur Privatadresse des Verlegers der Blekinge Läns Tidning. Seit dem Artikel über Sten Boregards Machenschaften, der großen Wirbel in der Stadt verursacht und der Zeitung haufenweise neue Leser verschafft hatte, war Ron Lundström bester Laune und hatte mich zu seinem Lieblingsreporter auserkoren.
Das war mir unangenehm, denn natürlich zog ich mir damit den Neid der Kollegen zu. Hendrik Mortensen, der für die Versammlungen des Stadtrates zuständig war, bedachte mich mit finsteren Blicken. Ich wusste, dass er bei den anderen gegen mich stichelte.
Normalerweise hätte ich meine Zelte hier längst abgebrochen. Ich hatte meine Pflicht getan, indem ich Sten Boregard das Handwerk gelegt und ihm den Versicherungsbetrug nachgewiesen hatte. Doch Marlene hielt mich hier, und ich war sehr froh, dass die Versicherung mir noch keinen neuen Auftrag erteilt hatte.
Während ich mir die allgegenwärtige frische Seeluft um die Nase wehen ließ, schweifte mein Blick durch die Gegend.
Die Drottninggatan war eine der größten Straßen in Karlskrona. Sobald die neue Straßenbahnlinie eröffnet wurde, würden sämtliche Bahnen von hier aus durch die Stadt fahren. Die frisch verlegten Gleise glänzten in der Morgensonne, und als gebürtiger Stockholmer erwartete ich, dass jeden Augenblick ein Tramwagen vorbeifahren würde. Doch noch mussten sich die hiesigen Bewohner ein wenig gedulden.
Die Häuser hier waren gediegen und bürgerlich, viele von ihnen waren in strahlenden Farben gestrichen und mit kunstvoller Stuckzier versehen. Rosen und Gladiolen blühten in den Vorgärten.
Schließlich stand ich vor Lundströms Haus, einem Ziegelbau, von dessen Balkonen an der Frontseite man sicher einen guten Blick auf die Straße hatte.
Kaum hatte ich geklingelt, erschien Lundström auch schon an der Tür. »Guten Morgen, Andersson, kommen Sie rein!«
»Vielen Dank für die Einladung, Herr Lundström«, sagte ich und schüttelte ihm die Hand.
»Meine Frau ist schon sehr begierig darauf, Sie kennenzulernen.«
Ich folgte dem Verleger die Treppe hinauf ins erste Stockwerk. Dicke Teppiche dämpften unsere Schritte, und der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee strömte mir entgegen.
Elsa Lundström, eine hübsche Frau Ende dreißig, begrüßte mich mit einem herzlichen Lächeln. Sie trug ihr kastanienbraunes Haar zu einem lockeren Knoten geschlungen, und ihr schlanker Körper steckte in einem cremefarbenen Kleid mit einem feinen Blümchenmuster.
»Es freut mich sehr, dem Mann zu begegnen, der diese furchtbare Sache aufgedeckt hat«, sagte sie. »Sie wissen gar nicht, wie oft Ron von Ihnen gesprochen hat!« Sie warf ihrem Gatten einen verliebten Blick zu. Ich unterdrückte ein Schmunzeln, als ich sah, dass er rot wurde. »Kommen Sie mit ins Esszimmer. Ich bin gespannt, was Sie zu berichten haben.«
Frau Lundström führte uns in einen lichtdurchfluteten Raum, an dessen Wänden kleine Gemälde hingen. In einer aus rötlichem Holz gefertigten Anrichte wurde kunstvoll bemaltes Porzellan präsentiert. Mein Blick wanderte allerdings weiter zu einem gläsernen Gewächshaus, das auf dem Fensterbrett stand. Die Bleiglasscheiben zeigten zarte Blumenmuster, und wie es aussah, konnte man sie zum Lüften sogar hochklappen. Darinnen befanden sich Töpfe mit verschieden geformten Sukkulenten. Einige von ihnen hatten rote Blätter, andere weiße Punkte auf sattem Grün. Ich fragte mich, ob so ein Gewächshaus nicht etwas für Marlene wäre.
»Die Leidenschaft meiner Frau«, bemerkte Lundström, als er mein Interesse bemerkte. »Wenn Sie Elsa eine Freude machen wollen, dann bringen Sie ihr keine Rosen mit, sondern einen von diesen lebenden Steinen.«
»Nicht alle sind Lithops, mein Lieber!«, protestierte Frau Lundström. »Ich habe auch Haworthia, Echeveria, Gasteria und sogar eine echte Aloe vera!«
»Meine Frau stammt aus einer Gärtnerfamilie«, fügte Lundström hinzu. »Sie weiß mehr über Pflanzen als irgendjemand sonst in Karlskrona. Ich hatte ihr ans Herz gelegt, ein Studium aufzunehmen, aber sie möchte nicht.«
»Wer sollte sich um deinen Haushalt kümmern, wenn ich in Stockholm bin? Außerdem bin ich zu alt zum Studieren.«
»Sagen Sie das nicht«, gab ich zurück. »Sie sind jung genug!«
»Ach, Sie schmeicheln mir«, erwiderte die Frau lachend, dann verschwand sie in der Küche.
»Gibt es etwas Neues?«, fragte Lundström, während er sich auf seinem Platz zurücklehnte. »Ist schon absehbar, wann der Prozess gegen Boregard beginnt?«
»Bisher steht noch kein Termin fest. Aber vor zwei Tagen ist Staatsanwalt Neström hier gewesen. Die Beweissicherung ist abgeschlossen, und jetzt wird es nur noch eine Frage der Zeit sein.«
»Wollen wir hoffen, dass die Mühlen der Justiz nicht zu langsam mahlen. Boregard mag betrogen haben, aber dennoch ist seine Reederei ein wichtiger Zweig der hiesigen Industrie.«
»Ich bin sicher, dass Frau Boregard die Sache im Griff hat. Sie hat mit Rudolph Ekström einen fähigen Geschäftsführer an ihrer Seite.«
»Der Sekretär?«, fragte Lundström verwundert.
»Er macht einen sehr kompetenten Eindruck.« Mehr wollte ich dazu nicht sagen. Es musste niemand wissen, dass Rudolph Ekström mein Informant gewesen war.
»Wie hält Frau Boregard sich denn so?«, fragte Lundström weiter.
»Gut. Soweit ich gehört habe, ist sie dabei, sich neu zu ordnen.«
Es ging niemand etwas an, dass Liv Boregard sich scheiden lassen wollte.
»Es muss furchtbar für sie sein … Traut sie sich noch unter die Leute? Ihre Freundinnen sind sicher ziemlich konsterniert. Sie ist doch mit Nanna Skantze befreundet, nicht wahr?«
»Ich fürchte, da müssen Sie sie selbst fragen«, wich ich aus. »Die weiblichen Seilschaften in diesem Ort sind weniger von Interesse für mich.«
Lundström nahm diese Information mit einem Nicken hin. Ich fragte mich, ob seine Frau zu den Freundeskreisen der feineren Damen Karlskronas Zugang hatte.
»Und was ist mit dieser Kapitänsfrau?«, fuhr er nach kurzem Überlegen fort.
»Marlene Walsted?« Ich versuchte, meine Miene zu verschließen. Niemand durfte wissen, dass uns mehr verband als das Unglück der Solveig und die Ermittlungen gegen Sten Boregard. Allerdings sah ich jetzt eine Möglichkeit, mein Anliegen anzubringen. »Soweit ich weiß, plant sie, mit einigen Freundinnen ein Haus für in Not geratene Frauen zu eröffnen.«
»Ein Haus für Frauen?«, echote Elsa Lundström, als sie ein Tablett mit Kaffeekanne und unserem Frühstück hereintrug. »Das klingt ja aufregend! Was ist das für ein Haus?«
Sie goss Kaffee ein und stellte dann Schälchen mit Marmelade und Butter, Eier sowie einen gut gefüllten Brotkorb vor uns ab.
»Es befindet sich in Nättraby und ist so etwas wie ein Bauernhof. Sie plant, Frauen aufzunehmen, die unverschuldet in Not geraten sind.«
»Das ist ein sehr lobenswertes Unterfangen«, sagte Frau Lundström. »Darüber sollten Sie unbedingt einen Artikel verfassen! Wer sind diese Freundinnen denn?«
Ich rang mit mir. Konnte ich Liv Boregard nennen? Es war eine sehr edle Sache, und möglicherweise würde man es ihr positiv auslegen, wenn die Stadt erfuhr, dass sie beteiligt war.
»Versprechen Sie mir, diese Information diskret zu behandeln?«, fragte ich. »Ich weiß nämlich noch nicht, ob ich sie verwenden darf.«
Lundströms Augen begannen zu leuchten. »Natürlich! Ich werde schweigen wie ein Grab!«
»Ich ebenfalls«, versprach Frau Lundström.
Ich nahm einen großen Schluck Kaffee, dann sagte ich: »Eine der Unterstützerinnen dieses Vorhabens ist Liv Boregard.«
Nach dem Frühstück machten wir uns gemeinsam auf den Weg zum Büro. Lundström erzählte mir, dass die Eröffnung der Straßenbahnlinie wohl im September zu erwarten sei. »Damit kann ich in Windeseile im Büro sein, wenn etwas ist!«
Ich war nicht sicher, ob die Kollegen darüber begeistert sein würden.
»Es wird ohnehin interessant werden in den kommenden Monaten«, fügte er hinzu. »Die Elektrizitätsgesellschaft plant, ihr Netz zu erweitern. Schon bald könnten auch die Außenbereiche von Karlskrona mit elektrischem Licht versorgt werden. Dann könnte die Straßenbahn nach Pantarholmen oder sogar bis Marieberg fahren.«
Ich wusste, dass Lundström ein begeisterter Anhänger der Moderne war. Und auch mir gefiel es, schneller durch die Stadt zu kommen.
»Ich könnte darüber berichten«, schlug ich vor, worauf Lundström mir auf die Schulter klopfte. »Tun Sie das, tun Sie das! Sie sind ohnehin das beste Pferd in meinem Stall.«
Im Flur trennten sich unsere Wege. Lundström erklomm die Treppe zu seinem Büro, ich ging in meines. Auf halbem Weg kam mir Ingmar, unser Botenjunge entgegen. »Ah, Herr Andersson! Ein Telegramm ist vorhin für Sie angekommen.«
»Danke«, sagte ich, dann riss ich den Umschlag auf – und schnappte erschrocken nach Luft.
Liv
Keuchend stellte ich den Wassereimer auf dem Boden ab. Die Wärme, die schon jetzt beträchtlich war, ließ mir den Schweiß am Rückgrat entlanglaufen. Doch ich war fest entschlossen, mich mit dem Rußfleck vor dem Kamin anzulegen. Wenn wir hier neu anfingen, brauchten wir keinen alten Schmutz.
Das letzte Mal, dass ich einen Boden mit Sand geschrubbt hatte, lag Jahre zurück. Dieser Teil der Arbeit in den Pfarrhäusern hatte mir während meiner Ehe mit Sten nie gefehlt. Und da sich in Karlskrona Astrid um die Reinigung kümmerte, besaß ich kein einziges Kleidungsstück, das dafür geeignet gewesen wäre. Doch auf meinem schwarzen Rock würde man die Flecke sicher nicht so sehen.
Ich schlug den Rocksaum hoch und steckte ihn in den Bund, damit ich die Beine frei hatte. Dann streute ich Sand aus, griff nach einem Ziegelstein und ging auf die Knie. Mein Rücken beschwerte sich kurz, aber schnell gewöhnte ich mich wieder an diese Tätigkeit. Es war sehr befriedigend zu sehen, wie sich der Ruß von den Bodendielen löste.
»Soll ich dir helfen?«, hörte ich Ingrid nach einer Weile hinter mir fragen.
»Danke, ich komme zurecht«, gab ich zurück und streute erneut Sand und Wasser auf den dunklen Fleck. »Ich will nicht nur die Geldgeberin für das Rosenhag sein, sondern mit anpacken. In den Pfarrhäusern hat es mir auch nicht geschadet.«
»Gut«, sagte Ingrid. »Ich bin im Stall bei den Ziegen.«
Ich hatte die geschwärzte Stelle zur Hälfte geschafft, als es plötzlich an der Tür hämmerte. Zunächst dachte ich, Ingrid würde öffnen, aber offenbar war sie noch immer bei den Ziegen. Ich erhob mich also und ging in die Küche.
War es wieder der Fremde? Marlene war in aller Frühe nach Ronneby aufgebrochen, um ihre Eltern zu besuchen. Aber vielleicht würde er mir diesmal verraten, was er von ihr wollte.
»Ich komme!«, rief ich und spülte mir rasch Sand und Schmutz von den Händen. Anschließend trat ich an die Tür und öffnete. »Guten Mo…« Die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich in das Gesicht unseres Besuchers blickte.
Marlene
Während der Zugfahrt nach Ronneby hatte ich versucht, mir das Bild des Hauses wieder vor Augen zu rufen, doch festgestellt, dass meine Erinnerung verblichen war wie Stoff, der zu lange in der Sonne gehangen hatte. Nun wunderte ich mich darüber, wie wenig sich seit meinem letzten Besuch geändert hatte.
Die rote Farbe der Hauswände war schon damals etwas abgeblättert gewesen. Efeu wucherte den Giebel hinauf bis zu dem Fenster, hinter dem sich früher meine Kinderstube befunden hatte. Die Rosen im Vorgarten blühten üppig.
Ich hätte längst durch die Gartenpforte treten und den Kieselweg zur Tür beschreiten sollen. Doch die Last der Erinnerung auf meiner Seele hielt mich zurück.
Von Trauer und Gram gezeichnet hatte ich meine Eltern aufgesucht, um ihnen die Nachricht von Bjarnes Tod zu bringen. Mitgefühl hatte ich nicht bekommen. Lediglich die pragmatische Äußerung, dass ich jetzt frei wäre, um mir einen anständigen Mann zu suchen.
»Du bist zwar eine Witwe, aber noch jung genug, um Kinder zu bekommen. Sicher wird dich irgendwer heiraten.« Diese Worte meines Vaters hatten eine Wunde in mein Herz geschlagen, die ich jetzt wieder aufreißen fühlte.
Doch ich konnte nicht hier stehen bleiben. Wahrscheinlich hatte meine Mutter mich längst gesehen.
Ich gab mir einen Ruck, öffnete die Gartenpforte, dann schritt ich den gepflasterten Weg entlang. Vor der Tür zögerte ich erneut, um meine Kleidung ein wenig zu richten. Der Fußmarsch vom Bahnhof hierher hatte mir nicht gutgetan und die Schweißflecke unter meinen Armen noch vergrößert. Ich wusste, dass meine Mutter Unordnung hasste, besonders bei meiner Kleidung.
Schließlich klopfte ich.
Offenbar hatte meine Mutter mich doch nicht bemerkt, denn es dauerte eine Weile, bis sie öffnete.
Sie wirkte älter, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre blonde Haarpracht, die sie zu einem Dutt geschlungen trug, wirkte verblichen, die Zeit hatte einen Teil des Goldes in Silber verwandelt. Auch ihre Augen waren stumpfer geworden, das Blau wirkte verwaschen und matt. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie vor Glück geleuchtet hatten.
»Marlene«, sagte sie.
»Hallo Mutter«, gab ich zurück.
Wir schauten uns eine Weile an. Erinnerte sie sich jetzt ebenfalls daran, wie unsere letzte Begegnung ausgegangen war?
»Ich habe deinen Brief erhalten«, sagte ich, als sie keine Anstalten machte, mich hereinzubitten. »Es war sehr freundlich, dass du geantwortet hast.«
Noch immer zögerte sie, und ich fragte mich, ob das, was sie geschrieben hatte, nur ein Anfall nächtlicher Sehnsucht gewesen war.
Dann überzogen sich ihre Augen mit einem feuchten Schimmer, und das Blau begann ein wenig mehr zu leuchten.
»Komm doch rein«, sagte sie nun. »Vater wird sich freuen, dich wiederzusehen.«
Während ich über die Schwelle trat, überkam mich eine leichte Enttäuschung. Doch was hatte ich erwartet? Eine Umarmung vielleicht? Wenigstens eine kleine Berührung, ein Griff nach meiner Hand? Clara Dahl war keine Frau, die mit ihren Zärtlichkeiten verschwenderisch umging. Schon früher hatte sie mich nicht sehr häufig in den Arm genommen. Bei meinem Vater war das zumindest zu meinen Kinderzeiten anders gewesen.
Ich kämpfte gegen die Tränen an, die in mir aufstiegen, als ich die Küche betrat. Das hier war der Ort, an dem ich mich gegen meinen Vater gestellt hatte, als dieser mir verbieten wollte, Bjarne zu heiraten. Der Ort, an dem wir uns immer wieder gestritten hatten.
»Möchtest du etwas trinken?«, riss mich die Stimme meiner Mutter aus meinen Gedanken. Ich wandte mich überrascht um. Es war lange her, dass sie mir etwas angeboten hatte. Beim letzten Besuch hatte ich nicht mal ein Glas Wasser bekommen.
Etwas sagte mir, dass es vielleicht ein Fehler wäre, etwas von ihr anzunehmen. Aber mein Herz, das sich immer noch nach der Liebe meiner Mutter sehnte, ließ mich antworten: »Ja, gern.«
Mutter ging zum Küchenschrank, holte eine Tasse hervor, die mit Erdbeeren bemalt war, und goss etwas aus einer Karaffe ein. Der Geruch von Preiselbeeren stieg mir in die Nase. Meine Mutter hatte immer schon ganz wunderbaren Lingondricka hergestellt.
Ich nahm einen Schluck und ließ zu, dass der Geschmack meine Sinne umhüllte. Bilder von glücklichen Sommern huschten an mir vorbei. Nachmittags im Wald und an lauen Abenden in unserem Garten …
»Geht es dir gut?«, fragte meine Mutter nun. »Es muss heiß sein in diesem … Haus.«
»Das Rosenhag ist keine Hütte, Mutter«, sagte ich. »Es ist ein richtiges Haus aus Lehm und Holz. Der Wildhüter des Gutes von Nättraby hat dort gewohnt. Möglicherweise kannte Vater ihn.« Ich blickte auf die Tasse, von der ein Rinnsal hinunterlief wie Blut.
Mutter zog die Stirn kraus, wie immer, wenn sie glaubte, ich würde ihr irgendwelche Geschichten erzählen. »Wie konntest du es kaufen?«
»Ich habe es als Entschädigung bekommen für Bjarnes Tod.«
Die Erwähnung meines Mannes ließ sie erstarren.
»Wo ist Vater?«, fragte ich, denn ich wollte nicht weiter darüber reden.
»Im Schlafzimmer«, antwortete sie. »Er hat einen Schlaganfall erlitten.«
Liv
Für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte mir Worte für den Fremden zurechtgelegt, nicht für meinen Onkel, mit dem ich noch nie ein Wort gewechselt hatte. Das letzte Mal hatte ich den neuen Gutsherrn von Wik auf der Beerdigung meines Vaters gesehen. Damals hatten wir nur einen einzigen kurzen Blick getauscht.
Jetzt stand er hier.
»Gute Morgen, Liv«, sagte er. Es erschreckte mich, wie sehr seine Stimme der meines Vaters ähnelte. Und dass er meinen Namen kannte. Sogleich erfasste mich die seltsame Starre, die mich auch gegenüber meinem Vater erfasst hatte.
»Carl …« Ich stockte, denn ich wusste nicht, wie ich ihn wirklich ansprechen sollte. Durch mein Blut gehörte ich zu seiner Familie, aber ich war unehelich geboren.
»Ich hatte nicht erwartet, dich hier anzutreffen«, sagte er mit einem spöttischen Lächeln. Dass ich ihn mit dem Vornamen ansprach, schien ihn nicht zu stören. »Wo Sten doch meinte, dass er dich woanders unterbringen wollte.«
Woanders unterbringen? Hatte er ihm auch von der Nervenklinik erzählt, in die er mich stecken wollte? Carls Worte ermöglichten es mir endlich, die Starre abzuschütteln. Eine Welle des Zorns jagte durch meinen Körper. »Was willst du?«, fuhr ich ihn an.
»Ist dein Mann da?«, fragte er und schaute über meine Schulter.
Am liebsten hätte ich ihm die Tür vor der Nase zugeknallt.
»Nein«, gab ich zurück und fragte mich, ob er nicht die Zeitung gelesen hatte. Ganz Karlskrona wusste mittlerweile, dass Sten in Untersuchungshaft saß.
Er maß mich einen Augenblick lang, dann fragte er: »Ich habe mich gefragt, ob das Grundstück schon einen Käufer gefunden hat. Möglicherweise habe ich das Angebot deines Mannes zu vorschnell abgelehnt.«
»Das Haus hat mittlerweile eine neue Besitzerin, ja«, sagte ich.
»Und wen? Hat er es etwa wieder dir überlassen? Nachdem du versucht hast, Landstreicherinnen hier unterzubringen?«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Diese Frauen waren keine Landstreicherinnen. Einer von ihnen gehört das Haus nun.«
Diese Worte jagten ihm einen sichtlichen Schrecken ein. »Diese Frauen konnten doch unmöglich die Summe aufbringen …«
»Nun, vielleicht hättest du Zeitung lesen sollen. Mittlerweile haben sich die Dinge ein wenig geändert.«
Jetzt blickte er drein, als hätte ich ihm eine Ohrfeige versetzt. Er brauchte einen Moment, dann sagte er: »Ich warne dich! Wenn ihr hier irgendwelche verkommenen Subjekte unterbringt, werde ich euch die Polizei schicken.«
Ich zitterte innerlich, doch ich hielt seinem Blick stand. Ich wusste nicht viel von meinem Onkel, aber eines war klar: Nie hatte er auch nur einen Moment Not gelitten in seinem Leben. Nie hatte er ernsthaften Hindernissen gegenübergestanden. Er hatte eine Frau geheiratet, Kinder gezeugt, dafür gesorgt, dass sie ein Leben führten, das der Gesellschaft gefiel.
Der einzige Makel, der an ihm haftete, war nicht mal wirklich einer: Er war der zweitgeborene Sohn, die Reserve, die weder den Titel noch das Gut erben würde. Die Zeit hatte ihm allerdings den Gefallen getan, auch das zu korrigieren.
»Wenn du nichts anderes zu sagen hast, muss ich dich bitten zu gehen«, sagte ich, noch immer um Fassung bemüht.
Carl musterte mich noch einen Moment lang, dann wandte er sich um. Doch wenn ich glaubte, dass er einfach so verschwinden würde, hatte ich mich verrechnet.
Mitten in der Bewegung hielt er inne und schaute sich noch einmal nach mir um. »Ich habe nie verstanden, was mein Bruder an deiner Mutter gefunden hat. Er hätte jede andere Frau bekommen können anstelle dieses Bauerntrampels. Und du? Ich habe keine Ahnung, wie du dir einen Mann wie Boregard angeln konntest …«
Der Boden schien plötzlich unter meinen Füßen zu schwanken. Es war der Wunsch seines Bruders gewesen, dass ich Sten für mich gewann. Doch das wollte ich ihm nicht erklären. Ich wollte ihn einfach nur von der Türschwelle forthaben.
»Jetzt gehst du zu weit!«, brüllte ich ihn an. »Raus, und zwar sofort!«
Noch einmal warf er mir einen halb spöttischen, halb zornigen Blick zu, dann verschwand er und ließ mich keuchend und zitternd zurück.
Marlene
»Ein Schlaganfall?« Ich starrte sie erschrocken an. »Das hättest du mir sofort mitteilen sollen!«
»Hätte das etwas geändert?«, gab sie kühl zurück. »Du führst dein Leben und wir unseres, das hast du uns klargemacht.«
»Das bedeutet nicht, dass du mir so etwas Gravierendes vorenthalten darfst!«
Zornig wandte ich mich um. Wir mochten unsere Differenzen haben, aber das hier war etwas anderes. Hätte sie auch geschwiegen, wenn er gestorben wäre? Mit langen Schritten stürmte ich zum Schlafzimmer meiner Eltern. Die Tür stand leicht offen, was bedeutete, dass man eintreten durfte.
In meiner Kindheit hatte es strikte Regeln für diesen Ort gegeben. War die Tür zu, hatte ich draußen zu bleiben. Meine Eltern schliefen dort nicht nur miteinander, sie führten dort auch die Gespräche, die ich nicht hören sollte.
»Vater?«, sagte ich.
Sein Anblick traf mich bis ins Mark. Er lag ausgestreckt im Bett, die rechte Hand ein wenig verkrümmt auf der Decke. Seine rechte Gesichtshälfte hing herunter, und das dazugehörige Auge tränte. Da seine Beine unter der Bettdecke verborgen waren, wusste ich nicht, ob er sie überhaupt noch bewegen konnte. Doch sein Verstand war wach, was ich daran erkannte, dass er die nicht gelähmte linke Augenbraue hob.
»Mar…lene?« Der Schlaganfall hatte seine Sprache ein wenig verwischt. Ich trat zu ihm.
Er hatte nie gutgeheißen, dass ich Bjarnes Frau geworden war, doch er war mein Vater. Der Mann, der mich gelehrt hatte, wie man im Wald überleben konnte.
»Vater«, sagte ich und griff nach der verkrümmten Hand. Sie fühlte sich kalt und leblos an. Mitleid überkam mich. Bedauern. Mein Vater war niemand, der einfach so im Bett herumgelegen hätte. Ich kannte ihn nur ständig arbeitend, ständig umherlaufend. »Mutter schrieb mir, dass du krank wärst«, begann ich. »Wie … wie ist das passiert?«
»War im … Wald«, antwortete er. »Bin gefallen.«
»Die Waldarbeiter haben ihn gefunden«, sagte meine Mutter, die hinter mir ins Zimmer getreten war. »Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht, aber der Arzt meinte, man könnte wenig tun.«
»Warum … bist du hier?«, fragte er, und der Blick in seinen Augen veränderte sich. »Hast du einen neuen …« Er presste die Lippen zusammen, das Wort »Mann« schien nicht hinauszuwollen.
»Nein, ich … ich wollte Saatgut holen. Für das Haus, in dem ich jetzt wohne.«
Vater schaute an mir vorbei zu meiner Mutter. Hatte sie ihm erzählt, dass ich jetzt mit anderen Frauen zusammenlebte?